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Mit Protest und Revolten zur direkten Demokratie

Die direkte Demokratie ist nicht einfach so gewachsen oder von aussen importiert worden. Sondern das Resultat vieler Auf- und Widerstände. Das ist die These eines neuen Buches, das die «einfachen» Leute ins Zentrum der Demokratiegeschichte stellt.

Publiziert in der «Luzerner Zeitung» und im «St. Galler Tagblatt» am 31. Mai 2017.

Rolf Graber: Demokratie und Revolten.

Die Erinnerung an längst vergangene Schlachten wird in der Schweiz sorgsam gepflegt. Sempach, Murten, Marignano: Seit unserer Schulzeit wissen wir, wie sich die tapferen Eidgenossen verteidigten und ihr Herrschaftsgebiet auszubauen versuchten – mit unterschiedlichem Erfolg. Dagegen wird über die Konflikte innerhalb der Schweiz wenig gesprochen, obschon diese nicht weniger bedeutsam sind. Laut dem Thurgauer Historiker Rolf Graber sind sie sogar dafür verantwortlich, dass wir heute alle vier Monate an die Urne gerufen werden.

In der Geschichtswissenschaft gibt es, vereinfacht gesagt, zwei konkurrierende Erzählungen, wie die moderne (halb-)direkte Demokratie entstanden ist. Einige Forscher vertreten die Ansicht, dass Volksinitiative und Referendum vor allem aus den vormodernen Demokratieformen der Landsgemeinden und Gemeindeversammlungen hervorgingen, die es seit Jahrhunderten gibt.

Eine andere Sichtweise betont den Einfluss aufklärerischer Ideen aus Frankreich und den USA. Mit der Gründung der Helvetischen Republik 1798 wurden in der Schweiz erstmals die Ideen von Freiheit und Gleichheit verankert. Auch die erste schweizweite Volksabstimmung fällt in diese Zeit. Die Republik überlebte nur wenige Jahre, doch die Ideen wurden in der Regenerationszeit der 1830er-Jahre wieder aufgenommen.

Graber relativiert beide Sichtweisen. Für ihn ist moderne Demokratie primär Resultat vieler Widerstandsbewegungen, Protesten und blutigen Revolten. In seinem Buch zeichnet er diese detailliert nach und beschreibt die Akteure dahinter. Zeitlich beginnt er bei der Französischen Revolution 1789, auch wenn es natürlich schon vorher immer wieder Revolten gegen die Machthaber gab.

Graber erklärt die – auch im internationalen Vergleich – unruhige Geschichte damit, dass die Obrigkeiten in den eidgenössischen Orten im Unterschied zu den Fürstenhöfen im Ausland keine stehenden Heere hatten. Für die Niederschlagung der Aufstände seien sie immer auf die Loyalität eines Teils der eigenen Bevölkerung angewiesen gewesen, was diese zum Widerstand ermuntert habe.

Als in Frankreich die Revolution ausbrach, waren in fast allen Kantonen aristokratische Regime an der Macht. Sogar in den Landsgemeindeorten, wo die Bürger theoretisch sehr weitgehende Mitbestimmungsrechte besassen, hatten sich Herrschaften weniger Familien gebildet, die sich vom Rest der Bevölkerung abkapselten und die Macht monopolisierten. Grosse Teile der heutigen Schweiz waren zudem Untertanengebiete, die von anderen Orten unterdrückt wurden.

Kein Wunder, brodelte es, und die revolutionären Ideen aus Frankreich wirkten wie ein Funken, der auf das Pulverfass Schweiz zuflog. In St. Gallen, Zürich, Basel und anderen Kantonen erhoben sich Bauern, Handwerker und Angehörige des städtischen Bürgertums gegen die aristokratischen Regierungen.

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Am 22. November 1830 versammelte sich in Uster die Zürcher Landbevölkerung, um gegen die Vorherrschaft der Stadt zu protestieren. Die Versammlung, an der rund 30’000 Menschen teilnahmen, ging als «Ustertag» in die Geschichte ein. (Bild: ZB Zürich)

 

Graber zeigt auf, wie sich die neuen Ideen von Freiheit und Gleichheit mit dem Ideal der Landsgemeinde-Demokratie vermischte. Das Ziel der Revolutionäre war die Etablierung eigener Landsgemeinden, an denen sie ihre Regierung selber wählen konnten. Allerdings besassen auch die Landsgemeindeorte Untertanengebiete. Die Oppositionellen beriefen sich deshalb in Petitionen und Flugblättern auf aufklärerische Ideen und forderten gleiche Rechte gegenüber ihren Herren. Vielerorts entstanden 1798, kurz bevor die Franzosen in die Schweiz einmarschierten, unabhängige Staaten mit Landsgemeinde-Verfassungen – acht allein im Kanton St. Gallen. Jedoch wurden diese mit der zentralistischen Verfassung der Helvetik sogleich wieder abgeschafft.

Die Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen

Das revolutionäre Potenzial blieb allerdings bestehen. In den 1830er-Jahren brach es vielerorts wieder auf, als breite Bevölkerungsschichten, angeführt von den Liberalen, gegen ihre Regierungen opponierten. So am 22. November 1830, als in Uster 30’000 Bürger der Zürcher Landschaft gegen die Benachteiligung gegenüber der Stadt protestierten. Die ersten Vorformen des Referendums und der Initiative entstanden damals – wobei die Hürden zunächst sehr hoch angesetzt wurden. Man wollte nicht, dass das Volk zu viel dreinredete.

Später wurden die liberalen Eliten selber Ziel von Protesten, insbesondere in der Anfangszeit des 1848 gegründeten Bundesstaats, als die Bewegung in vielen Kantonen mehr direkte Demokratie forderte. Die Reformen, die sie den liberalen Eliten abtrotzte, beeinflussten auch die Entwicklung auf Bundesebene, wo 1874 das fakultative Referendum und 1891 die Volksinitiative auf Teilrevision der Verfassung eingeführt wurden.

Auffallend ist, dass die Forderungen nach direkter Demokratie oft mit anderen Anliegen verknüpft wurden – insbesondere materiellen. Offenbar erhofften sich insbesondere die Unterschichten von den neuen Mitbestimmungsrechten auch eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen, sei es durch Interventionen des Staates in die Wirtschaft oder durch eine Reduktion der Steuerbelastung.

Vorläufer der Populisten?

Die Träger der Bewegungen stammten oft selbst aus der Mittel- oder Unterschicht. Vielfach waren es charismatische Führungsfiguren, die die einfache Bevölkerung direkt ansprachen und sich zu Advokaten des «Volkes» gegen die «Herren» aufschwangen. In ihrer politischen Rhetorik nahmen sie laut Graber Argumentationsfiguren des modernen Populismus vorweg, auch wenn der Historiker die Übertragung dieses Begriffs auf die Demokratiebewegungen des 19. Jahrhunderts für problematisch hält.

Neben dem Widerstand zur Zeit der Französischen Revolution, der Regenerationszeit und der Anfangszeit des Bundesstaats befasst sich Graber auch mit der Zeit danach – etwa dem Widerstand gegen die Vollmachtenregime während der beiden Weltkriege. Dies allerdings nur überblicksartig. Entsprechend fehlt dem Buch dort etwas die Tiefe.

Dennoch bietet Grabers Werk einen lehrreichen Einblick in die unruhige, von Umbrüchen und Rückschlägen geprägte Entstehungsgeschichte der direkten Demokratie in der Schweiz. Der Fokus auf Widerstände von unten bietet eine ungewohnte Perspektive. Und die detailbewussten Schilderungen verleihen dem Buch eine Spannung, die es auch für Nicht-Historiker lesenswert macht.

 

Rolf Graber: Demokratie und Revolten. Chronos, 232 Seiten, ca. Fr. 42.–.

Wie aus einer Brauerei eine separatistische Trutzburg wurde

Vor 20 Jahren sagten die Stimmberechtigten in Schottland mehrheitlich Ja zu einem eigenen Parlament. Dieses grenzt sich nicht nur architektonisch von London ab.

Der Unterschied zwischen dem nationalen britischen Parlament in London und dem schottischen Regionalparlament in Edinburgh könnte kaum grösser sein. Dort der imposante barocke Bau mitten im Zentrum der Stadt, hier das moderne Gebäude am Stadtrand, das von aussen wie ein Museum für moderne Kunst aussieht. Dort die prunkvollen, altehrwürdigen Kammern mit purpurrot und smaragdgrün gepolsterten Bänken, auf denen sich die Politiker aneinanderdrängen, hier die geräumigen Hallen, ein eigenes Pult inklusive Mikrofon und elektronischer Abstimmungsanlage für jeden Parlamentarier.

 

Scottish Parliament, Edinburgh
Baujahr 2004
Legislatives System unikameral
Sitze 129
Wahlsystem Mischsystem
Wahlkreise 73
Legislaturperiode 5 Jahre
Parteien 5

Vielleicht haben sich die Schotten bewusst von der Londoner Politik abgrenzen wollen, von der man sich hier oft vernachlässigt und unterschätzt fühlt. Vielleicht sind solche Unterschiede aber auch ganz natürlich zwischen einem Gebäude aus dem 16. und einem aus dem 21. Jahrhundert.

Von Westminster nach Holyrood

Die Schaffung eines eigenen Parlaments für Schottland im Jahr 1999 war der Höhepunkt der Politik der «Devolution», mit der die Regierung Tony Blairs auf den wachsenden Druck aus dem Norden des Landes für mehr Autonomie reagierte. Die Dezentralisierung der Macht betraf nicht nur Schottland, sondern auch Wales und Nordirland (nicht aber England, die grösste Region Grossbritanniens). 1997 stimmten die schottischen Stimmberechtigten der Selbstverwaltung gewisser Politikbereiche (etwa Bildung, Gesundheits- und Wohnungswesen) mit einer Dreiviertelmehrheit zu. Als Standort, um diese Fragen künftig zu entscheiden, wurde das Gelände einer ehemaligen Brauerei im Quartier Holyrood ausgewählt. Wenige Meter vom Parlamentsgebäude entfernt steigt das Gelände steil an. Wer sich die Mühe macht, den vom Parlament ausgehenden Weg nach oben auf den Arthur’s Seat auf sich zu nehmen, wird mit einer einzigartigen Aussicht über die Stadt belohnt.

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Das Parlamentsgebäude von aussen. (Foto: lz)

Das Innere des Parlamentsgebäudes ist schlicht gehalten. Keine von Pathos triefenden Erinnerungen an William Wallace und den schottischen Freiheitskampf. Das, obwohl die separatistische Scottish National Party (SNP) seit zehn Jahren die Regierung in Schottland stellt.

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Der moderne und lichtdurchflutete Parlamentssaal. (Foto: lz)

Nicht nur was das Innere und die Kompetenzen betrifft, unterschiedet sich das Regionalparlament in Edinburgh stark vom Parlament in London, sondern auch hinsichtlich der Zusammensetzung. Anders als in Westminster werden die Parlamentarier in Holyrood nicht im klassisch britischen Mehrheitswahlverfahren gewählt, sondern in einem Mischsystem, das im Ergebnis dem «kontinentaleuropäischen» Proporzsystem nahe kommt. Erstaunlicherweise gelang es der SNP im Jahr 2011 dennoch, eine absolute Mehrheit der Sitze zu erringen. Inzwischen hat sie diese wieder verloren, ist aber immer noch die mit Abstand stärkste Kraft im schottischen Parlament und bildet eine Minderheitsregierung. Zweitstärkste Partei sind seit 2016 die Konservativen, drittstärkste die einst tonangebende Labour-Partei.

Das nächste Referendum steht vor der Tür

Wenn es das Ziel Tony Blairs war, mit der «Devolution» schottische Unabhängigkeitsgelüste zu bändigen, muss dieser Plan als gescheitert betrachtet werden. Nachdem Schottland ein eigenes Parlament erhielt, machte die dort bald tonangebende SNP Druck für ein Unabhängigkeitsreferendum. Der konservative Premier David Cameron gestand der Regionalregierung ein solches schliesslich zu (es gibt keine formelle Möglichkeit für die Regionalregierung, ein Referendum selber anzusetzen). 2014 stimmte zwar eine Mehrheit von 55 Prozent gegen die Unabhängigkeit, doch Cameron versprach kurz vor dem Urnengang, als das Ja-Lager immer stärker zulegte, weitergehende Autonomie für Schottland. Das entsprechende Gesetz wurde vergangenes Jahr vom House of Commons verabschiedet.

Die Devolution weiterer Kompetenzen an Edinburgh rückte allerdings in den Hintergrund angesichts dessen, was im Juni vergangenen Jahres passierte. In einem weiteren Referendum sprachen sich 52 Prozent der Briten für den Austritt ihres Landes aus der EU aus. Im EU-freundlichen Schottland, wo über 60 Prozent gegen den Austritt stimmten, war das Resultat für viele ein Schock – und löste prompt Forderungen nach einem neuen Unabhängigkeitsreferendum aus. Im Februar deponierte die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon die Bitte nach einer neuerlichen Abstimmung offiziell bei ihrer Kollegin Theresa May.

Diese sieht sich nun in einer ungemütlichen Situation: Sie will den Bruch mit Brüssel umsetzen und hat den entsprechenden Prozess in Gang gesetzt. Doch könnte dieser Bruch einen weiteren Bruch innerhalb des Vereinigten Königreiches nach sich ziehen. Die Unsicherheit darüber, ob ein unabhängiges Schottland EU-Mitglied bleiben könnte, war einer der Hauptargumente der Unabhänigigkeitsgegner vor der Abstimmung 2014. Dieses Argument hat sich nun in sein Gegenteil verkehrt: Die Unabhängigkeit ist nun wohl die einzige Möglichkeit für Schottland, in der EU zu bleiben. Und mit den bereits versprochenen zusätzlichen Autonomierechten hat May im Gegensatz zu ihrem Vorgänger auch keine Trümpfe mehr in der Hand, um bei einer neuen Unabhängigkeitsabstimmung ein enges Rennen zu ihren Gunsten zu entscheiden.

Dieser Beitrag ist der dreitte Teil der Serie «ParliamentHopping», in der wir Parlamente rund um die Welt porträtieren.