Monthly Archives: February 2016

Das Ende des Kantönligeists

Einst stark regional verankert, sind die Schweizer Parteien heute zunehmend national aufgestellt. Doch nicht allen gelang dieser Wechsel gleich gut.

Publiziert in der «Neuen Luzerner Zeitung» am 27.02.2016.

Die Erwartungen von Toni Brunner sind hoch. «Guy Parmelin wird uns in der Romandie 4 Prozent mehr Wählerstimmen bringen», prophezeite der SVP-Präsident in der «Zentralschweiz am Sonntag», kurz nachdem der Waadtländer zum neuen Bundesrat gewählt worden war. Tatsächlich hat die SVP in der Westschweiz noch Wachstumspotenzial. Zugleich hat sie dort in den letzten 20 Jahren bereits einen eindrücklichen Aufstieg hinter sich: Lag ihr Stimmenanteil bei den Nationalratswahlen 1995 noch unter 5 Prozent, stieg er bis 2015 um mehr als das Vierfache auf 21 Prozent.

Doch nicht nur in der Westschweiz holte die SVP auf. Sie hat es wie keine andere Partei vor ihr geschafft, in kürzester Zeit von einer regional verankerten Kraft zu einer Partei mit nationaler Ausstrahlung zu werden.

Einen weiteren Beleg dafür bietet die Zentralschweiz. Noch Anfang der 1990er-Jahre war die SVP in unserer Region weitgehend inexistent. In Luzern trat sie 1995 erstmals überhaupt zu kantonalen Wahlen an (und holte auf Anhieb 11 Sitze), in Ob- und Nidwalden sogar erst 2002. Die Partei, die bis dahin fast ausschliesslich in protestantischen Deutschschweizer Kantonen präsent war, zog vermehrt auch konservative Wähler in katholisch geprägten sowie in Westschweizer Kantonen an. Auslöser war die EWR-Abstimmung 1992, wo sich die SVP, angeführt von Christoph Blocher, auf die Seite der Gegner schlug und sich so als öffnungskritische Kraft etablierte.

Studie zeigt erhöhten Nationalisierungsgrad

Der Aufstieg der SVP mag eine Ausnahmeerscheinung sein – die zunehmende nationale Ausbreitung der Parteien ist es nicht. Dies zeigt eine neue Studie von Politikwissenschaftlern der Universitäten Zürich und Bern, welche die Nationalratswahlen von 1991 bis 2015 analysiert. Sie vergleicht das Abschneiden der Parteien in den einzelnen Kantonen. Das Fazit: Die kantonalen Unterschiede nehmen ab. Sprich: Der Stimmenanteil einer Partei im Kanton St. Gallen unterscheidet sich weniger stark von ihrem Stimmenanteil in Genf oder Uri, als dies früher der Fall war. Dargestellt werden kann dies anhand des sogenannten Nationalisierungsgrads, wobei ein hoher Grad auf tiefe kantonale Unterschiede hindeutet (siehe Grafik). Seit 2007 ist der durchschnittliche Nationalisierungsgrad relativ konstant geblieben, was auch mit dem Aufkommen der neuen Parteien GLP und BDP zu tun hat. Während sich die GLP ähnlich der SVP sehr schnell national etabliert hat, ist die Präsenz der BDP im Wesentlichen auf einzelne Deutschschweizer Kantone beschränkt geblieben.

Nationalisierungsgrad der Schweizer Parteien.

Nationalisierungsgrad der Schweizer Parteien.

 

Einen wesentlichen Grund für den Trend zur Nationalisierung sehen die Studienautoren in der Verschiebung der politischen Gräben. Der Gegensatz zwischen liberalen und konservativen Kräften, der die Schweizer Politik lange Zeit dominierte, war stark territorial geprägt. Die CVP war in katholischen Kantonen tonangebend. Der Freisinn war breiter aufgestellt, aber in urbanen und protestantischen Gebieten stärker. Die Sozialdemokraten dagegen waren seit ihrer Gründung national orientiert und nicht konfessionell geprägt.

In den 1990er-Jahren gewann ein neuer Gegensatz an Bedeutung: jener zwischen Befürwortern einer Öffnung des Landes nach aussen und Gegnern dieser Öffnung. Dieser Konflikt ist im Gegensatz zu früheren politischen Gegensätzen weniger geografisch geprägt. Die SVP wusste sich dieser Veränderung am besten anzupassen. «Die SVP hat sich neu erfunden», sagt Daniel Bochsler, Politikwissenschaftler an der Universität Zürich und einer der Autoren der Studie. Dadurch sei es ihr auch gelungen, aus ihren traditionellen Stammlanden in der protestantischen Deutschschweiz auszubrechen.

Ganz anders die CVP: Die Christdemokraten haben zwar ebenfalls versucht, ausserhalb ihrer Hochburgen zuzulegen. Doch es gelang ihnen nicht, in urbanen Gebieten über den Status einer Kleinpartei hinauszukommen. Dafür trieb ihre Öffnung nach links in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts viele konservative Wähler in die Arme der SVP.

«Nationalisierung des Wahlkampfs»

Eine weitere Erklärung dafür, dass die kantonalen Unterschiede bei den Wahlen an Bedeutung verlieren, ist die Organisation der Parteien. Der Politikberater Mark Balsiger spricht von einer «Nationalisierung des Wahlkampfs». Das heisst: Die Parteien richten ihre Wahlkämpfe national aus und versuchen, in allen Kantonen mit den gleichen Themen zu punkten. «Die Parteizentralen haben inzwischen erkannt, dass es einen einheitlichen Auftritt braucht, um Erfolg zu haben.» Die Umsetzung gelinge aber nicht allen Parteien gleich gut. Während bei SVP und SP die nationale Partei die Richtung vorgebe, spielten bei den föderalistisch gewachsenen Parteien CVP und FDP die Kantonalsektionen eine wichtigere Rolle. «Das ist ein Grund, warum sie seit 30 Jahren Wähleranteile verlieren», so Balsiger.

E-Voting: «Es gibt immer ein kleines Restrisiko»

E-Voting: Der Präsident der Staatsschreiberkonferenz, Peter Grünenfelder, sieht im elektronischen Abstimmen eine Weiterentwicklung der Demokratie. Der grüne Nationalrat Balthasar Glättli warnt vor Sicherheitsrisiken.

Publiziert in der «Neuen Luzerner Zeitung» am 22.02.2016.

Wählen und Abstimmen übers Internet – das ist bislang fast ausschliesslich Auslandschweizern vorbehalten. Bei den eidgenössischen Wahlen 2015 konnte in den Kantonen Genf und Neuenburg aber erstmals auch ein Teil der im Inland wohnhaften Stimmberechtigten übers Internet wählen. Bislang haben 13 Kantone Versuche mit E-Voting durchgeführt. Im August 2015 verweigerte der Bundesrat allerdings neun Kantonen die Bewilligung für E-Voting für die eidgenössischen Wahlen. Der Grund: Eine Überprüfung hatte ergeben, dass die Daten der Stimmbürger nach der Stimmabgabe nicht vollständig gelöscht werden und somit das Stimmgeheimnis verletzt werden könnte.

Die betroffenen Kantone beschlossen daraufhin, das gemeinsame Projekt «Consortium Vote électronique» abzubrechen. Bei den eidgenössischen Wahlen konnten nur vier Kantone die Stimmabgabe per Internet anbieten (Genf, Luzern, Basel-Stadt und Neuenburg). Nach dem Abbruch des Projekts der neun Kantone gibt es noch zwei E-Voting- Systeme, die in der Schweiz zur Anwendung kommen: Ein vom Kanton Genf entwickeltes System, das 2003 erstmals angewendet wurde. Sowie ein System, das die Post in Zusammenarbeit mit der spanischen Firma Scytl anbietet und das derzeit vom Kanton Neuenburg genutzt wird.

Beide Systeme sind sogenannte Systeme der zweiten Generation. Sie ermöglichen also die individuelle Verifizierbarkeit. Das bedeutet, dass jeder Stimmbürger nachprüfen kann, ob seine Stimme korrekt abgegeben wurde. Das mittelfristige Ziel des Bundes besteht darin, dass die Systeme daneben auch die universelle Verifizierbarkeit garantieren. Das bedeutet, dass der Kanton, der die Stimmabgabe organisiert, überprüfen kann, ob das angegebene Wahlresultat stimmt.

Balthasar Glättli und Peter Grünenfelder. (Foto: Nadia Schärli)

Balthasar Glättli und Peter Grünenfelder. (Foto: Nadia Schärli)

 

Nächsten Sonntag sind wieder Abstimmungen. Wir alle können unsere Stimme entweder an der Urne oder brieflich abgeben. Warum reicht Ihnen das nicht, Peter Grünenfelder?

Peter Grünenfelder:[*] Wenn wir sicherstellen wollen, dass alle Stimmberechtigten ihre Rechte wahrnehmen können, müssen wir neben den bisherigen Kanälen auch die elektronische Stimmabgabe, sprich E-Voting, ermöglichen. Denn mit der brieflichen Stimmabgabe kommen die Stimmzettel vieler Auslandschweizer nicht rechtzeitig bei der Staatskanzlei an. Zudem garantiert E-Voting, dass die Stimme gültig abgegeben wird – was heute nicht immer der Fall ist. Bei den eidgenössischen Wahlen 2011 beispielsweise waren 3 Prozent der eingegangenen Wahlzettel ungültig.

Balthasar Glättli, erledigen Sie Einzahlungen heute noch am Postschalter?

Balthasar Glättli:[‡] Nein, allerdings muss ich sagen: Seit ich das elektronisch mache, brauche ich viel mehr Zeit dafür. (schmunzelt)

Wieso soll es denn nicht möglich sein, elektronisch zu wählen, wenn wir doch heute so viele Alltagsgeschäfte online erledigen?

Glättli: Ich bin kein fundamentaler Gegner von E-Voting – aber es gibt einen grundlegenden Unterschied dazwischen, Bankgeschäfte online zu tätigen und abzustimmen. Beim Abstimmen muss nicht nur sichergestellt sein, dass die Stimme richtig ankommt, sondern auch, dass das Stimmgeheimnis sichergestellt ist. Bei der Bank bin ich froh, wenn sie weiss, wer eine Überweisung gemacht hat. Beim elektronischen Abstimmen ist das Gegenteil der Fall: Es geht den Staat nichts an, wie ich abstimme. Ausserdem ist es sehr wichtig, dass das Vertrauen in ein Abstimmungsresultat gewährleistet ist. Wenn ein elektronisches System irgendwo eine Hintertür hat oder gehackt werden kann, besteht die Gefahr, dass das Ergebnis verfälscht wird.

Diese Gefahr besteht auch bei der Stimmabgabe per Post oder an der Urne.

Glättli: Natürlich, es ist schon heute möglich, z. B. einzelne Couverts aus dem Briefkasten zu fischen und die Stimme zu verändern. Beim elektronischen Wählen und Abstimmen kann jedoch mit sehr viel weniger Aufwand das Resultat im Grossen verändert werden. Hier brauchen wir wirklich 100 Prozent Sicherheit, dass das nicht passiert.

Grünenfelder: Balthasar Glättli ist für mich der personifizierte digitale Widerspruch: Er ist hochaktiv in den sozialen Medien, obwohl diese teilweise grosse Sicherheits­lücken aufweisen. Gleichzeitig fordert er für E-Voting 100-prozentige Sicherheit. Ich teile das Anliegen, dass die Sicherheit beim E-Voting das Allerwichtigste ist. Wir haben aber heute zahlreiche Hürden eingebaut, sowohl seitens der Kantone als auch des Bundes. Die Systeme der zweiten Generation erfüllen bereits heute die Bedingung der individuellen Verifizierbarkeit und werden weiterentwickelt zur universellen Verifizierbarkeit. Wir haben in der Schweiz bisher 214 pannenfreie Urnengänge mit E-Voting durchgeführt. Das ist ein Erfolgsausweis. Aber wir sind immer noch in der Pilotphase, und die Systeme werden weiter verbessert.

Vergangenen August versetzte der Bundesrat E-Voting in der Schweiz allerdings einen Rückschlag, als er dem System, das in neun Kantonen zum Einsatz kam, die Bewilligung verweigerte.

Grünenfelder: Ich halte diesen Entscheid nach wie vor für falsch. Das System hat die Anforderungen des Bundes aus unserer Sicht erfüllt. Zudem sind Unterbrüche beim E-Voting für das Vertrauen der Stimmbürger in diesen Abstimmungskanal weit gravierender als Hacker­angriffe; das zeigen auch wissenschaftliche Untersuchungen. Die digitale Revolution, die derzeit im Gang ist, erfordert einen pragmatischen Umgang. Wenn man 100 Prozent risikofreie Urnengänge verlangt, müssten auch das briefliche Abstimmen und das Abstimmen an der Urne verboten werden. Es gibt immer ein kleines Restrisiko – doch wir setzen alle Energie ein, dass das Risiko so nahe bei null liegt wie möglich.

Glättli: Aus meiner Sicht hat der Entscheid des Bundesrats das Vertrauen eher gestärkt. Er hat gezeigt, dass er das Motto «Sicherheit vor Tempo» ernst nimmt. Natürlich wäre es für die Benutzerakzeptanz womöglich besser gewesen, wenn man die Sicherheitslücke einfach unter den Teppich gekehrt hätte. Aber es ist notwendig, Probleme ehrlich zu benennen, wenn es Probleme gibt.

Grünenfelder: Derart auf die leichte Schulter nehmen sollte man diesen Entscheid nicht. In den Kantonen, die E-Voting bei den letzten Wahlen nicht mehr anbieten konnten, ging die Wahlbeteiligung bei den Auslandschweizern zum Teil massiv zurück.

Glättli: Meine Hauptkritik ist, dass man E-Voting ausdehnen will, obwohl nicht alle Systeme individuelle und universelle Verifizierbarkeit bieten und somit nicht auf dem neusten technischen Stand sind. Ich würde erwarten, dass man zuerst den Schritt macht zum sichereren System, bevor man E-Voting auf eine grössere Zahl von Stimmberechtigten ausdehnt.

Grünenfelder: Diese Systeme kommen bereits zum Einsatz. Die Frage ist: Wollen wir warten, bis alle Systeme auf dem maximalen Stand der Technik sind, und dann E-Voting flächendeckend einführen? Oder wollen wir schrittweise vorgehen, indem wir die Pilotphase sukzessive ausdehnen, zuerst auf die Auslandschweizer, dann auf die Stimmberechtigten im Inland?

Sie sehen E-Voting also nach wie vor als Erfolgsgeschichte?

Grünenfelder: Ich möchte daran erinnern: Nachdem man die briefliche Wahl eingeführt hat, dauerte es zehn Jahre, bis 50 Prozent der Stimmenden brieflich wählten. Beim E-Voting haben schon bei der ersten Abstimmung 50 Prozent der Stimmenden, denen dieser Kanal offenstand, elektronisch gewählt. Mittlerweile sind wir bei bis zu 70 Prozent. Wir leben in der digitalen Revolution. Die jungen Leute wachsen mit den elektronischen Medien auf. Hier darf der Staat nicht stehen bleiben.

Glättli: Es ist doch aufschlussreich, dass gerade Politiker und politische Kräfte, die besonders nahe an der digitalen Welt sind, etwa die Piratenpartei, jene sind, die E-Voting am skeptischsten gegenüberstehen. Sie sehen eben nicht nur das Potenzial der digitalen Welt, sondern auch die Risiken und Gefahren, die damit verbunden sind.

Grünenfelder: Wenn man Herrn Glättli zuhört, meint man, es gebe nur Schwierigkeiten und Risiken. Die elektronische Stimmabgabe bietet immense Chancen, und darüber wird kaum geredet. Aber die Kantone werden weitermachen. Heute reden wir über E-Voting, bald wird die Diskussion über die elektronische Unterschriftensammlung geführt werden. Unsere Demokratie muss und wird sich weiterentwickeln.

Viele Politiker erhoffen sich von E-Voting eine höhere Stimm- und Wahlbeteiligung. Wissenschaftliche Studien haben für die Schweiz und andere Länder jedoch keinen signifikanten Effekt gezeigt, sondern eher eine Verschiebung von anderen Kanälen zum E-Voting.

Grünenfelder: Bei den Auslandschweizern ist E-Voting sehr beliebt. Für die Stimmberechtigten im Inland gibt es noch keine ausreichenden Erfahrungswerte. Ich glaube aber nach wie vor, dass der elektronische Kanal geeignet ist, der jungen Generation die Demokratie näherzubringen. Es wird sicher nicht so sein, dass, wenn heute drei von zehn jungen Stimmbürgern regelmässig abstimmen, es mit E-Voting zehn von zehn sein werden. Aber es werden sicher nicht weniger sein, möglicherweise sogar etwas mehr.

Glättli: Beim E-Voting stellen sich auch staatspolitisch schwierige Fragen. Auf Facebook liest man schnell ein Argument und klickt auf «like». Ist es richtig, das Wählen und Abstimmen auf eine «Klickdemokratie» zu reduzieren? Ich finde es eigentlich richtig, wenn man als Stimmbürger drei Momente überlegen muss, bevor man seine Stimme abgibt.

Grünenfelder: Da muss ich dagegenhalten: Bei der elektronischen Stimmabgabe ist es nicht mit einem Klick getan. Es ist ein mehrminütiger staatsbürgerlicher Akt, einfach in elektronischer Form.

Wenn Sie am 28. Februar die Möglichkeit hätten, elektronisch abzustimmen, würden Sie davon Gebrauch machen?

Grünenfelder: Ja.

Glättli: Höchstens, um einmal zu schauen, wie das in der Praxis funktioniert. Wahrscheinlich würde ich aber aus reiner Bequemlichkeit meine Stimme weiterhin brieflich abgeben.

 


[*] Peter Grünenfelder (49) ist Staatsschreiber des Kantons Aargau und Präsident der Schweizerischen Staatsschreiberkonferenz. Ab 1. April leitet er die Denkfabrik Avenir Suisse.

[‡] Balthasar Glättli (44) sitzt seit 2011 für die Zürcher Grünen im Nationalrat. Beruflich führt er eine Firma für Kampagnen und Webdesign.

 

Wieso sich die Demokratie schlecht als Argument gegen (oder für) die Durchsetzungsinitiative eignet

Vor der Abstimmung am 28. Februar sprechen die Gegner der Durchsetzungsinitiative vom drohenden Ende des Rechtsstaats und der Gefahr einer Diktatur. Die Warnungen vor dem «Volksabsolutismus» basieren allerdings auf einem seltsamen Verständnis von Demokratie.

Ebenfalls publiziert (leicht gekürzt) in der «Basler Zeitung» am 17.02.2016.

Landsgemeinde Appenzell 2012

Volksabstimmung an einer Appenzeller Landsgemeinde.
Bild: hdzimmermann

Eigentlich könnte man meinen, bei der Durchsetzungsinitiative, gehe es um Landesverweise für straffällige Ausländer. Wer den aktuellen Abstimmungskampf verfolgt, erhält indes den Eindruck, es stehe nicht weniger als die demokratische Grundordnung auf dem Spiel. Gegner und Befürworter geizen nicht mit grossen Worten. So wähnt SVP-Übervater Christoph Blocher die Schweiz «auf dem Weg zur Diktatur», die offenbar nur durch ein Ja am 28. Februar abgewendet werden kann. Die Gegner argumentieren genau umgekehrt: Es sei gerade der «Volksabsolutismus», der zur Diktatur und zum Niedergang der Schweiz führe. Wenn das Stimmvolk das Parlament und die Gerichte ausschalte, verstosse es gegen die «Grundregeln der Demokratie», warnte auch Bundesrätin Simonetta Sommaruga an der Medienkonferenz zum Auftakt des Abstimmungskampfs. Bei nüchterner Betrachtung kommen allerdings Zweifel an der These auf, die Durchsetzungsinitiative gefährde die Demokratie.

Vom Volk abhänigig

«Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus», heisst es im deutschen Grundgesetz. Das gilt – vielleicht noch in grösserem Masse – auch für die Schweiz.[1] Parlament, Regierung und Gerichte werden alle direkt oder indirekt durch die Stimmbürger gewählt. Das bedeutet, dass sie demokratisch legitimiert sind, aber auch, dass sie vom Volk abhängig sind. Das Volk verleiht ihnen Macht und schränkt diese gleichzeitig ein. Der Handlungsspielraum von Parlament, Regierung und Gerichten ist stets limitiert durch den Spielraum, der ihnen die Stimmbürger zuzugestehen bereit sind.

Nach Daniel Binswanger «beruht die Erfolgsgeschichte der Schweiz gerade darauf, dass die Volkssouveränität politischen ‹Checks and Balances› unterworfen ist». Das klassische Gewaltendreieck bestehend aus Parlament, Regierung und Gerichte fusst idealerweise tatsächlich auf der Idee, dass sich diese drei Institutionen gegenseitig kontrollieren und hemmen. Der Stimmbürgerschaft als Gesamtheit des Staatsvolks und somit als übergeordnetem Organ kommt der Funktion der «Checks and Balances» jedoch gerade keine Bedeutung zu. Im Gegenteil, erstere drei Institutionen verdanken ihre schiere Existenz gerade der vierten, durch welche sie (direkt wie die Bundesversammlung oder immerhin indirekt) legitimiert sind.[2] [3]

Die Frage der Definitionshoheit

Damit soll keineswegs gesagt werden, das Volk dürfe alles und habe immer recht. Das ist indes eine ganz andere Frage. Wie an anderer Stelle ausgeführt, ist niemand, auch nicht der Verfassungs- und Gesetzgeber, legitimiert, die grundlegenden Rechte und Freiheiten einer Person zu verletzen. Jemanden ohne Grund einzusperren oder ihn zu enteignen, ist falsch, egal ob der Entscheid dazu ein Parlament, eine Regierung, ein Gericht oder eine Mehrheit der Stimmbürger fällt. Die entscheidende Frage ist jedoch, wer diese Grundrechte und -freiheiten definiert und wer entscheidet, ob eine Verletzung vorliegt oder nicht.

Diese Frage stellt sich auch im Zusammenhang mit der Durchsetzungsinitiative. Wer bestimmt, ob die Ausschaffung eines kriminellen Ausländers eine ungerechtfertigte Verletzung oder eine unverhältnismässige Einschränkung seiner Grundrechte darstellt? Über Landesverweise entscheidet in der Schweiz die Judikative – die Richter müssen sich allerdings an den gesetzlichen Rahmen halten, der ihnen letztlich vom Volk vorgegeben wird. Und es steht der Mehrheit der Stimmbürger frei, diesen Rahmen anzupassen und den Entscheidungsspielraum der Gerichte in dieser Frage einzuschränken oder gar aufzuheben. Wie gerecht und wie zielführend diese Lösung ist, darüber kann man geteilter Meinung sein. Es handelt sich aber nicht um eine Aushebelung des Rechtsstaats oder um einen Verstoss gegen die Grundregeln der Demokratie, sondern um einen ganz gewöhnlichen Vorgang, indem das Volk von seinen (verfassungsmässigen) Kompetenzen als Verfassungs- und Gesetzgeber Gebrauch macht.

Aus dem gleichen Grund ist auch die Kritik, mit der Initiative werde das Parlament ausgeschaltet, irreführend. Ehrlicherweise müssten diese Kritiker umgehend die Abschaffung des fakultativen und obligatorischen Referendums fordern, da mit diesen Instrumenten immer wieder Entscheide des Parlaments umgestossen werden. Auch wäre die Volksinitiative, wie sie in sämtlichen Kantonen praktiziert wird, gemäss jener Argumentationdes Teufels, da sie die Gesetzesebene (teilweise gar die Verordnungsebene und Einzelbeschlüsse) betrifft. Es ist ja gerade Sinn und Zweck der direkten Demokratie, dass die Stimmbürger das Parlament korrigieren können, wenn sie mit dessen Entscheiden nicht einverstanden sind – auf welcher Normstufe diese auch immer angesiedelt sind.

Diktatur der Mehrheit oder der Minderheit?

Doch besteht damit nicht die Gefahr einer «Diktatur der Mehrheit», die Gefahr, dass eine Mehrheit des Volkes einzelne Personen oder Minderheiten diskriminiert, ihre Grundrechte verletzt? Definitiv. Aber besteht nicht auch die Gefahr, dass eine Minderheit des Volkes (beispielsweise das Parlament oder die Regierung) dasselbe tut?[4] Hier sind wir wieder bei der Definitionshoheit über die Menschenrechte.

Man kann natürlich der Ansicht sein, dass Menschenrechte am besten gewährleistet sind, wenn sie in der Hand einer kleinen Gruppe von Fachkundigen oder Richtern sind. Es gibt in der Geschichte allerdings genug Beispiele von gravierenden Menschenrechtsverletzungen, von Folterungen bis Völkermorden, für die kleine Gruppen aus der Elite der Gesellschaft verantwortlich waren. Demgegenüber haben die Stimmberechtigten in der Schweiz in der Vergangenheit sehr oft ein feines Sensorium für individuelle Rechte und Freiheiten gezeigt. Zuweilen haben sie sogar Regierung und Parlament zurückgepfiffen, wenn diese sich über die Verfassung hinwegsetzten. Nicht ohne Grund bezeichnete der Staatsrechtler Zaccaria Giacometti in einer Rede 1954 die Demokratie als «Hüterin der Menschenrechte».

Man kann daher optimistisch sein, dass die Demokratie in der Schweiz unabhängig vom Abstimmungsresultat am 28. Februar weiterbestehen wird. Die Warnungen vor einer drohenden Diktatur mögen ein wirkungsvolles Mobilisierungsinstrument im Abstimmungskampf sein. Der Realität werden sie jedoch nicht gerecht.

 


[1] Erstaunlicherweise ist die Volkssouveränität respektive die direkte Demokratie nicht wörtlich in der Bundesverfassung verankert; sie ergibt sich jedoch implizit daraus. Einige Kantonsverfassungen halten aber einleitend die demokratische Grundordnung mit der Wendung fest: «Die Staatsgewalt beruht auf dem Volk.» (So etwa Art. 1 Abs. 3 KV-ZH, Art. 1 Abs. 2 KV-BE, Art. 2 KV-SH.)

[2] Mit den Kantonen existiert aber durchaus ein paritätischer Gegenspieler zum Volkssouverän: Nur wenn gleichzeitig eine Mehrheit der föderalen Einheiten eine beantragte Verfassungsänderung gutheisst, kann diese in Kraft treten.

[3] Im Übrigen wirkt die These Binswangers auch deshalb seltsam, weil neben Kalifornien noch viele weitere Bundesstaaten in den USA das Instrument der Volksinitiativen kennen, ohne dass sie daran zugrundegegangen wären.

[4] Immerhin setzt sich das Bundesparlament regelmässig über die Verfassung hinweg (siehe Eine Nebensächlichkeit namens Bundesverfassung) und nunmehr bemerkt selbst Binswanger, dass «es auch die Landesregierung mit der Verfassungskultur nicht mehr sehr genau [nimmt]».