Monthly Archives: April 2013

Wäre eine Wahlrechtsreform die Lösung für Italiens Probleme?

«Mamma mia» – das ist wohl der geeignete Kommentar zur gegenwärtigen Situation in Italien. Das Land kämpft mit massiven wirtschaftlichen Problemen: Die Wirtschaftsleistung sinkt, Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung steigen an. Doch anstatt sich diesen Problemen zu widmen, beschäftigt sich die Politik seit Wochen vorwiegend mit sich selbst. Seit den Wahlen Ende Februar herrscht politischer Stillstand. Immerhin hat das Land seit heute wieder eine Regierung, wenn auch deren Lebensdauer allgemein als begrenzt eingeschätzt wird.

UBS-Chefökonom Andreas Höfert hat im jüngsten Podcast [MP3] der Grossbank Interessantes zur Situation in Italien zu sagen. Auf die Herausforderungen der neuen Regierung angesprochen, nennt er als Erstes nicht etwa die Senkung der Staatsverschuldung oder die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit, sondern die Reform des Wahlsystems:

«Was diese Koalition machen soll, ist, eine Wahlreform einführen. […] Diese Wahlreformen werden vor allem dazu dienen, dass es nicht zu einer Pattsituation kommt, wo die beiden Kammern nicht die gleiche Mehrheit haben. Momentan hat das Parlament[1] eine leicht linke Mehrheit, aber der Senat hat eine rechte Mehrheit. Diese Form von geteiltem Parlament, wo das Unterhaus und das Oberhaus sich nicht einigen können, ist das, was Italien stets blockiert hat.»

Tatsächlich hat das Wahlrecht massgeblich zur politischen Blockade in Italien beigetragen. In einem Ranking der kompliziertesten Wahlsysteme der Welt wäre dem italienischen ein Spitzenplatz garantiert. Aus unerfindlichen Gründen wird das System als proportional bezeichnet, obschon es mit einer proportionalen Verteilung nicht viel gemein hat.

Die wichtigste Eigenschaft des italienischen Wahlsystems ist, dass bei den Wahlen für das Abgeordnetenhaus die grösste Partei automatisch die Mehrheit der Sitze erhält: So holte die Mitte-Links-Koalition bei den letzten Wahlen 29.6 Prozent der Stimmen, erhielt dafür aber 345 der 630 Sitze (54.8 Prozent) – nicht einmal im britischen Mehrheitssystem wird die grösste Partei derart bevorzugt.

Bei diesem «Mehrheitsbonus» scheint es sich um eine mediterrane Spezialität zu handeln, denn Griechenland und Malta sind die einzigen Staaten, die ein ähnliches System anwenden.[2] Man könnte an diesem System loben, dass es stabile Mehrheiten erzeugt. Schade nur, dass Italien – im Gegensatz zu Griechenland und Malta – noch eine zweite Parlamentskammer hat – den Senat –, wo sich das System nicht anwenden lässt, weil die Senatssitze nicht national, sondern (analog zum Schweizer Ständerat) in den einzelnen Regionen verteilt werden.[3] Und die Regierung muss in beiden Parlamentskammern eine Mehrheit haben.

Es ist also durchaus plausibel, dass das italienische Wahlsystem für die politische Blockade verantwortlich ist. Doch ist die Erklärung wirklich so einfach? Gibt es nicht auch in der Schweiz zwei Parlamentskammern? Und werden nicht beide von unterschiedlichen Mehrheiten dominiert? Trotzdem haben wir eine einigermassen funktionierende Regierung und eine politische Blockade ist nicht auszumachen.

Möglicherweise spielt die politische Kultur eine Rolle. In seinem Buch über die Konkordanz schrieb der Politologe Michael Hermann, diese sei in die «politische DNA» der Schweiz eingeschrieben. Hierzulande bilden die Parteien ganz selbstverständlich grosse Koalitionen, weil sie nichts anderes gewohnt sind. Die direkte Demokatie und die Heterogenität hatten irgendwann zu der Einsicht geführt, dass stabile Regierungen nur möglich sind, wenn alle politischen Kräfte daran beteiligt sind. In Italien scheint man vom exakten Gegenteil überzeugt zu sein. Die italienischen Parteien sträuben sich mit Händen und Füssen dagegen, mit ihren Gegnern eine Regierung zu bilden.

Ob eine Wahlrechtsreform die Lösung für das Schlamassel in Italien wäre, kann denn auch bezweifelt werden. Dadurch, dass mit der Fünf-Sterne-Bewegung von Beppe Grillo eine dritte grosse Kraft (neben der Rechten und der Linken) ins Parlament eingezogen ist, ist eine Mehrheit im Senat noch schwerer zu erreichen. Die Bildung von Koalitionen dürfte daher schwierig bleiben, selbst wenn der «Mehrheitsbonus» im Abgeordnetenhaus dereinst wegfallen sollte. Abgesehen davon ist es ohnehin ungewiss, ob sich die Parteien überhaupt auf eine Reform einigen können. Denn wie Andreas Höfert feststellt:

«[Eine Wahlrechtsreform] wird sehr schwierig sein: Es ist klar, dass jede Wahlreform die eine oder andere Partei schwächen könnte.»


[1] Gemeint ist wohl das Abgeordnetenhaus, die grössere der beiden Parlamentskammern.

[2] Im Unterschied zu Italien besteht der Bonus in diesen Ländern aber nicht in einer garantierten Mehrheit, sondern einer fixen Zahl von zusätzlichen Sitzen.

[3] Die meisten Regionen kennen zwar ebenfalls einen «Mehrheitsbonus», damit über das ganze Land hinweg eine absolute Merheit zu bekommen, ist allerdings ziemlich schwierig.

Wieso Aargau, Wallis und Zürich 2015 mehr Nationalräte bekommen

Die 200 Nationalratssitze werden proportional zur Bevölkerung auf die Kantone verteilt. Dabei kommt das so genannte Hare-Niemeyer-Verfahren (eine Form des Bruchzahlverfahrens) zur Anwendung. Diese Regelung wird seit 1963 angewandt.

Vorhin war die Anzahl der Volksvertreter variabel: Sie wuchs proportional zum Bevölkerungswachstum stetig an. So verlangte die erste Bundesverfassung von 1848 dass «auf je 20,000 Seelen der Gesammtbevölkerung ein Mitglied gewählt [wird]». Aus anfänglich 111 Mitgliedern des «Nationalrathes» wurden daher bis 1922 deren 198 Volksvertreter. Um die Anzahl der Parlamentarier nicht noch mehr ansteigen zu lassen, wurde die «Zahl der Seelen» 1931 von 20‘000 auf 22‘000 und 1950 nochmals auf 24‘000 Personen erhöht. Dadurch schwankte die Grösse des Nationalrates in den Legislaturen von 1922 bis 1963 zwischen 187 und 198 Sitzen.

Dieses System schien nicht sehr befriedigend, zumal dafür stets die Bundesverfassung teilrevidiert werden musste. Der Erhöhung im Jahr 1931 stimmten denn auch bloss 53.9 Prozent der Stimmberechtigten und 11 5/2 der Stände zu. Um also nicht ständig diese Repräsentationsziffer erhöhen zu müssen wurde ab 1963 die fixe Anzahl von 200 Mitgliedern des Nationalrates etabliert, welche bis heute Bestand haben sollte.

Bis vor kurzem wurde die Neuberechnung der Repräsentanten je Kanton jeweils aufgrund der Wohnbevölkerung gemäss Volkszählung eruiert. Die letzte darauf basierende Änderung der kantonalen Sitzzuweisung datiert ins Jahr 2003, als die drei Kantone AR, BE und BS je einen Nationalratssitz verloren. Diese drei Mandate wurden den Kantonen FR, SZ bzw. VD gutgeschrieben.

Im Laufe der letzten Legislatur trat nun das neue Volkszählungsgesetz in Kraft, welches wiederum Einfluss auf die Verteilung der Nationalratssitze zeitigt. Fortan sind «die Wohnbevölkerungszahlen massgebend, […] die im Rahmen der Volkszählung […] im ersten auf die letzten Gesamterneuerungswahlen des Nationalrats folgenden Kalenderjahr durchgeführt werden». Es könnten sich neuerdings also bei allen Gesamterneuerungswahlen Sitzverschiebungen zwischen den Kantonen ergeben.

Für die Wahlen 2015 sind somit die Bevölkerungszahlen aus dem Nach-Wahljahr 2012 relevant. Heute veröffentlichte das Bundesamt für Statistik (BFS) die provisorischen Ergebnisse zur Bevölkerungsentwicklung der Schweiz 2012. Anhand jener (provisorischen) Zahlen per 31. Dezember 2012 kann erstmals die neue Sitzverteilung auf die Kantone berechnet werden.

Die neue Verteilzahl beträgt 40‘185. So viele Bewohnerinnen und Bewohner repräsentiert also ein Volksvertreter optimalerweise – ziemlich genau doppelt so viele wie 1848. Die Kantone AI, GL, OW und UR bzw. ihre Bevölkerungszahlen erreichen diese Ziffer nicht. Doch selbstverständlich erhalten auch diese vier Kleinkantone weiterhin einen Sitz zugesprochen, denn dank der «Vorwegverteilung» erhalten alle Kantone wenigstens einen Sitz.

Übrigens erhielten GL, OW und UR auch ohne diese Mindestsitzgarantie je ein Mandat, da sie jenes ansonsten einfach später anhand der «Restverteilung» bekämen. Bloss Appenzell Innerhoden (neu 15‘723 Einwohner) profitiert faktisch von dieser Regel, weil es eigentlich bloss 39 Prozent eines Sitzes zugute hätte – der auf null abgerundet würde.

Spannend sind sodann die Sitzverschiebungen zwischen den Kantonen, welche wie folgt aussehen:

Kanton NR-Sitze 2011 NR-Sitze 2015 Veränderung
Zürich 34 35 +1
Bern 26 25 -1
Waadt 18 18 =
Aargau 15 16 +1
St. Gallen 12 12 =
Genf 11 11 =
Luzern 10 10 =
Tessin 8 8 =
Wallis 7 8 +1
Freiburg 7 7 =
Basel-Landschaft 7 7 =
Solothurn 7 6 -1
Thurgau 6 6 =
Graubünden 5 5 =
Basel-Stadt 5 5 =
Neuenburg 5 4 -1
Schwyz 4 4 =
Zug 3 3 =
Schaffhausen 2 2 =
Jura 2 2 =
Appenzell A.Rh. 1 1 =
Nidwalden 1 1 =
Glarus 1 1 =
Obwalden 1 1 =
Uri 1 1 =
Appenzell I.Rh. 1 1 =

Erwähnenswert ist, dass die Kantone AG, BE und LU ihren «letzten Sitz» anhand der Restverteilung bloss relativ knapp erhielten (mit 54, 56 bzw. 59 Prozent eines Sitzes, welcher aufgerundet wurde). Diese drei Kantone sind demnach potentielle «Sitzverlierer 2019».

Die Kantone Genf und Tessin wiederum haben für 2015 knapp einen Sitz verpasst (mit 47 bzw. 46 Prozent eines Sitzes). Gerade das eher überdurchschnittlich wachsende Tessin wird somit wohl 2019 einen zusätzlichen Sitz erlangen können, während Bern womöglich – nach 2003 und 2015 – einen dritten Sitz in relativ kurzer Zeit verlieren dürfte.

 

Nachtrag 28. August 2013:

Die Bundeskanzlei hat heute die hier gezeigte Sitzverteilung für die Nationalratswahlen 2015 offiziell bestätigt und in einer neuen Verordnung vom 28. August 2013 über die Sitzverteilung bei der Gesamterneuerung des Nationalrates so erlassen.

Richterwahlen und die Unabhängigkeit der Justiz

Isländische Wähler konnten am Samstag über Vorschläge für eine neue Verfassung abstimmen. Bild: Claus Sterneck

Das Bundesgericht in Lausanne. (Bildquelle)

Wer in der Schweiz Richter an einem höheren Gericht werden möchte, kann noch so befähigt und erfahren sein. Über seine berufliche Zukunft entscheiden letztlich nicht seine Qualifikationen, sondern sein Parteibuch. Sowohl auf Bundesebene als auch in den meisten Kantonen bestimmen die politischen Parteien über die Zusammensetzung der Gerichte. Das Parlament wählt die Richter und achtet dabei darauf, dass die Parteien gemäss ihrem Wähleranteil im Gremium vertreten sind. Wer nicht Mitglied einer Partei ist oder sich wenigstens von einer Partei auf den Schild heben lässt, hat das Nachsehen – ganz gleich, wie geeignet er für das Amt wäre.

Für die Parteien ist dieses System äusserst angenehm. Sie können bestimmen, wer die Einhaltung der Gesetze kontrolliert, die sie beschliessen, und müssen sich dabei von niemandem dreinreden lassen. (In aller Regel reden sich die Parteien nicht einmal gegenseitig drein und winken die Kandidaten der anderen Parteien einfach durch.) Die Mandatsbeiträge der Richter sichern ihnen ausserdem einen schönen Zustupf für die Parteikasse.

Der Parteienproporz bei Richterwahlen kann dazu führen, dass fähigere Kandidaten aufgrund ihrer Parteibindung (bzw. mangels Parteibindung) zugunsten weniger qualifizierter Bewerbern zurückgestellt werden, die das Glück haben, der richtigen Partei anzugehören.

Schwerer wiegt, dass die Dominanz der Parteien die verfassungsmässig garantierte richterliche Unabhängigkeit gefährdet. Kann ein Richter, der seine Position seinem Parteibuch verdankt, wirklich glaubhaft machen, er sei in seiner Tätigkeit «unabhängig und nur dem Recht verpflichtet»?

Den Konflikt zwischen Parteizugehörigkeit und der Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit veranschaulicht ein Fall aus dem Kanton Waadt, mit dem sich demnächst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zu befassen hat. Das kantonale Berufungsgericht sollte sich mit dem Fall eines Bosniaken befassen, der zu Unrecht im Gefängnis gesessen hatte und eine Genugtuung forderte. Der Anwalt des Klägers hielt die Gerichtspräsidentin jedoch für befangen: Als Mitglied der SVP sei von ihr kein faires Urteil zu erwarten. Die Richterin weigerte sich, in den Ausstand zu treten, worauf der Anwalt zunächst das Kantonsgericht und anschliessend das Bundesgericht anrief. Nachdem beide seinen Rekurs abgelehnt hatten, gelangte er nun an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Die Richter in Strassburg müssen nun entscheiden, ob das Recht auf einen fairen Prozess verletzt wurde.

Die Ironie an dem Fall ist, dass die Gerichtspräsidentin möglicherweise nicht von sich aus der SVP beigetreten wäre, ja, womöglich nicht einmal mit der Partei sympathisiert. Denn der Parteienproporz zwingt die künftigen Richter nicht nur, einer Partei beizutreten (bzw. sich vorschlagen lassen), sondern bewirkt auch, dass die Kandidaten je nach Parteizugehörigkeit unterschiedlich hohe Wahlchancen haben. Auf Bundesebene beispielsweise ist die FDP derzeit in den Gerichten übervertreten. Ein liberal gesinnter Aspirant für einen Richterposten ist also möglicherweise gut beraten, nicht seiner bevorzugten Partei beizutreten, sondern einer anderen, die untervertreten ist – etwa der SVP.

Als Argument für die Wahl von Richtern nach Parteizugehörigkeit wird oft ins Feld geführt, dass das System eine angemessene Vertretung aller gesellschaftlichen Gruppen in den Richtergremien garantiere. Das würde bedingen, dass die Parteien als legitime Vertreter von gesellschaftlichen Gruppen angesehen werden können, und dass die Richter darüber hinaus als legitime Vertreter dieser Parteien angesehen werden können – bei beiden Bedingungen ist zweifelhaft, ob sie erfüllt sind. Abgesehen davon ist die mit Abstand grösste gesellschaftliche Gruppe – jene der Parteilosen – in den Gerichten praktisch nicht vertreten.

Eine weitere häufige Rechtfertigung für das gegenwärtige System lautet, der Parteienproporz erlaube eine konfliktfreie Besetzung von Richterposten. Abgesehen davon, dass das lange nicht immer der Fall ist,[1] bietet der Blick ins Ausland wenig Unterstützung für dieses Argument. In anderen europäischen Staaten ist die Wahl von Richtern nicht umstrittener als in der Schweiz, obschon die Richter dort nicht zu einer Parteimitgliedschaft gezwungen werden.

Akzentuiert wird die Gefahr der Abhängigkeit der Richter dadurch, dass sie sich regelmässig zur Wiederwahl stellen müssen. Die Amtsträger leben mit dem ständigen Risiko, abgewählt zu werden, wenn ihre Entscheide einer Mehrheit im Parlament nicht passen. Bislang hielt sich der politische Druck auf die Justiz glücklicherweise in Grenzen. Offenbar scheuen sich die Parteien in jüngerer Zeit aber weniger, ihren Einfluss geltend zu machen und mit der Abwahl von Richtern zu drohen, wie Niccolò Raselli in einem Beitrag in der Richterzeitung «Justice – Justiz – Giustizia» schreibt. Einzelne Parteien sollen «ihre» Richter gar regelmässig zum Rapport bestellen, um deren Tätigkeit zu beurteilen.[2]

Unabhängig davon, ob die richterliche Unabhängigkeit noch gewährleistet ist, zeigt der Fall im Kanton Waadt exemplarisch: Nur schon der Anschein der politischen Beeinflussung ist ein Problem. Wenn bei jedem Gerichtsurteil die Frage aufgeworfen wird, ob die Parteibindung der Richter den Entscheid beeinflusst hat, wird das Vertrauen in die Unabhängigkeit der Justiz gefährdet.

Als Alternative zum Kriterium der Parteibindung bietet sich an, bei der Bestellung von Richtern die fachlichen Qualifikationen in den Fokus zu stellen. Die Schweiz kennt heute keine Ausbildung für Richter. Möglicherweise wäre es sinnvoll, das erfolgreiche Absolvieren eines speziellen Lehrgangs zur Voraussetzung für ein Richteramt zu machen. Ein weiterer Ansatzpunkt ist das Gremium, das neue Richter vorschlägt bzw. wählt: Auf Bundesebene werden beide Funktionen vom Parlament (bzw. von der Gerichtskommission des Parlaments) wahrgenommen. Die Unabhängigkeit der Justiz würde möglicherweise erhöht, wenn die Richter von einem vom Parlament unabhängigen Gremium vorgeschlagen werden. Der Politisierung von Richterwahlen könnte entgegengewirkt werden, indem man die Exekutive mit der Bestellung von Richtern betraut.

Natürlich haben diese Alternativen auch Nachteile. Der Grund, dass sie in der Schweiz bisher nicht zum Zuge kommen, dürfte aber in erster Linie bei den Parteien liegen: Das jetzige System sichert ihnen praktisch das Monopol auf die Besetzung der Gerichte. Sie haben deshalb wenig Interesse daran, von diesem System abzurücken.


[1] So wurde der Alternativen Liste (AL) in Zürich eine Vertretung im Bezirksgericht verweigert, obschon sie gemäss ihrer Wählerstärke Anrecht auf fünf Richter hätte.

[2] Niccolò Raselli: «Richterliche Unabhängigkeit», in: «Justice – Justiz – Giustizia» 2011/3.

Das Standardrepertoire der Anti-Transparenz-Argumente

Ende 2011 hatte die Staatengruppe gegen Korruption (GRECO) des Europarats ihren Bericht über die Politikfinanzierung in der Schweiz veröffentlicht. Darin bestätigten die Experten, was ohnehin bereits bekannt war: Die Finanzierung von Parteien und Kampagnen liegt hierzulande völlig im Dunkeln. Es existiert keinerlei Regelung auf nationaler Ebene. Die GRECO empfahl, diese Situation zu ändern und Offenlegungspflichten für Parteien und Abstimmungskomitees einzuführen.

Bis in diesem Monat hatte der Bundesrat Zeit, zu den Empfehlungen Stellung zu nehmen. Gleich zwei Departemente wurden damit beschäftigt. Am Mittwoch trafen Justizministerin Simonetta Sommaruga und Aussenminister Didier Burkhalter mit der Vertretern der GRECO zusammen und präsentierten ihnen das Ergebnis des bundesrätlichen Reflexionsprozesses, das sich so zusammenfassen lässt, dass die Regierung überhaupt nichts zu tun gedenkt.

Bei der Begründung seiner ablehnenden Haltung greift der Bundesrat auf das Standardrepertoire an Argumenten gegen mehr Transparenz zurück. Eine Offenlegungspflicht für Grossspenden wäre demnach nicht mit den «schweizerischen Eigenheiten» zu vereinbaren – konkret mit der direkten Demokratie, dem Föderalismus und dem Milizsystem. Betrachten wir die drei Eigenheiten einmal einzeln.

Direkte Demokratie

Die direkte Demokratie würde es «schwierig machen (…), nur die Wahlen und nicht die Abstimmungen solchen Transparenzregelungen zu unterstellen», schreibt der Bundesrat. Dies sieht auch die GRECO so, die deshalb Offenlegungspflichten sowohl für Parteien als auch Abstimmungskomitees vorschlug. Dies lehnt der Bundesrat aber ebenfalls ab, da es seiner Ansicht nach «einen grossen und kostenintensiven Aufwand verursachen» würde. Wieso ein solch «grosser und kostenintensiver Aufwand» entstehen würde, wird allerdings nicht näher erläutert.

Die Schweiz ist zwar weltweit das Land, in dem am meisten Volksabstimmungen auf nationaler Ebene stattfinden. Es ist aber bei weitem nicht der einzige GRECO-Mitgliedsstaat, dessen politisches System Elemente der direkten Demokratie kennt. In Italien etwa finden regelmässig Abstimmungen statt – und tatsächlich gelten die Offenlegungspflichten in unserem südlichen Nachbarland nicht nur für Wahlen, sondern auch für Abstimmungen.

Einmal abgesehen davon: Wenn der Bundesrat schon auf die direktdemokratische Tradition der Schweiz verweist – wieso schlägt er nicht einfach vor, das Volk über Transparenz in der Politikfinanzierung entscheiden zu lassen?

Föderalismus

Die Kantone, schreibt die Regierung, «haben in der föderalistisch organisierten Schweiz (…) eine grosse Autonomie. Ihnen allen eine unterschiedslose Regelung zur Kontrolle und Beschränkung der Finanzierung von Parteien aufzuerlegen würde sich mit der Tradition unseres Landes nicht vertragen.» Dieses Argument erscheint plausibel.[1] Wahlen und Abstimmungen auf nationaler Ebene haben zunächst einmal gar nichts zu tun mit Wahlen und Abstimmungen auf kantonaler Ebene, was auch der Grund dafür sein dürfte, dass bislang sämtliche Vorstösse im nationalen Parlament für eine Offenlegung von Spenden ausschliesslich auf die nationale Ebene zielten.

Doch auch dem kann der Bundesrat nichts abgewinnen: «Eine Regelung ausschliesslich für Aktivitäten auf nationaler Ebene wäre (…) unvollständig und ineffzient.» Das ist eine interessante Argumentationslogik: Die Schweiz kann keine Regelungen zur Politikfinanzierung einführen, weil dies in einem föderalistischen Staat gar nicht möglich ist!

Nicht ganz in diese Logik passt, dass es in anderen föderalistischen Ländern kein Problem zu sein scheint, Transparenzregeln einzuführen. In Deutschland zum Beispiel, oder Österreich, oder Belgien. Die nationale und die regionale Ebene lassen sich problemlos trennen, genauso wie das in der Schweiz bereits der Fall ist: Mit Genf und Tessin kennen zwei Kantone Offenlegungspflichten, in mehreren anderen (Basel-Land, Aargau und Zürich) stehen entsprechende Entscheide an. Eine Regelung für nationale Wahlen und Abstimmungen würde die Freiheit der Kantone in keinster Form einschränken.

Einmal abgesehen ist es etwas verwirrend, dass der Bundesrat eine Lösung, die der föderalistischen Struktur der Schweiz Rechnung trägt, als «unvollständig und ineffizient» zu bezeichnet. Er trägt auch wenig zur Auflösung dieser Verwirrung bei, macht er doch keine Angaben dazu, was an dieser Lösung denn ineffizient wäre.

Milizsystem

Das Milizsystem darf als Argument gegen Transparenz nicht fehlen. Politische Parteien finanzierten sich in der Schweiz hauptsächlich aus privaten Zuwendungen, erklärt der Bundesrat. «Der Berufs-Teil der Parteien, und damit deren Finanzbedarf, sind damit bedeutend kleiner als bei Parteien in anderen Ländern», schreibt er, um sogleich die Brücke zur staatlichen Parteienfinanzierung zu schlagen: «Aus diesen Gründen gehen Finanzierungsregelungen in vielen Ländern mit einer staatlichen Parteienfinanzierung einher, welche in der Schweiz keine Tradition hat.»

Wieso das Milizprinzip gegen eine Offenlegungspflicht spricht, bleibt unklar. In welcher Form die politische Arbeit geleistet wird, ist ja eine ganz andere Frage als jene, wie sich die Parteien finanzieren. Weshalb soll man diese beiden Dinge in einen Topf werfen?

Ebenso bleibt der kausale Zusammenhang zwischen Transparenz und staatlicher Parteienfinanzierung offen. Auch die Schweizer Parteien werden vom Staat gesponsert,[2] ohne dass das an der Intransparenz irgendetwas ändern würde. Im Verhältnis zur Bevölkerung übersteigt die Höhe dieser (indirekten) Parteienfinanzierung sogar jene in anderen Ländern, etwa Grossbritannien. Dennoch sind die britischen Parteien im Gegensatz zu den schweizerischen zur Offenlegung grösserer Spenden verpflichtet. Mit Blick auf die Schweiz scheint es tatsächlich, dass das Milizprinzip die Notwendigkeit einer (direkten) staatlichen Parteienfinanzierung reduziert, weil die Parteien tendenziell weniger Mittel beanspruchen. Was aber eine Offenlegungspflicht damit zu tun haben soll, bleibt ein Rätsel.

Bei allem Respekt: Wenn gleich zwei Departemente damit beschäftigt werden, die GRECO-Forderungen zu kontern, sollte man erwarten dürfen, dass ihnen etwas stichhaltigere Argumente einfallen als jene, die bereits seit Jahren gebetsmühlenartig wiederholt werden, wenn es um Politikfinanzierung geht. Bis Mitte Jahr will der Bundesrat nun einen ausführlicheren Bericht zuhanden der GRECO verfassen. Vielleicht gelingt es ihm bis dahin ja, seine Position etwas fundierter zu begründen.


[1] zumal eine solche Regelung wohl mit dem Subsidiaritätsprinzip in Konflikt kommen würde.

[2] In Form von Beiträgen an die Parlamentsfraktionen (insgesamt 7.5 Millionen Franken pro Jahr). Ausserdem profitieren die Parteien davon, dass politische Spenden bis 10’000 Franken von den Steuern abgezogen werden können.

Schöne Worte und handfeste Interessen

Nach der Gründung des Bundesstaates im 19. Jahrhundert manipulierten die Freisinnigen in der Innerschweiz das Wahlrecht, um ihre Macht zu sichern. So teilten die Machthaber in Luzern die Wahlkreise für die Nationalratswahlen nach geologischen Kriterien ein, weil die katholisch-konservative Opposition dadurch weniger Stimmen holte.[1]

Tempi passati – heute ist die CVP längst die dominante politische Kraft in den Innerschweizer Kantonen. Als solche hat sie wenig Interesse an Änderungen bei den Wahlsystemen dieser Kantone, welche die grossen Parteien bevorzugen. Es verwundert daher wenig, dass sich die Partei mit Händen und Füssen gegen die drohenden Wahlrechtsreformen in mehreren Zentralschweizer Kantonen sträubt. Hintergrund ist die Rechtssprechungspraxis des Bundesgerichts, das die Wahlsysteme von Zug, Schwyz und Nidwalden für verfassungswidrig erklärt hat, weil die Wahlkreise für die Parlamentswahlen zu klein sind und kleinere Parteien dadurch benachteiligt werden. Zuletzt verweigerte der Nationalrat deshalb dem Kanton Schwyz die vollständige Gewährleistung der Kantonsverfassung.

Um ihr Wahlrecht in Einklang mit der Bundesverfassung zu bringen, müssen Zug, Schwyz und Nidwalden nun entweder die Wahlkreise (die bislang durch die Gemeinden gebildet werden) vergrössern, oder aber einen Mechanismus einführen, der eine wahlkreisübergreifende Verteilung der Sitze auf die Parteien ermöglicht.[2] Das würde allerdings die Dominanz der grossen Parteien eindämmen. Der Fraktionschef der Zuger CVP, Andreas Hausheer, will deshalb eine Standesinitiative auf den Weg bringen, um Bundesgericht und -parlament in Wahlrechtsfragen zu entmachten. Die Bundesverfassung müsse so geändert werden, dass die Kantone ihr Wahlsystem uneingeschränkt selbst festlegen können, fordert Hausheer laut der NZZ in einer Motion. Mit anderen Worten: Nicht die kantonalen Gesetze sollen sich an die Bundesverfassung halten, sondern umgekehrt.

Von was für einem Verständnis von Rechtsstaat das zeugt, soll an dieser Stelle nicht weiter thematisiert werden. Interessant sind allerdings einmal mehr die Argumente, die gegen eine Reform des Wahlrechts vorgebracht werden. Im Bericht ist von «föderalistischen Werten» die Rede, von «Einmischungen von aussen», die es zurückzudrängen gelte, und von der Tradition, die angeblich vorschreibt, dass auch Kleinstgemeinden eigene Wahlkreise bilden. Zufälligerweise werden diese grossen Worte stets von jenen ins Feld geführt, die am stärksten vom gegenwärtigen System profitieren und bei einer Wahlrechtsreform Sitzverluste zu befürchten hätten. Der Kanton Zug bildet keine Ausnahme, wie ein Blick das Ergebnis der letzten Kantonsratswahlen 2010 zeigt.

Partei Sitze Sitzanteil Wähleranteil Differenz Sitze Pukelsheim
CVP

23

28.8%

23.0%

5.7%

18 (-5)

FDP

20

25.0%

23.7%

1.3%

19 (-1)

SVP

19

23.8%

21.9%

1.8%

18 (-1)

Alternative

8

10.0%

13.4%

-3.4%

11 (+3)

SP

8

10.0%

12.3%

-2.3%

10 (+2)

GLP

2

2.5%

5.2%

-2.7%

4 (+2)

Total

80

Die CVP hat 23 Prozent Wähleranteil, hält aber fast 30 Prozent der Sitze. Ebenfalls überrepräsentiert, wenn auch nur leicht, sind die FDP und die SVP. Stark unterrepräsentiert sind dagegen die kleinen Parteien. Würden die Parlamentssitze über den gesamten Kanton zugeteilt, könnten diese Parteien ihre Sitzstärke deutlich steigern.

Die Tabelle zeigt auch, weshalb eine Änderung des Wahlsystems im Parlament einen schweren Stand hat: Die Parteien, die überrepräsentiert sind, haben zusammen eine solide Mehrheit – und können damit jede Änderung blockieren, die ihnen einen Machtverlust bringt.

Ohne den Christlichdemokraten unterstellen zu wollen, keine aufrichtigen Kämpfer für Föderalismus und kantonale Souveränität zu sein: ganz selbstlos ist ihr Kampf gegen Wahlrechtsreformen nicht. Als dominante Kraft im Kanton Zug und allgemein in der Innerschweiz drohen der CVP – wie auch anderen etablierten Parteien – deutliche Sitzverluste, wenn proportionalere Wahlsysteme eingeführt werden. Klar, dass man seine Privilegien nicht kampflos aufgibt.


[1] Damals wurde noch im Majorzverfahren gewählt. Quelle: Alfred Kölz (2004): Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte, zitiert in: Andrea Töndury (2013): Der ewige K(r)ampf mit den Wahlkreisen, in: Andrea Good und Bettina Platipodis: Direkte Demokratie. Herausfordungen zwischen Politik und Recht.

[2] Beispielsweise durch Wahlkreisverbunde oder das System des doppelten Pukelsheims.