Monthly Archives: March 2018

Was die Demokratie von der Landsgemeinde lernen kann

Die weitgehenden Mitspracherechte an der Landsgemeinde können anderen Demokratien als Inspiration dienen. Zugleich steht auch die Landsgemeindedemokratie selbst vor der Frage, wie sie weiterentwickelt werden soll.

Von Lukas Leuzinger[1]

Cover Ds Wort isch frii

Das Buch «Ds Wort isch frii», auf dem dieser Beitrag basiert, ist bei NZZ Libro erschienen.

Gemessen an der Grösse der Kantone, stossen Abstimmungen in Glarus und Appenzell Innerrhoden auf überproportional grosses Interesse in der restlichen Schweiz und erst recht im Ausland. Der Grund liegt im Verfahren: Die Landsgemeinden am letzten April-Sonntag (Appenzell) und ersten Mai-Sonntag (Glarus) ziehen jedes Jahr zahlreiche Besucher und Beobachter von ausserhalb in ihren Bann. Und wenn die Glarner über ein Burkaverbot abstimmen, steigert sich der Rummel nochmals, sodass nationale und internationale Medien der Versammlung seitenfüllende Reportagen und Experteneinschätzungen widmen.

Die Landsgemeinde als Urform der Demokratie, als jahrhundertealte Institution (in Glarus fand die erste belegte Landsgemeinde 1387 statt), als schöne Tradition: das macht wohl einen wichtigen Teil der Faszination für dieses Modell aus. Allerdings: Die Landsgemeinde auf ihr Alter, auf ihren urtümlichen Charakter zu reduzieren, wird ihrer Bedeutung nicht gerecht. Die Glarner und Appenzeller haben die Landsgemeinde nicht deshalb bis heute beibehalten, weil sie Freude an der Tradition haben. Sondern weil sie die Möglichkeit zur direktdemokratischen Mitsprache schätzen.

Keine Flut von Anträgen

Die Landsgemeinde steht für eine eigenständige Auffassung der Demokratie, mit spezifischen Eigenschaften, mit Nachteilen, aber auch Vorteilen. Die direkte Begegnung unter den Stimmbürgern bringt eine einzigartige politische Kultur hervor. Sobald der Glarner Landammann mit den Worten «Ds Wort isch frii» (Das Wort ist frei) die Diskussion zu einem Sachgeschäft eröffnet, kann jeder Versammlungsteilnehmer ans Rednerpult treten und zu seinen Mitbürgern sprechen. Ein einziger Bürger kann mit einem Memorialsantrag ein Anliegen auf die politische Bühne bringen. In Glarus kann zudem jeder und jede zu allen Geschäften, die behandelt werden, Änderungsanträge stellen. Die ausgebauten Antragsrechte machen den Kern der Landsgemeindedemokratie aus – und sie können anderen Demokratien als Inspiration dienen.

Das Antragsrecht an der Landsgemeinde ist im internationalen Vergleich eigentlich ausgesprochen radikal.[2] Trotzdem werden die Behörden nicht mit Anträgen überflutet, und die Antragssteller können ihre Anliegen meist vernünftig begründen. Das zeigt: Wenn man den Bürgern Verantwortung überträgt, verhalten sie sich verantwortungsvoll. Betrachtet man sie als störendes Element, werden sie sich auch so verhalten.

Man muss nicht gleich so weit gehen wie in Glarus, wo jeder Bürger eine Volksabstimmung auslösen kann. Doch die meisten Demokratien gewähren ihren Bürgern gar keine Mitwirkungsmöglichkeit ausserhalb von Wahlen. Dass sie wenigstens zusammen mit einer gewissen Anzahl Mitbürger ein Thema auf die politische Agenda bringen können, wäre in vielen Ländern bereits eine markante Stärkung der direkten Mitbestimmung. Auch der Einbezug im Gesetzgebungsprozess wäre eine Möglichkeit, die Mitsprache der Bürger zu verbessern.

Das zweite zentrale Element der Landsgemeinde ist die offene Diskussion. Die freie Meinungsbildung ist ein Kernelement, ohne das keine Demokratie auskommt. Entsprechend essenziell ist eine offene und faire Diskussion im Vorfeld von Entscheidungen, seien es Wahlen, Volksabstimmungen oder auch Abstimmungen in einem Parlament. Natürlich ist es kaum praktikabel, alle Stimmbürger eines Landes oder nur schon eines grösseren Kantons an einer Landsgemeinde zusammenzubringen. Demokratische Diskussionskultur kann man aber auch ausserhalb des Landsgemeinderings pflegen. Ein Ansatz dazu ist das Modell der deliberativen Demokratie, das in jüngerer Zeit in der Wissenschaft und darüber hinaus intensiv diskutiert wurde. Dieses Modell betont die Bedeutung der öffentlichen Debatte. Im Zentrum steht die Idee, dass in einer Demokratie nicht dann die besten Entscheide gefällt werden, wenn sich derjenige mit der lautesten Stimme durchsetzt, sondern wenn Bürger auf Augenhöhe über Vorschläge diskutieren können und durch Abwägen und Überzeugen zu einer Lösung gelangen, mit der möglichst viele einverstanden sind. Vor allem auf lokaler Ebene gab es in den letzten Jahren zahlreiche Projekte, um diese Idee in die Praxis umzusetzen. Es braucht aber weitere Anstrengungen, den Einbezug der Stimmbürger und eine möglichst breite Diskussion zu ermöglichen.

Kein mythisches Ideal

Die Landsgemeinde kann somit als Inspirationsquelle für andere Demokratien dienen. Sie ist aber keine Blaupause, die sich eins zu eins auf andere Kantone oder Staaten übertragen liesse. Ebenfalls eignet sie sich nicht als mythisches Ideal einer perfekten Demokratie. Tatsächlich bringt die Landsgemeinde bedeutende Nachteile mit sich. Zum einen kann die politischen Rechte nur ausüben, wer sich zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort einfindet. Wer krank ist oder arbeiten muss, bleibt ausgeschlossen. Zum anderen erfolgt die Stimmabgabe nach wie vor per Handaufheben. Damit wird das Prinzip der geheimen Stimmabgabe verletzt. Zudem werden die Stimmen nicht gezählt, sondern nur geschätzt, was mit einiger Unsicherheit verbunden ist und die Gefahr mit sich bringt, dass ein Vorschlag obsiegt, der keine Mehrheit der Stimmenden hinter sich hatte.

Die Landsgemeindedemokratie steht wie jede Demokratieform vor der Frage, wie sie weiterentwickelt werden kann und soll, um in Zukunft die Ansprüche ihrer Mitglieder zu erfüllen. Man kann auch mit Fug und Recht die Ansicht vertreten, dass die Mitspracherechte mit einer Abschaffung der Landsgemeinde besser erfüllt werden könnten.

Derzeit ist die Landsgemeinde sowohl in Appenzell Innerrhoden als auch in Glarus praktisch unumstritten. Das bedeutet nicht, dass Anpassungen am politischen System tabu wären. Tatsächlich hat sich die Landsgemeinde in der Vergangenheit immer wieder der Zeit angepasst und weiterentwickelt. So wurde in Glarus Anfang des 20. Jahrhunderts die Amtszeit des Landammanns begrenzt, später wurde ein Lautsprecher im Ring installiert, die Regierungs- und Ständeratswahlen wurden von der Landsgemeinde an die Urne verlegt, und 1972 durften die Frauen erstmals an der Versammlung teilnehmen.

Interessant ist, dass alle diese Veränderungen im Vorfeld mit dem Argument bekämpft wurden, damit werde die Landsgemeinde verschwinden. Das gilt auch für den jüngsten Reformvorschlag: der Einsatz von elektronischen Hilfsmitteln. Die Regierung hatte diese Möglichkeit durch eine Arbeitsgruppe abklären lassen. 2016 beschloss der Landrat jedoch auf Antrag des Regierungsrats, die Idee nicht weiterzuverfolgen. Technische Hilfen, so die Befürchtung, würden das «Wesen der Landsgemeinde» verändern. Insbesondere würde der Landammann faktisch seine Entscheidkompetenz verlieren, warnte der Regierungsrat in einem Bericht. Es gehe auch um Vertrauen: «Ohne Vertrauen (…), dass der Landammann die ihm zukommende Entscheidungsgewalt mit Umsicht und im Sinne des Volkes ausübt, hat wohl auch die Landsgemeinde keine Zukunft.»

Schmaler Grat

Zweifelsohne ist der Einsatz technischer Hilfsmittel im Landsgemeindering nicht ohne Nachteile und Risiken. Ob solche Hilfsmittel zum jetzigen Zeitpunkt sinnvoll sind, sei an dieser Stelle offengelassen. Sicher ist, dass der Grat zwischen Bewahrung der Tradition und Gefährdung der Landsgemeinde schmal ist. Der Entscheid des Landammanns wird zwar von den Stimmbürgern an der Glarner Landsgemeinde grundsätzlich akzeptiert. Dennoch kommt es vor, dass knappe Entscheide im Nachgang für Diskussionen sorgen. In Ausserrhoden gab es diese Diskussionen nach dem Entscheid über die Einführung des Frauenstimmrechts 1989, als viele Bürger die Mehrheitsverhältnisse anders sahen als der Landammann, der eine Mehrheit für das Frauenstimmrecht ermittelte. Der umstrittene Entscheid war sicher nicht allein verantwortlich dafür, dass die Ausserrhoder 1997 die Landsgemeinde beerdigten – mit Sicherheit lässt sich aber sagen, dass er das Vertrauen in die Institution nicht beförderte.

Ein unbedingtes Festhalten an der Landsgemeinde in ihrer vermeintlich «ursprünglichen» Form kann somit der Absicht, die Institution zu erhalten, zuwiderlaufen. Gerade die Anhänger der Landsgemeinde sind also gut beraten, Anpassungen offen und vorurteilsfrei zu prüfen. Verfügt die Versammlung über die nötige Substanz und Verankerung in der Bevölkerung, sind übertriebene Sorgen über ihre Gefährdung durch institutionelle Anpassungen nicht gerechtfertigt. In diesem Zusammenhang erscheint das Votum des Freisinnigen Martin Baumgartner in der Debatte im Landrat über die Urnenwahl des Regierungsrats 1970 aktueller denn je. Er hielt den Gegnern des Antrags, welche darin den Tod der Landsgemeinde sahen, entgegen: «Wer von vornherein behauptet, dass die Landsgemeinde keine Änderungen ertrage, legt ihr kein gutes Zeugnis ab.»

 

Veranstaltungshinweise

Am 23. März 2018 stellt Lukas Leuzinger sein Buch «Ds Wort isch frii» im Rahmen einer Ausstellung über die Landsgemeinde in Braunwald vor.

Die Buchvernissage findet am 19. April 2018 in Glarus statt. Mehr Informationen unter Veranstaltungen.

 


[1] Der Beitrag basiert auf dem Buch «Ds Wort isch frii», das sich mit der Glarner Landsgemeinde befasst.

[2] Natürlich gilt dasselbe für Antragsrechte an Gemeindeversammlungen, wobei dort die Grössenverhältnisse andere sind.

Wahlbeobachter: Retter der Bürgerrechte oder demokratisches Feigenblatt?

Bei Wahlen rund um den Erdball gehört die Präsenz internationaler Wahlbeobachter heute zum Standard. Dennoch laufen sie nicht immer fair ab.

Am 18. März wird in Russland ein neuer Präsident gewählt.[1] Wobei «neu» wohl die falsche Bezeichnung ist, steht doch schon jetzt praktisch fest, dass der neue Präsident der alte sein wird: Wladimir Putin. Die Frage ist eigentlich nur noch, wie hoch der Langzeitherrscher gewinnen wird – und wie legitim sein Sieg sein wird.

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Ein lokaler Wahlbeobachter observiert bei den Wahlen 2014 in Guinea Bissau ein Urnenlokal. Bild: OneWorld UK (Flickr)

Für die Beantwortung der zweiten Frage spielen internationale Wahlbeobachter eine wichtige Rolle. Bei der Wahl werden fast 500 Beobachter der OSZE sowie 300 der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS) zugegen sein und ihre Einschätzung darüber abgeben, ob der Urnengang frei und fair ablief. Doch können die Beobachter dies überhaupt beurteilen? Zwar werden sie uneingeschränkten Zugang zu den Wahllokalen haben, aber aufgrund der Grösse des Landes werden sie nur einen kleinen Teil der 96’000 Wahllokale besuchen können.[2] Und selbst dort ist nicht auszuschliessen, dass Putins Apparatschiks hinter dem Rücken der Demokratie-Auguren schummeln. Sind die Wahlbeobachter also mehr als ein demokratisches Feigenblatt?

Das Dilemma der Opposition

In Ländern ohne etablierte demokratische Institutionen stellen Wahlen die Vertreter der Opposition oft vor ein Dilemma: Treten sie zur Wahl an, laufen sie Gefahr, dass sie einem erschummelten Sieg des Machthabers noch einen demokratischen Anstrich verleihen. Boykottieren sie die Wahl, bringen sie sich um jede Chance auf einen Sieg oder zumindest ein paar Parlamentssitze.

Wahlbeobachter können dieses Dilemma wenigstens theoretisch auflösen. Internationale Wahlbeobachtung hat in den vergangenen Jahrzehnten einen eindrücklichen Aufstieg erlebt. Dieser ist umso erstaunlicher, als keine Regierung verpflichtet ist, Wahlbeobachter ins Land zu lassen. Mehr noch: Wahlbeobachter kommen nur auf ausdrückliche Einladung einer Regierung ins Land. Angesichts dessen irritiert die Tatsache, dass fast ein Fünftel der Wahlen weltweit von Beobachtern als nicht frei und fair beurteilt werden. Wieso laden autokratische Herrscher internationale Beobachter ein, um anschliessend vor deren Augen Wahlen zu fälschen?

Die Antwort liegt wohl darin, dass Wahlbeobachtung zu einer internationalen Norm geworden ist.[3] Obwohl die Einladung internationaler Experten formell freiwillig ist, wird im Hintergrund oft Druck ausgeübt. Werden zu einer Wahl keine Beobachter eingeladen, geht man inzwischen automatisch davon aus, dass der Urnengang von A bis Z manipuliert ist.

«Lupenreine Demokraten» unter sich

Für die Stimmberechtigten ist dies grundsätzlich eine willkommene Entwicklung, erhalten sie doch (zusätzliche) Informationen, ob ihre Stimme wirklich zählt oder nur Teil eines pseudodemokratischen Theaters ist.

Auch für die Opposition sind Wahlbeobachter eine Hilfe – wenigstens theoretisch. Denn wie die Erfahrung zeigt, bemerken Wahlbeobachter nicht jede Unregelmässigkeit und lassen zuweilen auch Wahlen als frei und fair durchgehen, deren Ergebnis stark in die eine oder andere Richtung verfälscht ist.

Gewisse Wahlbeobachter haben gar nicht erst die Absicht, Wahlen auf ihre Integrität zu prüfen, sondern handeln mit dem alleinigen Auftrag, der Wahl ein demokratisches Deckmäntelchen überzustreifen. Berüchtigt sind etwa Beobachter der GUS. Deren Missionen hatten in der Vergangenheit den Charakter eines Tauschhandels, in dem sich autokratische und semi-autokratische Herrscher gegenseitig als lupenreine Demokraten abfeierten. Wo immer Beobachter der GUS und anderer Organisationen gleichzeitig präsent waren, fielen die Urteile letzterer deutlich kritischer aus, während GUS-Offizielle in aller Regel höchstens Details bemängeln, ohne den demokratischen Charakter eines Urnengangs in Frage zu stellen.[4]

Die Anwesenheit solcher Pseudo-Überwacher ist aus Sicht der Opposition ein Wechsel vom Regen in die Traufe. Nehmen sie unter diesen Umständen an einer Wahl teil, drohen sie nicht nur Fälschungen zum Opfer zu fallen, diese Fälschungen werden auch noch durch internationales Lob weissgewaschen. Es erstaunt daher nicht, dass Wahlboykotte bei gewissen Wahlbeobachter-Missionen noch häufiger vorkommen, als wenn keine Beobachter vor Ort sind.[5]

Wahlbeobachter können somit nur dann ein Fortschritt für die Demokratie sein, wenn keinerlei Zweifel über ihre Unparteilichkeit besteht. Und selbst dann verbleiben noch genug Fallstricke. So ist beispielsweise zu berücksichtigen, wie der langjährige Wahlbeobachter Andreas Gross in einem Radio-Interview klarmachte, dass ein Wahlprozess nicht – nicht einmal zum wichtigsten Teil – aus dem Wahltag selbst besteht. Das macht auch die diesjährige russische Präsidentschaftswahl deutlich. Angesichts des Ausschlusses von Oppositionskandidaten, von Repression und der Gängelung von Justiz und Medien brachen Putins Getreuen gar keine Wahlzettel mehr zu fälschen, um das «richtige» Ergebnis zu erreichen. Bleibt zu hoffen, dass das auch den Wahlbeobachtern nicht entgeht.

 


[1] Der vorliegende Beitrag basiert massgeblich auf der Arbeit «Internationale Wahlbeobachtung und Wahlboykotte: Ein Vergleich der Präsidentschaftswahlen in Kamerun und Tadschikistan», die der Autor zur Erlangung des Bachelor-Diploms verfasst hat.

[2] Weitreichender sind die «crowd sourcing»-Ansätze zivilgesellschaftlicher Gruppen in Russland wie Golos, das bei den Wahlen 2012 nicht weniger als 13’000 von Bürgern beobachtete Unregelmässigkeiten sammelte und online publizierte.

[3] Judith Kelley (2008): «Assessing the Complex Evolution of Norms: The Rise of International Election Monitoring», International Organization 62, S. 221‐255.

[4] Judith Kelley (2009): «D-Minus Elections: The Politics and Norms of International Election Observation», International Organization 63 (4), S. 765-787, Judith Kelley (2012): Monitoring Democracy. When International Election Observation Works, and Why It Often Fails.

[5] Emily Beaulieu und Susan Hyde (2009): «In the Shadow of Democracy Promotion: Strategic Manipulation, International Observers, and Election Boycotts», Comparative Political Studies 42 (3).