Die Listenverbindung hat nicht den besten Ruf. Mannigfaltige Gründe sprechen jedoch dafür, derlei elektorale Zweckbündnisse weiterhin zu ermöglichen. Auch, ja gerade für die verzerrten Nationalratswahlen.
Das Verhältnis Schweiz–EU? Die Energiewende? Oder die Unternehemssteuerreform III? – Derzeit scheint die Medienöffentlichkeit und Parteizentralen nur ein Wahlkampf-Thema noch brennender zu interessieren: Wer mit wem im elektoralen Lotterbett. Bald täglich werden so aus Chur bis Genf die neusten Wasserstandsmeldungen in Sachen Listenverbindungen kommuniziert. Und dabei öfters Fehlinformationen verbreitet und unzutreffende Grundsatzkritik geübt. Oder gar deren Abschaffung gefordert. – Eine Richtigstellung.
Nur ein paar Restmandate?
Durch Listenverbindungen würden lediglich ein paar «Reststimmen verwertet», die ansonsten wertlos verfallen würden, wird gerne behauptet.[1] Zwar ist diese Betrachtung mathematisch nicht wirklich falsch, jedoch wird hierdurch die Problematik allzu stark verniedlicht. Da es um mehr geht als blosse Brosamen, die da und dort anfallen.
Werden die 194 Proporz-Sitze des Nationalrats[2] nämlich in Voll- beziehungsweise Restmandate aufgedröselt, so wird die Tragweite besser ersichtlich. Als Vollmandate oder sichere Sitze definiert das Bundesamt für Statistik jene «Mandate, welche eine Partei aus eigener Kraft, unabhängig von Listenverbindungen und ‹Proporzglück›, erhalten hat.»[2a]
Bei den letzten Wahlen konnten 116 Sitze als Vollmandate bezeichnet werden, womit durchaus beachtliche 78 Restmandate (40 Prozent) neben den Tisch gefallen sind. Der Kanton Zürich stellt so gewissermassen nebst 26 «ganzen» auch 8 «halbe» Nationalräte. Und im Kanton Solothurn kann sogar, überspitzt formuliert, nur Walter Wobmann (SVP) als «ganzer» Abgeordneter bezeichnet werden – die Mandate seiner sechs Kollegen basieren allesamt auf Zusatzstimmen von verbundenen Listen.
Faktisch geht es also beim Eingehen einer Listenverbindung um mehr als nur ein wenig Reststimmenverwertung. Denn sie verhelfen im hier verwendeten Zuteilungsverfahren Hagenbach-Bischoff politisch ähnlich gelagerten Parteien zu einer ganz grundsätzlich günstigeren Ausgangslage bei der effektiven Berechnung der Anzahl ihrer Mandate, ja sie ermöglichen womöglich erst den Einzug ins Parlament mit wenigstens einem Vertreter schlechthin. Gerade bei für kleinere Parteien nachteilhaften Wahlsystemen – nebst dem Nationalrat auch in der Mehrheit der Kantone – sind Listenverbindungen geradezu essenziell. Zu solchen Nachteilen gehören insbesondere:
- Die systemische Begünstigung von grösseren Parteien (insbesondere qua Rundungsregel),
- natürliche Quoren (Hürde, die sich durch die Wahlkreisgrösse ergibt: in Wahlkreisen mit nur wenig Sitzen ist deren Erreichen automatisch schwieriger),
- indirekte Quoren (im Zuteilungsalgorithmus «versteckte» Quoren, wie sie im Wallis und Tessin vorkommen),
- direkte Quoren (Mindestquoren/Sperrquoren).
Um diese Nachteile ein wenig zu entschärfen, helfen Listenverbindungen, indem sie zwei oder mehr kleinere oder mittelgrosse Parteien virtuell zu einer einzigen, nunmehr grösseren Liste aufplustern.
Helfen Listenverbindungen wirklich den Kleinen?
Viel Verwirrung herrscht überdies, ob Listenverbindungen nun wirklich den kleineren Parteien nützen, oder vielleicht nicht doch eher die bereits Grossen zusätzlich stärken. «Entgegen ihrem ursprünglichen Zweck kommen Listenverbindungen letztlich weniger den kleineren Parteien zugute als den grossen», schrieb diese Woche die «NZZ». Und tatsächlich, immerhin waren beispielsweise bei den letzten Wahlen die SP und die CVP – die zweit- und viertgrösste Partei – Profiteure dieses Instituts.[3] Was gilt nun?
Listenverbindungen per se helfen weder den einen noch den anderen. Sie nützen grundsätzlich all denjenigen Listen, die davon Gebrauch machen. Oder umgekehrt: Listen, die lieber als Einzelgänger in die Wahlen ziehen, sind potentielle Opfer – denn gewinnt eine Listenverbindungen ein zusätzliches Mandat, muss dieses schliesslich jemandem verlustig gehen.
Innerhalb von Listenverbindungen wiederum wirkt die gleiche Regel rekursiv, welche bereits für das Wahlsystem als solches gilt: Die grösseren innerhalb des Zweckbündnisses gewinnen tendenziell von den kleineren Listen. Auch Daniel Bochsler stellt hierzu fest: «Eher als den kleinen (und benachteiligten) Parteien kommen die Sitzgewinne in der Regel grossen Parteien innerhalb von Listenverbindungen zu Gute.»[4] Daher verkuppeln sich Parteien von Vorteil mit Kleineren oder immerhin solchen auf gleicher Augenhöhe – aber nur ungern mit Partnern, denen sie nur bis zur Hüfte reichen.
Erstens darf in diesem Zusammenhang also «klein» und «gross» nicht absolut verstanden werden, sondern muss stets relativ betrachtet werden. Und zweitens ist zwischen der Aussensicht (Listenverbindung in corpore gegenüber anderen Listen/Listenverbindungen) und der Innensicht (einzelne Listen innerhalb der Verbindung zueinander) zu differenzieren.
Unlogische und zufällige Sitzverteilung?
Wahlergebnisse sind mit Listenverbindungen nicht ungenauer oder zufälliger als ohne, wie immer wieder behauptet wird.[5] Die Einführung von Listenverbindungen führt jedoch zu einer wesentlich veränderten Berechnungsgrundlage. Und damit unter dem Strich zu einer exakteren Abbildung der Wählerstimmen.

Gallagher-Index-Werte für die Nationalratswahlen 2003, 2007 und 2011 (blau) sowie die hypothetischen Werte für 2011 ohne Listenverbindungen (violett) bzw. im Doppelproporz (orange).
Mithilfe des Gallagher Index of Disproportionality lässt sich die mittlere Abweichung des Wähleranteils vom Anteil der letztlich zugewiesenen Anzahl Parlamentsmandate berechnen (siehe Das Schweizer Wahlsystem wird immer unproportionaler). Dabei kann auch die hypothetsiche Sitzverteilung betrachtet werden, falls keine Listenverbindungen erlaubt wären.
Der bereits eher hohe Gallagher-Index-Wert von 3.66 für die letzten Nationalratswahlen 2011 würde ohne Listenverbindungen gar noch auf 4.33 steigen. Die blosse Abschaffung von Listenverbindungen würde also das Wahlsystem insgesamt nur noch disproportionaler ausgestalten, als es ohnehin schon ist.
«Tutti frutti»-Verbindungen von links bis rechts?
«Wer Grünliberal wählt, wählt auch die erzkonservative EDU und die wirtschaftsfeindliche SP – dank Listenverbindungen. Wählen Sie statt tutti-frutti besser das liberale Orginal – die FDP.» Mit solchen Inserateslogans vor den letzten Wahlen 2011 versuchte die FDP die geschickten Bündnisse der GLP zu diskreditieren. Zwar gab es tatsächlich immer wieder einmal programmatisch wenig kohärente Listenverbindungen wie eben beispielsweise jene zwischen den progressiven Grünliberalen und der konservativen und wenig ökologischen EDU. In der Gesamtheit aller Listenverbindungen machen solche unheiligen Allianzen aber eine sehr kleine Minderheit aus.

Voraussichtliche überparteiliche Listenverbindungen 2015 (NZZ, 15.07.2015).
Die provisorische Übersicht aller bisher gemeldeten Listenverbindungen für die Wahlen 2015 zeigt, dass – mit einer einzigen Ausnahme – in allen Verbindungen eine mittelgrosse bis starke ideelle Überschneidung vorherrscht. Einzig hinter die Vereinigung von GLP bis EDU in der Waadt darf ein Fragezeichen gesetzt werden. Die Verbandelungen in allen anderen 42 intendierten Bündnissen können indes keineswegs als Zwangsehen bezeichnet werden. Im Gegenteil, viele Partnerschaften fussen auf langjährigen Kooperationen, Fraktionsgemeinschaften und Listenbündnissen. Selbst ein historisch bemerkenswertes, erstmaliges Händchenhalten der Luzerner CVP und FDP ist heuer möglich.
Psychologische und taktische Vorteile
Weiter muss zwingend auf den psychologischen beziehungweise taktischen Vorteil von Listenverbindungen hingewiesen werden. Denn für kleinere Parteien kann das Eingehen einer Listenverbindung essenziell sein, um zu erwirken, dass ihr Elektorat jene Liste überhaupt erst einwirft. Da erst die Gewissheit, dass diese Stimmen nicht komplett wertlos verpuffen, die Wählenden zu ebendieser Wahl überzeugt.
Inwiefern «inverse, negative» psychologische Effekte spielen, ist derweil umstritten: So hat eine Nachwahlbefragung zu den Wahlen 2011 zwar gezeigt, dass SVP-Wähler die FDP als Wunschpartnerin sähen. Umgekehrt sei bei den FDP-Wählern die SVP aber fast gleich unbeliebt wie die SP. – Nur beweist diese mangelnde Sympathie noch lange nicht, dass eine etwaige SVP-FDP-Verbindung das FDP-Elektorat von ebendieser Wahl abhalten würde, da Liberale deswegen nicht gleich zu Sozialisten mutieren dürften.
Ein diversifiziertes Listenangebot wirkt zudem für die entsprechenden Parteiencluster mobilisierend. Vielleicht weniger wegen der persönlichen Netzwerke, die zusätzliche Kandidaten mit sich bringen, jedoch insbesondere aufgrund der Spezialisierung, sprich dem Ansprechen von spezifischen soziopolitischen, sprachlichen, demografischen oder geografischen Gruppierungen und Parteiflügeln und deren Präferenzen.
Überdies kann mit derlei Split-Listen (einparteiige Listenverbindungen) ein innerparteilicher Proporz gewährleistet und dadurch die Kohäsion aufrecht erhalten werden. Beispiele hierfür sind die geschlechtergetrennten Listen SP Frauen und SP Männer in Bern, die geografische Aufteilung CVP Nordwest und CVP Süd + Ost in St. Gallen, die beiden freisinnigen Flügel PLR.Les Radicaux und PLR.Les Libéraux in der Waaadt oder der Split Schweizerische Volkspartei Oberwallis und UDC du Valais romand im zweisprachigen Wallis.
Mangelnde Transparenz
Nicht erst seit gestern wird gegen Listenverbindungen vorgebracht, sie seien intransparent. Die Wähler wüssten nicht, wem allenfalls ihre Stimmen zukommen könnten.[6] Dazu hielt das Bundesgericht immerhin bereits 1978 (für kantonale Wahlen) fest, dass «eine Listenverbindungserklärung, die den Stimmbürgern nicht auf irgendeine Weise bekannt gemacht worden ist, unwirksam ist». Auch verlangt das nationale Wahlgesetz, dass «Listenverbindungen auf den Wahlzetteln mit Vordruck zu vermerken sind».
Im Kreisschreiben des Bundesrates an die Kantonsregierungen, in welchem letztere zur Vorbereitung der Nationalratswahlen 2015 aufgefordert werden, wird diese Vorschrift noch präzisiert: «Dieser Hinweis muss in einer gut verständlichen und gut ersichtlichen Form erfolgen. Ausserdem ist es eine Vereinfachung für die Wählenden, wenn neben der Nummer auch der Name der Liste angegeben ist, mit welcher eine Listenverbindung eingegangen wurde.» – Steht nämlich auf einem Wahlzettel lediglich «Verbunden mit den Listen 03, 07, 13, 14, 15 und 18», so kann kaum mehr von freier Willensbildung und unverfälschter Stimmabgabe gesprochen werden.
Dass der Bundesrat solche Mindesstandards nicht längst in seiner Wahl-Verordnung konkretsiert hat, ist daher bedauerlich. Dies umso mehr, als auch die Bundeskanzlei in einem kürzlichen Bericht über die Proporzwahlsysteme festgehalten hat: «Weil Listenverbindungen erhöhte Anforderungen an die Aufmerksamkeit der Wählenden über mögliche Sekundärwirkungen stellen, erscheint es gerechtfertigt, die Information der Wählenden mit geeigneten Mitteln zu verbessern.»
Fazit
Listenverbindungen bringen zugegebenermassen einige Nachteile mit sich. Ihre ersatzlose Aufhebung würde jedoch nicht befriedigen, weil dadurch lediglich die Symptome des veralteten, verzerrenden Wahlsystems verlagert würden. Das Aufsplitten in die einzelnen Parteilisten würde die dargelegten Unzulänglichkeiten von Hagenbach-Bischoff noch nur akzentuieren. Überdies wäre mit Ausweichmanövern zu rechnen (bspw. Listengemeinschaften: Kandidaten diverser Parteien auf einer gemeinsamen Liste).
Die übernächsten Nationalratswahlen 2019 werden gleichzeitig das 100-jährige Proporz-Jubiläum darstellen. Damit die Jubiläums-Wahlen 2019 in einem Proporz abgehalten werden, der seinem Namen gerecht wird, sollte in der kommenden Legislatur nichtsdestotrotz endlich eine grundlegende Wahlrechtsreform vorgenommen werden.
[1] So etwa Adrian Vatter, Kleine Parteien sind Verlierer des föderalen Wahlsystems, Die Volkswirtschaft 5/2015, 34 ff., 34; Anina Weber, Listenverbindungen: problematische Liaisons bei Wahlen – zur Verfassungskonformität der geltenden Regelung und möglichen Alternativen, AJP 22 (2013), H. 5, S. 683–697, 684.
[2] Die sechs Kantone mit nur einem Nationalrat (AI, AR, GL, NW, OW, UR) wählen nicht im Proporz, sondern im First-Past-the-Post. Es verbleiben daher 194 Proporz-Sitze.
[2a] Bundesamt für Statistik, Nationalratswahlen 1999 – Die «Voll-» und «Restmandate» der Parteien bei den Nationalratswahlen 1995 und die Entwicklung der Parteienlandschaft bei den kantonalen Parlamentswahlen (1996—1999), BFS aktuell, August 1999, S. 10, dort Fn. 1. Dort auch als «methodische Vollmandate» bezeichnet (S. 4). Die hier verwendete Formel zur Berechnung der Restmandate ohne Berücksichtigung jeglicher Listenverbindungen lautet:
[3] Daniel Bochsler/Claudia Alpiger, GLP und SP haben am besten taktiert, NZZ 15.11.2011.
[4] Daniel Bochsler, Wieviel bringen Wahlallianzen?, ZParl 41 (2010) (4), 855–73, Seite 30.
[5] So etwa Weber, Listenverbindungen, 693; Motion Frehner, Verbot von Listenverbindungen bei den nationalen Parlamentswahlen; Motion FDP-Liberale Fraktion, Wählerwillen ernst nehmen. Überparteiliche Listenverbindungen abschaffen. Vgl. Wählerwillen abbilden – aber richtig!.
[6] Weber, Listenverbindungen, 693.
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