Wiederholt wird über die angebliche Flut von Volksinitiativen geklagt. Wer das Initiativrecht einschränken will, verkennt jedoch die Wirkung der direkten Demokratie als unbequemes, aber wertvolles Korrektiv zur parlamentarischen Demokratie.
Von Claudio Kuster und Lukas Leuzinger, publiziert in der «NZZ» vom 31.10.2013
Die Stimmbürger würden «von Volksinitiativen richtiggehend überschwemmt», klagt Jean-Daniel Gerber im kürzlichen «NZZ»-Interview. Um die Flut einzudämmen seien die Hürden für die Initianten deutlich zu erhöhen. Mit diesem Ansinnen ist der ehemalige Seco-Direktor nicht allein: Wiederholt werden von verschiedenen Seiten Forderungen laut, das Initiativrecht zu beschneiden.
Der von Gerber behauptete Trend ist allerdings alles andere als eindeutig. Zwar gelangten seit Einführung des Initiativrechts auf Bundesebene 1891 zusehends mehr Volksinitiativen an die Urne. Allerdings kamen auch deutlich mehr fakultative und obligatorische Referenden vors Volk. (Interessanterweise fordert dennoch niemand eine Erhöhung der Hürden für das fakultative Referendum.) Ebenso nahm die parlamentarische Aktivität zu. Das ist vor allem darauf zurückzuführen, dass der Bundesstaat seit dem 19. Jahrhundert generell mehr Kompetenzen erhalten hat. Vor diesem Hintergrund ist die Zunahme der Volksinitiativen sehr bescheiden.

Seit den 1970er Jahren blieb die Anzahl Abstimmungen über Volksinitiativen – Ausschläge nach oben und unten vorbehalten – relativ konstant. (Download der Rohdaten)
Es handelt sich im Übrigen lediglich um eine langfristige Zunahme. Betrachtet man den Zeitraum seit den 1970er Jahren, ist die Zahl relativ konstant. Zugenommen hat indes die Zahl der Initiativen, die an der Urne Erfolg hatten. Seit der Jahrtausendwende allein wurden 8 Volksinitiativen angenommen. Zuvor reüssierten in über hundert Jahren nur deren 12. Es erstaunt, dass – obwohl bereits vor 20 oder 30 Jahren etwa gleich viele Initiativen zur Abstimmung gelangten – erst heute (da sie vermehrt Erfolg haben) so laut über eine angebliche Flut geklagt wird.
Das unbequeme Korrektiv
Das Lamento über die Zunahme von Volksinitiativen spielt die direkte und die repräsentative Demokratie gegeneinander aus. Implizit gehen die Vorschläge zur Einschränkung des Initiativrechts davon aus, dass unsere gewählten Vertreter das Land weise und besonnen lenken, während Begehren aus dem Volk vor allem stören und die Politiker von wichtigeren Dingen abhalten. Entlarvend ist in diesem Zusammenhang die Aussage Gerbers: «Solche Initiativen beanspruchen die wertvolle Zeit des Bundesrats, der Verwaltung und des Parlaments. Dies geht auf Kosten der wahren Probleme des Landes.»
Dass es primär als Zeitverschwendung angesehen wird, wenn sich Politiker mit einem Anliegen beschäftigen, das über 100’000 Stimmberechtigte unterzeichnet haben, zeugt nicht gerade von einem demokratischen Politikverständnis. Insbesondere, wenn man die Definitionshoheit darüber, was die «wahren Probleme» sind, allein bei Regierung und Parlament sieht.
Plazet vom Parlament?
Um die Zahl der Volksinitiativen zu reduzieren, will man das Initiativrecht beschneiden – entweder indem die Unterschriftenzahl erhöht oder indem die Sammelfrist verkürzt wird. Dadurch würden zwar weniger Initiativen zustande kommen. Auf der Strecke blieben aber vor allem Begehren engagierter Bürger, die wenig personelle und finanzielle Mittel zur Verfügung haben. Initiativen kämen praktisch nur noch zustande, wenn dahinter finanzstarke und breit vernetzte Akteure stünden – genau jene also, die bereits im Parlament mehr Einfluss besitzen. Dass dadurch Initiativen weniger «für Sonderinteressen und Werbezwecke ausgenutzt» würden, ist stark zu bezweifeln.
Noch fataler wären die Auswirkungen von Gerbers Vorschlag, nur noch Initiativen dem Volk vorzulegen, die im Parlament ein Drittel oder gar die Mehrheit der Stimmen erreichen. Dadurch würde das Initiativrecht faktisch zu einem Petitionsrecht degradiert. Volksbegehren wären inskünftig von der Gnade des Parlaments abhängig – ungeachtet der Unterstützung, die sie im Volk geniessen. Es sei daran erinnert, dass sämtliche seit 2002 angenommenen Volksinitiativen im Parlament keine Chance hatten. Zudem – vielleicht noch gravierender – würden Initiativen viel von ihrer indirekten Wirkung einbüssen: Denn wieso sollte sich das Parlament noch mit der aufwendigen Ausarbeitung eines Gegenvorschlags abmühen, wenn es eine Initiative ganz bequem entsorgen kann? Die Volksrechte würden ihrer Funktion als Druckmittel und Korrektiv zum parlamentarischen Prozess beraubt.
Kaution vor Lancierung als wirksame Reform
Damit soll keineswegs gesagt werden, dass keine Reformen der Volksrechte angezeigt wären. Ein Problem ist heute, dass etliche Volksinitiativen einzig der Medienaufmerksamkeit Willen, zur Profilierung oder schlicht aus Jux lanciert werden, ohne Aussicht (und oft auch ohne Absicht), jemals 100’000 Unterschriften zusammenzubringen. Dies führt zu einem unnötigen Aufwand bei den Behörden.
Eine Lösung wäre, dass die Initianten vor Beginn der Sammelfrist eine kleine Kaution von vielleicht 5000 Franken hinterlegen müssen. Diese erhielten sie zurückerstattet, sobald sie eine bestimmte Zahl Unterschriften (zum Beispiel 10’000) vorweisen können. Dadurch würden viele Komitees, denen es nicht wirklich ernst ist mit ihrem Anliegen, davon abgehalten, eine Initiative zu lancieren, die ohnehin im Sand verläuft. Der Aufwand für Bund und Gemeinden würde merklich reduziert, und der Missbrauch des Initiativrechts würde eingeschränkt, ohne dass dieses beschnitten würde.
Wohl ist direkte Demokratie aufwendig und unbequem für Politiker. Gleichzeitig fördert sie aber einen partizipativen und bürgernahen politischen Prozess sowie eine breite Akzeptanz demokratischer Entscheide. Das sind Vorteile, die wir nicht durch den Abbau von Volksrechten leichtfertig aus der Hand geben sollten.
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