Monthly Archives: December 2014

Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2014

Die Redaktion von «Napoleon’s Nightmare» stellt im Folgenden ihre Top-10-Buchempfehlungen aus dem Jahr 2014 vor – von historischen und biografischen Werken, über polit- und rechtswissenschaftliche bis hin zu mathematischen und praxisorientierten Handbüchern.

 

Seitz GräbenWerner Seitz: Geschichte der politischen Gräben in der Schweiz (Rüegger)
Band Nummer 20 der Reihe «Kompaktwissen» widmet sich – passend zum Jahr der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative (MEI) – den politischen Gräben der Schweiz. Autor und Historiker Werner Seitz leitet die Sektion «Politik» des Bundesamts für Statistik, womit er direkt an der Quelle des Daten- und Zahlenmaterials sitzt, das seinen Untersuchungen zugrunde liegt.

Seitz untersucht primär zwei klassische Konfliktlinien und stellt diese chronologisch, seit Gründung des Bundesstaats, und statistisch-empirisch dar: den konfessionellen sowie den sprachregionalen Graben. Hierzu verwendet er die umfangreichen Abstimmungsdaten aller eidgenössischen Volksabstimmungen auf Ebene Kantone und Bezirke. So wurde beispielsweise die alte Bundesverfassung von 1874 zwar (nachdem die Revision 1872 gescheitert war) mit 63 Prozent Ja-Stimmen und mit ebenso klarem Ständemehr von 13.5 : 8.5 angenommen. Betrachtet man jedoch die Zahlen auf Bezirksebene, so zeigt sich erst der eindrückliche Höhepunkt des damaligen Kulturkampfs: Während die reformierten Bezirke mit 84 Prozent zustimmten, verwarfen die katholischen mit nur 30 Prozent Ja-Stimmen – ein Graben von 54 Prozentpunkten, der nie mehr so tief sein wird.

Während der konfessionelle Graben mittlerweile zugeschüttet ist, keimt der sprachregionale Graben immer wieder auf, besonders stark beim EWR-Nein 1992 und darauf bei weiteren aussenpolitischen Vorlagen. Gerade in diesem Politikfeld schwelt die Konfliktlinie zudem quer durch die lateinische Schweiz: Der öffnungsfreundlichen Westschweiz stellt sich das Tessin stark kritisch gegenüber – wie heuer wieder bei der MEI.

Der Stadt-Land-Graben sowie der Arbeit-Kapital-Konflikt werden leider nur kurz beziehungsweise gar nicht gestreift, weil die hierfür notwendigen Daten (Resultate auf kommunaler Ebene) erst seit ein paar Dekaden greifbar sind (Städte) beziehungsweise nicht geografisch separiert werden können (Arbeit/Kapital).

Kreis InselGeorg Kreis: Insel der unsicheren Geborgenheit: Die Schweiz in den Kriegsjahren 1914–1918 (NZZ Libro)
Pünktlich zum 100-Jahr-Gedenken an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs und zur Schweizer Mobilmachung von 1914 legt Historiker Georg Kreis eine knapp 300-seitige Übersicht über die Auswirkungen der «Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts» auf die Schweiz vor. Militärisch blieb das der Neutralität verpflichtete Land zwar verschont. Wie Kreis in acht Kapiteln – allesamt liebevoll gestaltet mit 140 Fotografien und Karikaturen – jedoch darlegt, führte der zehrende Krieg die Schweiz dennoch zusehends in eine innenpolitische Zerreissprobe auf verschiedenen Ebenen.

Bereits die Wahl des Generals sorgte für Unmut. Der Bundesrat setzte dem Parlament den prodeutschen Ulrich Wille vor, bekannt für sein Faible für den «preussischen Drill». Latente Spannungen zwischen der Deutsch- und der französischen Schweiz sollten sich nicht nur dadurch akzentuieren, denn lagen auch die generellen Sympathien in den beiden Landsteilen diametral zueinander: Hier lag man den Mittelmächten (Deutsches Reich / Österreich-Ungarn) näher, dort der Entente (insbesondere Frankreich).

Als anspruchsvoll erwiesen sich darüber hinaus insbesondere die wirtschaftlichen, zivilgesellschaftlichen und sozialpolitischen  Herausforderungen. Ob Getreide, Milchprodukte und Öl wie auch Kohle und Brennstoffe – die Rohmaterialien wurden knapp, der Nachschub folgte aufgrund der kontinentalen Kriegswirren nur zögerlich. Viele Frauen waren zudem plötzlich auf sich (und die Familie, den Landwirtschaftsbetrieb usw.) alleine gestellt – Erwerbsersatz und AHV waren damals noch Fremdworte. Ab 1917 nahmen daher Demonstrationen und Proteste zu, die 1918 im Landesstreik kulminierten. Die dortigen Forderungen (Proporzwahl, Frauenstimmrecht, Arbeitszeitbeschränkung, AHV usw.) wie auch die Einbindung der gestärkten Sozialdemokraten in den Bundesrat wurden zwar erfüllt, wenngleich teilweise erst viel später.

Kley GiacomettiAndreas Kley: Von Stampa nach Zürich. Der Staatsrechtler Zaccaria Giacometti, sein Leben und Werk und seine Bergeller Künstlerfamilie (Schulthess)
Die Künstler Giacometti sind weltbekannt. Dass die Familie aus dem Bergell auch einen scharfsinnigen Juristen hervorgebracht hat, der die Staatsrechtslehre der Schweiz prägte, ist dagegen weitgehend in Vergessenheit geraten. Dabei ist Zaccaria Giacometti auch für die heutige Zeit noch relevant. Beispielsweise durch seine Überlegungen zur direkten Demokratie und zur Verfassungsgerichtsbarkeit (siehe Eine Nebensächlichkeit namens Bundesverfassung).

Lehrreich ist zudem sein erbitterter Widerstand gegen das autoritäre Vollmachtenregime zur Zeit des Zweiten Weltkriegs, der zeigt, dass der Rechtsstaat auch in der Schweiz nicht garantiert ist und immer wieder aufs neue verteidigt werden muss.

Andreas Kley will mit diesem Werk den liberalen Vordenker wieder in Erinnerung rufen. Dafür hat er sich auf eine aufwändige Spurensuche zwischen dem Bergell und Zürich gemacht. Entstanden ist ein Buch, das nicht nur Interessantes über Zaccaria Giacomettis Leben und Schaffen zutage fördert, sondern seine Geschichte auch in jene seiner Familie einbettet. (Siehe auch ausführliche Rezension Unerschütterlich wie ein Bergeller Granitgipfel) (lz)

Koller WerkstattArnold Koller: Aus der Werkstatt eines Bundesrates (Stämpfli)
«Bundesräte können keine Memoiren schreiben», beginnt alt Bundesrat Arnold Koller sein Vorwort zu ebendiesen. Denn der «Bundesrat entscheidet als Kollegium» und «die Beratung unterliegen dem Amtsgeheimnis mit einer Sperrfrist von 30 Jahren». Nicht gerade ein Werbetext, wie PR-Verantwortliche eine Autobiografie, zumal eines Bundesrats der eher spröderen Art, bewerben würden.

Doch gerade der zurückhaltende Habitus des Appenzell-Innerrhodner Wirschaftsrechtsprofessors und damit auch seine Einblicke, heben sich wohltuend von den Schriften seiner Kollegen (von Micheline Calmy-Rey über Kaspar Villiger bis Christoph Blocher) ab. «KK» steht beim Christdemokraten Koller für Kompromiss und Konkordanz. So mischt er sich denn nicht ins Tagesgeschäft seiner Nachfolger ein, sondern beschreibt mit erstaunlicher Genauigkeit die Etappen und zentralen Dossiers und Herausforderungen, Abstimmungssiege und Enttäuschungen seiner Bundesratszeit 1987 bis 1999.

Diese hatte es in sich: Koller wurde gleich ins kalte Wasser des Militärdepartements EMD geworfen, das sich damals mit der Flugzeugbeschaffung des F/A-18 zu befassen hatte, um nur zwei Jahre später ins Justizdepartement EJPD zu wechseln und die dortigen Brandherde «Fall Kopp» und die Fichenaffäre zu löschen. In den 1990er Jahren standen nicht mindere Brocken an wie der EWR und Bilaterale Weg, Asylwesen, Lex Koller, Strafrechtsrevisionen sowie die seit Dekaden hängige Totalrevision der Bundesverfassung. – Eigentlich bedauerlich, dass nach 84 Jahren CVP-Doppelvertretung diese Ära nun vorbei scheint.

Vatter Politisches SystemAdrian Vatter: Das politische System der Schweiz (Nomos)
Vatters Buch ist nicht nur das aktuellste, sondern auch eines der umfangreichsten Standardwerke zur Schweizer Politik. Für Studenten der Politikwissenschaften ist dieses Handbuch ein Pflicht-Bestandteil im Büchergestell. Doch auch für alle anderen, die sich für die schweizerische Demokratie interessieren, eignet es sich zur Einführung und Vertiefung.

Ob Wahlsystem oder Parteienlandschaft, ob direkte Demokratie, Föderalismus oder Verfassung: Das Buch gibt zu allen wichtigen Themen einen historischen Abriss und einen guten Überblick. Dabei stellt es die Informationen jeweils auch in einen internationalen Kontext.

Doch auch die kantonale Ebene kommt nicht zu kurz; zu allen Themenbereichen werden jeweils auch die politischen Systeme der Kantone verglichen. Grafiken und Tabellen veranschaulichen die Informationen. Den Abschluss bildet ein längeres Kapitel, in welchem Vatter auf der Basis seiner Erkenntnisse einen Ausblick wagt und die Aussichten für die schweizerische Demokratie beurteilt. (lz)

Graf ParlamentsrechtMartin Graf, Cornelia Theler und Moritz von Wyss: Parlamentsrecht und Parlamentspraxis der Schweizerischen Bundesversammlung (Helbing Lichtenhahn)
Eigentlich erstaunlich: Die Organisation der Bundesversammlung ist zwar seit 1849 kodifiziert. Praktisch seit Gründung des Bundesstaats regelt also ein Geschäftsverkehrsgesetz die zentralen Entscheidungsprozesse von Nationalrat und Ständerat. Doch bis vor kurzem existierte kein Kommentar, der dieses wichtige Gesetz der hiesigen halbdirekten, ergo auch repräsentativen Demokratie interessierten Kreisen genauer erläutert hätte. Knapp 30 Autoren, viele davon selbst Mitarbeitende der Parlamentsdienste und somit nahe am Geschehen, haben sich daher der verdienstvollen Aufgabe angenommen, das heutige Parlamentsgesetz auf 1215 Seiten (und 1608 Gramm) en détail zu kommentieren.

Wie für Gesetzeskommentare üblich, werden alle 171 Artikel systematisch besprochen und ausgelegt, Praxisbeispiele und Präzedenzfälle dargelegt, ja teilweise auch kritisch gewürdigt und evaluiert. Denn auch wenn das Handbuch massgeblich im Bundeshaus selbst verfasst worden ist, die Herausgeber Martin Graf (Sekretär Staatspolitische Kommissionen), Cornelia Theler (Leiterin Rechtsdienst) und Moritz von Wyss (Leiter Parlamentsdienste ZH) verstehen ihr Werk nicht als «offiziellen Amtskommentar», sondern als unabhängige, wissenschaftliche Arbeit. Der Parlamentskommentar ist zudem nicht «nur» juristisch interessant, er ist im Schnittbereich von Staatsrecht, Politikwissenschaft und Geschichte angesiedelt. So werden alle Normen stets auch nach ihrer Entstehungsgeschichte untersucht und Vorgängerversionen erläutert.

Dieses Nachschlage- und Standardwerk ist zukünftig für alle unabdingbar, die beruflich mit Akteuren der Bundesversammlung verkehren. Und es beantwortet nicht nur eher technisch-prozedurale Fragen, sondern beleuchtet auch durchaus politisch aufgeheizte Themen: Das Verfahren zur Aufhebung der parlamentarischen Immunität («…wurde bis heute noch nie aufgehoben»), dasjenige zur Behandlung, Stellungnahme und Fristverlängerung von Volksinitiativen. Oder was unter «Vorkommnissen von grosser Tragweite» zu verstehen ist, welche die Einsetzung des griffigsten parlamentarischen Oberaufsichts-Organs legitimieren: der parlamentarischen Untersuchungskommission PUK.

Pukelsheim ProportionalFriedrich Pukelsheim: Proportional Representation: Apportionment Methods and Their Applications (Springer)
Friedrich Pukelsheim ist emiritierter Mathematikprofessor und massgeblich «mitschuldig», dass bereits bald ein Viertel aller Kantone nach dem doppeltproportionalen Wahlverfahren ihre Parlamente bestellen. In seiner Monografie Proportional Representation nimmt er sich jedoch ganz generell den unterschiedlichen proportionalen Zuteilungsverfahren an.

Wenngleich er sich in den ersten zwei Kapiteln den Europawahlen 2009 (die 27 EU-Mitgliedstaaten wählen je nach unterschiedlichen, eigens bestimmten Wahlverfahren) sowie den Bundestagswahlen 2009 annimmt und diese detailliert beschreibt: grundsätzlich liegt hier ein Mathematikbuch vor. Interesse und Kenntnisse in höherer Algebra sind unabdingbar. Wer sich jedoch darauf einlässt, erfährt sukzessive, wie und wieso Divisorverfahren (bspw. Nationalratswahlen) und Quotenverfahren (bspw. NR-Sitzverteilung auf die Kantone) funktionieren, was ihre Vor- und Nachteile aus mathematischer Sicht sind und was für Untervarianten, in Theorie und Praxis, existieren.

Weiter werden Seat Biases genauer erläutert, also die unvermeidlichen und manchmal gar unfairen Verzerrungen, die Zuteilungsverfahren mit sich bringen sowie Kriterien, an denen sich die Algorithmen messen lassen können. Und wer sich bis zum finalen Kapitel 14 durchgearbeitet hat, erfährt gar – anhand des Schaffhauser Kantonsrats –, wie die doppeltproportionale Unterzuteilung genau vorgenommen wird. Von «Lotterieeffekten» keine Spur.

Milic AbstimmungsforschungThomas Milic, Bianca Rousselot und Adrian Vatter: Handbuch der Abstimmungsforschung (NZZ Libro)
Das sechsteilige Werk bietet eine profunde Übersicht über die Abstimmungsforschung mit speziellem Fokus auf die Schweiz. Die Autoren differenzieren dabei zwischen einer systemischen (Abstimmungssystemforschung) und einer individuellen Ebene (Abstimmungsverhaltensforschung). Die ersten beiden Teile des Buches sind der Abstimmungssystemforschung zuzuordnen und widmen sich der Analyse der Eigenheiten der direkten Demokratie, deren konstituierenden Instrumente und den potenziellen Wirkungen auf die Performanz verschiedener Systembereiche (Gesellschaft, Wirtschaft, usw.). Der dritte Teil beschreibt die gängigen Datentypen, deren Vor- und Nachteile, als auch die verschiedenen methodischen Erhebungsformen (Fragebogen, Stichproben, Datenauswertung, usw.) und die Probleme, die sich dabei ergeben.

Die letzten drei Buchteile widmen sich der Ebene der Abstimmungsverhaltensforschung. Sie sind im Gegensatz zu den ersten beiden Teilen des Buches nicht ausschliesslich deskriptiv, sondern illustrierten auch konkrete Anwendungen theoretischer Ansätze. So werden im vierten Teil nicht nur theoretische Weiterentwicklungen und konkrete Anwendungen (vor allem aus der US-amerikanischen Abstimmungsforschung) analysiert, sondern auch die Anwendung dieser sozialwissenschaftlichen Dogmen auf die Spezifika des schweizerischen Politsystems diskutiert.

Im fünften Teil wird nach den Grenzen der direkten Demokratie gefragt: Ist die Stimmbürgerschaft tatsächlich ausreichend kompetent? Wie wirken sich Medien, Propaganda, Parteien und Behördenpositionen auf das individuelle Abstimmungsverhalten aus? Ist das Stimmvolk käuflich? Was ist die Rolle der Umfrageforschung? Der letzte Teil schliesslich befasst sich mit dem latent-brisanten Thema der Partizipation bei Schweizer Sachabstimmungen und deren Determinanten. Zentrale Fragen hierbei sind: Führen höhere Beteiligungsraten auch zu anderen Outcomes bei Sachabstimmungen? Was sind die Gründe für Stimmabstinenz? Und: Ist das Schweizer Stimmvolk abstimmungsmüde geworden? (sl)

Scholten AbstimmungskampagnenHeike Scholten und Klaus Kamps (Hrsg.): Abstimmungskampagnen: Politikvermittlung in der Referendumsdemokratie (Springer)
Die beiden Herausgeber Heike Scholten (ehem. Kampagnenleiterin Economiesuisse) und Klaus Kamps (Dozent Politik- und Kommunikationswissenschaften) legen einen umfangreichen Sammelband mit nicht weniger als 31 Kurzaufsätzen von einem breiten Spektrum von Autoren vor. Darin wird vorab der institutionelle Rahmen der Referendumsdemokratie dargestellt (Hanspeter Kriesi und Laurent Bernhard), die politische Kultur derselben aufgezeichnet (Susanne Pickel) und die Spannungsfelder wie der Basis-Elite-Konflikt skizziert (Michael Hermann).

Weiter widmen sich diverse Beiträge den spezifischen mannigfaltigen Akteuren, die in der direkten Demokratie wirken: So wird das «Bundesratszimmer» unter die Lupe genommen (Oswald Sigg), die Behördenkommunikation auf kantonaler Ebene (Peter Grünenfelder) und natürlich die schweizerischen Parteien (Guido Schommer) präsentiert. Das Verhältnis der Wirtschaft (Pascal Gentinetta) sowie der Gewerkschaften (Pietro Cavadini) zur direkten Demokratie kommen ebenso zum Zug.

Diverse Praktiker und somit selbst Akteure vermitteln darauf Einblicke und ihre Sichtweise zu ihrer Rolle. So diejenige von Journalisten (Antonio Antoniazzi sowie Georges Wüthrich), von Campaignern (Heike Scholten), von Umfrageforschern (Claude Longchamp) oder der PR (Urs Rellstab sowie Hermann Strittmatter).

Hervorzuheben ist schliesslich der inter- beziehungsweise immerhin binationale Fokus. Nicht nur stammen Verlag und Herausgeberschaft, sondern auch an ansehnlicher Teil der Autoren aus Deutschland, wodurch in etlichen Beiträgen vergleichende und erhellende Perspektiven eingenommen werden.

Balsiger WahlkampfMark Balsiger: Wahlkampf statt Blindflug (Stämpfli)
Sie wollen Kantons- oder gar Nationalrat werden, haben aber bloss 50 Franken auf der hohen Kante? Investieren Sie sie in dieses einzigartige und umfangreiche Handbuch! Nachdem Politikberater Mark Balsiger bereits in den Wahljahren 2007 und 2011 mit jeweils einer «Wahlkampf-Bibel» aufwartete, ist nun sein Drittling bereits ein wenig früher im Rennen.

Das Erfolgsmodell Balsigers besteht aus 26 zu optimierenden Faktoren, unterteilt in drei Stufen: Grundlegend die 7 Anker-Faktoren, welche im letzten Jahr vor den Wahlen kaum mehr zu verändern sind, wie etwa der Bisherigenbonus oder das Image der eigenen Partei. Darauf aufbauend finden sich 11 Engagement-Faktoren, welche die Kandidaten massgeblich beeinflussen: Ambitionen und Leidenschaft, Fachkompetenz und ein Unterstützungskomitee. Fast etwas beschämt schliesst der Autor diese Liste mit dem – wohl wichtigsten – Punkt «Geld», um ihm leider lediglich zwei, drei Absätze zu widmen. Obendrauf folgen letztlich 8 Verpackungs-Faktoren (vom Online-Profil über die Medienpräsenz bis zum Aussehen), die einen wirkungsvollen Wahlkampf abrunden.

Die weiteren Kapitel widmen sich umfangreichen und vielfältig illustrierten Darstellungen von erfolgreichen Wahlkampagnen auf kommunaler, kantonaler und nationaler Ebene. Es folgt ein sehr praxisorientierter Teil über die Pflege und potentielle Fettnäpfchen der Social Media. Komplettiert wird das Handbuch mit einem abwechslungsreichen, wenngleich etwas selektiven Lexikon über 85 Stichworte, von «Abwahl» über «Leserbriefe» bis «Wahlzeitung».

Kritisch anzumerken gilt leider, dass wahlrechtliche Aspekte oftmals fehlen und falls erwähnt, dann teilweise einseitig bis falsch dargestellt werden. Symptomatisch ist hierfür, dass unter den 26 Erfolgsfaktoren so essenzielle Parameter wie das entsprechende Wahlsystem oder (natürliche oder direkte) Quoren fehlen.

 

Mitarbeit: Lukas Leuzinger und Sandro Lüscher.

Vom Gegner zur prägenden Figur des Bundesstaats

Logo_Serie_TrouvaillenViele assoziieren die historische Figur Josef Zemp primär mit dem Bruch der exekutiven Alleinherrschaft des liberal-radikalen Freisinns. Doch die Geschichte rund um Zemp hat weitaus mehr zu bieten.

Ein Gastbeitrag von Sandro Lüscher (Student Politikwissenschaften an der Universität Zürich).

Der Jurist und Politiker Josef Zemp (1834–1908) aus dem Entlebuch präsentiert eine einzigartige politische Karriere, die 1863 mit seiner Wahl in den Grossen Rat des Kantons Luzern ihren Anfang nahm. Ab 1871 war er Ständerat und prompt ein Jahr später schaffte er den Sprung in den Nationalrat (zu jenen Zeiten war der Umweg übers «Stöckli» in den Nationalrat im Gegensatz zu heute üblich). Dort amtierte er bis 1891, wobei er in der letzten Legislaturperiode den Nationalrat präsidierte. Im Jahre 1891 wurde er als erster Nicht-Freisinniger in einer spektakulären Wahl in den Bundesrat gewählt.[1]

Josef Zemp (1834 – 1908)

Josef Zemp (1834 – 1908)

Bereits früh in seiner politischen Karriere machte Zemp mit seinen institutionellen Revisionsbestrebungen auf sich aufmerksam. So machte er sich zum Beispiel 1882 für Anpassungen am Wahlsystem seines Heimatkantons Luzern stark: Er forderte für die Grossratswahlen einerseits die Einführung des Proporzwahlsystems, andererseits plädierte er für die Urnenwahl, die zu diesem Zeitpunkt mit wenigen Ausnahmen (Freiburg, Basel-Land und Tessin) in allen anderen Kantonen üblich war.[2]

Zemp, der persistente Motionär

Der Grosse Rat lehnte beide Vorschläge auf Antrag der Kantonsregierung mit der Begründung ab, dass erstens das Urnensystem das Missbrauchsrisiko erhöhe (Stimmenkauf und Betrug). Zweitens werde mit dem Urnensystem versucht, den Begriff der Gemeinde aufzulösen und so das gemeinschaftliche Moment beim Wahlverfahren zu unterminieren.[3]

Weder Zemp noch der damalige Bundesrat konnten diesen Begründungen beipflichten, weshalb der Bundesrat im darauffolgenden Jahr auf einen Gesetzesentwurf hin drang, das Urnensystem den Kantonen aufzudiktieren.[4]

Nur zwei Jahre später, 1884, reichte Josef Zemp mit zwei seiner katholisch-konservativen Ratskollegen, dem St. Galler Johann Joseph Keel und dem Tessiner Martino Pedrazzini , eine Motion zur Revision der Bundesverfassung ein, die bis weit über das katholisch-konservative Lager hinaus hohe Beachtung fand.[5] Die Motion bestand aus einem fünfteiligen Paket, welches in den damaligen Medien als «Revisionsbombe» persifliert wurde.

Unter anderem forderten die drei Motionäre die Revision der Wahlgrundlagen basierend auf dem Artikel 73 der Bundesverfassung 1874[6]. Sie schlugen vor, den Artikel dahin zu ergänzen, dass pro innerkantonalem Wahlkreis ein bis höchstens drei Vertreter zu wählen seien. Zudem forderten sie eine akkuratere Umsetzung des Grundsatzes der proportionalen Vertretung – mit anderen Worten: das Proporzwahlsystem.[7] Obwohl die Vorschläge damals keine parlamentarischen Mehrheiten fanden, begründeten sie die ideelle Anfangsphase eines auf Konsens angelegten politischen Systems.

Zemp, der konziliante Pragmatiker

Die Reformbestrebungen Zemps et al. sind vor allem vor ihrem zeitgeschichtlichen Hintergrund interessant. Der Kulturkampf zwischen den zentralistischen und laizistischen Radikal-Liberalen einerseits und den stark föderalistischen Katholisch-Konservativen andererseits schwelte nach der Beilegung des Sonderbundskriegs im Jahre 1847 noch lange weiter. Mit dem durch die Totalrevision der Bundesverfassung 1874 implementierten fakultativen Referendum, hatten die Katholisch-Konservativen fortan ein probates Mittel, der freisinnigen Übermacht Paroli zu bieten.

Die Katholisch-Konservativen realisierten, dass sie mit dem Referendum eine systematische Blockierung der Bundesgesetzgebung herbeiführen können und kippten so auch in den sogenannten Referendumsstürmen von 1874 bis etwa 1884 über ein Dutzend Vorlagen.[8] Insofern sind Zemps Reformvorstösse auch als eine Abkehr von der systematischen Opposition (Stichwort Deblockierung) in Form einer institutionellen Kompromissforderung und als einen Schritt in die konsensdemokratische Verhandlungskultur zu verstehen.

Es ist jedoch wichtig zu erwähnen, dass man die spätere Wahl des katholisch-konservativen Josef Zemp in den Bundesrat nicht als eine Ursache des Annäherungskurses zwischen den beiden rivalisierenden Parteien verstehen sollte, sondern als als eine Wirkung eines umfassenderen Annäherungsprozesses, der bereits einige Jahre vor der Wahl Zemps in den Bundesrat seine Anfänge nahm.[9]

Von besonderer Bedeutung ist auch die Einsicht von Zemp, dass «die fehlende Möglichkeit der Partialrevision geradezu einem Zwang gleichkomme, auch für die Verwirklichung von Einzelpostulaten den mühsamen Weg der Totalrevision in Anspruch nehmen [zu müssen], also den Ausnahmefall zum Regelfall zu machen.»[10] Dieser Gedanke fand seine Vollendung bekanntlich in der Einführung der Volksinitiative auf Partialrevision der Bundesverfassung im Jahre 1891.

Zemp als Begründer des staatlichen Bahnwesens

Eine nicht weniger weitblickende Einsicht Zemps war, dass das Referendum eine minderheiten-begünstigende Wirkung hatte, was ihn und seine Parteikollegen dazu anspornte, das Fakultativum in ein Obligatorium umzuwandeln, um ihm seine ad hoc anwendbare Wirkung zu nehmen. Zudem forderte Zemp, dass das Obligatorium auf Staatsverträge ausgeweitet wird und dass der Anwendungsbereich der Dringlichkeitsklausel normiert wird.[11] Diese Vorschläge fanden ihre Anwendung in der Einführung des obligatorischen beziehungsweise fakultativen Staatsvertragsreferendums von 1921 und einer klaren Definition des Anwendungsbereiches der Dringlichkeitsklausel (auch als Folge deren extensiven Missbrauchs) in der Einführung des resolutiven Referendums von 1949.

Von den institutionellen Reformbestrebungen abgesehen, war Zemp auch als Bundesrat eine treibende Kraft. Von seinem zurückgetretenen freisinnigen Vorgänger Emil Welti erbte er die Leitung des Post- und Eisenbahndepartements. Obwohl oder gerade weil er ein notorischer Gegner der Eisenbahnverstaatlichung war, war es ein ausgesprochen gewiefter Schachzug des Bundesratskollegiums, ihm genau dieses Departement zu übertragen.

So setzte sich Zemp fortan für den Rückkauf der Eisenbahnen ein, der schliesslich 1898 in einer Volksabstimmung angenommen wurde. Die Annahme dieser Vorlage bildete den Ausgangspunkt einer längeren Kaskade von Verstaatlichungsprozessen, was schliesslich den Weg für die Gründung der Schweizerischen Bundesbahnen frei machte. Durch dieses politische Vermächtnis erlangte Zemp grosse Popularität, wenn er dafür parteiintern auch einiges an Kritik einstecken musste.[12]

Dies war nur ein bruchteilhafter Ausschnitt aus der aussergewöhnlichen Geschichte von und rund um Josef Zemp, der das Reformpotenzial auf den verschiedensten Ebenen des politischen Systems früh erkannt hatte und mit imposanter Beharrlichkeit den politischen Diskurs des damals noch jungen schweizerischen Bundesstaates mitprägte.

Dieser Beitrag ist der siebte Teil der Serie «Trouvaillen aus den Anfängen des Bundesstaats». Bereits publiziert:

____________________

[1] Vgl. Historisches Lexikon der Schweiz: Zemp, Josef [Stand: 24.12.2014].

[2] Die Kantone Luzern, Freiburg, Basel-Land und Tessin kannten zu diesem Zeitpunkt noch die öffentliche Verlesung und Zählung der Stimmzettel, vgl. Erich Gruner (1978a): Die Wahlen in den schweizerischen Nationalrat 1848 – 1919. Wahlrecht, Wahlsystem, Wahlbeteiligung, Verhalten von Wählern und Parteien, Wahlthemen und Wahlkämpfe, Teil 1, Bern, S. 140.

[3] Vgl. ebd., S. 140.

[4] Vgl. ebd., S. 140 f.

[5] Vgl. Ruedi Lustenberger, Beiträge des Katholizismus zur modernen Schweiz. Wissenschaftliche Konferenz. Schwyz, 17. Oktober 2014, Grusswort [Stand: 24.12.2014].

[6] Art. 73 BV 1874: «1 Die Wahlen in den Nationalrat sind direkte. Sie finden nach dem Grundsatze der Proportionalität statt, wobei jeder Kanton und jeder Halbkanton einen Wahlkreis bildet. 2 Die Bundesgesetzgebung trifft über die Ausführung dieses Grundsatzes die näheren Bestimmungen.»

[7] Vgl. Gruner 1978a: S. 357 f.

[8] Vgl. NZZ, Ein Anfang der Konkordanz, 08.12.2008 [Stand: 24.12.2014].

[9] Vgl. Christan Bolliger, Regula Zürcher (2004): Deblockierung durch Kooptation? Eine Fallstudie zur Aufnahme der Katholisch-Konservativen in die schweizerische Landesregierung 1891, Swiss Political Science Review 10 (4): S. 59–92.

[10] Gruner (1978b): Die Wahlen in den schweizerischen Nationalrat 1848 – 1919. Wahlrecht, Wahlsystem, Wahlbeteiligung, Verhalten von Wählern und Parteien, Wahlthemen und Wahlkämpfe, Teil 2, Bern, S. 705.

[11] Vgl. ebd., S. 705.

[12] Vgl. Historisches Lexikon der Schweiz: Zemp, Josef [Stand: 24.12.2014].

Wie das Tessin zum Schweizer Proporzpionier wurde

Logo_Serie_TrouvaillenImmer wieder war das Tessin im 19. Jahrhundert Schauplatz hitziger Konflikte zwischen Liberalen und Konservativen. Den Frieden brachten schliesslich zwei Neuerungen, die den Kanton zum Vorbild für die ganze Schweiz machen sollten.

In keinem anderen Kanton war im 19. Jahrhundert der Konflikt zwischen Liberalen und Konservativen derart heftig wie im Tessin. Der Höhepunkt der Auseinandersetzungen war der Putsch von 1890, der den Kanton an den Rand eines Bürgerkriegs brachte. Am Ursprung der blutigen Ereignisse stand das Wahlrecht – dieses sollte sich zugleich als der Schlüssel zur Befriedung des Konflikts herausstellen.

1830 nahm das Tessin ein erstes Mal eine Pionierrolle innerhalb der Eidgenossenschaft ein, als es als erster Kanton eine liberale Regenerationsverfassung in Kraft setzte. Diese basierte auf den Ideen der französischen Revolution und proklamierte Freiheit, Gleichheit sowie die Trennung von Kirche und Staat. Gegen diese Grundsätze formierte sich bald Widerstand kirchentreuer Konservativer.

Die beiden politischen Blöcke lieferten sich in der Folge einen erbitterten Streit um die Macht, bei dem beide Seiten wenig zimperlich vorgingen. So enteignete die radikale Regierung 1848 – als infolge der Gründung des Bundesstaats die Zolleinnahmen wegfielen – kurzerhand die Klöster, um die maroden Staatsfinanzen aufzubessern. 1855 ging sie noch weiter, als sie den verhassten Klerus vom Wahlrecht ausschloss, ein klarer Widerspruch zur Bundesverfassung.

Das geltende Wahlsystem verstärkte die Polarisierung. Gewählt wurde das Parlament – wie damals üblich – im Majorzsystem, und zwar in 38 Wahlkreisen mit je 3 Sitzen. Das Mehrheitssystem hatte den bekannten Effekt, dass kleine Unterschiede an erhaltenen Stimmen die Kräfteverhältnisse im Kanton gänzlich umkehren konnten. Umso erbitterter kämpften die beiden Parteien um die Macht, weil der Mehrheit im Parlament alles, der Minderheit nichts zukam. Ein italienischer Besucher beschrieb die politische Kultur so: «Bei jedem Machtwechsel im Kanton Tessin unterdrückt die Siegerpartei moralisch alle Anhänger der Besiegten und besetzt alle Ämter, auch die geringsten, mit den eigenen Parteigängern.»[1]

Nach dem Wahlsieg der Konservativen 1875 nahmen die Spannungen weiter zu. Die unterlegenen Radikalen reichten beim Bundesrat Rekurs gegen die Grossratswahlen ein mit der Begründung, durch das Wahlsystem benachteiligt zu werden. Tatsächlich verletzte dieses den Grundsatz der politischen Gleichheit in grober Weise, weil die einzelnen Wahlkreise zwar unterschiedlich grosse Bevölkerungen zählten, trotzdem aber alle Anrecht auf genau drei Sitze hatten.[2] Bevorteilt wurden vor allem kleine Kreise in den Tälern, wo die Konservativen besonders stark waren.[3]

Auch der Bundesrat sah die Verfassung durch das Tessiner Wahlsystem verletzt, sah sich aber nicht dafür zuständig und überwies die Angelegenheit an die Bundesversammlung, das den fraglichen Artikel in der Tessiner Verfassung schliesslich ausser Kraft setzte.

Die Auseinandersetzung um die Ausgestaltung des neuen Wahlsystems verschärfte den Konflikt zwischen Liberalen und Konservativen weiter. 1876 kam es in Stabio zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit mehreren Todesopfern. Daraufhin intervenierte der Bundesrat und sendete zum ersten Mal einen Kommissär ins Tessin. Unter seiner Vermittlung einigten sich die verfeindeten Gruppen darauf, die Wahlen von 1879 um zwei Jahre vorzuverschieben und unter einem neuen Wahlsystem durchzuführen, das die Sitze nach Massgabe der Bevölkerung auf die Wahlkreise verteilte.

Vom Regen in die Traufe

Die Konservativen gewannen die Wahlen erneut und machten sich sogleich daran, ihre Macht zu sichern. Mit der Mehrheit im Grossen Rat konnten sie die Wahlkreise nach Belieben einteilen und griffen dabei zur mehrfach bewährten Methode des «Gerrymandering». So teilte sie dem Wahlkreis Gambarogno, der bis dahin zuverlässig liberal gewählt hatte, die beiden konservativen Gemeinden Gordola und Cugnasco zu, woraus sich ein Wahlkreis mit vier Sitzen ergab, die fortan alle an die Konservativen fielen. Angesichts solcher Manipulationen[4] bezeichnete der Jurist Albert Schneider in einem Bericht die Wahlgeografie im Kanton Tessin als «artifiziell und monstruös».[5] Hinzu kam, dass für die Berechnung der Sitzzahlen auch Bürger gezählt wurden, die längst nicht mehr in der Gemeinde wohnten. Das gab den mehrheitlich konservativen Gemeinden in den Tälern, deren Einwohner vielfach nach Italien emigriert waren, zusätzliches Gewicht.

Für die Liberalen war die Änderung des «ungerechten» Wahlsystems somit ein Wechsel vom Regen in die Traufe. Exemplarisch zeigte sich dies bei den Wahlen 1889, bei denen die Konservativen mit 51 Prozent der Stimmen 69 Prozent der Sitze im Grossen Rat holten.[6] Die radikale Zeitung «Il Dovere» (die heutige «La Regione») kommentierte sarkastisch: «Es lebe die Gleichberechtigung!»

Das Wahlresultat bestätigte die Liberalen in ihrer Befürchtung, trotz ausgeglichener Kräfteverhältnisse auf lange Frist von der Macht ausgeschlossen zu bleiben. Ihre Empörung entlud sich zunächst in der rekordverdächtigen Zahl von 726 Rekursen, die gegen das Ergebnis beim Bundesrat eingingen. Bald schon griffen sie allerdings zu drastischeren Mitteln: Am 11. September 1890 stürmte eine Gruppe radikaler Aufständischer das Regierungsgebäude in Bellinzona und verhaftete die anwesenden Regierungsmitglieder. Im Getümmel wurde der Staatsrat Luigi Rossi durch einen Revolverschuss getötet. Die Revolutionäre riefen eine provisorische Regierung aus und setzten das Parlament ab.

Oberst Arnold Künzli

Oberst Arnold Künzli.

Der Bundesrat reagierte sofort und beschloss eine Bundesintervention. Er schickte zwei Berner Infanteriebataillone – die gerade einen WK in der Nähe leisteten – unter der Führung von Nationalrat und Oberst Arnold Künzli ins Tessin. Er hatte den Auftrag, die provisorische Regierung aufzulösen und vorübergehend selbst die Regierungsgewalt zu übernehmen.

Am 12. September trafen Künzlis Truppen mit einem Sonderzug in Bellinzona ein. Er ermahnte das Volk zunächst in einer Proklamation zur Ruhe und machte sich dann daran, die verhafteten Staatsräte wieder auf freien Fuss zu setzen.

Dann allerdings kam es zu einem Missverständnis, das beinahe folgenschwer gewesen wäre. Der Bundesrat hatte Künzli nämlich in einer ergänzenden Weisung am 13. September beauftragt, ihm «zu berichten, in welchem Momente die gesprengte Regierung im Stande und gewillt sei, ihre Funktionen wieder auszuüben». Künzli leitete daraus die Aufforderung ab, die konservative Regierung wieder einzusetzen. Das, so seine Befürchtung, würde jedoch neue Unruhen und Blutvergiessen zur Folge haben. Künzli telegrafierte nach Bern, der Auftrag erscheine ihm «so folgenschwer, ernst und bedenklich für Zukunft des Kantons und der Eidgenossenschaft, dass ich meinen Namen mit dieser Massregel nicht verknüpfen kann». Der Oberst verweigerte den Befehl und ersuchte den Bundesrat um Entlassung als Kommissär.

Die Regierung antwortete umgehend und erklärte: «Wir haben Sie nicht beauftragt, die alte Regierung wieder einzusetzen, sondern über die Frage zu berichten, in welchem Moment dieselbe im Stande und Willens sei, die Staatsgeschäfte wieder an die Hand zu nehmen.» Der Bundesrat lehnte das Demissionsgesuch ab, nicht ohne aber Künzli zu ermuntern: «Wir verkennen die Schwierigkeit Ihrer Aufgabe nicht, appellieren aber an Ihren Patriotismus.»

In der Folge setzte Künzli die provisorische Regierung ab und setzte die von den Liberalen verlangte Abstimmung über die Ausarbeitung einer neuen Verfassung an. Nachdem das Volk dieser am 5. Oktober zugestimmt hatte, ging es nun darum, ein politisches System zu finden, das dem Kanton endlich friedliche und stabile Verhältnisse bringen würde. Oberst Künzli sollte recht behalten mit seinen Worten, die er bereits kurz nach seiner Ankunft im Tessin geäussert hatte: «Frieden und bessere Zustände können nur wiederkehren, wenn jede Partei die Vertretung in den administrativen und richterlichen Behörden erhält, die ihr nach ihrer Stärke gebührt, und wenn die vernünftigen Theile beider Parteien auf dieser Grundlage zu einer Verständigung gelangen.»

«Zu kompliziert»

Auf Anregung von Künzli organisierte der Bundesrat eine Reihe von Versöhnungskonferenzen zwischen den zerstrittenen Fraktionen und versuchte einen Kompromiss zwischen ihnen zu vermitteln. Zunächst verlangte die bundesrätliche Delegation die Wahl einer «gemischten Regierung», also eines Staatsrats, der aus Konservativen und Liberalen zusammengesetzt ist.

Was das Wahlsystem angeht, verzichtete der Bundesrat zunächst auf eine konkrete Empfehlung und sprach sich stattdessen grundsätzlich für ein System aus, das «die gerechte Vertretung der Parteien» gewährleisten würde. Die Einführung des Proporzsystems wurde im Grossen Rat diskutiert, allerdings schreckte man davor zurück, da die Anwendung dieses Systems «zu kompliziert» sei und «unser Volk mit der Idee derselben noch zu wenig vertraut» sei, wie es der gemässigt konservative Abgeordnete Agostino Soldati ausdrückte.[7] Die Konservativen schlugen stattdessen das System der «limitierten Stimmabgabe» vor.[8]

Allerdings kam eine vom Bundesrat in Auftrag gegebene statistische Untersuchung zum Schluss, dass dieses System die konservative Dominanz nur leicht vermindern würde. Weil die Liberalen zudem die limitierte Stimmabgabe ablehnten und damit eine neue Staatskrise drohte, ging der Bundesrat schliesslich in die Offensive und sprach sich offen für das «System der Proportionalvertretung» aus.

Unter dem Druck der Landesregierung stimmten die verfeindeten Parteien den bundesrätlichen Vorschlägen schliesslich zu. Am 5. Dezember 1890 verabschiedete der Grosse Rat ein Gesetz zur Wahl des Verfassungsrats nach dem Proporzsystem.[9] Gleichzeitig wählte er zwei Liberale in den fünfköpfigen Staatsrat (der damals noch nicht vom Volk gewählt wurde). Zum ersten Mal wurde das Tessin im Konkordanzsystem regiert.

Die erstmalige Anwendung des Proporzsystems in der Schweiz verlief allerdings nicht wie gewünscht: Denn die Konservativen versuchten das neue System zu ihrem Vorteil auszunutzen, indem sie in einigen Wahlkreisen mehrere Listen aufstellten in der Hoffnung, damit mehr Sitze zu gewinnen. Die Liberalen waren darüber derart erbost, dass sie die Wahl am 11. Januar kurzerhand boykottierten. Als Folge davon bestand der Verfassungsrat vollständig aus Konservativen. Immerhin führte dieser Verfassungsrat das Proporzsystem auch für die Wahlen des Grossen Rats ein und sorgte damit für eine fairere Verteilung der Parlamentssitze.

Die Debatte über das Wahlsystem war damit im Tessin zwar noch lange nicht abgeschlossen.[10] Fortan wurde diese Debatte aber im Rahmen eines geordneten demokratischen Prozesses ausgetragen. Gewaltsame Auseinandersetzungen gehörten der Vergangenheit an.

Vorbild für den Bund

Die Ironie der Geschichte ist, dass der freisinnige Bundesrat den Kanton Tessin zu zwei Neuerungen zwang, denen er sich auf Bundesebene vehement widersetzte: die Proporzwahl und die Konkordanz. Während er die Tessiner Konservativen dazu drängte, den Liberalen eine angemessene Vertretung in der Regierung zuzugestehen, verweigerte er genau das den Konservativen im Bundesstaat. Immerhin wurde 1891 mit Josef Zemp der erste Katholisch-Konservative in den Bundesrat gewählt. Auch von einer «gerechten Vertretung der Parteien» im Parlament, wie er sie im Tessin forderte, wollte der Bundesrat im Bezug auf den Nationalrat nichts wissen und sträubte sich bis 1918 dagegen, als das Volk die Proporzwahl der grossen Kammer annahm.

Das doppelte Spiel der freisinnigen Mehrheit in Bundesbern sorgte schon damals für kritische Töne. So klagte der Zürcher Konservative Georg von Wyss 1890 in einem Brief: «Welch trauriges Spektakel, dass die [eidgenössischen] Räte (…) die Tessiner Revolutionäre schützen und für sie Konzessionen fordern, die sie gleichzeitig all jenen verweigern, welche nicht gleich denken wie sie.»[11]

Schliesslich ist noch eine weitere Neuerung im Kanton Tessin aufschlussreich: 1892 führte der Südkanton nicht nur die Volkswahl der Regierung (nach dem Proporzverfahren) ein, sondern auch die Möglichkeit, dieselbe mittels Volksabstimmung abzuberufen. Diese Reform wurde explizit damit begründet, dass dadurch gewaltsame Umstürze verhindert werden könnten.

Dieser Beitrag ist der sechste Teil der (unterdessen endlosen) Serie «Trouvaillen aus den Anfängen des Bundesstaats». Bereits publiziert:

 


[1] Dossi, Carlo (1964): Note azzurre, zitiert in: Ceschi, Raffaello (2003): Geschichte des Kantons Tessin.

[2] Gemäss dem Bundesrat hatte etwa eine Stimme im Kreis Levizzara fast sechsmal mehr Gewicht als eine in Lugano. Quelle: Kölz, Alfred (1992): Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte.

[3] Die Liberalen, die sich nun darüber beklagten, hatten es aber offenbar nicht für nötig befunden, während ihrer über 30 Jahre an der Macht das Wahlsystem anzupassen.

[4] Für weitere Beispiele siehe Ghiringhelli, Andrea (1995): Il cittadino e il voto.

[5] Schneider, Albert (1889): Rapporto sui ricorsi concernenti le elezioni al Gran Consiglio presentato all’alto Consiglio Federale, zitiert in: Ceschi, Raffaello (2003): Geschichte des Kantons Tessin.

[6] Die Konservativen erhielten 12’653 Stimmen und 77 Sitze, die Liberalen 12’018 Stimmen und 35 Sitze. Quelle: Ghiringhelli (1995).

[7] Man beachte die Parallelen zur Diskussion, die später auf Bundesebene geführt wurde.

[8] Dabei handelt es sich um eine Mehrheitswahl in Mehrpersonenwahlkreisen (wie sie damals in der Schweiz üblich war) mit der Besonderheit, dass die Wähler weniger Stimmen zur Verfügung haben, als Sitze zu vergeben sind. Das gibt Minderheitsparteien bessere Chancen auf eine Vertretung.

[9] Für die Aufteilung der Sitze auf die Parteien kam das Bruchzahlverfahren (Hare-Niemeyer-Verfahren) zur Anwendung und nicht das Hagenbach-Bischoff-Verfahren, das sich später in den meisten Kantonen und auf Bundesebene durchsetzen sollte. Das Tessin ist heute neben Waadt der einzige Kanton, der sein Parlament nach dem Bruchzahl-Verfahren wählt.

[10] Insbesondere wurde die Zahl der Wahlkreise von 17 kontinuierlich verkleinert, bis 1920 ein Einheitswahlkreis für den ganzen Kanton eingeführt wurde.

[11] Brief an Ernest Naville, zitiert in: Wisler, Dominique (2008): La démocratie genevoise.

Legitimeres Ständemehr durch stetige Standesstimmen

Föderalismusreformen haben’s schwer. Immerhin sollte das Ständemehr für Verfassungsänderungen exakter abgebildet werden: durch stetig-lineare statt diskret-binäre Standesstimmen. Damit gewänne das «doppelte Mehr» wieder an Legitimation.

Änderungen der Bundesverfassung bedürfen bekanntlich seit jeher nicht nur der Mehrheit der Stimmberechtigten, sondern – als Ausfluss des Föderalismusprinzips – auch der Mehrheit der 26 Kantone.[1] Das Prinzip der paritätischen Standesstimmen geht auf die Tagsatzungen und die Erfahrungen mit der unitaristischen Helvetischen Republik zurück. Das zusätzliche Erfordernis und Erschwernis des Ständemehrs war indes immer wieder Gegenstand von Kritik, aufkeimend gerade im Nachgang zu Abstimmungen, bei denen Volks- und Ständemehr divergierten. Erst im März 2013 scheiterte der damals vorgelegte «Familienartikel» – trotz Volksmehr von 54.3 Prozent Ja-Stimmen – mit 13 gegen 10 Standesstimmen.[2]

Unter dem Stichwort Föderalismusreform werden denn in der Lehre und Politik Aktualisierungen am geltenden «doppelten Mehr» angedacht. Begründet werden sie einerseits damit, dass sich die bei der Gründung des Bundesstaats manifesten konfessionellen Konfliktlinien nunmehr ausgelebt hätten beziehungsweise anderen Gräben gewichen seien, etwa der sprachregionale Graben, welche ihrerseits jedoch von keinem Minderheitenschutz begleitet seien.[3] Andererseits habe sich das föderale Korrektiv der Kleinkantone aufgrund der demografisch ungleichen Entwicklung zu stark akzentuiert. Die kleinsten 14 Kantone (mit 11 ½ Standesstimmen) stellen bloss 18.4 Prozent des schweizweiten Stimmvolks. Theoretisch könnte die Hälfte davon, 9.2 Prozent des Elektorats, die anderen, grösseren 12 Kantone (und somit 90.8 Prozent der Stimmbürger!) überstimmen.

Föderales Korrektiv bedürfte demokratischer Korrektur

«Um die heutige Schieflage zwischen Föderalismus- und Demokratieprinzip zu revidieren»[4], wird daher in unzähligen Modellen und Ausgestaltungen folgerichtig gefordert, die bevölkerungsreichen Kantone (beziehungsweise die Städte) bei der Berechnung des Ständemehrs (und analog auch bei der Zusammensetzung des Ständerats) wieder stärker zu gewichten.[5] Solcherlei Bestrebungen wird indes kaum Erfolg beschieden sein: Das Update des Föderalismus würde zwangsläufig an ebendiesem selbst scheitern: Die Kleinkantone werden kaum Hand bieten, sich selbst zu entmachten, bedarf die nötige Anpassung doch einer Verfassungsänderung.[6] Und somit des (heutigen) Ständemehrs. Diese Vetomacht der Kleinen wird sich langfristig tendenziell weiter verschärfen und dadurch perpetuieren.[7]

Die Problematik wurde, erstaunlicherweise unbemerkt, auch kürzlich im Nationalrat debattiert. Eine Parlamentarische Initiative Nordmann verlangte die «Ausbalancierung des Föderalismus», ohne sich aber bereits auf ein konkretes Modell zur Neuberechnung des Ständemehrs festzulegen. Das Ansinnen scheiterte klar mit 113 zu 58 Stimmen, der Kommissionssprecher Martin Bäumle führte aus: «Die gleiche Berücksichtigung jedes einzelnen Kantons, unabhängig von seiner Grösse, bei der Berechnung des Ständemehrs und der Zusammensetzung des Ständerates stellt einen der zentralen Pfeiler des schweizerischen Föderalismus dar.»

Diesem suggerierten absoluten Paritätsdogma wurde jedoch ohnehin noch nie nachgekommen, wie die jeweils bloss halben Standesstimmen der beiden Appenzell, der beiden Basel sowie Ob- und Nidwaldens zeigen. Mit der neuen Bundesverfassung von 1999 wurden die sechs ehemaligen Halbkantone zudem formell zu richtigen «Vollkantonen» aufgewertet – ausser eben, dass ihre Vertretung im Ständerat sowie beim Ständemehr weiterhin halbiert bleibt.

Statt zufälliger, binärer Standesstimme…

Noch nie hinterfragt wurde derweil, weshalb eigentlich bei Verfassungsabstimmungen den bejahenden Kantonen jeweils eine binäre Standesstimme zugewiesen wird[8], also beispielsweise den zustimmenden Kantonen Basel-Stadt bzw. Tessin der Wert ½ bzw. 1, während den ablehnenden Wallis und Appenzell Innerrhoden der Wert 0 zukommt.[9]

Diese binär-diskrete Abbildung der Kantonsresultate auf die Standesstimmen hat mehrere Nachteile. Zum einen können sich hierbei Zufallsresultate ergeben, gerade wenn die Ja- und die Nein-Anteile relativ ausgewogen sind – und genau dann kann das Ständemehr matchentscheidend sein. Freilich ist auch ein knappes Resultat beim Volksmehr aus demokratischer Sicht suboptimal. Doch muss das Aufsummieren von diversen «Swing State»-Resultaten als ungleich heikler betrachtet werden.

Zweitens werden durch diese dichotome Betrachtung die Kantone nicht eben motiviert, sich mit Verve für oder gegen eine Vorlage einzusetzen. Denn das Volksmehr beeinflussen sie ohnehin nur unwesentlich, während ihre binäre Standesstimme keinen zusätzlichen Einfluss hat, wenn aus einer knappen Verwerfung eine kantonale Kanterniederlage wird.

…besser ein genaueres, stetig-lineares Ständemehr

Aus diesen Überlegungen heraus erscheint es zweckdienlicher, die Standesstimme als den jeweiligen kantonalen Anteil der Ja-Stimmen am Total aller gültigen Stimmen zu definieren. Diese stetigen Standesstimmen werden daraufhin zum stetigen Ständemehr aufaddiert:[10]

Stetiges StändemehrNimmt also der Kanton Jura eine Volksinitiative mit 70 Prozent Ja-Stimmen an, so wird ihm eine Standesstimme von 0.7 gutgeschrieben. Lehnt der Kanton Schwyz das Begehren mit 85 Prozent Nein-Anteil ab, so erhält seine neue Standesstimme den Wert 0.15. Für die sechs Kantone mit halber Standesstimme wird analog verfahren. Heisst demnach Basel-Stadt ein obligatorisches Referendum mit 60 Prozent gut, so resultiert eine Standesstimme von 0.3.

Zugegeben, durch diese stetige Standesstimme würde sich nicht sehr viel ändern. Doch gerade dort, wo das «Doppelte Mehr» nur knapp reüssierte oder dann scheiterte, wären nachhaltigere Entscheide zu erwarten. Ein Beispiel, bei welchem das stetige Ständemehr ein anderes qualitatives Ergebnis zu Tage gefödert hätte, ist der Familienartikel, der letztes Jahr am herkömmlichen Ständemehr scheiterte:

Bundesbeschluss über die Familienpolitik
(3. März 2013
)
Kanton Volksmehr
Ja %
aktuelle (diskrete) Standesstimme stetige Standesstimme
Zürich 53.6% 1 0.536
Bern 49.4% 0 0.494
Luzern 48.8% 0 0.488
Uri 31.8% 0 0.318
Schwyz 36.9% 0 0.369
Obwalden 38.0% 0 0.190
Nidwalden 41.0% 0 0.205
Glarus 42.6% 0 0.426
Zug 47.5% 0 0.475
Freiburg 62.7% 1 0.627
Solothurn 50.4% 1 0.504
Basel-Stadt 65.0% ½ 0.325
Basel-Landschaft 52.8% ½ 0.264
Schaffhausen 44.3% 0 0.443
Appenzell A.-Rh. 40.6% 0 0.203
Appenzell I.-Rh. 27.1% 0 0.136
St. Gallen 42.8% 0 0.428
Graubünden 48.8% 0 0.488
Aargau 47.2% 0 0.472
Thurgau 41.7% 0 0.417
Tessin 66.7% 1 0.667
Waadt 70.8% 1 0.708
Wallis 57.6% 1 0.576
Neuenburg 69.8% 1 0.698
Genf 79.1% 1 0.791
Jura 70.3% 1 0.703
Schweiz 54.3% 10 : 13 11.951 : 11.049

 

Mit der stetigen Standesstimme wäre der Familienartikel also angenommen worden, nebst dem Volksmehr von 54.3% auch mit dem stetigen Ständemehr von 11.951 zu 11.049. Dies deshalb, weil ihn die befürwortenden Kantone (so GE, VD, JU) etwas stärker angenommen haben, als ihn die refüsierenden ablehnten (so AI, UR, OW).

Im Gegensatz zu den zahlreichen, bisher diskutierten Föderalismusreformen, ist das stetige Ständemehr ein neutraler Vorschlag: Es ist weder konservativ noch progressiv und würde weder kleinere noch grössere Kantone begünstigen. Auch ist die unterschiedliche Stimmbeteiligung in den einzelnen Kantonen weiterhin unerheblich, da grundsätzlich bloss die jeweiligen relativen Ja-Anteile aufaddiert werden. Während also die stetige Standesstimme das Ständemehr akkurater abbildet, wird die Parität der Kantone nicht angetastet.

Interessanterweise wäre erst kürzlich auch ein umgekehrter Fall eingetreten: die Abstimmung über die bis heute umstrittene Zweitwohnungsinitiative. So wäre diese abgelehnt worden, da sie das stetige Ständemehr (das weiterhin grösser als 23/2 = 11.5 sein muss) knapp verpasst hätte:

Volksinitiative «Schluss mit uferlosem Bau von Zweitwohnungen!»
(11. März 2012)
Kanton Volksmehr
Ja %
aktuelle (diskrete) Standesstimme stetige Standesstimme
Zürich 52.5% 1 0.525
Bern 54.9% 1 0.549
Luzern 47.3% 0 0.473
Uri 38.6% 0 0.386
Schwyz 42.8% 0 0.428
Obwalden 41.4% 0 0.207
Nidwalden 42.0% 0 0.210
Glarus 48.4% 0 0.484
Zug 44.9% 0 0.449
Freiburg 50.8% 1 0.508
Solothurn 56.2% 1 0.562
Basel-Stadt 62.2% ½ 0.311
Basel-Landschaft 56.7% ½ 0.284
Schaffhausen 57.3% 1 0.573
Appenzell A.-Rh. 56.0% ½ 0.280
Appenzell I.-Rh. 46.8% 0 0.234
St. Gallen 51.7% 1 0.517
Graubünden 42.7% 0 0.427
Aargau 50.6% 1 0.506
Thurgau 52.6% 1 0.526
Tessin 46.0% 0 0.460
Waadt 52.6% 1 0.526
Wallis 26.2% 0 0.262
Neuenburg 55.3% 1 0.553
Genf 56.0% 1 0.560
Jura 53.9% 1 0.539
Schweiz 50.6% 13 ½ : 9 ½
11.339 : 11.661

 

Während die ablehnenden (Berg-)Kantone (allen voran VS, UR, OW) das Ansinnen deutlich verwarfen, stimmten die befürwortenden Stände verhältnismässig lau zu. Daher wäre das bisherige Ständmehr von 13 ½ zu 9 ½ in ein knappes Nein von 11.339 zu 11.661 gekippt.

Durch das stetige Ständemehr könnten die unterlegenen Kantone den «Schwarzen Peter» nicht mehr reflexartig der Mehrheit der Kantone zuspielen, also den Gewinnern des heutigen «binären Ständemehrs». Denn fortan hätten es die Kantone und Regionen wieder stärker in der Hand, mit Kanterniederlagen (Fall Zweitwohnungen: Wallis und Bergregionen) oder aber einer starken Zustimmung (Fall Familienartikel: Romandie, Tessin und urbane Gebiete) nicht nur das Volksmehr, sondern auch – jedoch weiterhin paritätisch – das Ständemehr effektiv zu beeinflussen.

Dass mit dem stetigen Ständemehr in den letzten zwei Jahren gleich zwei Volksabstimmungen anders herausgekommen – und vielleicht besser akzeptierter worden – wären, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Geschichte des Bundesstaats diese Änderungen zu keinen Revolutionen geführt hätte. Die folgende Übersicht zeigt alle Volkabstimmungen mit «doppeltem Mehr», bei welchen das stetige Ständemehr ein divergierendes Resultat gezeitigt hätte:

Volksabstimmungen mit (gegenüber Status quo) divergierendem «stetigen Ständemehr»
Datum Vorlage Volks-
mehr
Ja %
aktuelles diskretes Stände-
mehr
stetiges Stände-
mehr
Änderung des qualitativen Entscheids?
03.03.1957 Ergänzung der Bundes-verfassung durch einen Artikel 22bis über den Zivilschutz 48.1% 14 : 8 10.75 : 11.25 keine Änderung (ablehnendes Volksmehr)
04.03.1973 Änderung der Bundes-verfassung betreffend das Bildungswesen 52.8% 10 ½ :
11 ½
11.41 : 10.59 Ständemehr und dadurch Vorlage angenommen
01.01.1979 Gründung des Kantons Jura (ab hier total 23 Standesstimmen)
18.02.1979 Volksinitiative «zur Wahrung der Volksrechte und der Sicherheit beim Bau und Betrieb von Atomanlagen» 48.8% 9 : 14 11.52 : 11.48 keine Änderung (ablehnendes Volksmehr)
12.06.1994 Revision der Bürger-rechtsregelung in der Bundesverfassung (Erleichterte Einbürgerung für junge Ausländer) 52.8% 10 : 13 11.65 : 11.35 Ständemehr und dadurch Vorlage angenommen
12.03.1995 Gegenentwurf zur Volksinitiative «für eine umweltgerechte und leistungsfähige bäuerliche Landwirtschaft» 49.1% 9 : 14 11.75 : 11.25 keine Änderung (ablehnendes Volksmehr)
26.09.2004 Volksinitiative «Postdienste für alle» 49.8% 9 ½ : 13 ½ 11.82 : 11.18 keine Änderung (ablehnendes Volksmehr)
11.03.2012 Volksinitiative «Schluss mit uferlosem Bau von Zweitwohnungen!» 50.6% 13 ½ : 9 ½ 11.34 : 11.66 Ständemehr und dadurch Vorlage abgelehnt
03.03.2013 Bundesbeschluss über die Familienpolitik 54.3% 10 : 13 11.95 : 11.05 Ständemehr und dadurch Vorlage angenommen

 

Gegen das stetige Ständemehr könnte hervorgebracht werden, damit würden die Kantone nicht mehr als eine Einheit betrachtet, die bisher «ungeteilte Standesstimme» werde verletzt. Dem ist einerseits entgegenzuhalten, dass die starke Homogenität, wie sie in etlichen Kantonen noch in den Anfängen des Bundesstaates vorherrschte, praktisch verschwunden ist.[11]

«Geteilte Standesstimme»

Zudem erscheint es durchaus legitim, auch den Minderheiten der Minderheiten – beispielsweise den Links-Grünen im Appenzell oder den Rechtskonservativen im Jura – eine minoritäre Stimme zu geben, anstatt diese Stimmen beim Eruieren des Ständemehrs einfach komplett zu übergehen. Und gerade auch der Maxime der «ungeteilten Standesstimme» bei Ständeratswahlen wird in dieser Reinform kaum nachgelebt[12]: Abgesehen vom Kanton Schwyz bestellen alle 20 Kantone ein mehr oder weniger heterogenes Duo in den Ständerat – und repräsentieren dadurch breitere Kreise als bloss die grösste Kantonalpartei. Die «geteilte Standesstimme» ist daher nicht einmal ein völliges Novum.

Das eingangs erwähnte Problem der teilweise krassen und sich akzentuierenden Unterschiede der Stimmenkraft zugunsten der Bevorteilung kleiner, insbesondere konservativer Deutschweizer Kantone bliebe zwar auch mit dem stetigen Ständemehr bestehen. Ebenso die fehlende Protektion anderer Minderheiten wie der Städte und Agglomerationen, der Sprachregionen oder der NFA-Nettozahler.

Nichtsdestotrotz sollte immerhin einmal diese Mini-Reform in Angriff genommen werden. Denn wenn der Schweizer Föderalismus nach 166 Jahren nicht einmal imstande sein sollte, eine solch filigrane Reform über sich ergehen zu lassen: Wie soll dann jemals überhaupt eine Föderalismusreform erfolgreich umgesetzt werden?

 


[1] Von 1848 bis zur Gründung des Kantons Jura per 1. Januar 1979 bestand der Bundesstaat aus 25 Kantonen (19 Kantone und 3 mal 2 Halbkantone), womit bis dahin 22 Standesstimmen zu vergeben waren. Das notwendige absolute Mehr betrug 11 ½ Standesstimmen (vgl. Art. 1 und 123 BV 1874).

[2] Bisher scheiterten neun Verfassungsvorlagen (acht obligatorische Referenden und eine Volksinitiative) am Ständemehr, obschon sie das Volksmehr erreichten.

[3] Vgl. Werner Seitz (2014): Geschichte der politischen Gräben in der Schweiz sowie Fritz Sager und Adrian Vatter (2013): Föderalismus contra Demokratie.

[4] Wolf Linder (2005): Schweizerische Demokratie – Institutionen – Prozesse – Perspektiven, 187.

[5] Vgl. zu den in den letzten Dekaden aufgeworfenen Reformmodellen Linder (2005), 187 ff.  und ausführlich Adrian Vatter und Fritz Sager (2006): Das Ständemehr: Wirkungsweise und Reformansätze, in: Adrian Vatter (Hrsg.) (2006): Föderalismusreform. Wirkungsweise und Reformansätze föderativer Institutionen in der Schweiz sowie eine Ex-post-Analyse verschiedener Modelle für die Abstimmung über den «Familienartikel» 2013: Deana Gariup (2013): Ständemehr-Debatte: Wichtige Reformvorschläge auf einen Blick.

[6] Einer Änderung bedürfte Art. 142 BV für das Ständemehr, Art. 150 BV für die Zusammensetzung des Ständerats.

[7] Vgl. zu den antizipierten tendenziell überproportionalen Bevölkerungsentwicklungen in den grösseren Kantonen: Bundesamt für Statistik BFS: Szenarien zur Bevölkerungsentwicklung der Kantone der Schweiz 2010-2035 – Ständige Wohnbevölkerung nach Kantonen gemäss 3 Szenarien.

[8] Zur Eruierung ab 1848 bis 1874: «Was in den Kantonen als Standesstimme zu gelten hatte, war 1866 noch kantonal geregelt. Die meisten Kantone erklärten per Grossratsbeschluss, dass als Standesvotum die Stimmenmehrheit im Kanton gelte, wie dies heute üblich ist. In den Kantonen Uri und Nidwalden wurde spezielle Landsgemeinden abgehalten, die das Standesvotum abgaben. In den Kantonen Luzern, Obwalden, Basel-Stadt und Schaffhausen wurden die Stimmberechtigten gleichzeitig mit der Abstimmung zu den Vorlagen gebeten, ein Standesvotum abzugeben – allerdings nur die kantonal Stimmberechtigten! In den Kantonen Freiburg und Tessin hat der Grosse Rat das Standesvotum abgegeben. Bei all den Fällen in denen nicht die Stimmenmehrheit im Kanton das Standesvotum bestimmte kam es nur im Kanton Freiburg zu Abweichungen bei einigen Abstimmungen zwischen dem Standesvotum und dem Urnenentscheid. Diese hatte aber keinen Einfluss auf das Gesamtergebnis der Abstimmung.» (Georg Lutz (2000): Der beschwerliche Weg zum allgemeinen (Männer-)Wahlrecht im 19. Jahrhundert, S. 17 f.)

[9] Die genannten vier Kantone sind diejenigen mit den durchschnittlich höchsten bzw. tiefsten Ja-Anteilen aller eidgenössischen Volksabstimmungen (inkl. fakultative Referenden) von 1848 bis 2014: BS 58.6% und TI 54.3%; VS 39.9% und AI 41.1%.

[10] Die stetige Standesstimme ist sodann auch mit dem Eventualabstimmungsverfahren bei Volksinitiative und direktem Gegenentwurf (Art. 139b BV) kompatibel, des gleichen mit der Prozentsummenregelung bei divergierenden Volks- und Standesstimmen bei der Stichfrage (Art. 139b Abs. 3 BV).

[11] Vgl. Seitz (2014).

[12] Wahlrechtlich wird ohnehin keine «ungeteilte Standesstimme» verlangt, ansonsten zum Wahlsystem «Winner-takes-all» gewechselt werden müsste (wie bspw. bei den US-Amerikanischen Präsidentschaftswahlen die Wahl des Electoral College).

Eine Nebensächlichkeit namens Bundesverfassung

Immer wieder setzt sich die Bundesversammlung über die Verfassung hinweg. Es gilt, die oberste Rechtsquelle der Eidgenossenschaft besser zu schützen – gerade aus Rücksicht vor der direkten Demokratie.

Der Staatsrechtler Zaccaria Giacometti war ein überzeugter Verfechter der direkten Demokratie. In der turbulenten Zeit des Zweiten Weltkriegs wehrte er sich vehement gegen die Machtanmassungen der Bundesbehörden. Der Volkswille stand für ihn über allem. Die Demokratie bezeichnete er als die beste Hüterin der Menschenrechte.

Gleichzeitig befürwortete Giacometti die Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Schweiz.

Aus heutiger Sicht scheint diese Position widersprüchlich, wird doch die direkte Demokratie und der Volkswille als Hauptargument gegen die Verfassungsgerichtsbarkeit vorgebracht. Die Rolle des Verfassungsgerichts kommt in der Schweiz dem Volk zu, lehrt man uns.

Diese Sichtweise blendet allerdings aus, dass auch das Parlament bisweilen den verantwortungsvollen Umgang mit der Verfassung vermissen lässt.

Ein Exemplar der Schweizer Bundesverfassung (Bild: Wikipedia).

Ein Exemplar der Schweizer Bundesverfassung (Bild: Wikipedia).

Ein anschauliches Beispiel bot jüngst die Herbstsession der Eidgenössischen Räte. Seit vergangenem Jahr steht in der Bundesverfassung geschrieben: «Der Anteil von Zweitwohnungen am Gesamtbestand der Wohneinheiten und der für Wohnzwecke genutzten Bruttogeschossfläche einer Gemeinde ist auf höchstens 20 Prozent beschränkt.» Im Gesetz zur Umsetzung dieses Artikels hat der Ständerat nun aber so viele Ausnahmen eingeführt, dass der Verfassungstext zur Makulatur wird.

Es war nicht das erste Mal, dass das Parlament die Verfassung, sagen wir mal: eigenwillig auslegte. In der Frühjahrssession etwa hatten die Räte zu entscheiden, ob das Freihandelsabkommen mit China dem Referendum unterstellt werden sollte. Gemäss Bundesverfassung müssen Staatsverträge, die «wichtige rechtsetzende Bestimmungen» enthalten, zwingend dem fakultativen Referendum unterstellt werden. Die Befürworter betonten in der Debatte die wirtschaftliche Bedeutung des Freihandelsabkommens ausführlich. Anschliessend hielten die meisten von ihnen das Vertragswerk dann aber plötzlich nicht mehr für so wichtig – jedenfalls lehnten sie eine Unterstellung unter das Referendum ab.

Damit soll nicht gesagt werden, dass dieser Entscheid verfassungswidrig war. Solche Debatten verstärken aber den Eindruck, dass die Politiker die Verfassung gerne so auslegen, wie es ihnen politisch gerade hilft, und dabei die rechtlichen Leitplanken, an denen sie sich zu orientieren hätten, bisweilen stark aus-, wenn nicht überdehnen. Es scheint, dass sich die gewählten Volksvertreter nur noch selektiv an die Verfassung halten, gerade so, als wäre diese mehr eine Sammlung unverbindlicher Ratschläge denn ein rechtlich bindendes Dokument – oder wie SP-Nationalrat Daniel Jositsch einmal die Einstellung der Ratsmehrheit zusammenfasste: «Für uns soll die Verfassung nicht gelten, ausser es passt uns gerade zufälligerweise.»

Man will ihnen das nicht verübeln. Schliesslich ist die Verfassung – formell die oberste Rechtsquelle der Eidgenossenschaft – für sie tatsächlich nicht bindend. Sie können sich über sie hinwegsetzen, wie es ihnen beliebt, ohne irgendwelche Konsequenzen befürchten zu müssen.

Umso wichtiger wäre es, das Parlament gewissen Kontrollen zu unterwerfen, um ihm die Verfassungstreue zu erleichtern. Solche Kontrollen könnte ein Verfassungsgericht[1] ausüben.

Keine Einschränkung der Volksrechte

Viele befürchten allerdings, dass ein Verfassungsgericht die Volksrechte einschränken könnte. So erklärte der Obwaldner CSP-Nationalrat Karl Vogler während einer Ratsdebatte zu diesem Thema: «Die direktdemokratischen Rechte des Volkes (…) würden deutlich eingeschränkt und beschnitten.» Das ist falsch, und zwar aus zwei Gründen. Erstens hätte sich ein Verfassungsgericht an der bestehenden Verfassung zu orientieren – die bekanntlich vollständig auf Beschlüssen des Volkes basiert. Zweitens wäre ein Verfassungsgericht nicht befugt, Volksinitiativen zu überprüfen und über ihre Gültigkeit zu befinden. Eine Vorprüfung von Volksinitiativen ist zwar möglich (und wurde in diesem Blog ebenfalls schon angedacht). Auch ist es denkbar, dass diese Vorprüfung ein Gericht vornimmt. Diese Aufgabe hat jedoch nichts mit der Verfassungsgerichtsbarkeit zu tun.[2] Ein Verfassungsgericht hätte lediglich darüber zu befinden, ob untergeordnete Rechtstexte mit der Verfassung vereinbar sind – nicht aber über (vorgeschlagene) Änderungen der Verfassung selbst.

Im Übrigen sei daran erinnert, dass das Bundesgericht schon heute kantonale Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit der Bundesverfassung überprüft. Bisher hat sich jedoch noch niemand darüber beklagt, dass damit die direkte Demokratie in den Kantonen beschnitten würde.

Für das Volk wäre die Verfassungsgerichtsbarkeit somit keine Einschränkung – ganz im Gegenteil zum Parlament, das in der Gesetzgebung an die Verfassung gebunden ist und durch die Verfassungsgerichtsbarkeit an diesen Rahmen erinnert würde.

Kein Wunder hat sich das Parlament bisher immer wieder gegen die Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit gewehrt. Zuletzt erlitt die Idee 2012 Schiffbruch.

Argumentiert wurde dabei stets mit dem «Volk», das man vor den bösen Richtern schützen wolle. Dabei sind das Problem nicht die Richter, sondern die Parlamentarier, die weiterhin nach Belieben verfassungswidrige Gesetze beschliessen und sich damit über das Volk hinwegsetzen können. Diese Möglichkeit wollten sich die Damen und Herren im Parlament bewahren.

Ein Kompromissvorschlag

Die Verfassungsgerichtsbarkeit dürfte in der Schweiz damit bis auf Weiteres keine Option sein. Daher ein Kompromissvorschlag: Wenn schon mit dem Volkswillen argumentiert wird – wieso führen wir nicht eine Verfassungsgerichtsbarkeit unter Vorbehalt der Volksrechte ein? Konkret: Vor dem Verfassungsgericht angefochten werden können nur Gesetze, gegen die kein Referendum ergriffen worden ist. Wenn der Verfassungsgeber einem Gesetz also seinen Segen gegeben hat, ist dieses gegen allfällige gerichtliche Beschlüsse «immun».[3]

Das wäre ein Kompromiss, der auch für jene annehmbar sein sollte, die in der Verfassungsgerichtsbarkeit eine Einschränkung des Volkes erblicken.

Der Vorschlag ist übrigens nicht neu: Zaccaria Giacometti brachte ihn bereits in den 1930er Jahren vor.[4] Die Idee ist ein Beleg für Giacomettis Überzeugung, dass das Volk letztlich der beste Garant für die Einhaltung der Verfassung darstellt. Auf das Parlament sollte man sich dazu jedenfalls nicht verlassen.

 


[1] Unter dem Begriff «Verfassungsgericht» wird im Folgenden ein Gericht verstanden, das Gesetze, Verordnungen etc. auf ihre Verfassungsmässigkeit überprüfen kann. Diese Aufgabe muss keineswegs ein speziell dafür geschaffenes Gericht übernehmen, sondern sie kann auch dem Bundesgericht übertragen werden (was vermutlich die sinnvollste Option wäre).

[2] Nichtsdestotrotz wird in der öffentlichen Debatte die Verfassungsgerichtsbarkeit allzu oft mit der Vorprüfung und somit potentiellen Kassation von Volksinitiativen assoziiert, vgl. bspw. Stefan Howald: Lebt Demokratie im Alltag, Tages-Anzeiger, 10.12.2014: «Überfällig ist auch ein Bundesverfassungsgericht, das Initiativen auf Vereinbarkeit mit gültigem Völkerrecht prüft.»

[3] Bewusst offengelassen wird an dieser Stelle die konkrete Ausgestaltung der Verfassungsgerichtsbarkeit, beispielsweise, ob Gesetze vor ihrem Inkrafttreten (abstrakte Normenkontrolle) oder im konkreten Anwendungsfall (konkrete Normenkontrolle) auf ihre Verfassungsmässigkeit hin geprüft werden sollen.

[4] Zaccaria Giacometti: Die Verfassungsmässigkeit der Bundesgesetzgebung und ihre Garantien, Schweizerische Juristen-Zeitung, 30. Jahrgang (1933/34), S. 289-293.