Für eine Verfassungsgerichtsbarkeit mit «Swiss Finish»

Nach dem erneuten Nein zur Verfassungsgerichtsbarkeit skizziert Loris Fabrizio Mainardi einen interessanten Kompromissvorschlag, wie mit vom Bundesgericht als verfassungswidrig erkannten Bundesgesetzen verfahren werden kann: Durch ein obligatorisches Referendum soll der Souverän selber beurteilen, ob an einem solchen Gesetz festzuhalten oder es zu kassieren sei.

Ein Gastbeitrag von Loris Fabrizio Mainardi[*].

Von einem überwiegenden Teil der Schweizer Staatsrechtslehre seit Jahrzehnten fast gebetsmühlenartig gefordert, sind bis heute sämtliche Versuche zur Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit politisch gescheitert, zuletzt in der Herbstsession 2022, als der Ständerat zwei entsprechende Vorstösse abgelehnt hat. Trotz dieser wiederholten Abfuhr ist an der Forderung festzuhalten.

Obwohl in Demokratien die Verfassung über dem Gesetz steht, erklärt Art. 190 der Bundesverfassung nicht nur das Völkerrecht, sondern eigenartigerweise auch «Bundesgesetze» als «für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend», was nichts anderes bedeutet, als dass in der Schweiz das Gesetz faktisch über der Verfassung steht. Das Schweizerische Bundesgericht ist mithin kein eigentliches Verfassungsgericht – und somit die dritte Gewalt hierzulande ihrer schlagkräftigsten Abwehrwaffe beraubt. Um die Gewaltenteilung nicht in eine letztlich undemokratische Asymmetrie zu pressen, wäre eine Reform im Sinne der abgelehnten Vorstösse überfällig.

«Swiss Finish» am Bundesgericht in Lausanne. (Foto: Fredy Wyss)

 

Auffällig ist, dass der Angst vor der dritten Staatsgewalt hierzulande, wo das Volk durch Initiativ- und Referendumsrechte die Hoheit über Verfassung und Gesetz innehat, ausgerechnet in unserem nördlichen Nachbarland – mit seiner auf Parlamentswahlen beschränkten Demokratie und einer braunen Vergangenheit auch seiner Gerichte – ein ebenso grosses Vertrauen in die Justiz gegenübersteht, die sich in der breit akzeptierten Institution des Bundesverfassungsgerichts widerspiegelt. Den bis heute obsiegenden Gegnern der Verfassungsgerichtsbarkeit ist einzig darin zuzustimmen, dass offensichtlich verfassungswidrige Bundesgesetze eine Seltenheit darstellen, nichtsdestoweniger politisch umstrittene Fragen betreffen: Bei einer an Deutschland anknüpfenden Regelung wären nicht nur das ungleiche Rentenalter für Mann und Frau, sondern auch die jüngst vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gerügte Benachteiligung von Männern bei der Witwenrente auf Grund des verfassungsrechtlichen Gleichstellungsartikels schon längst vom höchsten Schweizer Gericht beseitigt worden.

Freilich wurden – und werden bis heute – Bedenken gegenüber einem als «unschweizerisch» empfundenen «Richterrecht» ins Feld geführt. Schon 1934 postulierte der berühmte Schweizer Staatsrechtler Zaccaria Giacometti, es müsse «nach einem Garanten der Bundesverfassung gegenüber dem Bundesgesetzgeber gerufen werden. Dieser Wahrer der Verfassung kann nur die dritte oberste Bundesbehörde, das Bundesgericht, sein.»[1] Diese richterliche Kontrolle sei aber einzuschränken, indem «die Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse, mit Bezug auf welche eine Volksabstimmung stattgefunden hat, nicht an das Bundesgericht weitergezogen werden dürfen.»[2]

Obligatorisches Referendum für verfassungswidrige Bundesgesetze

Tatsächlich wäre die Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit auch heute mit einem «eidgenössischen» Kompromiss zu erreichen, jedoch anders als von Giacometti vorgeschlagen: Wie in seiner heutigen Praxis würde das Bundesgericht bei einer geltend gemachten Verfassungsverletzung durch Bundesrecht zunächst versuchen, die problematische Gesetzesbestimmung verfassungskonform auszulegen; sollte ein derart klärendes Präjudiz nicht möglich sein, müsste ein eigentlicher Verfassungsverstoss festgestellt und die verletzende Bestimmung an die Eidgenössischen Räte zurückgewiesen werden. Sollten diese an ihr festhalten, wäre die parlamentarisch legitimierte, jedoch verfassungswidrige Gesetzesnorm Volk und Ständen zur Abstimmung vorzulegen.

Somit würde schliesslich nicht, wie im Vorschlag von Giacometti, das Volk mit einfacher Referendumsmehrheit, sondern – die Gewaltenteilung konsequent wahrend – der Verfassungsgeber mit doppeltem Mehr darüber entscheiden, wie eine solche Rechtskollision zu lösen wäre.

Eine solche Lösung vermöchte den gewichtigsten Vorbehalt gegenüber einer verfassungsrichterlichen Bundesrechtskontrolle zu entkräften. Gleichwohl wären weitere Fragen zu klären: Hier ginge es zunächst darum, ob die Kontrolle verfassungswidriger Bundesgesetze abstrakt (d. h. unmittelbar nach deren Erlass) oder inzident (d. h. bei späterer konkreter Rechtsanwendung) zu rügen wären. Es spräche wenig dagegen, die heute bereits für kantonale Gesetze geltende und in der bundesgerichtlichen Praxis über Jahrzehnte bewährte Regelung, wonach sowohl die abstrakte als auch die inzidierte Normenkontrolle zulässig sind, auch für Bundesgesetze zu übernehmen.

Weitere Fragen im Hinblick auf eine (bundes-)verfassungsrichterliche Funktion des Bundesgerichts betreffen dessen Organisation und Wahl. Giacometti schlug hier vor, es solle «das Plenum und nicht lediglich eine Abteilung des Bundesgerichtes über die Verfassungsmässigkeit eidgenössischer gesetzgeberischer Akte befinden».[3] Ein von Giacometti interessanterweise schon vor 90 Jahren erhobener Befund hat eine aktuelle politische Diskussion verweggenommen: «Die Bestellung des Bundesgerichtes durch die Bundesversammlung ist schon längst zu einer parteipolitischen Angelegenheit geworden. […] Als von der Bundesversammlung bestelltes und von ihr im Amte bestätigtes Organ, könnte das Bundesgericht kaum die nötige Unbefangenheit und politische – wenn auch wohl sachliche – Unabhängigkeit für die Überprüfung der Erlasse der Bundesversammlung besitzen.»[4] Die politisch freilich umstrittene Frage, ob zur Lösung solcher Interessenkonflikte mit Giacometti tatsächlich «an den Bundesrat oder an das Volk»[5] als Wahlorgan oder doch eher an ein gegenüber der abgelehnten «Justizinitiative» qualifizierteres Loswahlverfahren zu denken wäre, sollte die rechtsstaatlich elementare Debatte um die Verfassungsgerichtsbarkeit indes weniger hemmen denn befeuern.

 


[*] Loris Fabrizio Mainardi, lic. iur., Luzern.

[1] Zaccaria Giacometti, Die Verfassungsmässigkeit der Bundesgesetzgebung und ihre Garantien, SJZ 30 (1933/34), S. 289 ff., S. 291.

[2] aaO. S. 292.

[3] aaO. S. 292.

[4] aaO. S. 292 f.

[5] aaO. S. 293.

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