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Primus inter pares oder Leithammel?

In den meisten Kantonen ist der Regierungspräsident hauptsächlich ein repräsentatives Amt. Mancherorts wird das helvetische Konkordanzsystem indes mit Elementen einer Präsidialrepublik gespickt.

Sprechen Schweizer mit Ausländern über die hiesige Politik, kommen sie oft schon bei der ersten Frage ins Schwitzen: Den Namen des Regierungsoberhaupts können die wenigsten aus dem Stegreif nennen. Wozu auch? Im helvetischen Konkordanzsystem ist das Amt des Bundespräsidenten so unbedeutend, dass ein aktives Auswendiglernen kaum der Mühe wert wäre – zumal man den Namen alljährlich wieder neu lernen müsste.

Das spezielle Regierungssystem, das die Schweiz auf Bundesebene kennt, entspricht in weiten Teilen jenem in den Kantonen. In den Sitzungszimmern der Regierungsräte, Conseils d’État, Staatsräte, der Innerrhoder Standeskommission und des Tessiner Consiglio di Stato spielt es ebenfalls eine untergeordnete Rolle, wer an der Spitze steht. Das Regierungspräsidium ist in der Regel eine hauptsächlich repräsentative Funktion. Doch es gibt Ausnahmen.

Amtszeit

In neun Kantonen ist die Amtszeit des Regierungspräsidenten länger als ein Jahr.

Alte Tradition…

Abweichungen gibt es zunächst bei der Amtszeit: In 17 von 26 Kantonen beträgt die Amtszeit des Regierungsvorsitzenden analog zum Bundespräsidenten ein Jahr (siehe Karte). Sechs Kantone wechseln ihren Regierungschef alle zwei Jahre aus. Dabei fällt auf, dass alle sechs Landsgemeinde- oder ehemalige Landsgemeindekantone sind. Die längere Amtszeit ist ein Relikt aus der Zeit, als der Landammann eine Stellung irgendwo zwischen Landesvater und Autokrat innehatte, Heeresführer, oberster Richter und Vorsitzender des Parlaments (beziehungsweise einer Vorform davon) war.[1] In den beiden verbliebenen Landsgemeindekantonen Glarus und Appenzell Innerrhoden wird der Landammann nach wie vor an der Versammlung per Handaufheben gewählt. In Uri und Appenzell Ausserrhoden erfolgt die Wahl an der Urne, Zug und Schwyz haben diese Aufgabe ans Parlament delegiert. In der Regel gibt es keine Kampfwahlen und man folgt wie beim Bundesrat dem Anciennitätsprinzip, um zu bestimmen, wer an der Reihe ist.

Die einzige Ausnahme ist Appenzell Innerrhoden, der Kanton mit dem wohl seltsamsten Regierungssystem der Schweiz: Hier gibt es zwei Landammänner, den Regierenden und den Stillstehenden, die ihre Funktionen jedes Jahr tauschen. Dabei leiten beide ein eigenes Departement (der eine das Erziehungs-, der andere das Volkswirtschaftsdepartement) und haben keine zusätzlichen Kompetenzen gegenüber den anderen Regierungsmitgliedern, abgesehen davon, dass der Regierende Landammann jeweils die Landsgemeinde leitet.

Wahlkörper

In fünf Kantonen bestimmen die Stimmberechtigten den Vorsitzenden der Regierung. In den anderen kommt diese Aufgabe Parlament oder Regierung zu.

… oder vor kurzem eingeführt

Anders ist es in Basel-Stadt und Genf: Hier wird der Regierungspräsident beziehungsweise Président du Conseil d’État nicht nur für die ganze Legislatur (in Basel vier, in Genf fünf Jahre) gewählt, sondern er steht auch einem speziellen Präsidialdepartement vor. Basel-Stadt hat im Rahmen der Totalrevision der Kantonsverfassung 2005 das Modell übernommen, wie es viele Schweizer Städte kennen: Ein vom Volk gewählter Stadtpräsident mit eigenen Aufgaben, der als Aushängeschild der Stadt wirkt. Das Interesse an dem Amt war bislang aber nicht sonderlich gross. Im vergangenen Herbst ging die Grüne Elisabeth Ackermann als einzige ernstzunehmende Kandidatin in den zweiten Wahlgang, nachdem FDP-Regierungsrat Baschi Dürr seine Kandidatur zurückgezogen hatte.

In Genf ist das Präsidialsystem ebenfalls neu: Es wurde mit der Totalrevision der Verfassung 2013 eingeführt. Der Unterschied zu Basel-Stadt besteht darin, dass der Regierungsvorsteher nicht durch das Volk, sondern durch die Regierung selber bestimmt wird. Der seit 2013 amtierende François Longchamp (FDP) ist unter anderem für die Beziehungen zum Bund und zum internationalen Genf zuständig.

Ein ähnliches System wie Genf kennt der Kanton Waadt: Auch hier wird der Präsident aus der Mitte der Regierung bestimmt. Er steht allerdings keinem speziellen Departement vor. Nuria Gorrite (SP), die das Präsidium im Juni dieses Jahres von ihrem Parteikollegen Pierre-Yves Maillard übernommen hat, hat also wie die übrigen Regierungsräte ein ganz «normales» Departement (in ihren Fall das Infrastrukturdepartement). Aufgrund der Wahl durch den Conseil d’État repräsentieren die Regierungspräsidenten in Genf und der Waadt die Machtverhältnisse in ihrer jeweiligen Regierung (bürgerliche Mehrheit in Genf, linke Mehrheit in der Waadt).

Mit der Macht und dem Einfluss der Präsidenten Frankreichs oder den USA sind die Modelle in den Schweizer Kantonen natürlich nicht zu vergleichen. Über Dinge ausserhalb des eigenen Departements kann hierzulande kein Regierungsvorsteher allein entscheiden. Aber immerhin: Auch in der konsensgeprägten Schweiz sind nicht alle Regierungsmitglieder nur primus inter pares.

 

Download: Regierungspräsidien in den Kantonen – Übersicht über die verschiedenen Systeme (Excel-Tabelle)

 


[1] In Appenzell Innerrhoden war der regierende Landammann noch bis 1995 gleichzeitig Vorsteher der Regierung und des Parlaments.

Wo man gegen eine Ausgabe von 1 Franken das Finanzreferendum ergreifen kann (und wo erst ab 9 Millionen)

Bei den Hürden für Finanzreferenden gibt es zwischen den Kantonen sehr grosse Unterschiede. Ein umfassender Vergleich zeigt: Am einfachsten ist der Zugang in Neuenburg, Solothurn, Genf, Thurgau und Waadt.

Von Lukas Leuzinger und Claudio Kuster

Bei der Armee, in der Landwirtschaft und im Strassenverkehr möchten die Stimmbürger am ehesten sparen. Zu diesem Ergebnis kam eine Auswertung von Umfragedaten. Wie sich ein Finanzreferendum auf Bundesebene auswirken würde, hängt aber nicht nur von den Stimmungen der Stimmbürger ab, sondern auch davon, wie leicht der Zugang zum Volksreferendum ist. Die konkrete Ausgestaltung des Finanzreferendums entscheidet darüber, welche Ausgaben überhaupt an die Urnen gelangen.

Welche Lehren lassen sich aus den Erfahrungen der Kantone ziehen? Wir haben verglichen, ab welchen Ausgabehöhen in den verschiedenen Ständen die Stimmberechtigen mitreden können (beziehungsweise müssen).

Grosse Unterschiede zwischen den Kantonen

Der Vergleich zeigt zunächst markante Unterschiede. In den Kantonen Uri, Glarus und Appenzell Innerrhoden kommen einmalige Ausgaben bereits ab einer Höhe von 1 Million Franken zwingend an die Urne (beziehungsweise die Landsgemeinde); wiederkehrende Ausgaben müssen in Uri bereits ab einem Betrag von 100’000 Franken pro Jahr zwingend den Stimmbürgern vorgelegt werden. Demgegenüber kann das Parlament im Kanton Jura bis zu 45 Millionen Franken ausgeben, ohne dass der Beschluss dem Volk vorgelegt werden muss.[1] Andere Kantone kennen gar kein obligatorisches, sondern nur das fakultative Finanzreferendum (während Glarus und Appenzell-Ausserrhoden wiederum nur das obligatorische haben).

Beim fakultativen Finanzreferendum sind die Unterschiede ebenfalls beträchtlich. Am radikalsten sind Genf, Waadt und Neuenburg: Dort kann grundsätzlich gegen jeden Ausgabenbeschluss des Parlaments – unabhängig von der Höhe – das Referendum ergriffen werden. In Freiburg hingegen ist dies erst ab einem Betrag von 8.9 Millionen Franken möglich.[2]

Natürlich ist ein Vergleich der absoluten Zahlen wenig aussagekräftig. Eine Ausgabe von einer Million ist im Budget von Appenzell Innerrhoden ein bedeutender Posten, während sie im Kanton Zürich einem Tropfen in den Zürichsee gleichkommt. Wir haben daher die Ausgabenschwellen ins Verhältnis zu den Gesamteinnahmen[3] gestellt. Damit lässt sich vergleichen, wie viel der Einnahmen der Staatskasse das Parlament in Eigenregie ausgeben kann, ohne dass die Stimmbürger dreinreden können (beziehungsweise automatisch darum gebeten werden).

Erstaunlicherweise sind die kantonalen Unterschiede auch bei einer solchen Rechnung immer noch beträchtlich. Am tiefsten ist die Hürde beim obligatorischen Referendum im Kanton Aargau, wo bereits einmalige Ausgaben von einem Promille der Staatsrechnung (5 Millionen Franken bei Einnahmen von rund 5 Milliarden) beziehungsweise wiederkehrende Ausgaben von einem Zehntel Promille zwingend zur Abstimmung kommen.[4] Im Jura liegt diese Schwelle mehr als 50 mal höher.

Auch beim fakultativen Finanzreferendum kennt der Jura mit 0.5 Prozent (einmalige Ausgaben) die höchste Hürde – im Kanton Bern sind es dagegen nur gerade 0.02 Prozent und in den drei Westschweizer Kantonen Genf, Neuenburg und Waadt existert gar keine untere Limite.[5]

Unterschriftenhürde spielt ebenfalls eine Rolle

Natürlich ist auch dieser Vergleich nicht ganz angemessen: Beim fakultativen Finanzreferendum spielen nämlich neben der Ausgabenhürde auch die Unterschriftenhürde eine entscheidende Rolle. Um diese einzubeziehen, haben wir einen Index erstellt, der die Schwierigkeit des Zugangs zum Finanzreferendum misst. Folgende Parameter fliessen in den Index ein:

  • die relativen Hürden (in Prozent der jährlichen Gesamteinnahmen) des obligatorischen Referendums für einmalige sowie wiederkehrende Ausgaben;
  • die relativen Hürden des fakultativen Referendums für einmalige sowie wiederkehrende Ausgaben;
  • die absolute (Anzahl Unterschriften) sowie relative Hürde (Anteil der Stimmberechtigten) des fakultativen Referendums.

Im Wesentlichen werden diese Werte jeweils suzkessive gemittelt, wodurch letztlich ein Indexwert je Kanton resultiert. Umso kleiner dieser ist, desto einfacher ist der Zugang zum Finanzreferendum im jeweiligen Kanton.

Gemäss der Index-Übersicht weist der Kanton Wallis den höchsten Wert auf (15.1). Denn einerseits kennt er kein obligatorischs Finanzreferendum, hat aber auch beim fakultativen Referendum hohe Werte, so können erst gegen Finanzbeschlüsse ab 5.8 Millionen Franken überhaupt Unterschriften gesammelt werden. Davon braucht es immerhin deren 3000, was im Mittelfeld anzusiedeln ist.

Am anderen Ende der Skala (1.0) fungiert der Kanton Solothurn, wo alle Vorhaben über 5 Millionen Franken automatisch vors Volk gelangen. Wiederkehrende Ausgaben unterstehen bereits ab 500’000 Franken dem obligatorischen Referendum – ein äusserst tiefer Betrag, der bloss von vier Kleinkantonen unterboten wird. Das fakultative Referendum kann ab einer Million ergriffen werden und dafür sind nur 1500 Unterschriften vonnöten. Die Kantone Neuenburg (1.0), Genf und Waadt (beide 1.1) sind demgegenüber deshalb so gut placiert, weil sie keine untere Limite für das fakultative Referendum vorsehen.

Wie würde sich nun ein allfälliges (fakultatives) Finanzreferendum auf Bundesebene in diesen Vergleich einordnen? Thomas Aeschi, der für die Idee wirbt, schwebt eine Ausgabenhürde von 250 bis 500 Millionen Franken für einmalige Ausgaben vor. Diese Hürde wäre im Vergleich zu den Kantonen nicht nur absolut, sondern auch im Verhältnis zu den Gesamteinnahmen des Bundes ziemlich hoch: Mit 250 Millionen (0.38 Prozent der Gesamteinnahmen) würde der Bund hinter dem Kanton Jura an zweiter Stelle stehen, mit 500 Millionen (0.76 Prozent) gar an der Spitze. Bei der Unterschriftenhürde – wir gehen von 50’000 aus, analog zum Gesetzesreferendum – läge der Bund im Mittelfeld der Rangliste. Unter dem Strich wäre die Hürde auf Bundesebene die zweithöchste aller Kantone, die das fakultative Finanzreferendum kennen (hinter Freiburg). Das neue Instrument wäre also – wenigstens im Vergleich mit den Kantonen – keineswegs radikal.

 


[1] Der Betrag richtet sich nach dem letzten Voranschlag: Die Referendumshürde liegt bei 5 Prozent (einmalige Ausgaben) beziehungsweise 0.5 Prozent (wiederkehrende Ausgaben) der Gesamteinnahmen des Kantons.

[2] Die Hürde beträgt 0.25 Prozent der Gesamtausgaben der letzten Staatsrechnung (nur einmalige Ausgaben).

[3] Um ein Einfluss von Schwankungen und Ausreissern zu minimieren, haben wir den Median der Einnahmen der Jahre 2014, 2015 und 2016 als Basis verwendet.

[4] Die sehr tiefe Schwelle von 5 Millionen Franken für das obligatorische Referendum im Kanton Aargau gilt indes nur für jene Ausgabenbeschlüsse, die der Grosse Rat nicht mit absoluter Mehrheit seiner Mitglieder gefällt hat. Damit wird das obligatorische Finanzreferendum aber nur äusserst selten ausgelöst. Für die Berechnung des Index (unten) wurde dieses daher nicht berücksichtigt.

[5] Diese Zahlen wirken sehr tief. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass ein grosser Teil der Ausgaben in allen Kantonen gebundene Ausgaben sind, die aufgrund gesetzlicher Vorgaben getätigt werden müssen und die weder das Parlament noch die Stimmbürger direkt ändern können.