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Lotterie um das Präsidentenamt

Der Fussballtrainer Christoph Daum sagte einst: «Man muss nicht immer die absolute Mehrheit hinter sich haben. Manchmal reichen auch 51 Prozent.» Und manchmal braucht es nicht einmal das.

Kürzlich wurden in diesem Blog die Schwächen des mexikanischen Wahlsystems thematisiert. Eine davon ist, dass – trotz Majorzsystem – unter Umständen weniger als 50 Prozent der Stimmen ausreichen, um zum Präsidenten gewählt zu werden. Denn Mexiko wählt nach dem relativen Mehr (First-Past-The-Post-System): Um zu gewinnen, muss man lediglich mehr Stimmen als die Konkurrenten holen – einen zweiten Wahlgang gibt es nicht. Sobald also mehr als zwei Kandidaten antreten, reicht im Prinzip ein beliebig tiefer Wähleranteil, solange er höher ist als jener der anderen Kandidaten. So wurde Felipe Calderón 2006 mit lediglich 35.9 Prozent zum Präsidenten gewählt.

Nun ist Mexiko nicht das einzige Land, das seinen Staatschef mit relativem Mehr kürt. Und Calderóns 35.9 Prozent sind noch weit vom Negativrekord entfernt, wie ein Vergleich zeigt.

Weltweit wenden 21 Länder das First-Past-The-Post-System für die Wahl ihres Präsidenten an. 13 davon haben ein Präsidialsystem, 4 ein parlamentarisches System und 4 können als semi-präsidentielle Demokratien[1] bezeichnet werden.

Gemäss Duvergers Gesetz bildet sich in Ländern mit relativem Mehrheitssystem tendenziell ein Zwei-Parteien-System heraus. Klassische Beispiele sind Länder wie die USA oder Grossbritannien (das allerdings seit Längerem nicht mehr dem Idealtyp entspricht). In diesem Fall funktioniert das First-Past-The-Post-System einigermassen gut.[2]

Leider halten sich Bürger und Parteien nicht immer an die politikwissenschaftliche Theorie, so dass die Parteienlandschaften auch in diesen Ländern teilweise sehr vielfältig sind. Die Folge sind Wahlen, die zur Lotterie werden und bei denen der Wählerwille teilweise stark verzerrt wird. Wenn sich beispielsweise drei ungefähr gleich starke Kandidaten um das Amt des Präsidenten bewerben, kann man bereits mit einem Wähleranteil von etwas mehr als einem Drittel gewählt werden. Kommt ein vierter Bewerber hinzu, ist die Wahl bereits mit etwas über einem Viertel der Stimmen möglich.

Den Negativrekord diesbezüglich setzten die Philippinen. Dort traten 1992 gleich sechs Kandidaten an, die sich realistische Hoffnungen auf einen Sieg machen konnten. Das Rennen machte am Ende Fidel Ramos: Gerade einmal 23.6 Prozent der Stimmen reichten ihm zum Sieg.

Dieses Resultat bedeutet nicht nur, dass ein Präsident mit einer extrem tiefen demokratischen Legitimation regiert.[3] Es ist auch völlig unklar, ob jener Kandidat Präsident geworden ist, den sich die Stimmbürger wünschen – dabei wäre ja gerade das der eigentliche Zweck einer Wahl. Es ist möglich, dass Ramos im Direktvergleich mit jedem anderen Kandidaten unterlegen wäre und bloss deshalb gewann, weil sich alle anderen gegenseitig die Stimmen wegnahmen.[4] Ein zweiter Wahlgang hätte diese Frage klären können.[5]

* Parlamentarisches System. ** Wahl des bosniakischen Vertreters (jede Volksgruppe wählt einen Vertreter in das dreiköpfige Präsidium).

* Parlamentarisches System. ** Wahl des bosniakischen Vertreters (jede Volksgruppe wählt einen Vertreter in das dreiköpfige Präsidium).

 

Eine nicht viel höhere demokratische Legitimation konnte José Azcona del Hoyo für sich beanspruchen, der 1985 mit 27.5 Prozent der Stimmen zum honduranischen Präsidenten gewählt wurde. Honduras schaffte es, die verzerrende Wirkung des relativen Mehrs dadurch noch zu verschlimmern, indem es das Wahlsystem so anpasste, dass jede Partei mehrere Kandidaten ins Rennen schicken konnte. Bei der Auswertung wurden die Stimmen zunächst nur nach Parteien ausgezählt, wobei jene Partei mit den meisten Stimmen den Präsidenten stellen sollte. Erst danach wurde geschaut, welcher Kandidat dieser Partei die meisten Stimmen holte. Azconas Liberale Partei holte eine knappe Mehrheit von 51 Prozent der Stimmen; den parteiinternen Vergleich gewann er fast ebenso knapp. Damit wurde Azcona zum Präsidenten gewählt, obschon er deutlich weniger Stimmen holte als Rafael Callejas von der Nationalen Partei, der intern viel weniger umstritten war. Kein Wunder, schaffte Honduras das neue Wahlsystem kurz darauf wieder ab.

In die Liste der Präsidenten, die mit weniger als 30 Prozent der Stimmen gewählt wurden, können sich ausserdem Levy Mwanawasa aus Sambia und Rafael Caldera aus Venezuela einreihen. Letzterer schafft es sogar noch ein zweites Mal in die Top Ten: 1993 holte er immerhin 30.5 Prozent der Stimmen.

Vielfach kommen solche Ergebnisse in Ländern zustande, die gerade erst (wieder) zu einem demokratisch(er)en System übergegangen sind und deren Parteiensystem noch nicht konstituiert ist, was bei den Philippinen 1992 und Sambia 2001 der Fall ist. Umso wichtiger wäre es für solche Staaten, von Beginn weg ein Wahlverfahren zu haben, das den Wählerwillen angemessen zum Ausdruck bringt.

Die Beispiele von Venezuela oder Mexiko zeigen aber, dass auch in Ländern mit relativ stabilen Parteiensystemen Präsidenten über Jahre hinweg keine absolute Mehrheit erlangen.[6] Selbst in Ländern, die sich selbst als Musterdemokratien verstehen, sind solche verzerrte Resultate keine Seltenheit, wie  bereits gezeigt wurde.

Selbst in Ländern, die sich selbst als Musterdemokratien verstehen, sind solche verzerrte Resultate keine Seltenheit. So wird in der Schweiz in den Kantonen, die nur einem Nationalrat haben, dieser im relativen Mehrheitssystem bestimmt, wodurch der Wahlsieger nicht selten weniger als die Hälfte der Bevölkerung hinter sich hat. Glücklicherweise wird hierzulande wenigstens nicht das Staatsoberhaupt in einem derartigen Lotterie-Verfahren gewählt.


[1] Wobei sich das Wort Demokratie hier nur auf die Selbstbeschreibung bezieht.

[2] Ausser für all jene Wähler, die eigentlich lieber einer anderen Partei als den zwei dominanten ihre Stimme geben würden, aber davon abgehalten werden, weil ihre bevorzugte Partei keine Wahlchancen hat (oder gar nicht erst zur Wahl antritt).

[3] An dieser Stelle noch auf mögliche Wahlfälschungen einzugehen, würde den Rahmen des Beitrags sprengen.

[4] Wissenschaftlich gesprochen: Die Condorcet-Verlierer-Bedingung ist nicht erfüllt.

[5] Zugegebenermassen kann auch ein zweiter Wahlgang nicht verhindern, dass nicht jener Kandidat gewählt wird, den die meisten Bürger bevorzugen (Condorcet-Bedingung). Das Risiko wird jedoch deutlich minimiert.

[6] In Venezuela hatte von 1958 bis 1978 kein Präsident die Mehrheit des Volkes hinter sich.

Wahlkampf à la Hugo Chávez: Das Volk bezahlt

Hugo Chávez' Propagandamaschinerie: Kaum eine Strasse in Caracas, in der man dem Präsidenten nicht begegnet.

Hugo Chávez’ Propagandamaschinerie: Kaum eine Strasse in Caracas, in der man dem Präsidenten nicht begegnet. (Bild: Eigene Aufnahme)

Anfang Februar hat die Regierung Venezuelas die an den US-Dollar gebundene Landeswährung, den Bolívar Fuerte[1], abgewertet. Es war die fünfte Abwertung innert neun Jahren. Ein Dollar kostet nun 6.30 Bolívares – fast 50 Prozent mehr als zuvor.[2]

Für die Bevölkerung ist die Abwertung suboptimal. Die Massnahme der Regierung hat das Vermögen auf einem venezolanischen Bankkonto über Nacht mal eben um einen Drittel schrumpfen lassen. Und die galoppierende Inflation von über 20 Prozent dürfte sich weiter beschleunigen.

Für die Regierung ist die Abwertung hingegen eine feine Sache. Nicht nur steigt damit der Wert ihrer Ölexporte (die in Dollar abgegolten werden). Sie reduziert damit auch die drückende Last der Staatsschulden (die in der Regel auf Bolívares lauten). Dies ist auch dringend nötig, denn trotz des rekordhohen Ölpreises befinden sich die Staatsfinanzen in einem erbärmlichen Zustand. Tatsächlich hat das Budgetdefizit 2012 mit schätzungsweise 17.5 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) ein neues Rekordhoch erreicht. (Zum Vergleich: Das Defizit Griechenlands betrug 8.1 Prozent.)

Doch warum ist der Staatshaushalt Venezuelas trotz sprudelnder Öleinnahmen derart aus dem Lot geraten? Eine mögliche Erklärung bietet die Tatsache, dass 2012 Präsidentschaftswahlen stattgefunden haben, bei denen der sozialistische Amtsinhaber Hugo Chávez mit klarer Mehrheit im Amt bestätigt wurde.

Wie in diesem Blog bereits einmal thematisiert, neigen Regierungen, die wiedergewählt werden wollen, dazu, die Staatsausgaben zu erhöhen und die Steuereinnahmen zu reduzieren, weil beides Wählerstimmen bringt, während ein ausgeglichenes Budget die Wähler weniger interessiert. Plausiblerweise sollte dieser Effekt unmittelbar vor Wahlen am deutlichsten zu sehen sein.

Die Ökonomen Min Shi und Jakob Svensson haben die Entwicklung der Staatshaushalte über die Amtszeiten von Regierungen genauer unter die Lupe genommen. In ihrer Analyse [PDF] von 85 Staaten kommen sie zum Schluss, dass das Haushaltsdefizit in Jahren, in denen Wahlen stattfinden, um durchschnittlich 0.9 Prozentpunkte höher liegt als in Nicht-Wahljahren. In Entwicklungsländern ist der Effekt mit 1.3 Prozentpunkten noch etwas stärker ausgeprägt.

Diese Zahlen nehmen sich allerdings bescheiden an, wenn man sie mit der Haushaltsentwicklung in Venezuela vergleicht. 2010 hatte das Defizit noch 5.7 Prozent des BIP betragen.[3] Im Jahr darauf sank es leicht auf 5.3 Prozent. 2012 schoss der Fehlbetrag dann wie erwähnt auf 17.5 Prozent hoch – eine Zunahme um mehr als 12 Prozentpunkte.[4]

Tatsächlich tat Chávez einiges für seine Wiederwahl: Die unzähligen Sozialprogramme, über die er gratis Essen, Kleider und Wohnungen an die Armen verteilen lässt, wurden im vergangenen Jahr noch ausgeweitet, um die Wähler an die Grosszügigkeit des Präsidenten zu erinnern. Die Propagandamaschinerie mit dem Führerkult um Chávez lief auf Hochtouren, garniert mit Prestigeprojekten, etwa dem gigantischen Mausoleum für den Freiheitskämpfer Simón Bolívar, das der Präsident für rund 140 Millionen Dollar bauen liess. Die Wählermobilisierung war in der Tat gewaltig – auch in ihrem finanziellen Ausmass.

Das einzige Problem an der Sache ist, dass auf dieser Welt nichts gratis ist. Gegenwärtig bezahlen die Venezolaner über die Entwertung ihrer Währung die Zeche für die Grosszügigkeit ihres Präsidenten. Doch auch die Regierung könnte für den kostspieligen Wahlkampf bald noch eine Rechnung präsentiert bekommen: Denn sollte der an Krebs erkrankte Staatschef, der sich weiterhin in Behandlung befindet, nicht in sein Amt zurückkehren können, müsste sie Neuwahlen ansetzen. Der Kandidat von Chávez’ Partei (voraussichtlich sein Stellvertreter Nicolás Maduro) dürfte dannzumal aufgrund der veränderten wirtschaftlichen Situation wesentlich schlechtere Karten haben als sein Ziehvater im vergangenen Jahr.

Aber vielleicht wirkt ja eine neuerliche Beschleunigung der Schuldenspirale Wunder.


[1] Übersetzt: «Starker Bolívar»

[2] Auf dem Schwarzmarkt ist der Kurs freilich wesentlich höher.

[3] In diesem Jahr fanden Parlamentswahlen statt, die in Venezuela aufgrund des Präsidialsystems allerdings eine relativ geringe Bedeutung haben.

[4] Die Zahlen stammen vom CIA World Factbook.