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Rezension: Andreas Glaser (Hrsg.) – Das Parlamentswahlrecht der Kantone

«Das Parlamentswahlrecht der Kantone», herausgegeben von Staatsrechtler Andreas Glaser, zeigt die Vielfalt und die Probleme der Wahlsysteme der kantonalen Parlamente auf. Eine Rezension.

Publiziert in der Zeitschrift «LeGes – Gesetzgebung & Evaluation», 30 (2019) 2.

Das Wahlrecht der Schweizer Kantonsparlamente war im 20. Jahrhundert, nachdem die meisten Kantone vom Mehrheitswahl- zum Verhältniswahlverfahren gewechselt hatten, durch grosse Stabilität geprägt. In den letzten zwei, drei Jahrzehnten gab es jedoch einige Reformwellen, die auch die kantonalen Parlamente respektive ihre Wahlverfahren nicht unberührt gelassen haben. So die Totalrevisionen diverser Kantonsverfassungen, territoriale Reformen, die Verkleinerung der Legislativen und schliesslich eine Reihe von höchstrichterlichen Urteilen zu den kantonalen Wahlsystemen.

Die aktuelle Zwischenpause nutzen Staatsrechtsprofessor Andreas Glaser und neun weitere Autorinnen und Autoren aus dem Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA), um eine längst überfällige, systematische Gesamtschau über das Parlamentswahlrecht der Schweizer Kantone vorzulegen.

Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Wahlsysteme der Kantone (§ 1)

Im Einführungskapitel erläutert Nagihan Musliu die bundesrechtlichen Vorgaben an die Wahlsysteme der Kantone. Zwar sind die Kantone in der Ausgestaltung des Wahlsystems für ihr Parlament frei (Art. 39 Abs. 1 BV); einige grundlegende bundesrechtliche Anforderungen müssen sie aber dennoch erfüllen. Nebst dem Demokratiegebot (Art. 51 Abs. 1 BV) ist vor allem die Wahlrechtsgleichheit (Art. 34 BV) einschlägig, die das Bundesgericht in den letzten Dekaden zu diversen Aspekten konkretisiert hat. In diesem Kapitel wird denn hauptsächlich (leider eher unkritisch) die bundesgerichtliche Rechtsprechung zu Fragen des kantonalen Wahlrechts resümiert.

Hierzu streift Musliu die bekannten und vielzitierten Bundesgerichtsentscheide, die seit 2002 die Kantone Zürich, Aargau, Zug, Nidwalden, Schwyz und Wallis zum nicht immer beliebten doppeltproportionalen Wahlverfahren geführt haben. In diesen Kantonen waren die Wahlkreise vormals zu klein und damit das natürliche Quorum für ein Parlamentsmandat zu hoch, genauer: Es lag in diversen Wahlkreisen bei einem Wähleranteil von über 10 Prozent, womit auch etablierten Parteien und ihrer Wählerschaft die parlamentarische Repräsentation verwehrt wurde (ein wichtiger Entscheid wurde übersehen, der bereits 1993 die Wahlkreisgrössen im Kanton Bern rügte: BGer 1P. 671/1992, 08. Dez.1993, in: ZBl 1994, 479 ff.). Hervorzuheben ist die ältere Rechtsprechung zu Sperrklauseln, die aufzeigt, dass die rote Linie von 10 Prozent nicht einfach vom Himmel gefallen ist. Indem das Bundesgericht sukzessive zu diversen konkreten Sperrklauseln (15 %: unzulässig; 12,4 %: unzulässig; 6,6 %: zulässig) Stellung bezog, konnte es die geltende Limite über Jahrzehnte hinweg dort einpendeln.

Leider lässt das Buch oftmals Querverweise zwischen den einzelnen Kapiteln vermissen. So wird hier zwar ausführlich die Rechtsprechung zu sogenannten indirekten Quoren zitiert (§ 1 II. 2.3 b)), doch weder erfährt man, ob und wo dieses Relikt von Quorum heute noch in Kraft ist, noch wird auf die entsprechende spätere Stelle (TI betreffend, § 5 Rz. 59) verwiesen. – Resümierend wird das Bundesgericht zu recht kritisiert, es wolle zwar die Erfolgswertgleichheit umfassend verwirklichen, schaue aber bei der Repräsentationsgleichheit zu wenig genau hin.

Wahlorgan, Wählbarkeit und Wahlkreise (§ 2)

Im zweiten Kapitel beleuchtet Corsin Bisaz die Zusammensetzung des Wahlorgans (aktives Wahlrecht), das passive Wahlrecht sowie die Einteilung in Wahlkreise. Das Elektorat besteht stets aus den volljährigen Schweizer Bürgerinnen und Bürgern mit Wohnsitz im jeweiligen Kanton (GL: ab 16 Jahren), zu denen mancherorts auch Ausländer oder Auslandschweizer dazustossen. Anschliessend werden die Aspekte Wählbarkeit einer Person, die Unvereinbarkeiten, Eid/Gelübde, Amtszwang, Amtsdauer/Amtsbeschränkung, Ausstand, Stellvertretung, Abberufung und Amtsenthebung in knappster Form dargelegt. Wenig bekannt sein dürfte etwa, dass in einigen Kantonen (SG, TI) auch Schweizer ins Kantonsparlament wählbar sind, die gar nicht im nämlichen Kanton wohnhaft sind. Oder dass die Nicht-Gewählten mit den meisten Stimmen in einigen Parlamenten (GE, GR, JU, NE) als Stellvertreter einspringen können, wenn die ordentlich Gewählten verhindert sind. Gerne hätte man über solcherlei mehr erfahren.

Schliesslich nimmt Bisaz die Wahlkreise und die Sitzzuteilung auf diese unter die Lupe (§ 2 III.). Die Aufteilung des Wahlgebiets in (teilweise auch kleine) Wahlkreise würdigt er positiv, er sieht darin gar eine «föderalistische Funktion». In der Tat fördern Wahlkreise freilich die Verbindung von Repräsentanten und ihrer Wählerschaft; in Kantonen mit tatsächlichen, insbesondere sprachlichen, Minderheiten sind sie essenziell. Umgekehrt werden hier die Vorteile von grösseren Wahlkreisen verkannt: die Wahlfreiheit des Souveräns, gerade auch durch das Verändern der offenen Listen. Zu Recht kritisch beurteilt werden aber auch hier die Sitzgarantien (und insbesondere Vorweg-Verteilungen wie in JU), die selbst Kleinstgemeinden wie Riemenstalden SZ (53 Stimmberechtigte) oder Avers GR (143 Stimmberechtigte) einen eigenen Parlamentssitz ermöglichen und damit die Repräsentationsgleichheit überstrapazieren. Letzteren Wahlkreis hat auch das Bundesgericht kürzlich als «deutlich zu klein» beurteilt und damit faktisch aufgehoben (BGer 1C_495/2017, 29.07.2019, E. 7.3 [Publ. vorges.]).

Kantone mit Proporzwahlverfahren nach Hagenbach-Bischoff (§ 3)

In den folgenden fünf Kapiteln (§§ 3–7) wird nacheinander die Ausgestaltung der Parlamentswahlverfahren aller 26 Kantone betrachtet. Corina Fuhrer kommt zunächst die Aufgabe zu, die elf Kantone mit dem herkömmlichen Proporzwahlsystem Hagenbach-Bischoff (BE, LU, OW, FR, SO, BL, SG, TG, NE, GE, JU) vorzustellen. Dieses Verfahren aus den Anfangstagen des Proporzes ist verzerrend, da es grössere Parteien überproportional begünstigt, was stärker hätte herausgestrichen werden dürfen. – Die Kurzportraits werden in einheitlicher Systematik dargestellt: Einleitend wird kurz auf ein paar historische Eckdaten eingegangen und folgend die aktuellen rechtlichen Grundlagen aufgeführt. Danach werden die jeweiligen Eigenheiten der Wahlsysteme präsentiert, so die Parlamentsgrösse und die Amtsdauer, das aktive und das passive Wahlrecht, die Wahlkreiseinteilung und die Sitzgarantien sowie die etwaige Möglichkeit von Listenverbindungen. Interessant ist etwa, dass das bekannte Kumulieren (mehrfaches Aufführen von Kandidaten) nicht überall erlaubt ist (so in FR, GE, NE).

Nebst dem rechtlich-deskriptiven Steckbrief untersucht Fuhrer auch empirisch je die letzten paar Wahlen und listet die Sitzzahlen der Wahlkreise und die jeweilige Höhe der natürlichen Quoren auf. Letztere Berechnung wirkt indes gekünstelt, wo Sperrklauseln (wie etwa in GE: 7 %) über dem natürlichen Quorum liegen und Letztere damit irrelevant sind. – Die elf Unterkapitel werden jeweils mit einer Einschätzung zur Verfassungskonformität abgeschlossen. Das Fazit ist hier eindeutig – und der Autorin ist dabei zuzustimmen: Abgesehen von Obwalden, dessen Wahlkreise mehrheitlich zu klein und damit verfassungswidrig sind, haben die verbleibenden Hagenbach-Bischoff -Kantone ein rechtmässiges Wahlsystem.

Kantone mit doppeltproportionalem Sitzzuteilungsverfahren (§ 4)

Die sieben Kantone, die ihr Kantonsparlament im modernsten Wahlverfahren Doppelproporz bestellen (ZH, AG, SH, NW, ZG, SZ, VS), werden von Julian-Ivan Beriger beschrieben. Die systematische Darstellung der jeweiligen Eckdaten – vom Anlass des Systemwechsels über die rechtlichen Grundlagen bis hin zu kantonalen Spezialitäten – wird auch in diesem Kapitel beibehalten. Dieses ist bedauerlicherweise mit vielen Unzulänglichkeiten gespickt: Da werden beiläufig wichtige Begriffe wie «Wählerzahl» oder «Kantonswahlschlüssel» erwähnt, ohne sie jedoch zu erklären, geschweige denn konkrete Beispiele darzulegen – obschon diese Zahlen für das Verständnis des doppeltproportionalen Wahlsystems wichtige Konzepte darstellen. Die mathematischen Formeln zur Berechnung des natürlichen Quorums sind nicht nur falsch, sondern in der Mehrheit der Kantone geradezu irrelevant, da sie dort von gesetzlichen Mindestquoren verdrängt werden. Es wird behauptet, Listenverbindungen seien «systemfremd» (zumindest innerhalb von Parteien wären solche sehr wohl sinnvoll und implementierbar), und es wird vorgebracht, der Doppelproporz werde in den Kantonsverfassungen festgeschrieben (es wird regelmässig nur das Verhältniswahlverfahren mit wahlkreisübergreifendem Ausgleich vorgegeben, was auch andere Wahlsysteme wie Wahlkreisverbände ermöglichen würde).

Offensichtlich hat sich der Autor bisher nie mit Sitzzuteilungsverfahren beschäftigt. Dies kommt dadurch zum Ausdruck, dass wichtige Publikationen (etwa Friedrich Pukelsheim, Proportional Representation – Apportionment Methods and Their Applications, Cham 2017) unerwähnt bleiben, und mathematische Literatur fehlt komplett. Daher kann es nicht erstaunen, dass Berigers Würdigung des Doppelproporzes vernichtend ausfällt: Er problematisiert insbesondere den wahlkreisübergreifenden Ausgleich, also just die Raison d’Être dieses Wahlsystems, das letztlich Wählern selbst in kleinen Wahlkreisen erlaubt, erfolgswertgleich zu wählen. Auf fast einer ganzen Seite breitet der Autor sodann empirische Beispiele von gegenläufigen Sitzverschiebungen aus, unterschlägt dabei aber, dass solche Anomalien ebenso in anderen Wahlsystemen vorkommen (etwa im sehr verbreiteten Hagenbach-Bischoff mit Listenverbindungen oder in Wahlkreisverbänden). Als Reformidee wird schliesslich unverständlicherweise die Einführung eines Grabenwahlsystems vorgeschlagen, das in den kleineren Wahlkreisen den Majorz vorsieht. Umgekehrt verschliesst Beriger die Augen vor effektiven Problemen, etwa den verbreiteten Mindestquoren in den Doppelproporz-Kantonen. Insbesondere im Kanton Zürich muss dieses als (kantonal-)verfassungswidrig bezeichnet werden (Tobias Jaag, Kommentar BGer 1C_369/2014, ZBl 2015, 85 ff.).

Kantone mit sonstigen Proporzwahlverfahren (§ 5)

In einem weiteren Kapitel bearbeitet Beriger die vier «Kantone mit sonstigen Proporzwahlverfahren». Dies sind zum einen Basel-Stadt und Glarus, die unlängst auf das Zuteilungsverfahren Sainte-Laguë (Divisorverfahren mit Standardrundung) gewechselt haben, zum anderen Waadt und Tessin, die gemäss Restzahlverfahren Hare/Niemeyer die Mandate verteilen. Beide Verfahren zeitigen meistens die gleichen Resultate und gelten grundsätzlich als fair, da sie weder grosse noch kleine Parteien systematisch begünstigen. Abgesehen von dieser Gemeinsamkeit unterscheiden sich die vier Kantone in wesentlichen Parametern: In Glarus wird seit der Grossfusion in hinreichend grossen Wahlkreisen gewählt, im Sinne des Traditionsanschlusses sind die (sinnvollen) Listenverbindungen weiterhin erlaubt. In Basel herrscht demgegenüber die schweizweit grösste Spannbreite der Wahlkreisgrössen: Während Grossbasel West 34 Sitze hält, liegt für die Gemeinde Bettingen nur ein einziger Sitz drin. Dass der dortige Grossrat im eher heiklen (und für ein Kantonsparlament schweizweit einmaligen) Verfahren First-past-the-post (ein Wahlgang mit relativem Mehr) gewählt wird, wird nicht erwähnt.

Die elektorale Spezialität des Kantons Waadt sind die Wahlkreisverbände. Anschaulich erklärt werden sie jedoch nicht, es geht nicht einmal hervor, auf welcher Ebene (Wahlkreise oder Unterwahlkreise?) die Kandidatinnen und Kandidaten gewählt werden. Der Autor versteigt sich sogar zur Empfehlung, diese undurchsichtigen Konstrukte als Ersatz für den Doppelproporz (NW, ZG, SZ) einzuführen. Abgesehen davon, dass diese das Stimmvolk etwa in Nidwalden explizit und klar abgelehnt hat: Just in Wahlkreisverbänden werden Mandate tatsächlich zwischen den Wahlkreisen hin- und hergeschoben. Was also im «Pukelsheim» nicht hinnehmbar sein soll, findet der Autor hier «aus verfassungsrechtlicher Sicht unproblematisch».

Derlei Probleme sind im Tessin inexistent, der keine Wahlkreise, sondern einen einzigen Einheitswahlkreis kennt. Eine freiwillige Regionalisierung innerhalb der Parteilisten ist aber möglich, sofern die Parteien dies wünschen (zu dieser spannenden Eigenheit werden leider keine empirischen Daten dargelegt). Eine weitere interessante Anomalie: Der Südkanton kennt kein allgemeines Auslandschweizerstimmrecht, sondern quasi ein Auslandtessinerstimmrecht, da dieses nur im Ausland wohnhafte Personen mit Tessiner Bürgerrecht miteinschliesst (und auch für Wahlen gilt). Der Kanton, der 1890 als erster die Proporzwahl einführte, krankt jedoch an einem anderen, schwerwiegenden Mangel: Das Restzahlverfahren Hare/Niemeyer wird nicht in Reinform berechnet, sondern enthält ein verstecktes, verzerrendes Quorum («indirektes Quorum»). Einerseits eliminiert dieses Listen, die weniger als 1,11 Prozent Wähleranteil haben, was legitim erscheint. Andererseits begünstigt das mathematisch unzulängliche Verfahren systematisch Kleinparteien, die diese Hürde erreicht haben; aufgrund der fehlerhaften Restsitzverteilung wird ihnen oft ein zusätzliches Mandat «geschenkt». Der Beitrag ignoriert diese grobe Verzerrung.

Kantone mit Mehrheitswahlverfahren (§ 6)

Ein so anspruchsvoller wie hervorragender Beitrag stammt von Marco Ehrat und Julia Eigenmann, welche die beiden Kantone Graubünden und Appenzell Innerrhoden vorstellen, die noch integral das Majorzwahlverfahren anwenden. Anspruchsvoll ist der Beitrag, weil das Wahlsystem dieser beiden Kantone noch nie höchstrichterlich beurteilt worden ist (bis zum Zeitpunkt seiner Erscheinung), die Einschätzung Kenntnisse der lokalen Verhältnisse verlangt und überdies die Lehre zum Majorz eher spärlich gesät ist (zu AI praktisch inexistent). Hervorragend ist das Kapitel, weil die Autoren weit über das deskriptive, positive Recht dieser beiden Bergkantone hinausgehen und stattdessen die Verfassungskonformität des jeweiligen Majorzsystems ausführlich, anhand der Kriterien des Bundesgerichts, herausschälen (Parteizugehörigkeit/Persönlichkeitswahl, Autonomie der Wahlkreise, geringe Bevölkerungszahl der Gemeinden, Besonderheiten). Hierfür werden die jeweiligen politischen, historischen, soziokulturellen, geografischen, sprachlichen und föderalistischen Ausprägungen der Wahlkreise respektive des Elektorats betrachtet.

Die Schlüsse, die Ehrat/Eigenmann daraus ziehen, sind so deutlich wie verschieden: In Graubünden sind die 39 (Wahl-)Kreise nicht nur äusserst unterschiedlich gross und teilweise sehr klein (Wahlkreis Avers: 160 Einwohner; Chur: 27 955), sie stellen nach der Gebietsreform per 2015 auch Entitäten dar, denen nunmehr keine andere Funktion mehr zukommt. Im Rahmen der diversen Gemeindefusionen erweisen sich die Grenzen der Kreise plötzlich als ziemlich flexibel, und sie werden sogar für Wahlkreismanipulationen missbraucht – «Gerrymandering» in der Surselva! Auch das beliebte Argument, der Majorz schütze die sprachlichen Minoritäten, zerpflücken die Autoren so simpel wie elegant, indem sie aufzeigen, dass die italienischsprachige Bevölkerung zwar 13 Prozent beträgt, die italienischsprachigen Wahlkreise aber nur 8 Prozent aller Grossratssitze stellen. Das Fazit ist unmissverständlich, der Bündner Majorz ist verfassungswidrig. Kürzlich ist das Bundesgericht dieser Kritik gefolgt und hat, mit diversen Verweisen auf diesen Beitrag, eine Beschwerde gegen den Bündner Majorz teilweise gutgeheissen (BGer 1C_495/2017, 29. Juli 2019 [Publ. vorges.]).

In Innerrhoden existieren derweil die Parteien SP und FDP erst seit wenigen Jahren, ja selbst die staatstragende CVP wurde hier erst 1988 gegründet; die Parteizugehörigkeit hat denn tatsächlich eine untergeordnete Bedeutung. Zusammen mit der geringen Bevölkerungszahl der Wahlkreise führt dies dazu, dass die Autoren den Innerrhoder Majorz als weiterhin zulässig erachten. Das Kapitel (und leider nur dieses) wird mit einem tabellarischen Anhang abgerundet, der die Wahlkreise mit den zugehörigen Kennzahlen auflistet.

Kantone mit gemischten Wahlverfahren (§ 7)

Die zwei verbleibenden Kantone Appenzell Ausserrhoden und Uri sind jene mit einem gemischten Wahlsystem Majorz/Proporz; sie werden von Liana Sala portraitiert. Zunächst werden auch hier die beiden Wahlsysteme in knappster Form dargestellt, so insbesondere die Aufteilung des Wahlgebiets in Majorz- und Proporz-Wahlkreise erläutert. Die Wahlkreise entsprechen jeweils den Gemeinden. Erwähnenswert ist in diesen beiden Kleinkantonen die Möglichkeit für Majorzgemeinden, ihre Kantons- bzw. Landräte an Gemeindeversammlungen mit Handmehr wählen zu lassen. Von dieser Option haben je zwei Urner und Ausserrhodener Gemeinden Gebrauch gemacht. Die Autorin weist sodann auf die kleinen Wahlkreisgrössen hin: Die Appenzeller Majorz-Gemeinden weisen durchschnittlich weniger als 2000 Einwohner auf, die zwölf Urner Majorz-Gemeinden haben gar, mit Ausnahme von Andermatt, weniger als 1000 Einwohner.

Die zwei letzten Bundesgerichtsentscheide zu kantonalen Wahlverfahren betrafen just diese beiden Kantone – die höchstrichterlichen Erwägungen nehmen denn auch den Hauptteil dieses Kapitels ein. Zunächst hält das Bundesgericht die grundsätzliche Zulässigkeit von Mischsystemen fest, die Unterteilung in Majorz- und Proporz-Wahlkreise müsse aber sachlich nachvollziehbar sein. Trotz Einbrüchen in die Erfolgswertgleichheit können Kantone den Majorz beibehalten, wenn die fraglichen Wahlkreise drei Bedingungen erfüllen: Erstens müssen sie eine geringe Bevölkerung aufweisen, zweitens müssen sie Entitäten mit eigener Autonomie darstellen, und drittens soll nicht die parteipolitische Haltung der Kandidatinnen und Kandidaten, sondern deren Persönlichkeit und individuelle Bekanntheit im Vordergrund stehen. Da Ausserrhoden diese Bedingungen derzeit (noch) erfüllt, beurteilte das Bundesgericht dieses Wahlsystem als rechtmässig. In Uri hingegen wurden zwar die Majorz-Wahlkreise – wenngleich weniger überzeugend, da hier parteiunabhängige Kandidaten praktisch inexistent sind – ebenfalls als verfassungskonform erachtet. Da aber sechs der acht Urner Proporz-Wahlkreise zu klein sind, musste der Kanton dennoch sein Wahlsystem revidieren.

Überprüfung kantonaler Wahlsysteme durch kantonale Gerichte (§ 8)

Der dritte Teil widmet sich in zwei Kapiteln (§§ 8–9) dem gerichtlichen Rechtsschutz. Nicolas Aubert untersucht hierbei die Überprüfung kantonaler Wahlsysteme durch kantonale Gerichte; er unterscheidet hier die Möglichkeit der gerichtlichen Prüfung im abstrakten Normkontrollverfahren von derjenigen im konkreten Normenkontrollverfahren. Die abstrakte Normenkontrolle (gerichtliche Überprüfung von generell-abstrakten Erlassen auf Konformität mit übergeordnetem Recht ohne konkreten Anwendungsfall) ist grundsätzlich zwar in elf Kantonen möglich, jedoch regelmässig bloss für Erlasse unterhalb der Gesetzesstufe. In einigen Kantonen (NW, GR, AG, VD, GE und JU) unterliegen aber auch Gesetze der Verfassungsgerichtsbarkeit (und in GE gar die Kantonsverfassung). Da indes die Grundzüge des Wahlsystems selbst auf Verfassungsstufe normiert sind, ist diese Kontrollmöglichkeit in der Praxis bedeutungslos.

Der erfolgreichere Weg, die Verfassungsmässigkeit eines Wahlverfahrens zu prüfen, erfolgt daher auf dem Weg der konkreten Normenkontrolle, also im Rahmen einer konkreten Wahl. Doch auch hier lauern diverse Schwierigkeiten, da dieses spezifische Rechtsmittel in den kantonalen Rechtsordnungen praktisch nicht normiert ist. Fragen betreffend Anfechtungsobjekt, Beschwerdefristen oder Instanzenzug können daher oftmals nicht a priori beantwortet werden. Aubert illustriert diese Unsicherheit anhand von formellen und prozeduralen Aspekten einiger Wahlbeschwerden vor kantonalen Gerichten (NW, ZG, AR, GR).

Überprüfung kantonaler Wahlsysteme durch das Bundesgericht (§ 9)

Der Überprüfung kantonaler Wahlsysteme durch das Bundesgericht mit der Beschwerde in Stimmrechtssachen widmet sich anschliessend Nevin Martina Bucher. Einerseits können Entscheide kantonaler Gerichte betreffend die Ausübung der politischen Rechte an die oberste rechtsprechende Behörde des Bundes weitergezogen werden. Andererseits ist das Bundesgericht oftmals Erstinstanz, da die Kantone gegen Akte der Regierung und des Parlaments keine kantonale Vorinstanz vorsehen müssen. Erlasse wie Wahlgesetze sind daher regelmässig mittels abstrakter Normenkontrolle direkt in Lausanne anzufechten. Die Autorin gliedert ihren Beitrag systematisch und übersichtlich in die Unterkapitel «Anfechtungsobjekt», «Vorinstanzen», «Beschwerderecht», «Beschwerdegründe», «Fristen», «Rechtsfolgen bei Gutheissung» und «Kosten». Hervorzuheben ist der umfassende Schutz der politischen Rechte: Dies etwa beim Anfechtungsobjekt, das nicht nur behördliche Erlasse und Entscheide betrifft, sondern alle Umstände, die geeignet sind, die Wahlfreiheit zu beeinträchtigen – also auch Realakte sowie Handlungen Privater. Die Beschwerdegründe, die gerügt werden können, sind ebenso breit: Nebst der Verletzung von verfassungsmässigen Rechten kann letztlich auch die Verletzung jeder beliebigen Gesetzes- oder Verordnungsbestimmung geltend gemacht werden.

Kantonales Wahlrecht zwischen harmonisiertem Proporz und neuen Spielräumen (§ 10)

Im Schlusskapitel nimmt Herausgeber Andreas Glaser eine resümierende Standortbestimmung und einen rechtspolitischen Ausblick vor. Das kantonale Wahlverfahren gehorche nun nicht mehr der klassischen Gebietseinteilung (Gemeinden, Bezirke), sondern die Gebietseinteilung müsse im Gegenteil – bezüglich des Wahlverfahrens – den Vorgaben der Wahlrechtsgleichheit angepasst oder jedenfalls insoweit in ihrer Bedeutung relativiert werden. Nach den wahlrechtlichen Umwälzungen in zahlreichen Kantonen stünden derzeit noch zwei Wahlsysteme unter dringendem Verdacht der Verfassungswidrigkeit: jene Obwaldens und Graubündens (womöglich zudem der Einerwahlkreis Bettingen in BS).

Der Autor kritisiert sodann die bundesgerichtliche «Präferenz», den Kantonen mit verfassungswidrigem Wahlsystem den Doppelproporz zu empfehlen. Nicht nur die gegenläufigen Sitzverschiebungen betrachtet er als grosses Manko. Auch der Zweck der Aufteilung des Wahlgebiets in Wahlkreise, nämlich die Bestellung der regionalen Parlamentsdeputation entsprechend dem Willen der Wählerinnen und Wähler in der betreffenden Region, werde jedenfalls teilweise vereitelt. Doch auch Glaser geht fehl in der Annahme, derlei Sitzverschiebungen seien eine Anomalie, die einzig dem doppeltproportionalen Wahlverfahren eigen sei. Wie erwähnt treten solche ebenso in herkömmlichen Wahlverfahren auf. Das Bundesgericht hat denn die hier problematisierten Sitzverschiebungen etwa im Kontext von Wahlkreisverbänden längst bemerkt und als unumgänglich und somit zulässig taxiert (BGer 09. Dez. 1986, in: ZBl 1987, 367 ff.; BGer 1P. 671/1992, 08. Dez.1993, in: ZBl 1994, 483 ff.).

Abschliessend beleuchtet Glaser zwei Standesinitiativen der Kantone Zug und Uri, die in Reaktion auf ihre Wahlsysteme rügende Bundesgerichtsentscheide die «Wiederherstellung der Souveränität der Kantone bei Wahlfragen» verlangt haben. Die beiden Initiativen wurden 2015 von der Staatspolitischen Kommission des Ständerats (SPK-S) und 2016 vom Nationalrat angenommen, worauf 2017 die SPK-S eine entsprechende Bundesverfassungsänderung ausarbeitete. Die Novelle hätte einerseits wieder Mehrheits- und Mischsysteme dem Proporz gleichgestellt, anderseits die Festlegung der Wahlkreiseinteilungen den Kantonen mehr oder weniger frei anheimgestellt. – Glaser hätte die Stossrichtung begrüsst. Der Nationalrat hat die Verfassungsänderung indes in letzter Minute, anlässlich der Schlussabstimmung im Dezember 2018, knapp mit 103 zu 90 Stimmen abgelehnt. Gemäss Andreas Auer habe es «noch nie in der schweizerischen Verfassungsgeschichte einen derart unverschämten Versuch gegeben, zentrale Grundrechte einfach auszuschalten und dem Richter diesbezüglich die Augen zu verbinden» (NZZ, 17. Mai 2018).

Was ist neu bei den Wahlen 2019? (Teil II: kantonales Recht)

Wahlrecht für Auslandschweizer, neue Zustellkuverts, Berechnung des absoluten Mehrs oder Urnenöffnungszeiten: Bei den eidgenössischen Wahlen kommen auch Dutzende Neuerungen im kantonalen Wahlrecht zur Anwendung. Wir erläutern die wesentlichen Novellen in sämtlichen Kantonen.

Im ersten Teil dieses Beitrags haben wir die rechtlichen Neuerungen des Bundesrechts für die anstehenden Wahlen erläutert. Im Verlauf der letzten vier Jahre haben jedoch auch etliche Kantone grössere oder kleinere Schraubendrehungen an ihren kantonalen Wahlgesetzen vorgenommen. Da das kantonale (und teilweise sogar kommunale) Wahlrecht subsidiär für die Nationalratswahlen gilt,[1] ergeben sich auch hierdurch einige lokale Neuerungen. Darüber hinaus sind die Ständeratswahlen kantonale Wahlen; die Kantone regeln das Wahlsystem fürs Stöckli also weitgehend eigenständig.[2] Im Folgenden erläutern wir die wesentlichen Änderungen, die auch die aktuellen Nationalrats- und Ständeratswahlen betreffen.[3]

 

Aargau: Auslandschweizer wählen auch die Ständeräte

Bei den Nationalratswahlen, die primär vom Bund geregelt werden, sind die Auslandschweizer schweizweit wahlberechtigt. Ständeratswahlen sind demgegenüber kantonale Wahlen, weshalb hier die Kantone individuell darüber entscheiden, ob auch den Auslandschweizern das Wahlrecht einzuräumen sei;[4] knapp die Hälfte der Kantone lässt dies zu.[5]

Im vergangenen Herbst hat der Aargauer Verfassungsgeber knapp (50.7 % Ja) das Ständeratswahlrecht für Auslandschweizer eingeführt.[6] Die Befürworter argumentierten, es sei «nur schwer nachvollziehbar, warum im Ausland wohnhafte Stimmberechtigte sich an den Nationalratswahlen beteiligen dürfen, hingegen von den gleichzeitig stattfindenden Ständeratswahlen ausgeschlossen sind». Die von der Auslandschweizer-Organisation (ASO) beantragte Ausweitung des Stimmrechts sei daher sinnvoll. Die ablehnende Minderheit brachte vor, die Nähe und der Bezug zum Kanton Aargau seien für die Standesvertreter wichtig. Wer den Aargau vertreten wolle, müsse mit den hiesigen Gegebenheiten und Sachverhalten vertraut sein.

 

Appenzell Innerrhoden: Ausmehrung des Ständerats an der Landsgemeinde

Der Kanton Appenzell Innerrhoden tanzt bei der Bestellung des Ständerats gleich mehrfach aus der Reihe: Als Kanton mit bloss halber Standesstimme stellt er nur einen statt zwei Ständeräte. Dieser wiederum wird nicht wie in den anderen 25 Kantonen an der Urne gewählt, sondern an der traditionellen Landsgemeinde. Damit einhergehend fällt in Innerrhoden die Nationalrats- und Ständeratswahl zeitlich auseinander, da die ordentliche Landsgemeinde jeweils Ende April tagt. Am 28. April wurde daher bereits Daniel Fässler als «erster» der diesjährigen Gesamterneuerungswahlen gewählt; er nimmt seit vergangener Sommersession im Stöckli Einsitz.

Wiederkandidierende Ständeräte wurden bisher stillschweigend gewählt, wenn die Landsgemeinde keine Namen von Gegenkandidaten in den Ring rief. Neu ist nun, dass an der Landsgemeinde auch die bisherigen Ständeräte explizit gewählt werden müssen; es wird immer ausgemehrt.[7]

 

Basel-Landschaft: Unvereinbarkeit Regierungsrat–Bundesversammlung / Informationsblatt

Seit 1892 durfte einer (aber nicht mehr!) der fünf Basellandschaftlichen Regierungsräte gleichzeitig auch dem National- oder Ständerat angehören. Zuletzt sass 1945 ein Regierungsrat parallel im Nationalrat; ein Doppelmandat mit Ständerat gab es nie. Seit einem Jahr ist diese Ämterkumulation nicht mehr zugelassen.[8] Die Arbeitsbelastung für eine wirkungsvolle Ausübung beider Ämter sei zu hoch, da in den vergangenen Jahrzehnten die Anforderungen sowohl im Regierungskollegium als auch in den eidgenössischen Räten kontinuierlich angestiegen sei.

Die Stimmberechtigten erhalten überdies zusammen mit den Wahlzetteln neu ein amtliches Informationsblatt mit den Namen aller Kandidaten für den Ständerat, die von mindestens 15 Stimmberechtigten vorgeschlagen worden sind.[9] Wählbar sind aber weiterhin alle Stimmberechtigten.

 

Basel-Stadt: Befreiung Wahlvorschlags-Unterzeichnungen, separater Stimmrechtsausweis

Bei den Baselstädtischen Majorzwahlen können 30 Stimmberechtigte einen Wahlvorschlag einreichen, der dann auf dem Wahlzettel abgedruckt wird. Die Wähler können so ihre bevorzugten Kandidaten einfach ankreuzen. Ab diesen Wahlen sind Parteien, die bei den letzten Wahlen für den Grossen Rat mindestens einen Sitz erzielten, von dieser Unterzeichnungspflicht befreit.[10]

Neu gilt bei der Briefwahl das Stimmkuvert nicht mehr gleichzeitig als Stimmrechtsausweis. Dieser ist nun, wie andernorts üblich, separat im Abstimmungskuvert enthalten (eigentlich sogar gleich zwei: ein Stimmrechtsausweis für die persönliche und ein weiterer, anonymisierter, für die briefliche Stimmabgabe).[11]

 

Bern: Weniger Kandidaten im zweiten Wahlgang, keine kantonalen Vorlagen im Wahlherbst

Im Kanton Bern sind bei Majorzwahlen (wie den Ständeratswahlen) nur Personen wählbar, die auf einem Wahlvorschlag figurieren. Verbleiben im zweiten Wahlgang, nachdem sich die wenig chancenreichen Kandidaten zurückgezogen haben, nur noch so viele Kandidaturen wie Sitze zu besetzen sind, so werden diese in stiller Wahl gewählt. In der Vergangenheit hielten jedoch auch Personen mit äusserst geringen Erfolgschancen an der Teilnahme am zweiten Wahlgang fest und forcierten damit als unnötig erachtete Wahlgänge (beispielsweise 2015, als nebst den bisherigen Ständeräten Werner Luginbühl [43 % der Stimmen] und Hans Stöckli [41 %] auch Bruno Moser [1 %] an der Kandidatur festhielt). – Neu sind für den zweiten Wahlgang nur noch jene Kandidaten zugelassen, die im ersten Wahlgang mindestens drei Prozent der Stimmen erhalten haben.[12] Die Urheber eines Wahlvorschlags dürfen jedoch für den zweiten Wahlgang Ersatzkandidaturen vorschlagen.[13]

Überdies wird neu im Jahr der nationalen Wahlen – analog zur Regelung auf Bundesebene – die zehnmonatige Frist zur Ansetzung von Volksabstimmungen um ein halbes Jahr verlängert.[14] Dadurch müssen im Wahlherbst keine kantonalen Abstimmungen abgehalten werden; solche können ins Folgejahr verschoben werden.

 

Freiburg: Noch keine Transparenz bei nationalen Wahlen

Im März 2018 wurde im Kanton Freiburg die Volksinitiative «Transparenz bei der Finanzierung der Politik» mit fast 70 Prozent Ja-Stimmen angenommen. Sie verlangt, dass politische Parteien und Organisationen, die sich an Wahlen beteiligen, ihre Budgets, Rechnungen und Zuwendungen offenlegen. Der Verfassungsartikel[15] ist nicht unmittelbar anwendbar, er wird derzeit in einem Umsetzungserlass konkretisiert und soll auf die kantonalen Wahlen 2021 Anwendung finden. Erwähnenswert ist, dass das Gesetz über die Politikfinanzierung nicht nur für die Ständeratswahlen, sondern auch für die (primär bundesrechtlich geregelten) Nationalratswahlen gelten soll – erstmals voraussichtlich bei den eidgenössischen Wahlen 2023.[16]

Bis zu den letzten Wahlen galt das Antwortcouvert gleichzeitig als Stimmrechtsauswies, letzterer war auf dem Kuvert aufgedruckt. Seit 2016 liegt der Stimmrechtsausweis separat bei; wird er umgedreht, so ist im Sichtfenster die Adresse des Abstimmungsbüros sichtbar, wohin das Antwortcouvert retourniert werden kann.[17]

 

Glarus: Totalrevidiertes Wahlgesetz bringt diverse kleinere Neuerungen

Im Gegensatz zu Appenzell Innerrhoden werden in Glarus die Ständeräte nicht an der Landsgemeinde, sondern an der Urne gewählt, gleichzeitig wie der Nationalrat. Die Glarner Landsgemeinde hat 2017 ein neues Wahlgesetz[18] beschlossen, welches nun auch diverse kleinere Anpassungen für die nationalen Wahlen mit sich bringt: Zunächst wurden die Zustellfristen für das Wahlmaterial denjenigen des Bundes angepasst; die Wahlzettel für den Ständerat müssen (wie diejenigen für den Nationalrat) den Wählern zwischen drei und vier Wochen vor dem Wahltag zugestellt werden.[19]

Wer seine Stimme an der Urne abgeben will, soll sich seinen Weg nicht durch Unterschriftensammlungen oder andere Aktionen bahnen müssen. Solche sind daher nicht nur in, sondern neu auch vor den Stimmlokalen verboten.[20] – Die Wahlzettel müssen nicht mehr abgestempelt werden.[21] – Nachdem die Glarner 2014 nach zwei überraschenden Vakanzen (SR Pankraz Freitag verstarb und SR This Jenny trat kurz darauf zurück) gleich zwei kurzfristige Ersatzwahlen in den Ständerat durchführen mussten, ist die Frist, innert welcher Ersatzwahlen durchzuführen sind, von drei auf sechs Monate heraufgesetzt worden.[22] – Neu dürfen die Resultate bei Wahlen und Abstimmungen soziodemografisch ausgewertet werden.[23]

 

Nidwalden: Mehr Unterschriften, mehr gültige Wahlzettel, kleineres absolutes Mehr

Wahlvorschläge für den je einen Sitz in den Nationalrat und Ständerat konnten bisher von Einzelpersonen eingereicht werden. Nunmehr findet für alle Mehrheitswahlen dasselbe Wahlvorschlagsverfahren statt, das die Unterzeichnung von mindestens fünf Aktivbürgern erfordert.[24] – Wahlzettel sind nun auch gültig, wenn sie lediglich ins Rückantwortkuvert gelegt werden.[25] Sie werden nicht mehr als ungültig ausgeschieden, wenn sie sich nicht im separaten, kleinen Stimmzettelkuvert befinden. Mit dieser Massnahme soll die Anzahl ungültiger Stimmen reduziert werden.

Für die Berechnung des absoluten Mehrs im ersten Wahlgang bei Majorzwahlen wurden bisher auch leere Wahlzettel miteinbezogen. Fortan werden hierzu nur noch die in Betracht fallenden Stimmen berücksichtigt, womit das absolute Mehr leicht gesenkt wird.[26] Die Regel kommt heuer indes noch nicht zur Anwendung, weil Ständerat Hans Wicki bereits in stiller Wahl gewählt worden ist (und bei den Nationalratswahlen das relative Mehr genügt).

 

Obwalden: Neues Stimmkuvert mit zwei Innenfächern

Wie auch in einigen anderen Kantonen, musste der Kanton Obwalden aufgrund neuen Vorgaben der Post sein Stimmkuvert anpassen. Er hat sich für die «Solothurner Lösung» entschieden. Das neue Stimmkuvert hat zwei Innenfächer: Im Fach ohne Sichtfenster liegen die Stimmzettel und die Abstimmungserläuterungen, im Fach mit Sichtfenster befindet sich der Stimmrechtsausweis.[27]

Fahrende mit Obwaldner Heimatort waren bisher einzig in eidgenössischen Angelegenheiten stimm- und wahlberechtigt. Diese Diskriminierung ist nun beseitigt worden, indem ihnen das Stimmrecht auch in kantonalen Angelegenheiten (wie die Ständeratswahlen) zuerkannt worden ist.[28]

 

Schaffhausen: Neue Vergabe der Listennummern, vereinfachte Briefwahl

Es gibt verschiedene Methoden, wie die Listennummern für die Wahllisten vergeben werden (siehe Wo die Juso die Nummer 1 ist). Im Kanton Schaffhausen wird die Reihenfolge der Wahlzettel für den Nationalrat neu anhand der Wählerstärke der Listen bei der jüngsten Kantonsratswahl zugeteilt.[29] Die SVP hält damit die Listennummer 1, die SP die 2, die FDP die 3 usw.

Nachdem bei den Wahlen 2015 die Gebühr fürs Versäumen der Stimmpflicht von drei auf sechs Franken erhöht worden ist, haben die Behörden seit diesem Jahr die briefliche Stimmabgabe ein bisschen bürgerfreundlicher ausgestaltet: Einerseits werden die Gemeindebriefkästen neu am Wahlsonntag um 11 Uhr geleert anstatt bereits am Samstagmittag.[30] Andererseits müssen in den Gemeinden Schaffhausen[31], Neuhausen[32] und Stein am Rhein[33] die Rücksendekuverts nicht mehr frankiert werden (siehe Wer Briefmarke selber bezahlen muss, stimmt seltener ab).

 

Schwyz: Einheitliche Urnenöffnungszeiten, noch keine transparente Wahlfinanzierung

Bisher konnten die Gemeinden des Kantons Schwyz die Urnen bis 12 Uhr geöffnet haben. Neu gilt eine kantonsweit einheitliche Urnenöffnungszeit am Wahlsonntag von 10 bis 11 Uhr.[34] – Neu gewählte Ständeräte dürfen erst dann Einsitz im Rat nehmen, wenn beide Mitglieder rechtskräftig gewählt sind.[35] Wird also gegen die Wahl des einen Mitglieds Beschwerde erhoben, so ist automatisch auch die Vereidigung des anderen neu gewählten Ständerats in der Schwebe.

Wie in Freiburg, so ist im März 2018 auch in Schwyz ein ähnlicher neuer Verfassungsartikel zur Offenlegung der Politikfinanzierung angenommen worden.[36] Das darauf fussende, neue Transparenzgesetz wurde im vergangenen Mai vom Volk angenommen (54 % Ja, obschon es alle Parteien abgelehnt haben) und würde auch die Ständeratswahlen betreffen.[37] Aus Sicht der Initianten wurde die Initiative aber nur unzulänglich umgesetzt, weshalb sie beim Bundesgericht gegen den Erlass Beschwerde erhoben haben. Ob, wann und in welcher Form das Schwyzer Transparenzgesetz in Kraft gesetzt werden wird, ist also noch offen.

 

St. Gallen: Neues Wahlgesetz bringt neue Vergabe der Listennummern und ermöglicht Rückzüge

Im Kanton St. Gallen ist dieses Jahr ein totalrevidiertes Wahl- und Abstimmungsgesetz[38] in Kraft getreten. Die Neuerungen für die aktuellen National- und Ständeratswahlen sind indes von begrenzter Tragweite. Der Regierungsrat hat immerhin vorgeschlagen, die Berechnung des absoluten Mehrs nicht mehr anhand der gültigen Wahlzettel, sondern anhand der gültigen Stimmen vorzunehmen (wie in den meisten Kantonen der Deutschschweiz üblich).[39] Dadurch wäre das absolute Mehr gesunken, womit auf einige zweite Wahlgänge hätte verzichtet werden können. Der Kantonrat lehnte dies jedoch ab.

Im Kantonsrat eingebracht wurde jedoch eine neue Regelung zur Vergabe der Listennummern bei Proporzwahlen. Neu werden diese in der Reihenfolge des Stimmenanteils vergeben, den die Parteien bei den letzten Wahlen erlangt haben.[40] Etwaige Unterlisten von Parteien erhalten ebenfalls dieselbe Listennummer, jedoch mit einem Buchstaben als Zusatz.[41] So tritt derzeit die SVP mit den Listen 01a, 01b, 01c und 01d an, die CVP mit den Listen 02a, 02b, 02c und 02d usw. – Eingeführt wurde zudem die Möglichkeit, Kandidaten wieder zurückzuziehen.[42] Damit soll verhindert werden, dass Personen auf den Wahlzetteln aufgeführt werden, die faktisch gar nicht mehr zur Verfügung stehen.

 

Tessin: harmonisierte Stimmgemeinde der Auslandtessiner

Am 10. Februar 2019 hat das Tessin eine Verfassungsänderung angenommen, welche das kantonale (und kommunale) Wahlrecht der Auslandtessiner neu regelt.[43] Bisher waren nämlich nur jene Auslandschweizer in Tessiner Angelegenheiten stimm- und wahlberechtigt, die ihren Heimatort im Südkanton haben. Neu ist der letzte Wohnsitz in der Schweiz massgeblich, so wie es auch das neue Auslandschweizergesetz für die politischen Recht auf Bundesebene vorsieht. Durch diese Harmonisierung werden einige Nachteile behoben, etwa das Auseinanderfallen der massgeblichen Stimmgemeinde bei kantonalen und nationalen Wahlen sowie Schwierigkeiten bei der Aktualisierung der Stimmregister.

 

Wallis: Briefwahl muss am Freitag eintreffen

Wer im Kanton Wallis brieflich wählen möchte, musste bisher dafür besorgt sein, dass die Sendung vor Schluss des Urnengangs bei der Gemeindeverwaltung eintrifft. Neu muss die Post bereits am Freitag vor der Wahl eintreffen, ansonsten ist die briefliche Stimmabgabe ungültig.[44]

 

Zug: Unterstützung privater Abstimmungs- und Wahlhilfen

Der Kanton Zug hat die gesetzliche Grundlage geschaffen, um jungen Stimmbürgern (von 18 bis 25 Jahren) nebst dem offiziellen Stimmmaterial auch private Wahl- und Abstimmungshilfen zustellen zu können. Damit sind beispielsweise private Abstimmungserläuterungen wie «Easyvote» gemeint. Kanton und Gemeinden können solche Projekte finanziell unterstützen und ihnen die Adressen der Jungwähler zur Verfügung stellen, falls die Wahl- und Abstimmungshilfen die Grundsätze der Neutralität und Sachlichkeit gewährleisten.[45]

 

Zürich: Verkürzte Fristen für zweiten Ständerats-Wahlgang

Findet im Kanton Zürich für die Ständeratswahlen ein zweiter Wahlgang statt, so gelten neu ziemlich kurze Mindestfristen für die Zustellung der Wahlunterlagen: Es genügt, wenn das Wahlkuvert zehn Tage vor dem Wahlgang bei den Wählern eintrifft.[46] Diese stark verkürzte Frist (die normale Frist beträgt drei bis vier Wochen) gilt zudem nicht nur für die Ständeratswahlen, sondern auch für jegliche weitere kantonale oder kommunale Wahlen und Abstimmungen, die auf jenen Wahltag gelegt werden.[47] – Für kommunale Abstimmungsvorlagen (wie etwa am 17. November in der Stadt Zürich) gilt daher eine unterschiedliche Zustellfrist, je nachdem, ob überhaupt ein zweiter Ständerats-Wahlgang vonnöten ist oder nicht.

 

Im ersten Teil dieses Beitrags sind die Neuerungen der Wahlen 2019 dargelegt, die sich aufgrund Änderungen des Bundesrechts ergeben.

 


[1] Art. 83 BPR.

[2] Art. 39 Abs. 1 und Art. 150 Abs. 3 BV.

[3] Keine oder nur untergeordnete, die Wähler nicht betreffende Änderungen seit den letzten Wahlen 2015 gibt es in den Kantonen AR, GR, LU, SO, TG und UR. In den Kantonen GE, JU, NE, TI und VD wurden nur die grundlegenden Änderungen auf Verfassungsstufe berücksichtigt. Nicht berücksichtigt wurden überdies Novellierungen betreffend die elektronische Stimmabgabe, da derzeit kein E-Voting-System in Betrieb ist.

[4] Art. 150 Abs. 3 BV.

[5] Vgl. VPB 1/2014 vom 6. März 2014 (Bundesverfassung, Auslandschweizer Stimmberechtigte und Ständeratswahlen).

[6] § 59 Abs. 3 KV/AG.

[7] Art. 7 Abs. 3 VLGV/AI.

[8] § 72 Abs. 2 KV/BL.

[9] § 26 Abs. 3 GPR/BL.

[10] § 36 Abs. 5 WahlG/BS.

[11] § 8 Abs. 1 WahlV/BS.

[12] Art. 109 Abs. 1 PRG/BE.

[13] Art. 111 PRG/BE. Diese Möglichkeit ist erstaunlicherweise selbst Unterzeichnern von Wahlvorschlägen erlaubt, deren Kandidat die 3%-Hürde im ersten Wahlgang nicht erreicht hat!

[14] Art. 42 Abs. 3 PRG/BE.

[15] Art. 139a KV/FR.

[16] Erläuternder Bericht vom 19. August 2019 zum Vorentwurf des Gesetzes über die Politikfinanzierung, S. 22.

[17] Art. 18 Abs. 3 PRG/FR.

[18] Gesetz über die politischen Rechte (GPR) vom 07.05.2017.

[19] Art. 32 Abs. 1 GPR/GL; für den zweiten Wahlgang gilt weiterhin die verkürzte Frist von 10 Tagen.

[20] Art. 11 Abs. 4 GPR/GL.

[21] Art. 17 GPR/GL e contrario.

[22] Art. 39 Abs. 2 GPR/GL.

[23] Art. 26 Abs. 1 GPR/GL.

[24] Art. 60 WAG/NW.

[25] Art. 28 Abs. 1 Ziff. 5 EG BPR/NW.

[26] Art. 72 Abs. 1 WAG/NW.

[27] Art. 16 und 35 AbstV/OW.

[28] Art. 3 Abs. 5 AG/OW.

[29] Art. 2g WahlG/SH.

[30] Art. 53bis Abs. 3 WahlG/SH.

[31] Art. 2 Abs. 1 Verordnung über die briefliche Stimmabgabe/Schaffhausen.

[32] Art. 1 Abs. 1 Verordnung betreffend vorfrankierte Stimm- und Wahlcouverts/Neuhausen am Rheinfall.

[33] Art. 1 Abs. 1 Verordnung betreffend vorfrankierte Stimm- und Wahlcouverts/Stein am Rhein.

[34] § 26 Abs. 1 WAG/SZ.

[35] § 54a Abs. 1 WAG/SZ.

[36] § 45a KV/SZ.

[37] § 2 Abs. 1 und § 7 Abs. 2 TPG/SZ.

[38] Gesetz über Wahlen und Abstimmungen vom 05.12.2018 (WAG).

[39] Art. 92 Abs. 2 E-WAG/SG.

[40] Art. 42 Abs. 2 WAG/SG.

[41] Art. 42 Abs. 4 WAG/SG.

[42] Art. 26 Abs. 1 WAG/SG.

[43] Art. 30 KV/TI.

[44] Art. 26 Abs. 2 kGPR/VS; Art. 14 Abs. 2 Verordnung über die briefliche Stimmabgabe/VS sah indes bereits früher vor, dass «[d]ie Sendung bei der Gemeindeverwaltung spätestens am Freitag, der der Wahl oder der Abstimmung vorausgeht, eintreffen [muss]. Die zu spät eintreffenden Übermittlungsumschläge werden nicht geöffnet».

[45] § 8 Abs. 6 WAG/ZG.

[46] § 84a Abs. 2 GPR/ZH.

[47] § 84a Abs. 3 GPR/ZH.

 

Fusion wider Willen: Wenn Gemeinden zwangsverheiratet werden

Ein Überblick über die Möglichkeit und Wirklichkeit von Zwangsfusionen von Gemeinden in den Schweizer Kantonen. Und wie solche begründet werden.

Ein Gastbeitrag von Sandro Lüscher[1]

1. Einleitung

Das schweizerische Gemeindewesen befindet sich in einem tiefgreifenden Wandlungsprozess. Alte Gemeindestrukturen werden durch neue Formen interkommunaler Zusammenarbeit und territoriale Umstrukturierungen abgelöst. Seit der Jahrtausendwende hat ein veritables Fusionsfieber eingesetzt. Jährlich werden dutzende territoriale Reformprojekte aufgegleist, von denen die grosse Mehrheit schliesslich auch die Abstimmungshürde nimmt. Der Gemeindebestand nahm seither um etwa 700 Gemeinden auf 2’212 ab.[2]

In der Regel verlaufen die Fusionen und Eingemeindungen einvernehmlich und im Interesse aller beteiligten Parteien. Trotzdem kommt es gelegentlich vor, dass einzelne Gemeinden gegen ihren Willen zur Fusion gedrängt werden. Darauf kann ein intensiver Rechtsstreit entbrechen, der bisweilen bis ans Bundesgericht als letztinstanzliche Entscheidungsbehörde weitergezogen wird.

Dieser Beitrag soll einerseits einen Überblick über die Rechtsgrundlagen und damit die Möglichkeiten für Zwangsfusionen in den Schweizer Kantonen bieten. Andererseits sollen anhand bisheriger Streitfälle die Argumente sowie bundesgerichtlichen Erwägungen für und wider Zwangsfusionen erörtert werden. Durch diese Gesamtschau kann ein Beitrag zu einem besseren Verständnis von Zwangsfusionen als «schwerstmöglicher Eingriff in den Schutzbereich der Gemeindeautonomie»[3] geleistet werden

2. Die kantonalen Rechtsgrundlagen für Zwangsfusionen

Im Unterschied zu anderen Staaten sind die öffentlichen Strukturen der Schweiz ausgeprägt dezentral organisiert. Die öffentlichen Verwaltungsaufgaben werden zu einem wesentlichen Teil von den Gemeinden als unabhängige demokratische Gebietskörperschaften und als Vollzugsorgane von Bund und Kantonen in subsidiärer Allzuständigkeit erledigt.[4] Nur wenn sie mangels Ressourcen dazu ausserstande sind oder wenn die Bereitstellung bestimmter öffentlicher Güter auf einer höheren Staatsebene effizienter vollbracht werden kann, findet eine vertikale Kompetenzverschiebung «nach oben» statt.

Dieses Subsidiaritätsprinzip findet seinen Niederschlag auch in der Kompetenzregelung für Gemeindereformen: Sie fallen in die Zuständigkeit der Kantone. Es gibt weder eine gesetzliche oder verfassungsmässige Grundlage, die dem Bund die aktive Einmischung in kommunale Fusionsprozesse erlauben würde, noch eine bundesrechtliche Bestandesgarantie zugunsten der Gemeinden. Die Bundesverfassung hält einzig fest: «Die Gemeindeautonomie ist nach Massgabe des kantonalen Rechts gewährleistet.»[5] Jeder Kanton hat daher sein eigenes Fusionsregime und seine eigene Praxis im Umgang mit «fusionsrenitenten» Gemeinden. Im Folgenden werden die 26 kantonalen Fusionsregimes in drei unterschiedliche Regime-Typen aufgeteilt.

Die drei Fusionstypen im Überblick.

 

2.1. Protektiver Typus: Bestandesgarantie

Dem ersten protektiven Typus werden jene 17 Kantone (AG, AI, AR, BL, BS, GE, NE, NW, OW, SG, SH, SO, SZ, UR, VD, ZG, ZH) zugerechnet, bei denen die Gemeindeautonomie durch eine in der Kantonsverfassung verankerte Bestandesgarantie geschützt wird.[6] Zwangsfusionen sind hier nicht erlaubt. Eine Möglichkeit, dies zu erreichen, ist die namentliche Aufzählung aller Gemeinden in der Kantonsverfassung (AI, AR, BS, OW, ZG)[7].

Der Kanton St. Gallen kennt zwar eine Verfassungsgrundlage für Zwangsfusionen.[8] Das konkretisierende Gemeindevereinigungsgesetz verzichtet aber auf diese Möglichkeit, womit auch in St. Gallen der Gemeindebestand gesetzlich geschützt ist.[9]

2.2. Regulativer Typus: Zwangsfusionen theoretisch möglich

Den zweiten regulativen Typus bilden die sechs Kantone (BE, FR, GL, GR, JU, LU), in denen eine Zwangsfusion zwar rechtlich möglich ist, bisher jedoch nie angewandt wurde.

Ein Zusammenschluss von Gemeinden gegen ihren Willen bedürfte immerhin einiger Voraussetzungen. So werden hier, eher vage, «überwiegende kommunale, regionale oder kantonale Interessen» (BE, FR)[10] oder dort das Erfordernis «einer wirksamen und wirtschaftlichen Aufgabenerfüllung» (LU)[11] verlangt. In Graubünden kann eine Gemeinde fusioniert werden, die infolge ihrer geringen Anzahl Einwohner oder unzureichender personeller oder finanzieller Ressourcen dauernd ausserstande ist, den gesetzlichen Anforderungen zu genügen und ihre Aufgaben zu erfüllen. Desgleichen droht Gemeinden, wenn ihr Mitwirken für die Abgrenzung oder Aufgabenerfüllung einer neuen Gemeinde unentbehrlich ist (eine Mehrheit der anderen betroffenen Gemeinden muss dem Zusammenschluss aber zugestimmt haben).[12] Man möchte hiermit verhindern, dass bei Zusammenschlüssen von Talschaften das Veto einer Gemeinde die ganze Fusion verhindert.[13] Auch im Jura wären Zwangsfusionen nur in Ausnahmefällen möglich, so etwa, wenn die Gemeinde aufgrund ihrer prekären finanziellen Lage nicht mehr in der Lage ist, ihren Verpflichtungen nachzukommen oder wenn ihre Organe in der Vergangenheit regelmässig unvollständig gebildet wurden.[14]

Das Organ, das die Zwangsfusion verfügen würde, ist regelmässig das kantonale Parlament.[15] In Luzern unterliegt dieser Beschluss dem fakultativen Referendum, womit das kantonale Stimmvolk über Zwangsfusionen befindet.[16]

2.2.1. Spezialfall Glarus

Seit dem 1. Januar 2011 sieht zwar auch die Verfassung der Kantons Glarus eine Bestandesgarantie für die nunmehr bloss drei Gemeinden vor.[17] Doch die Umstände, unter denen am 7. Mai 2006 die Glarner Landsgemeinde einer Massenfusion zustimmte, vermögen die zahlreichen Bedenken prozeduraler sowie verfassungsrechtlicher Art nicht gänzlich auszuräumen.[18] Denn bei der Zwangsfusion der 25 bestehenden Ortsgemeinden zu drei Einheitsgemeinden handelte es sich nicht um ein ordentliches Traktandum, sondern um einen Abänderungsantrag, der den ursprünglichen Antrag seitens des Landrats und der Regierung zur Schaffung eines zehn Gemeinden umfassenden Verbunds modifizierte. Es ist zum einen fraglich, ob das anwesende Stimmvolk in der Lage war, sich zu diesem spontan in der Versammlung eingebrachten Abänderungsantrag eine differenzierte Meinung zu bilden und über allfällige Konsequenzen zu räsonieren, die mit dem Fusionsentscheid verbunden sind.[19] Zum anderen wurden die Gemeinden weder angehört noch ging dem Entscheid eine Beschlussfassung der Gemeinden voraus, wie die Verfassung damals explizit verlangte.[20]

2.3. Restriktiver Typus: Zwangsfusionen effektiv angeordnet

Den dritten restriktiven Typus bilden schliesslich die drei Kantone (TG, TI, VS), in denen Zwangsfusionen nicht nur rechtlich möglich sind, sondern bereits effektiv angeordnet wurden.[21]

2.3.1. Thurgau

Per 1. Januar 1990 trat im Kanton Thurgau eine neue Verfassung in Kraft, mit der die seit der Helvetik bestehende Gemeindeordnung mit Orts- und Munizipalgemeinden komplett reformiert werden sollte. Aus den vormaligen 179 Orts- und Munizipalgemeinden sollten 80 leistungsfähige politische Gemeinden werden,[22] wofür eine Frist von zehn Jahren vorgesehen war.[23] Im Zuge dieser umfassenden Neugestaltung der Gemeindelandschaft wurden einzelne Gemeinden auch gegen ihren Willen fusioniert.[24]

Seit dieser Reformphase in den 1990er Jahren hat sich am Thurgauer Gemeindewesen wenig verändert. Zwangsfusionen bleiben aber möglich: Der Grossen Rat das Recht, «aus triftigen Gründen Änderungen in Bestand oder Gebiet politischer Gemeinden zu beschliessen, sofern mindestens die Hälfte der betroffenen Gemeinden zustimmt.»[25]

2.3.2. Wallis

Um die Jahrtausendwende sollten sich im Rahmen eines Fusionsprojekts im Walliser Bezirk Goms fünf Klein- und Kleinstgemeinden zu einer Einheitsgemeinde zusammenschliessen (Binn, Ausserbinn, Ernen, Mühlebach und Steinhaus). In einer konsultativen Vorabstimmung äusserten sich vier der fünf Gemeinden zustimmend zum Fusionsvorhaben. Die ablehnende Gemeinde Binn wurde darauf von der Planung ausgenommen. Zwei Jahre später lehnte die Gemeinde Ausserbinn das Fusionsprojekt in einer Volksabstimmung überraschenderweise deutlich ab.[26]

Der Grosse Rat leistete der eher dürftig begründeten Empfehlung des Staatsrats, der Fusion der vier Gemeinden (einschliesslich Ausserbinn) zuzustimmen, sodann Folge und besiegelte damit die Zwangsfusion von Ausserbinn. Rechtlich stützte man sich auf Art. 71 Abs. 2 Kantonsverfassung, wonach der Staatsrat unter gewissen Bedingungen Gemeinden zwingen kann, zusammenzuarbeiten oder sich zu öffentlich-rechtlichen Verbänden zusammenzuschliessen.[27] Gegen den Entscheid wurde beim Bundesgericht erfolglos ein Rekurs eingelegt.[28]

2.3.3. Tessin

Während die erwähnten Gemeindefusionen im Thurgau und Wallis Ausnahmecharakter hatten, haben Zwangsfusionen im Tessin bereits eine längere Tradition. Sie sind Teil oder Wirkung einer rigorosen Fusionsstrategie, welche die tessinische Regierung im Rahmen des kantonalen Richtplans schon seit Längerem verfolgt. Zählte der Südkanton im Jahr 1994 noch 247 Gemeinden, so waren es im April 2017 gerade noch deren 115. Bis ins Jahr 2020 sieht die ambitiöse Strategie gar nur noch 23 Einheitsgemeinden vor.[29] Besonders strukturschwache, abgelegene Talschaften sollten räumlich-infrastrukturell und wirtschaftlich besser erschlossen und in grössere, leistungsfähigere Gemeindeverbände integriert werden.

Doch die in den meisten Fällen von der kantonalen Regierung angeregten Fusionen treffen immer wieder auf Widerstand, gerade in peripheren Regionen, in deren Abgeschiedenheit sich im Verlaufe der Zeit ein starkes Eigenbewusstsein herausgebildet hat und wo das Bedürfnis nach politischer Autonomie vielleicht grösser ist als in zentrumsnahen Ortschaften. So wurden im Tessin bereits sieben Gemeinden gegen ihren Willen fusioniert.[30] Rechtsgrundlage bildet das Fusionsgesetz von 2003, welches vorsieht, dass der Grosse Rat unter Berücksichtigung des Gemeininteressens eine Region gegebenenfalls entgegen den Präferenzen einzelner Gemeinden eine Fusion verfügen kann. Obschon die für Fusionsfragen zuständigen Ämter um die Findung einvernehmlicher Lösungen bemüht sind und renitente Gemeinden vorgängig mit attraktiven Anreizstrukturen zu zähmen versuchen, verfährt das Tessin am resolutesten mit widerspenstigen Kommunen und schreckt bei ausbleibendem Erfolg auch vor Zwangsfusionen nicht zurück.

3. Argumente für Zwangsfusionen

Grundsätzlich sind die Gründe für Zwangsfusionen weitgehend identisch mit jenen regulärer Fusionen. Im Folgenden werden die wichtigsten drei resümiert.

3.1 Gewährleistung der Wirtschaftsentwicklung

Ein zentrales Argument für die (zwangsweise) Fusionierung von Gemeinden bilden Überlegungen wirtschaftsstruktureller und finanzpolitischer Art. Eine Gemeinde, die auf dem Autonomierecht pocht, muss einen wesentlichen Teil der öffentlichen Aufgaben in Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit erfüllen können.[31] Dies ist jedoch gerade in bevölkerungsarmen und entlegenen Gemeinden mit schlechten Entwicklungsaussichten wie etwa Ausserbinn VS (41 Einwohner) oder Vergeletto TI (65) nicht der Fall.

Bedingt durch die tiefen Steuereinkünfte können wesentliche öffentliche Dienstleistungen nicht oder nur unzureichend bereitgestellt werden. Solche Kleinstgemeinden befinden sich oftmals in finanzieller Abhängigkeit vom Kanton. Ausserbinn etwa bezog über einen Drittel seiner Einkünfte aus dem kantonalen Finanzausgleich.[32] Doch auch ein intakter Gemeindehaushalt schützt nicht zwingend vor einer Fusion. So fand im Rahmen eines Beschwerdegangs der Gemeinde Vergeletto beim Bundesgericht das Argument, finanziell auf den eigenen Beinen stehen zu können, bei den Richtern kein Gehör. Der Umstand, dass das gesamte Fusionsprojekt ohne die Gemeinde Vergeletto sinnlos gewesen wäre, wurde von den Richtern höher gewichtet als das Bedürfnis der Gemeinde nach Autonomie.[33] Diese auf das Gemeininteresse zielende Argumentation findet sich immer wieder bei Zwangsfusionen im Kanton Tessin.

3.2 Überwindung demokratischer Defizite

Oft werden demokratiepolitische Bedenken vorgebracht. Strukturschwache Kleinstgemeinden laufen mangels finanzieller Ressourcen, Verwaltungspersonal und Aspiranten für politische Ämter Gefahr, die lokale Demokratie zu unterhöhlen. Durch den Zusammenschluss mehrerer Gemeinden kann aus Sicht der Befürworter eine tragfähigere Grundlage für kommunales Handeln geschaffen werden: Nutzung von Skaleneffekten, Verbreiterung und Effizienzsteigerung des öffentlichen Angebots, Professionalisierung der Gemeindeverwaltung, Entschärfung des latenten Problems fehlenden politischen Wettbewerbs um Gemeindeämter, usw.

Ausserdem bestehen zwischen den involvierten Gemeinden oftmals Zweckverbände, die aus demokratischer Sicht nicht unproblematisch sind.[34] Durch die Fusion wird jene interkommunale Zusammenarbeit obsolet.

3.3 Selbstbehauptung im Wettbewerbsföderalismus

Daneben spielt auch die Erhaltung der Standortattraktivität eine wichtige Rolle bei Erwägungen von Zwangsfusionen. Die Kantone und Gemeinden stehen in einem wettbewerbsartigen Konkurrenzverhältnis zueinander. Von der öffentlichen Hand wird ein breit gefächertes Angebot zu günstigen Preisen erwartet (günstiges Bauland, gute öffentliche Schulen, intakte Infrastruktur, Arbeitsplätze, familienergänzende Strukturen usw.).

Diese Dynamik setzt insbesondere die Kantone unter Zugzwang, da von untätigen, strukturkonservativen und von Ausgleichszahlungen abhängigen Gemeinden die Gefahr ausgeht, dass sie die gesamte regionale Entwicklung hemmen. Zaudernde Fusionskandidaten respektive die Gemeindebevölkerung wird hierzu oftmals mit reizvollen Angeboten geködert. Die Gemeinde Ausserbinn versuchte man mit der Reduktion des Steuerfusses von 1.5 auf 1.3 doch noch in Fusionsstimmung zu bringen, jedoch ohne Erfolg.[35]

4. Argumente gegen Zwangsfusionen

Ungeachtet des stets individuellen Kontexts von Zwangsfusionen gibt auch einige wiederkehrende Contra-Argumentationsmuster.

4.1 Verletzung der Gemeindeautonomie und Demokratie

Einer Zwangsfusion geht notwendigerweise ein negativer Volksentscheid voraus. Die Missachtung des demokratischen Mehrheitswillens ist nicht nur ein herber Eingriff in das kommunale Selbstbestimmungsrecht, sondern stellt auch eine Verletzung der politischen Rechte der Stimmenden dar. Wenn ein Volksentscheid seine Rechtsverbindlichkeit verliert, dann wird dadurch das Vertrauen der Bürger in die lokale Demokratie unterminiert.

Dieser per se gewichtige Einwand findet indes bei Diskussionen rund um Zwangsfusionen kaum Resonanz, da nur dort zwangsfusioniert wird, wo die Rechtslage solche explizit gegen den Willen der betroffenen Gemeinden zulässt.

4.2 Verletzung justiziabler Verfahrensrechte

Trotzdem sind Gemeinden nicht komplett schutzlos übergeordneten Fusionsbestrebungen ausgeliefert. Diverse Kantone, in denen Zwangsfusionen möglich sind, sehen bestimmte Verfahrens- und Mitwirkungsrechte zugunsten der betroffenen Gemeinden vor. Diese Rechte sind überdies in der für die Schweiz im Juni 2005 in Kraft getretenen, teilweise unmittelbar anwendbaren Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung verbrieft.

Rechtlich bedeutsam wurde die Charta erstmals bei einer Verfassungsinitiative im Kanton Tessin, die den Zusammenschluss der Agglomerationsgemeinden um Locarno und um Bellinzona forderte. Der Grosse Rat erklärte die Initiative für ungültig, da sie alle Kantonsbewohner (also auch die nicht betroffenen) über das politische Schicksal dieser beiden Bezirke hätte entscheiden lassen, gegebenenfalls auch gegen deren Willen.[36] Die Initianten rekurrierten hiergegen vor dem Bundesgericht, das jedoch die Ungültigkeit bestätigte und zudem auf die Charta verwies,[37] die in Artikel 5 vorschriebt, dass «[b]ei jeder Änderung kommunaler Gebietsgrenzen die betroffenen Gebietskörperschaften vorher anzuhören [sind], gegebenenfalls in Form einer Volksabstimmung». Der fehlende oder ungenügende Einbezug betroffener Gemeinden und ihren Bevölkerungen kann folglich sehr wohl erfolgreich gerügt werden.

4.3 Entsolidarisierung, Entfremdung und politischer Kontrollverlust

Nebst diesen eher formellen Einwänden gibt es noch eine Reihe von Sorgen und Ängsten der Bevölkerung über den Fortbestand ihrer Gemeinschaft, die zwar kein justiziables Gewicht haben, erfahrungsgemäss dennoch oft den Kern des Widerstands bilden. Befürchtet wird der Verlust der kommunalen Identität oder der Zerfall des gemeinschaftlichen Gefüges und der inneren Solidarität infolge verstärkter Bevölkerungsbewegungen.

Gerade für «abgeschlossene Gemeinschaften» in der Peripherie kommen derartigen Überlegungen eine nicht zu vernachlässigende Bedeutung zu. Vorgebracht wird auch, dass aus dem Zusammenschluss eine Verringerung der politischen Einflussmöglichkeiten resultiert und dadurch die politische Kontrolle über das eigene Gemeindegebiet verloren geht.

5. Fazit

Seit den 1990er hat in der Schweiz ein veritables «Gemeindesterben» eingesetzt, der Gemeindebestand hat seither um über einen Viertel abgenommen. Doch einzelne Gemeinden bieten diesem Fusionstrend die Stirn und pochen auf ihre politische Eigenständigkeit. Oft tun sie dies erfolgreich, doch in einzelnen, wenigen Fällen greifen die kantonalen Behörden rigoros durch und zwingen Gemeinden zu Zusammenschlüssen. Dabei handelt es sich um schwerwiegende Eingriffe von grosser politischer Tragweite.

Aus staatspolitischer Sicht ist Zurückhaltung angezeigt, was die Verordnung solcher Zwangsmassnahmen anbetrifft. Denn Gemeinschaftsbildung setzt einen gemeinen Willen voraus, so wie auch eine Trauung die explizite Zustimmung von Braut und Bräutigam voraussetzt. Zum anderen beweisen nicht weniger als 22 Kantone, die bislang auf Zwangsfusionen verzichteten und stattdessen auf einen konsensuellen Lösungsweg sowie gezielte Anreizstrukturen setzen, dass es auch ohne geht.

 

Mitarbeit: Claudio Kuster

 


[1] Sandro Lüscher ist Politologe und Neuzeithistoriker, er arbeitet als Assistent und Doktorand am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich. Dieser Beitrag ist eine gekürzte Fassung seiner Arbeit im Rahmen des Seminars «Grösse und Demokratie: Territoriale Reformen und demokratische Legitimität».

[2] Stand 1. Januar 2019.

[3] Meyer, Kilian (2011): Gemeindeautonomie im Wandel. Eine Studie zu Art. 50 Abs. 1 BV unter Berücksichtigung der Europäischen Charta der Gemeindeautonomie (Dissertation). Norderstedt: Books on Demand GmbH: 389.

[4] Meyer, Kilian (2015): Verhältnis von Bund und Kantonen, Abschnitt 3 zu Gemeinden. In: Waldmann, Bernhard, Belser, Eva Maria und Epiney, Astrid (Hrsg.) Bundesverfassung. Basel: Helbing Lichtenhahn Verlag, 949-968: 952.

[5] Art. 50 Abs. 1 BV.

[6] Meyer 2011: 17.

[7] Art. 15 Abs. 1 KV/AI; Art. 2 KV/AR; § 57 Abs. 1 KV/BS; Art. 2 Abs. 1 KV/OW; § 24 Abs. 1 KV/ZG.

[8] Art. 99 Abs. 2 lit. b KV/SG.

[9] Von Rohr, Muriel (2018): Gemeindefusionen – Rechtliche Aspekte und bisherige Erfahrungen. Zürich: 20, 51 ff.

[10] Art. 108 Abs. 3 KV/BE; Art. 135 Abs. 4 KV/FR.

[11] § 74 Abs. 3 KV/LU.

[12] Art. 72 Abs. 1 Gemeindegesetz/GR.

[13] Von Rohr 2018: 23.

[14] Art. 112 Abs. 3 KV/JU, Art. 69b Loi sur les communes/JU.

[15] Bspw. Art. 108 Abs. 3 KV/BE; § 74 Abs. 3 KV/LU; Art. 112 Abs. 3 KV/JU; Art. 72 Abs. 1 Gemeindegesetz/GR. Vgl. Von Rohr 2018: 58.

[16] § 74 Abs. 3 KV/LU.

[17] Art. 118 Abs. 1 KV/GL.

[18] Meyer 2011: 354 f. und Schaub, Martin (2007): Verfassungsrechtliche Aspekte der Glarner Gemeindefusion. Aktuelle juristische Praxis AJP 10, 1299-1307.

[19] Vgl. Schaub 2007.

[20] Art. 118 Abs. 1 und 2 KV/GL in der Fassung bis zum 31. Dezember 2010: «1 Änderungen im Bestand der Gemeinden oder deren Grenzen müssen von den betroffenen Gemeinden beschlossen und vom Landrat genehmigt werden. 2 Kommt eine Einigung nicht zustande, kann die Landsgemeinde auf Antrag einer der betroffenen Gemeinden oder des Landrates eine solche Änderung beschliessen.»

[21] Jankovsky, Peter für Neue Zürcher Zeitung (2011): Nach der Zwangsfusion bleibt die Bitterkeit.

[22] Meyer 2011: 365.

[23] Vgl. § 98 Abs. 2 KV/TG: «Die Bildung der politischen Gemeinden hat innert zehn Jahren nach Inkrafttreten dieser Verfassung zu erfolgen. Danach bezeichnet das Gesetz die politischen Gemeinden, deren Bestand diese Verfassung gewährleistet.»

[24] Vgl. Steiner, Reto für Neue Zürcher Zeitung (2003): Gemeindezusammenschlüsse können Erwartungen nicht immer erfüllen; Duvillard, Laureline für swissinfo.ch (2010): Nicht alle Gemeinden haben «Fusionitis».

[25] § 58 Abs. 4 KV/TG.

[26] Die Zustimmung sank um über 30 Prozentpunkte auf 42.4 Prozent. Man muss jedoch anfügen, dass die Gemeinde nur 39 stimmfähige Bürger hat (Stand 2002), von denen immerhin 33 am Urnengang teilnahmen. Für weitere Informationen siehe Staatsrat des Kantons Wallis (2004): Botschaft zum Beschlussentwurf betreffend den Zusammenschluss der Munizipalgemeinden Ausserbinn, Ernen, Mühlebach und Steinhaus: 5-9.

[27] Die drei Voraussetzungen sind unter dem Art. 135 KV des kantonalen Gemeindegesetzes statuiert. Dort heisst es, dass eine Gemeinde zwangsfusioniert werden kann, a) wenn ein negativer Entscheid zu einem Fusionsprojekt ihren finanziellen Weiterbestand gefährdet; b) wenn eine einzige Gemeinde das Hindernis zu einer Fusion darstellt, währenddem die angrenzenden Gemeinden bereits ihre Zustimmung zu einer bedeutenden Fusion gegeben haben; c) wenn eine Gemeinde nicht mehr in der Lage ist, das Funktionieren der Institutionen zu gewährleisten, namentlich dann, wenn sie die freigewordenen Ämter aufgrund der beschränkten Einwohnerzahl nicht wiederbesetzen kann. In casu relevant war der Punkt b).

[28] BGE 131 I 91.

[29] Jankovsky, Peter für Neue Zürcher Zeitung (2014): Tessiner Regierung will den Kanton neu entwerfen.

[30] Dazu gehören Sala Capriasca zu Capriasca, Aquila zu Blenio, Bignasco zu Cevio, Muggio zu Breggia, San Nazzaro zu Gambarogno sowie Vergeletto und Onsernone zu Onsernone (dies war schweizweit der erste Fall einer doppelten Zwangsfusion). Vgl. Jankovsky, Peter für Neue Zürcher Zeitung (2013): Neue Unruhe in Tessiner Gemeinde; Lob, Gerhard (2015): Bundesgericht segnet doppelte Zwangsfusion ab. Schweizer Gemeinde 6, 13-15.

[31] Meyer 2011: 367 f.

[32] Vgl. BGE 131 I 91.

[33] Lob 2015.

[34] Meyer 2011: 369.

[35] Steuerfusssenkungen sind bei Fusionen durchaus üblich. In der Regel übernehmen die Fusionsgemeinden den zuvor tiefsten Steuerfuss unter den beteiligten Gemeinden (Steiner, Reto, Reist, Pascal und Kettiger, Daniel (2010): Gemeindestrukturreform im Kanton Uri. Analyse der Urner Gemeinden und mögliche Handlungsoptionen: 54).

[36] Tribune de Genève (2016): Pas de vote cantonal sur des fusions de communes.

[37] BGE 142 I 216.

Proportionalere Sitzverteilung, mehr Auswahl, aber keine höhere Beteiligung: Wie sich der Doppelproporz bei kantonalen Parlamentswahlen auswirkt

Mehrere Kantone haben in den vergangenen Jahren auf Anweisung des Bundesgerichts ihr Wahlsystem geändert und den Doppelproporz eingeführt. Dagegen gibt es in Bundesbern Widerstand. Doch was hat sich mit dem neuen Verfahren eigentlich geändert? Eine Analyse gibt Aufschluss.

Der vorliegende Beitrag wurde im Dezember 2018 in der Zeitschrift «Parlament/Parlement/Parlamento» (Mitteilungsblatt der Schweizerischen Gesellschaft für Parlamentsfragen), publiziert. Eine Zusammenfassung der Analyse erschien am 11. September 2018 in der «Neuen Zürcher Zeitung».

1. Einleitung

In den vergangenen Jahren haben sieben Kantone ihr Wahlsystem geändert und das so genannte doppeltproportionale Divisorverfahren mit Standardrundung (kurz: Doppelproporz) eingeführt.[1] In den meisten Fällen kam der Anstoss dazu vom Bundesgericht, welches die zuvor angewandten Wahlsysteme als im Widerspruch zur Wahlrechtsgleichheit und damit zur Bundesverfassung taxiert hatte. Gegen die Praxis des Bundesgerichts hat sich Widerstand formiert. Die Kantone Zug und Uri[2] reichten Standesinitiativen ein und forderten, dass die Kantone mehr Spielraum erhalten sollen bei der Ausgestaltung ihres Wahlsystems. National- und Ständerat nahmen die Standesinitiativen an; die Staatspolitische Kommission des Ständerats arbeitete daraufhin eine Vorlage zur Änderung der Bundesverfassung aus. Gemäss dieser soll die Verfassung explizit festhalten, dass die Kantone «frei in der Ausgestaltung der Verfahren zur Wahl ihrer Behörden» sind.[3] Der Ständerat stimmte der Vorlage in der Frühjahrssession 2018 zu. Der Nationalrat folgte ihm in der Wintersession zunächst, hat die Verfassungsänderung dann allerdings in der Schlussabstimmung abgelehnt.[4]

Angesichts der teilweise hitzigen Debatte erstaunt, dass bisher nicht systematisch untersucht wurde, welche Auswirkungen der Doppelproporz in der Praxis eigentlich hat. Diese Lücke will der vorliegende Beitrag schliessen. Er vergleicht die Wahlergebnisse aller sieben Kantone, die das Verfahren eingeführt haben, mit der hypothetischen Sitzverteilung nach dem früheren Wahlsystem. Zudem werden die tatsächlichen Veränderungen bei der ersten Anwendung des Systems betrachtet hinsichtlich der Zahl der Listen und der Wahlbeteiligung.

2. Hintergrund

2.1. Die Praxis des Bundesgerichts

Bei der Beurteilung kantonaler Wahlsysteme stützt sich das Bundesgericht auf die Wahlrechtsgleichheit. Diese ergibt sich aus der Garantie der politischen Rechte (Art. 34 BV), welche die freie Willensbildung und die unverfälschte Stimmabgabe schützt, teilweise wird auch auf die Rechtsgleichheit (Art. 8) zurückgegriffen. Die Wahlrechtsgleichheit setzt sich gemäss klassischer Auffassung aus drei Komponenten zusammen: Die Zählwertgleichheit garantiert, dass alle Wähler gleich viele Stimmen haben («one man, one vote»); die Stimmkraftgleichheit stellt sicher, dass jede Stimme möglichst das gleiche Gewicht hat, dass also das Verhältnis der repräsentierten Bevölkerung zur Anzahl Sitze in allen Wahlkreisen möglichst gleich sein soll; die Erfolgswertgleichheit schliesslich sieht vor, dass jeder Wähler in der Praxis den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis hat.[5] Diese Bedingung ist verletzt, wenn Wähler kleinerer Parteien faktisch keine Chance haben, im Parlament vertreten zu sein, was namentlich bei kleinen Wahlkreisen der Fall ist. Massgebend ist dabei das natürliche Quorum, also der Stimmenanteil, den eine Partei mindestens erreichen muss, um im Parlament vertreten zu sein. In einem Wahlkreis mit 9 Sitzen beträgt das natürliche Quorum 10 Prozent. Diesen Wert erachtet das Bundesgericht bei Proporzsystemen als Maximum. Liegt das Quorum in einem Wahlkreis darüber, sieht das Gericht die Erfolgswertgleichheit verletzt und das Wahlsystem muss angepasst werden, um den Anforderungen der Bundesverfassung zu genügen.[6]

Dazu gibt es verschiedene Wege. Ein offensichtlicher ist, kleine Wahlkreise zu grösseren zusammenzulegen, die mehr Sitze und damit ein tieferes natürliches Quorum aufweisen.[7] Eine andere Möglichkeit sind Wahlkreisverbände, bei denen mehrere Wahlkreise für die Sitzzuteilung zusammengefasst werden.[8] Die Kantone, die in der jüngeren Vergangenheit zu einer Änderung ihres Wahlsystems verpflichtet wurden, haben sich jedoch alle für einen dritten Weg entschieden: den Doppelproporz. Bei diesem werden die Sitze über den ganzen Kanton hinweg auf die Parteien verteilt, sodass die gesamtkantonale Sitzverteilung die gesamtkantonalen Stimmenanteile möglichst genau abbilden; gleichzeitig werden die Sitze in den einzelnen Wahlkreisen möglichst proportional verteilt.

In Bezug auf Majorzwahlsysteme bei kantonalen Parlamentswahlen hat sich das Bundesgericht bislang zurückhaltend geäussert, obschon die Erfolgswertgleichheit (und teilweise auch die Stimmkraftgleichheit) dort stark eingeschränkt sind. In einem Urteil zum Kanton Appenzell Ausserrhoden[9] haben die Richter in Lausanne die Anwendung des Majorzsystems als zulässig erachtet, allerdings nur unter gewissen Umständen (etwa eine schwache Stellung der Parteien und die Autonomie der als Wahlkreise fungierenden Gebietskörperschaften). Eine Beschwerde aus dem Kanton Graubünden ist derzeit beim Bundesgericht hängig.

2.2. Die Kantone mit Doppelproporz-System

Bisher haben sieben Kantone den Doppelproporz eingeführt.[10] Bei den konkreten Umständen und der Umsetzung gibt es allerdings bedeutende Unterschiede. Die Kantone Aargau, Nidwalden, Schwyz, Zug und Wallis führten das System als Folge von Urteilen des Bundesgerichts ein. Zürich und Schaffhausen gingen diesen Schritt von sich aus (wenn auch im Wissen, dass das alte Wahlsystem vor Bundesgericht keinen Bestand haben würde).[11] Als erster Kanton wechselte Zürich 2007 zum Doppelproporz, und zwar als Reaktion auf ein Bundesgerichtsurteil zur Stadt Zürich fünf Jahre zuvor. Der bisher letzte Kanton, der nach dem doppeltproportionalen System wählte, war Wallis im Jahr 2017.[11a] Allerdings bildete die Grundlage damals kein Gesetz, sondern (aus zeitlichen Gründen) nur ein Dekret. Die Walliser Lösung ist auch insofern speziell, als dass der Doppelproporz nicht über den gesamten Kanton, sondern jeweils innerhalb von sechs Wahlregionen (bestehend aus jeweils einem bis drei Wahlkreisen) zur Anwendung kommt.

Interessant ist, dass fünf der sieben Kantone ein Quorum bei der Sitzverteilung kennen, womit es Kleinparteien erschwert wird, ins Parlament einzuziehen. In den meisten Fällen wurde die Sperrklausel gleichzeitig mit dem Wechsel zum Doppelproporz oder kurz danach eingeführt. Einzig im Kanton Wallis galt schon vorher ein Quorum von 8 Prozent, das beibehalten wurde.

Tabelle 1 gibt eine Übersicht über die sieben Kantone und ihre Wahlsysteme.

Tabelle 1: Übersicht über die Kantone mit Doppelproporz

Kanton Altes Wahlsystem Neues Wahlsystem Zahl der Wahl-kreise Quorum Erste Wahl mit neuem System/
jüngste Wahl
Zürich Hagenbach-Bischoff (mit Listenverbindungen) Doppelproporz 18 5% in einem Wahlkreis (zur Sitzverteilung im ganzen Kanton zugelassen) 2007/
2015
Schaffhausen Hagenbach-Bischoff (mit Listenverbindungen) Doppelproporz 6 2008/
2016
Aargau Hagenbach-Bischoff (mit Listenverbindungen) Doppelproporz 11 5% in einem Wahlkreis (zur Sitzverteilung im ganzen Kanton zugelassen) oder 3% im Kanton 2009/
2016
Nidwalden Hagenbach-Bischoff (ohne Listenverbindungen) Doppelproporz 11 2014/
2018
Zug Hagenbach-Bischoff (ohne Listenverbindungen) Doppelproporz

11

5% in einem Wahlkreis (zur Sitzverteilung im ganzen Kanton zugelassen) oder 3% im Kanton 2014/
2018
Wallis Hagenbach-Bischoff (ohne Listenverbindungen) Doppelproporz (innerhalb von Wahlregionen) 14 8% im Kanton 2017/
2017
Schwyz Hagenbach-Bischoff (ohne Listenverbindungen) Doppelproporz 30 1% in einem Wahlkreis (zur Sitzverteilung in der ganzen Wahlregion zugelassen) 2016/
2016

 

3. Auswirkungen des Doppelproporz auf die Sitzverteilung

3.1. Sitzverschiebungen infolge des Doppelproporz

Um die Auswirkungen des neuen Wahlsystems auf die Sitzverteilung zu untersuchen, wurde jeweils die jüngste Parlamentswahl unter dem Doppelproporz-System betrachtet. Dabei wurde die tatsächliche Sitzverteilung mit der hypothetischen Sitzverteilung unter dem früheren Wahlsystem verglichen. Für die drei Kantone, in denen im Hagenbach-Bischoff-System Listenverbindungen möglich waren, wurde angenommen, dass die gleichen Listenverbindungen eingegangen worden wären wie bei der letzten Wahl unter diesem System.[12] Zur Berechnung der Sitzverteilung wurde das Programm BAZI[13] verwendet.

Zunächst lässt sich feststellen, dass unter dem Doppelproporz-System im Durchschnitt etwa 10 Prozent der Sitze einer anderen Partei zufielen, als dies unter dem Hagenbach-Bischoff-System der Fall gewesen wäre. Am höchsten ist der Anteil im Kanton Schaffhausen, wo 9 von 60 Sitzen oder 15 Prozent den Besitzer wechselten. Am anderen Ende der Skala findet sich der Kanton Wallis, wo nur 8 von 130 Sitzen verschoben wurden. Das dürfte mit der Ausgestaltung des dortigen Wahlsystems zusammenhängen, da Sitzverschiebungen jeweils nur innerhalb der gleichen Wahlregion möglich sind, sowie mit dem relativ hohen Quorum von 8 Prozent, das kleine bis mittelgrosse Parteien von der Mandatsverteilung ausschliesst, sofern sie nicht mit einem Partner eine gemeinsame Liste bilden.

Zu beachten ist, dass die Sitzverschiebungen nicht immer zugunsten oder zulasten der gleichen Parteien ausfallen, sondern sich teilweise aufheben. So fielen beispielsweise der CVP im Kanton Zürich unter dem Doppelproporz 5 Sitze zu, die sie unter dem alten System nicht bekommen hätte. Allerdings kostete ihr der Doppelproporz in einem Wahlkreis auch einen Sitz. Unter dem Strich «gewann» die Partei durch den Systemwechsel also 4 Sitze.

Der Anteil von 10 Prozent der Sitze, die durch das neue System an eine andere Partei gehen, mag hoch erscheinen. Er wird aber relativiert, wenn man betrachtet, wie viele Sitze jeweils von einer Wahl zur nächsten den Besitzer wechseln, wenn das Wahlsystem nicht ändert. Bei den Nationalratswahlen 2015 etwa wechselten 22 Sitze oder 11 Prozent aller Mandate die Parteifarbe. Wenn man bedenkt, dass die Volatilität der Stimmenanteile bei diesen Wahlen eher gering war (selbst für Schweizer Verhältnisse), kann eine durch das Wahlsystem verursachte Verschiebung von 10 Prozent der Sitze kaum als Erdrutsch bezeichnet werden.

3.2. Proportionalität

Interessant ist nun natürlich die Frage, welche Parteien unter dem Doppelproporz mehr Sitze holen als unter dem alten System und auf wessen Kosten. Generell lässt sich sagen, dass grössere Parteien etwas weniger Mandate holen, während kleinere Parteien mehr Sitze erhalten. Dies erstaunt nicht: Am Ursprung der Systemwechsel standen ja die hohen natürlichen Quoren unter den früheren Verteilungsverfahren, die vor allem kleine Parteien benachteiligten. Unter dem Doppelproporz werden die Sitze (mit Ausnahme des Kantons Wallis) über den ganzen Kanton hinweg zugeteilt, was es für kleinere Parteien leichter macht, Mandate zu gewinnen. Zwar relativieren die vielerorts geltenden gesetzlichen Quoren diese Aussage, die gesetzlichen Hürden liegen aber immer noch weniger hoch als die natürlichen Quoren in einigen Wahlkreisen unter Hagenbach-Bischoff.

Daraus lässt sich allerdings nicht schliessen, dass der Doppelproporz kleinere Parteien «bevorteilen» würde. Das wird bereits klar, wenn man die Stimmenanteile der Parteien mit ihren Sitzanteilen vergleicht. Beispielsweise erhielt die SP im Kanton Schaffhausen bei den letzten Wahlen 23 Prozent der Stimmen. Unter dem Hagenbach-Bischoff-Verfahren hätte sie damit 18 von 60 Sitzen im Kantonsrat (also 30 Prozent) geholt. Unter dem Doppelproporz sind es «nur» 14 Sitze, was ziemlich genau der Stärke der Partei entspricht.

Um eine allgemeine Aussage darüber zu gewinnen, wie gut das neue Wahlsystem die Stärken der Parteien im Parlament abbildet, verwenden wir den Gallagher Index of Disproportionality. Dieser misst die Unterschiede zwischen Stimmenanteilen und Sitzanteilen aller Parteien und fasst sie in einer Zahl zusammen, wobei die Differenzen jeweils quadriert werden. Deutliche Abweichungen zwischen dem Rückhalt einer Partei unter den Wählern und ihrer Stärke im Parlament resultieren in einem höheren Indexwert.

Nimmt man den Gallagher Index als Massstab, ist der Trend in allen sieben Kantonen eindeutig: Unter dem Doppelproporz ist die Sitzverteilung deutlich proportionaler, als sie es unter dem alten Wahlsystem war beziehungsweise gewesen wäre. In allen Kantonen sank der Indexwert, zum Teil massiv. Am schwächsten war der Rückgang im Kanton Wallis, was zum einen daran liegt, dass der Doppelproporz nur innerhalb von Wahlregionen und nicht über den ganzen Kanton hinweg zur Anwendung kommt, zum anderen an der hohen 8-Prozent-Sperrklausel. Dennoch hat sich der Wert auch im Wallis mehr als halbiert. Abbildung 1 gibt eine Übersicht über die Auswirkung des Doppelproporz auf die Disproportionalität der Sitzverteilung.

Gallagher Index

Abbildung 1: Vergleich der Disproportionalität der Sitzverteilung (gemäss Gallagher Index) unter dem alten Wahlsystem (helle Balken) und dem Doppelproporz (dunkle Balken).

3.3. Gegenläufige Sitzvergebungen

Der Doppelproporz verteilt die Sitze so auf die Parteien, dass über den ganzen Kanton hinweg die Sitzanteile möglichst genau den Stimmenanteilen entsprechen. Dies hat den Nachteil, dass innerhalb der Wahlkreise die Proportionalität zuweilen relativiert wird. Wenn beispielsweise eine Partei im Kanton Schwyz in jedem Wahlkreis 5 Prozent der Stimmen holt, hat sie Anspruch auf 5 Sitze. Allerdings hat kein Wahlkreis mehr als 10 Sitze, sodass ein Anteil von 5 Prozent nirgends einen Sitzgewinn garantiert. Weil die Partei die ihnen zustehenden Sitze irgendwo erhalten muss, teilt sie ihr das System tendenziell in jenen Wahlkreisen zu, wo sie aufgrund ihres Stimmenanteils am nächsten an einem Mandat ist. Das kann dazu führen, dass eine Liste in einem Wahlkreis mehr Sitze als eine andere gewinnt, obwohl sie weniger Stimmen erhalten hat.

Allerdings können solche gegenläufigen Sitzvergebungen auch unter dem Hagenbach-Bischoff-Verfahren auftreten, sofern Listenverbindungen erlaubt sind. Ist eine Liste mit einer oder mehreren anderen verbunden, ist es möglich, dass sie dank dieser Verbindung zu einem Mandat kommt, das sonst einer anderen Liste zugefallen wäre.

Doch wie oft kommen gegenläufige Sitzvergebungen in der Praxis vor? Die Analyse zeigt, dass es sich insgesamt um ein eher seltenes Phänomen handelt. Bei den letzten sieben Wahlen unter dem doppeltproportionalen Verfahren fielen lediglich 11 von 750 Sitzen einer Liste zu, obwohl eine andere im betreffenden Wahlkreis mehr Stimmen erhalten hatte. Das entspricht einem Anteil von etwa 1.5 Prozent. Am meisten gegenläufige Sitzvergebungen, nämlich deren 3, gab es im Kanton Schwyz. Das dürfte mit damit zusammenhängen, dass es in Schwyz sehr viele und insbesondere viele kleine Wahlkreise gibt.[14] Die Stimmen, die dort nicht zu einem Sitzgewinn führen, müssen in anderen Wahlkreisen zu Mandaten für die betreffenden Parteien «verwertet» werden.

Interessant ist der Blick auf die drei Kantone, in denen unter dem alten Wahlsystem Listenverbindungen möglich waren (Zürich, Schaffhausen und Aargau). Wäre bei den jüngsten Wahlen das frühere Verfahren zur Anwendung gekommen, hätte es in zwei der drei Kantone mehr gegenläufige Sitzvergebungen gegeben, als unter dem Doppelproporz zu beobachten waren.[15] Dies relativiert die vielfach kritisierten Verzerrungen des Doppelproporz.[16]

4. Weitere Auswirkungen

4.1. Auswahl für die Wähler

Unter dem Doppelproporz sind Stimmen, die in einem Wahlkreis nicht zu einem Sitzgewinn führen, nicht verloren, sondern können der Partei anderswo zu einem Mandat verhelfen. Deshalb haben Parteien einen Anreiz, in möglichst vielen Wahlkreisen Listen aufzustellen, um Stimmen zu sammeln, die ihnen bei der Oberzuteilung helfen. Zu erwarten wäre demnach, dass insbesondere in kleinen Wahlkreisen die Zahl der eingereichten Listen zunimmt.

Der Blick auf die sieben Kantonen lässt den Schluss zu, dass dies tatsächlich der Fall ist. Interessant ist wiederum der Kanton Schwyz: Bei den letzten Wahlen unter dem Hagenbach-Bischoff-System 2012 stand in 9 der 30 Wahlkreisen jeweils nur eine Partei beziehungsweise ein Kandidat – es handelte sich ausnahmslos um Einerwahlkreise – zur Auswahl.[17] Bei den ersten Wahlen unter dem Doppelproporz waren es nur noch 2.[18] Im Durchschnitt aller Wahlkreise stieg die Zahl der antretenden Parteien von 2.6 auf 4.

In den anderen Kantonen lässt sich eine ähnliche Entwicklung feststellen. Von den sieben Kantonen, die zum Doppelproporz wechselten, verzeichneten sechs bei den ersten Wahl unter dem neuen System mehr Parteien.[19] Erstaunlich ist, dass die Zahl der Parteien selbst in Kantonen zunahm, die unter dem alten Wahlsystem Listenverbindungen erlaubt hatten (diese erleichtern kleinen Parteien tendenziell die Kandidatur). Die einzige Ausnahme ist Zürich, wo die durchschnittliche Zahl der Parteien leicht sank, was allerdings fast ausschliesslich auf die Entwicklung in den Stadtzürcher Wahlkreisen zurückzuführen ist.[20]

Ein Effekt, der sich in allen Kantonen zeigt, ist, dass vor allem in kleinen Wahlkreisen die Auswahl für die Wähler markant zunahm. Betrachtet man nur die Wahlkreise mit weniger als drei Sitzen (in allen Kantonen), war die Zahl der Parteien bei der ersten Wahl unter dem Doppelproporz im Schnitt mehr als doppelt so hoch wie zuvor.[21]

4.2. Wahlbeteiligung

Wenn die Auswahl (zumindest in den meisten Wahlkreisen) zunimmt und Stimmen einen Einfluss auf die Sitzverteilung haben, auch wenn die betreffende Partei im Wahlkreis selber chancenlos ist, erhöht sich tendenziell der Anreiz, an der Wahl teilzunehmen. Zu erwarten wäre deshalb, dass die Beteiligung (leicht) zunimmt. Ein Blick auf die Zahlen stützt diese Erwartung indes nicht. In sechs von sieben Kantonen ging die Beteiligung bei den ersten Wahlen unter dem neuen System zurück. Einzig in Nidwalden nahm sie gegenüber den vorangegangenen Wahlen minim zu.

Allerdings ist bei diesen Vergleichen zu berücksichtigen, dass die Beteiligung an kantonalen Wahlen generell rückläufig ist. Aus diesem Grund wurden die Veränderungen der Entwicklung in sämtlichen Kantonen in der gleichen Periode gegenübergestellt. Auch diese Rechnung zeigt aber keinen positiven Effekt des Doppelproporz auf die Wahlbeteiligung. In fünf von sieben Kantonen entwickelte sich die Wahlbeteiligung bei den ersten Wahlen unter dem neuen Wahlsystem schlechter als der Durchschnitt aller Kantone.[22]

Natürlich ist das Wahlsystem nur einer von mehreren (möglichen) Einflussfaktoren für die Wahlbeteiligung. Die Parteienkonkurrenz, die wahrgenommene Bedeutung des betreffenden Urnengangs, die Zugänglichkeit der Stimmabgabe oder die Demografie spielen ebenfalls eine Rolle, mutmasslich sogar eine grössere. Um den Einfluss des Wahlsystems zu identifizieren, wäre eine detailliertere Analyse nötig, die den Rahmen dieses Artikels sprengt. Zumindest lassen aber die hier erhobenen Daten den Schluss zu, dass der Doppelproporz insgesamt wohl keinen positiven Einfluss auf die Beteiligung hatte.

Interessant ist allerdings wiederum der Blick auf die kleinen Wahlkreise: Dort weist der Trend vielerorts in die andere Richtung. Während beispielsweise bei den Kantonsratswahlen 2016 im Kanton Schwyz die Beteiligung insgesamt um fast 6 Prozentpunkte zurückging, wuchs sie in den Einerwahlkreisen um rund 2 Prozentpunkte.[23] In den anderen Kantonen halten sich positive und negative Trends die Waage, wobei die Zahl der Beobachtungen dort deutlich kleiner ist (es gibt insgesamt nur 6 kleine Wahlkreise, während es in Schwyz deren 17 sind).

5. Fazit

Wahlsysteme setzen den demokratischen Anspruch in die Realität um und legen dabei unterschiedlichen Wert auf bestimmte Aspekte oder Ziele; sie beeinflussen die Parteienlandschaft[24] und sind gerade deshalb oft umstritten.[25]

Der vorliegende Artikel hat untersucht, wie sich die Einführung eines neuen Wahlsystems, konkret des Doppelproporz, in sieben Kantonen auswirkt. Der Doppelproporz gibt dem Ziel ein grosses Gewicht, dass jeder Wähler möglichst frei entscheiden und den gleichen Einfluss auf das Wahlresultat ausüben kann, unabhängig davon, in welchem Wahlkreis er wohnt und welche Partei er wählt. Ausserdem sucht er eine möglichst proportionale Verteilung der Sitze auf die Parteien sowohl im gesamten Wahlgebiet als auch in den einzelnen Wahlkreisen zu erreichen.

Die Untersuchung hat gezeigt, dass der Doppelproporz diese beiden Ziele erreicht. Zum einen wird die Erfolgswertgleichheit besser gewährleistet als unter dem Hagenbach-Bischoff-System. Zum anderen ist die Sitzverteilung deutlich proportionaler. Die konkrete Folge davon ist, dass tendenziell grosse Parteien, die im Hagenbach-Bischoff-System bevorteilt werden, unter dem Doppelproporz weniger Sitze erhalten. Man kann dies als Nachteil auffassen, wenn es darum geht, im Parlament möglichst leicht Mehrheiten zu beschaffen (wobei dies in klassischen parlamentarischen Systemen mit Regierung und Opposition wichtiger ist als in der Schweiz mit ihrem Mischsystem). Dem Anspruch eines Proporzsystems wird dieses Ergebnis aber besser gerecht.

Wie viele Sitze aufgrund des neuen Wahlsystems anders verteilt werden, hängt vom Kontext ab; im Durchschnitt der untersuchten Kantone sind es etwa zehn Prozent aller Mandate. Der Doppelproporz führt also durchaus zu Veränderungen bei der Zusammensetzung des Parlaments, aber nicht zu politischen Erdbeben.

Der Preis der genauen Abbildung der Parteistärken in der gesamtkantonalen Sitzverteilung können Abstriche bei der Proportionalität in einzelnen Wahlkreisen sein. Diese halten sich indes in Grenzen. Gegenläufige Sitzvergebungen treten lediglich bei 1.5 Prozent der Mandate auf.

Eine weitere Auswirkung des Doppelproporz besteht darin, dass die Auswahl für die Wähler insbesondere in kleinen Wahlkreisen grösser ist. In Wahlkreisen mit einem oder zwei Sitzen hat sich die Zahl der Listen, die zur Wahl stehen, im Durchschnitt mehr als verdoppelt. Hingegen lassen die Daten nicht den Schluss zu, dass der Doppelproporz zu einer höheren Wahlbeteiligung führt – die Partizipation hat im Gegenteil in den meisten Kantonen abgenommen, auch wenn der Trend in kleinen Wahlkreisen positiver ist.

Der Entscheid für ein bestimmtes Wahlsystem ist ein politischer. Bei der gegenwärtig diskutierten Frage, wie gross die Freiheit der Kantone bei der Ausgestaltung ihres Wahlrechts sein soll, geht es letztlich darum, wie weitreichend die Kompetenz der (kantonalen) Politik und wie weitgehend jene der Justiz sein soll.

Klar ist, dass das Bundesgericht den Kantonen nicht ein bestimmtes Wahlsystem vorschreiben kann. Der Vorteil des Doppelproporz besteht darin, dass er die Wahlrechtsgleichheit gewährleistet, während gleichzeitig die bestehenden Wahlkreise beibehalten werden können. Die bisherigen Erfahrungen mit dem Verfahren sind gut, die Einhaltung der Wahlrechtsgleichheit und die Proportionalität der Sitzverteilung werden damit verbessert, wie auch die vorliegende Analyse bestätigt. Die teilweise erbitterte Opposition gegen den Doppelproporz erscheint im Rückblick daher übertrieben und ist wohl zu einem wesentlichen Teil mit parteipolitischen Interessen zu erklären.[26]

 


[1] Oft wird auch vom «Pukelsheim-System» oder vom «doppelten Pukelsheim» gesprochen, nach dem Mathematiker Friedrich Pukelsheim, der das Verfahren massgeblich entwickelt hat.

[2] Der Kanton Uri hat bislang noch kein neues Wahlsystem eingeführt, muss dies gemäss Bundesgerichtsurteil vom Oktober 2016 aber bis zu den nächsten Landratswahlen im Jahr 2020 tun. Der Regierungsrat schlägt ein Mischwahlsystem vor, bei dem in den kleinsten Wahlkreisen nach dem Mehrheitswahlsystem gewählt wird und in den anderen nach dem Doppelproporz.

[3] Entwurf für einen Bundesbeschluss über die Souveränität der Kantone bei der Festlegung ihrer Wahlverfahren, BBl 2018 19.

[4] Siehe zur Entstehungsgeschichte: Claudio Kuster, «Ein ‹Bundesgesetz gegen die wahlrechtliche Beschneidung Lausannes?›», Napoleon’s Nightmare, 1. Juni 2015.

[5] Vgl. Thomas Poledna (1988): Wahlrechtsgrundsätze und kantonale Parlamentswahlen.

[6] Das Bundesgericht erachtet Verstösse gegen die Erfolgswertgleichheit unter gewissen Bedingungen als zulässig, namentlich, wenn diese durch geografische, historische, sprachliche, religiöse etc. Gegebenheiten begründet sind. Macht ein Kanton jedoch von der Möglichkeit des Doppelproporzes (oder anderer wahlkreisübergreifender Ausgleichsmassnahmen) keinen Gebrauch, lassen sich im Proporzwahlverfahren Wahlkreise, die gemessen am Leitwert eines grundsätzlich noch zulässigen natürlichen Quorums von 10 % deutlich zu klein sind, selbst dann nicht mehr rechtfertigen, wenn gewichtige Gründe wie die obengenannten für die Wahlkreiseinteilung bestehen (BGE 143 I 92 E. 5.2).

[7] Diesen Weg wählte einzig der Kanton Thurgau mit der Bezirksreform 2009.

[8] Die Kantone Luzern und Freiburg konnten auf diese Weise ihr Wahlsystem bundesrechtskonform ausgestalten.

[9] BGE 1C_59/2012 vom 26. September 2014.

[10] Auf kommunaler Ebene hat die Stadt Zürich den Doppelproporz eingeführt; er kam temporär auch im Nachgang von Gemeindefusionen etwa in den Städten Schaffhausen oder Aarau zur Anwendung.

[11] Der Kanton Schaffhausen führte den Doppelproporz 2008 im Nachgang einer Verkleinerung des Kantonsrats von 80 auf 60 Mitglieder ein.

[11a] Der Kanton Wallis wählte überdies am 25. November 2018 einen Verfassungsrat, der ebenfalls im Doppelproporz gewählt worden ist.

[12] Parteien, die unter dem alten Wahlsystem in einem Wahlkreis nicht angetreten waren, wurden nur dann einer Listenverbindung in diesem Wahlkreis zugeordnet, wenn sie überall sonst, wo sie antraten, mit der/den gleichen Partei(en) eine Listenverbindung eingegangen waren.

[13] https://www.math.uni-augsburg.de/htdocs/emeriti/pukelsheim/bazi/

[14] Siehe zur Konstellation im Kanton Schwyz auch: Claudio Kuster, «Doppelproporz Schwyz: ‹Kuckuckskinder› nicht im Sinne der Erfinder», Napoleon’s Nightmare, 2. März 2015.

[15] Man könnte dies als Argument gegen Listenverbindungen verwenden. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass es ohne Listenverbindungen zwar keine gegenläufigen Sitzvergebungen gegeben hätte, dafür wäre die Disproportionalität in zwei von drei Kantonen noch höher gewesen. Listenverbindungen führen also tendenziell zu einer besseren Abbildung der Parteistärken im Parlament zum Preis möglicher Verzerrungen in einzelnen Wahlkreisen.

[16] Vgl. etwa Schweizerische Bundeskanzlei, «Proporzwahlsysteme im Vergleich», Seite 18.

[17] In den meisten Fällen erhielten auch einzelne «Diverse» Stimmen. Diese Kategorie wurde als Partei beziehungsweise Kandidat gezählt, sofern sie mindestens 10 Prozent der Stimmen ausmachte.

[18] Dass es überhaupt noch Wahlkreise ohne Parteienkonkurrenz gab, hat damit zu tun, dass die Hürden, um eine Liste einzureichen, nach wie vor relativ hoch sind: Der Wahlvorschlag muss von fünf bis 25 Stimmberechtigten (je nach Wahlkreisgrösse) unterzeichnet werden – in einem Wahlkreis wie Riemenstalden (52 Stimmberechtigte) kein leichtes Unterfangen.

[19] Bei dieser Zählung wurden separate Listen, die klar mit einer bestimmten Partei assoziiert waren, dieser zugerechnet (z.B. Jungparteien-Listen oder regionale Listen).

[20] Viele Parteien traten bei den Wahlen 2003 nur in einem Wahlkreis an, teilweise handelte es sich um Spassparteien.

[21] Dieses Ergebnis dürfte für den Kanton Uri aufschlussreich sein, welcher sein Wahlsystem überarbeiten muss. Die Regierung schlägt vor, dass in Wahlkreisen mit mehr als zwei Sitzen künftig der Doppelproporz zur Anwendung kommt. In den kleinen Wahlkreisen, also dort, wo die Auswirkungen des Doppelproporz besonders relevant sind, soll hingegen weiter im Majorzverfahren gewählt werden.

[22] Der Effekt scheint nicht auf eine generelle «Demokratiemüdigkeit» in den betreffenden Kantonen zurückzuführen sein. Jedenfalls zeigt ein Blick auf die Beteiligungsraten bei nationalen Volksabstimmungen, dass diese sich in den sieben Kantonen in etwa gleich gut (beziehungsweise schlecht) entwickelte wie im Rest des Landes.

[23] Aufschlussreich ist, dass die Beteiligung dort besonders stark zulegte, wo die Zahl der kandidierenden Parteien am stärksten wuchs.

[24] Maurice Duverger (1951): Les Partis Politiques.

[25] Andrea Töndury: «Der ewige K(r)ampf mit den Wahlkreisen», in: Andrea Good, Bettina Platipodis (Hrsg.): Direkte Demokratie. Herausforderungen zwischen Politik und Recht. Festschrift für Andreas Auer zum 65. Geburtstag.

[26] Die detaillierten Zahlen, auf denen diese Analyse beruht, können hier abgerufen werden.

Gesetzliche Quoren und das Gespenst der «Zersplitterung»

Vor kurzem ging es hier um natürliche Quoren, die kleinere Parteien bei Parlamentswahlen benachteiligen. Es gibt aber noch eine einfachere Möglichkeit, unliebsame Konkurrenten vom Parlament fernzuhalten: Anstatt Wahlhürden über die Wahlkreiseinteilung aufzubauen, kann man sie auch einfach ins Gesetz hineinschreiben.

In der Schweiz machen sieben Kantone von dieser Möglichkeit Gebrauch. Die Höhe und die konkrete Ausgestaltung variieren dabei stark. Grundsätzlich können zwei Modelle unterschieden werden:

  • In den Kantonen Aargau und Zürich reicht das Überschreiten des Quorums in einem Wahlkreis, um zur Sitzverteilung im ganzen Kanton zugelassen zu werden. Wenn eine Partei also in einem Wahlkreis die Hürde überspringt, kann sie in allen anderen ebenfalls Sitze holen (auch dort, wo sie unter dem Quorum geblieben ist). In beiden Kantonen beträgt das Quorum 5 Prozent. Im Aargau kann eine Partei alternativ auch im ganzen Kanton 3 Prozent der Stimmen holen, um an der Sitzverteilung teilnehmen zu können.
  • In den anderen Kantonen, die ein gesetzliches Quorum kennen, gilt dieses jeweils in jedem Wahlkreis separat. In Basel-Stadt braucht eine Partei in jedem Wahlkreis mindestens 4 Prozent der Sitze, um dort an der Sitzverteilung teilnehmen zu können. Im Kanton Waadt beträgt das entsprechende Quorum 5 Prozent, in Genf (mit nur einem Wahlkreis) 7 Prozent und im Wallis gar 8 Prozent. Die höchste Hürde stellt aber der Kanton Neuenburg auf: Dort erhalten Parteien in einem Wahlkreis keinen Sitz, wenn sie sich nicht wenigstens 10 Prozent der Stimmen sichern.

Die folgende Tabelle veranschaulicht die Quoren in den Kantonen:

Kanton Quorum Quorum gilt für… Erreichen des Quorums ermöglicht Zugang zu Sitzverteilung…
Aargau

5 Prozent in einem Wahlkreis oder 3 Prozent im Kanton

Listen im ganzen Kanton
Zürich

5 Prozent in einem Wahlkreis

Listen im ganzen Kanton
Basel-Stadt

4 Prozent im Wahlkreis

Listen im entsprechenden Wahlkreis
Waadt

5 Prozent im Wahlkreis

Listen im entsprechenden Wahlkreis
Genf

7 Prozent im Wahlkreis

Listen im entsprechenden Wahlkreis
Wallis

8 Prozent im Wahlkreis

Listen im entsprechenden Wahlkreis
Neuenburg

10 Prozent im Wahlkreis

Listen oder Listenverbindungen im entsprechenden Wahlkreis

Als Argument für gesetzliche Quoren wird in der Regel die Gefahr einer «Zersplitterung» des Parteiensystems ins Feld geführt, die es zu verhindern gelte. Getreu dem Grundsatz: Je weniger Parteien, desto besser.

Vielleicht schwebt den Befürwortern von Quoren das Schweizer Parteiensystem in den Anfangszeiten des Bundesstaates vor. Damals gab es lediglich zwei Parteien[1]: die Freisinnigen und die Katholisch-Konservativen. Allerdings gab es innerhalb dieser beiden Kräfte eine grosse Vielfalt von Strömungen. Unter dem Dach des Freisinns versammelte sich von rechtsfreisinnigen Liberalen über (protestantische) Konservative und linksfreisinnige Radikale bis hin zu frühen Vertretern sozialdemokratischer Ideen so ziemlich alles, was das politische Spektrum zu bieten hatte. Das Mehrheitswahlsystem zwang die vielfältigen Gruppen unter einen Mantel, um den erstarkenden Katholisch-Konservativen die Stirn zu bieten.

Das Zweiparteiensystem mag die parlamentarische Mehrheitsbildung erleichtert haben. Für den Wähler bedeutete es aber nichts anderes als eine Einschränkung der Auswahl, so dass etwa ein Radikaler zur Wahl eines rechtsfreisinnigen Kandidaten gezwungen war, für den er wenig Sympathie hegte.

In den Kantonen, die ein gesetzliches Quorum eingeführt haben, ergeben sich teilweise ganz ähnliche Situationen. Nehmen wir Neuenburg als Beispiel: Der Kanton hat zwar das höchste Quorum der Schweiz. Weil man es aber auch als Listenverbindung überspringen kann, passen sich die Parteien an und tun das einzig Rationale: Sie schmieden exzessiv Listenverbindungen, um die Hürde passieren zu können (beziehungsweise um die Stimmen der Kleinparteien zu ernten). Bei den letzten Wahlen im April gab es keine Partei, die keine Listenverbindung einging, und das grösste Bündnis bestand aus nicht weniger als fünf Listen. Die Folge war, dass – abgesehen von zwei Kleinstparteien – alle angetretenen Parteien den Einzug ins Parlament schafften. Wenn es der Zweck des 10-Prozent-Quorums war, eine Zersplitterung des Parteiensystems zu verhindern, so hat es diesen Zweck deutlich verfehlt.

Für die Wähler hatte das Quorum aber ganz entscheidende Auswirkungen, denn aufgrund der zahlreichen und ausgedehnten Listenverbindungen unterstützte jeder von ihnen mit seiner Stimme auch andere Parteien – Grüne Wähler halfen der Linksaussenpartei POP, CVP-Wähler der FDP und so weiter.

Auch in anderen Kantonen wissen die Parteien das Quorum zu umgehen. Im Wallis, wo keine Listenverbindungen möglich sind, bildeten manche Parteien gemeinsame Listen, um die 8-Prozent-Hürde zu knacken. Das Nachsehen hatten auch in diesem Fall die Wähler, die unter Umständen eine Partei unterstützten, der sie nichts abgewinnen können.

Von diesen praktischen Problemen einmal abgesehen, stellt sich die Frage, weshalb es überhaupt wünschenswert sein soll, eine Zersplitterung des Parteiensystems zu verhindern. Ist die beklagte «Zersplitterung» nicht ein Abbild einer Gesellschaft, in der es unterschiedliche Ansichten und Meinungen gibt? Haben die Wähler kleinerer Parteien nicht auch einen legitimen Anspruch auf eine faire Chance im Parlament vertreten zu sein?

Ein Blick in die Türkei gibt in diesem Zusammenhang zum Nachdenken Anlass. Wie Michael Martens in der FAZ bemerkte, hängen die jüngsten Proteste gegen die Regierung von Recep Tayyip Erdoğan nicht zuletzt mit dem politischen System zusammen, das kleinen Parteien den Zugang zum Parlament extrem erschwert – unter anderem mit einem Quorum von 10 Prozent. Bei den Parlamentswahlen 2002, als Erdoğans AKP an die Macht gelangte, schafften nur zwei Parteien den Sprung über die Hürde – fast die Hälfte der Wähler blieb ohne Vertretung im Parlament.

Der Gedanke scheint nicht abwegig, dass Bürger, die ihre Stimme im regulären politischen Prozess nicht einbringen können, sich dafür andere Wege suchen. Dass die «Zersplitterung» im Parlament mustergültig tief ist, hilft wenig, wenn es seinen Hauptzweck nicht erfüllt: die Repräsentation der Bevölkerung.


[1] Wobei der Begriff Partei nicht ganz korrekt ist, da es keine formellen Organisationen waren. Formell wurde erst 1881 mit der «Konservativen Union» (der Vorläuferin der heutigen CVP) die erste Partei gegründet.