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Da waren’s nur noch vier: Basel-Stadt verliert 2023 einen Nationalratsitz an Zürich

Das überdurchschnittliche Bevölkerungswachstum beschert dem Kanton Zürich bei den nächsten Wahlen einen zusätzlichen Nationalratssitz. Das Nachsehen hat Basel-Stadt.

An die Nationalratswahlen 2023 denkt heute noch kaum jemand, ist doch noch nicht einmal die halbe Legislaturperiode 2019–2023 ins Land gezogen. Die ersten dannzumaligen Sitzgewinner und -verlierer werden jedoch schon bald publik gemacht: Fussend auf den massgeblichen ständigen Wohnbevölkerungen der Kantone per 31. Dezemerber 2020 wird der Bundesrat bald die Verteilung der 200 Nationalratssitze auf die Kantone für die Wahlen 2023 vornehmen.

Basierend auf den bereits veröffentlichten provisorischen Erhebungen des Bundesamts für Statistik (BfS) haben wir die Sitzverteilung nun schon vorwegenommen. Erfahrungsgemäss sind diese provisorischen Zahlen sehr verlässlich und verändern sich kaum mehr. So konnten wir bereits die Verschiebungen der Sitzzuteilungen vor den Nationalratswahlen 2015 und 2019 korrekt prognostizieren.

Während es 2015 noch drei Sitzverschiebungen gab (AG, VS, ZH: +1 / BE, NE, SO: -1) und vor den letzten Wahlen 2019 immerhin deren zwei (GE, VD: +1 / BE, LU: -1), wird es 2023 nur noch einen Sitztransfer geben: Der grösste Kanton, Zürich, erhält einen weiteren Nationalratssitz (neu: 36 Sitze). Auf der Verliererseite steht diesmal nicht der Kanton Bern, sondern Basel-Stadt (neu: 4 Sitze). Welche Partei (SP, Grüne, Liberale oder GLP?) den fünften Basler Sitz verlieren dürfte, ist schwierig abzuschätzen, hängt doch vieles von den einzugehenden Listen- und Unterlistenverbindungen ab, die gerade in Basel-Stadt regelmässig ziemlich breit und kreativ abgeschlossen werden.

In den anderen 24 Kantonen bleibt somit die Sitzzuteilung unverändert:

Kanton Δ ständige Wohnbevölkerung 2016–2020 NR-Sitze 2019 NR-Sitze 2023 Δ Sitze 2019–2023
Aargau +4.6% 16 16 =
Appenzell Ausserrhoden +0.6% 1 1 =
Appenzell Innerrhoden +1.8% 1 1 =
Basel-Landschaft +1.9% 7 7 =
Basel-Stadt +1.9% 5 4 -1
Bern +1.6% 24 24 =
Freiburg +4.4% 7 7 =
Genf +3.4% 12 12 =
Glarus +1.8% 1 1 =
Graubünden +1.3% 5 5 =
Jura +0.8% 2 2 =
Luzern +3.2% 9 9 =
Neuenburg -1.5% 4 4 =
Nidwalden +2.3% 1 1 =
Obwalden +1.9% 1 1 =
Schaffhausen +2.9% 2 2 =
Schwyz +4.0% 4 4 =
Solothurn +3.0% 6 6 =
St. Gallen +2.4% 12 12 =
Tessin -1.0% 8 8 =
Thurgau +4.5% 6 6 =
Uri +1.9% 1 1 =
Waadt +3.7% 19 19 =
Wallis +2.7% 8 8 =
Zug +3.9% 3 3 =
Zürich +4.4% 35 36 +1

 

Schliesslich sei ein vorsichtiger Blick auf die übernächsten Wahlen 2027 gewagt: Würden sich die kantonalen Wohnbevölkerungen in den kommenden vier Jahren im gleichen Tempo weiterentwickeln wie in den vergangenen vier Jahren, so können für 2027 je drei weitere Sitzgewinner und -verlierer ausgemacht werden: Je einen Nationalratssitz abgeben müsste einmal mehr der unterdurchschnittlich wachsende Kanton Bern (der dereinst auch noch die rund 7400 Einwohner Moutiers verloren haben wird), Graubünden und womöglich Basel-Landschaft.

Die Sitze dürften mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit dem relativ stark wachsenden Kanton Thurgau, möglicherweise wieder Luzern (das somit den 2019 ziemlich knapp verlorenen 10. Sitz wiedererlangen würde) und Freiburg zufallen.

NR-Sitze 2023-2027

 

Lukas Leuzinger hat, fussend auf den kantonalen Bevölkerungsszenarien des BfS, bereits vor vier Jahren ähnliche Prognosen angestellt. Er respektive die BfS-Statistiker sahen ebenfalls die Kantone Zürich, Thurgau, Luzern und Freiburg aufseiten der Sitzgewinner. Demgegenüber wüchsen «die Kantone Basel-Stadt und Baselland langsamer als der Schweizer Durchschnitt – und werden gemäss den BfS-Prognosen 2023 beziehungsweise 2027 je einen Nationalratssitz verlieren».

Das Losverfahren brachte in der Schweizer Geschichte vor allem Aristokraten Glück

Verbessert das Losverfahren die Demokratie? Seine Fürsprecher verweisen gern auf die Alte Eidgenossenschaft. Aber gerade hier diente die Verlosung von Ämtern vor allem den Mächtigen.

Publiziert im Magazin «NZZ Geschichte» vom 9. Juli 2020.

Gott meinte es offensichtlich nicht gut mit Albrecht von Haller. Der Universalgelehrte sass seit bald dreissig Jahren im bernischen Grossen Rat. Es war längst Zeit für den nächsten Schritt in der Karriere des Patriziers. Wiederholt bewarb sich von Haller um einen Sitz im Kleinen Rat, in der Regierung, mehrmals kandidierte er für eine Landvogtei. Doch immer wieder traf das Glück beim Losentscheid einen Konkurrenten. Haller tröstete sich mit dem Gedanken, dass die politische Karriere offenbar nicht seine Bestimmung sei. Nachdem er 1772 beim Rennen um den Einzug in den Kleinen Rat ein weiteres Mal leer ausgegangen war, bezeichnete er das Los in einem Brief an seinen Freund, den Genfer Gelehrten Charles Bonnet, als «Stimme Gottes». Sie sei tiefsinniger als menschliche Entscheide.[1]

Wer die goldene Kugel zog, stieg in der Berner Machthierarchie auf. (Bild: Bernisches Historisches Museum)

 

Kaum jemand sieht im Los heute noch ein Verdikt Gottes. Und doch erlebt die Idee, politische Vertreter nicht per Wahl, sondern per Zufall zu bestimmen, wieder einen Aufschwung. Vorangetrieben wird sie von Wissenschaftern wie dem belgischen Historiker David Van Reybrouck. Das Los, so argumentiert er in seinem 2016 auf Deutsch erschienenen Buch «Gegen Wahlen», sei das wahrhaft demokratische Verfahren.

Ansätze, es in moderne Demokratien zu integrieren, gab es in der jüngeren Vergangenheit unter anderem in Irland, im US-Gliedstaat Oregon und im deutschsprachigen Teil Belgiens. In Sitten wurde kürzlich ein Pilotversuch durchgeführt, bei dem wie in Oregon eine ausgeloste Gruppe von Bürgern über eine Abstimmungsvorlage diskutierte und einen kurzen Bericht zuhanden ihrer Mitbürger verfasste. Weiter geht die Justizinitiative, welche die Auslosung von Bundesrichtern fordert. Das Begehren ist zustande gekommen, bald will der Bundesrat seine Botschaft dazu vorlegen. Noch nicht so weit ist die Volksinitiative Génération Nomination. Sie will, dass der Nationalrat künftig per Los besetzt wird. Die Initianten wollen zusätzliche Unterstützer und finanzielle Mittel sammeln, bevor sie mit der Unterschriftensammlung starten.

Die Eidgenossenschaft war ein Spätzünder

Verfechter des Losverfahrens betonen, es sei demokratischer als die Wahl, weil es das Prinzip der Gleichheit besser zur Geltung bringe. So schreiben die zwei Politikwissenschafter Nenad Stojanović und Alexander Geisler in der «Zeit», das Los sei «lange Zeit die demokratische Methode par excellence» gewesen. Sie und andere Befürworter des Modells verweisen auf den antiken Stadtstaat Athen, wo das Losverfahren zur Besetzung einiger (nicht aller) wichtiger Ämter zum Einsatz kam, sowie auf die norditalienischen Stadtstaaten wie Venedig oder Florenz, die im Mittelalter beim Besetzen von Ämtern auf den Zufall setzten. Und noch ein Vorbild wird genannt: die Eidgenossenschaft. Verschiedene Kantone und Gemeinden vergaben ab dem 17. Jahrhundert Ämter per Los. Ein genauerer Blick zeigt aber, dass sie damit keineswegs eine Demokratisierung anstrebten – im Gegenteil.

Im Vergleich zu anderen Gebieten findet das Los in der Schweiz relativ spät Aufnahme in die politischen Systeme. Während das Verfahren in Venedig bereits im 13. Jahrhundert eingeführt wurde, tauchen die ersten Beispiele in der Schweiz erst im 17. Jahrhundert auf. Die Schweiz ist für die Geschichte des Losverfahrens aber besonders interessant, weil es in sehr unterschiedlichen Staatsformen zur Anwendung kam: in den ländlichen Landsgemeindeorten ebenso wie in aristokratischen Städterepubliken und nach dem Ende der Alten Eidgenossenschaft auch in der Helvetischen Republik, wie ein 2017 von Wissenschaftern der Universität Lausanne herausgegebener Sammelband eindrücklich aufzeigt.[2]

Ruinöses Wettrüsten

Unter den Landsgemeindeorten war Glarus jener, der das Losverfahren als erster einführte und am längsten beibehielt. Vor der Einführung waren die wichtigen Ämter in offenen Wahlen an der Landsgemeinde besetzt worden. Dabei war allerdings der Stimmenkauf weit verbreitet. Um dem Missstand beizukommen, führten die Glarner 1623 zunächst Abgaben ein; wer in ein Amt gewählt wurde, musste einen gewissen Betrag an die Staatskasse oder direkt an die Stimmbürger entrichten. Das sollte den Anreiz mindern, Stimmen zu kaufen. Die Massnahme scheint aber nicht den gewünschten Effekt gehabt zu haben, ja sie verstärkte die Aristokratisierung noch. Jedenfalls beschloss 1640 die evangelische Landsgemeinde – Glarus war inzwischen konfessionell geteilt –, wichtige Amtsträger nicht mehr zu wählen, sondern auszulosen. Das Verfahren war zweistufig: Zunächst wurden per Handmehr acht Kandidaten ausgewählt (zwei aus dem hinteren, vier aus dem mittleren und zwei aus dem vorderen Landesteil). Unter diesen wurde danach gelost. Ein unmündiger Knabe gab jedem Bewerber eine schwarz eingefasste Kugel; sieben waren silbern, eine golden. Wer die goldene Kugel zog, bekam das Amt. Der katholische Teil von Glarus übernahm das Verfahren 1649.

Anders als man denken würde, lag das Losverfahren durchaus im Interesse der Eliten, wie der Historiker Aurèle Dupuis von der Universität Lausanne betont.[3] Denn die Wahlbestechung hatte mit der Zeit zu einem immer kostspieligeren Wettstreit um Ämter geführt, der ganze Familien zu ruinieren drohte. Durch das Los sollte der Anreiz für dieses ruinöse Wettrüsten gesenkt werden. Ausserdem erhofften sich insbesondere Angehörige von Familien, die zwar zur Elite, aber nicht zu den ganz mächtigen Geschlechtern zählten, eine ausgeglichenere Verteilung der Ämter.

Verdächtiger Zufall

Allerdings scheint auch beim Los nicht immer alles mit rechten Dingen zugegangen zu sein. Jedenfalls ist es auffällig, dass einige Herren das gleiche Amt mehrmals hintereinander erlangten. So gelang Johann Heinrich Zwicky das Kunststück, zwischen 1699 und 1719 fünfmal in Folge zum Landesstatthalter gelost zu werden (wodurch er jeweils zwei Jahre später Landammann werden konnte). Die Wahrscheinlichkeit, das in einem fairen Verfahren zu schaffen (gegen jeweils sieben Mitbewerber), liegt bei 1 zu 32 768. Die Vermutung liegt nahe, dass Zwicky seinem Glück auf die Sprünge zu helfen wusste, etwa mittels Absprachen mit anderen Kandidaten. Auf Unregelmässigkeiten lässt auch ein Beschluss der evangelischen Landsgemeinde von 1764 schliessen, in dem die Kandidaten ermahnt werden, sie sollten «keine Kugeln mehr wechseln, sondern jeder die ihn treffende Kugel behalten».[4] Statt der Wähler bestachen die Politiker nun also einfach ihre Mitbewerber.

Gleichwohl hielten die Glarner am Losverfahren fest. 1791 ging die evangelische Landsgemeinde sogar noch einen Schritt weiter: Sie führte für einige Ämter (Landschreiber, Läufer und Landvögte) das sogenannte Kübellos ein. Dieses verzichtete ganz auf eine vorgängige Wahl und loste die Ämter direkt unter allen Bürgern aus. Dafür wurden Zettel mit Namen aus einem Butterfass gezogen. Weil keinerlei Vorselektion stattfand, konnte es vorkommen, dass das Los Leute traf, die ein Amt nicht ausüben wollten oder konnten, zum Beispiel wenn ein Analphabet zum Landschreiber ernannt wurde. In vielen Fällen wurde es daher an den Meistbietenden versteigert, womit man wieder gleich weit war wie im 17. Jahrhundert: beim Ämterkauf.

Inspiriert von Glarus, übernahmen zwei weitere Landsgemeindeorte das Losverfahren, wenn auch nur für kurze Zeit: In Schwyz wurde es 1692 eingeführt und blieb formell bis 1706 in Kraft, wobei es in der Praxis schon vorher nicht mehr angewandt wurde. In Zug dauerte das Experiment noch kürzer, nämlich von 1697 bis 1699. In Glarus überlebte das Losverfahren derweil bis weit ins 19. Jahrhundert hinein. Erst als die Glarner im Zuge der Regenerationsbewegung 1837 eine neue Verfassung beschlossen, schafften sie die alten Strukturen der konfessionellen Trennung ab – und mit ihnen das Losverfahren.

Verengung der Herrschaftsschicht

Nicht nur in Landsgemeindeorten fand das Losverfahren Anwendung, sondern auch in städtischen Aristokratien wie Bern, Basel oder Schaffhausen. Und so unterschiedlich die politischen Systeme waren, so ähnlich waren die Gründe, die sie aufs Los brachten: Einerseits wollte man die verbreitete politische Korruption eindämmen, andererseits die Tendenz zur Machtkonzentration entschärfen. In Bern etwa wurde die herrschende Schicht ab dem 17. Jahrhundert immer schmaler: Zählten 1630 noch 139 Familien zum Patriziat, waren es 1701 nur noch 88.

Die zunehmende Abkapselung führte zu Spannungen, einerseits zwischen den regierenden Geschlechtern und dem Rest der Burgerschaft, andererseits aber auch innerhalb des Patriziats. Die Aufnahme in den Grossen Rat erfolgte durch Kooptation: Das Gremium bestimmte selber, wen es neu aufnehmen wollte. Dabei hatten die Mitglieder des Kleinen Rats und des Rats der Sechzehn ein Vorschlagsrecht; sie konnten so sicherstellen, dass Mitglieder der eigenen Familie zum Zug kamen. Die weniger mächtigen Geschlechter, die nicht im Kleinen Rat vertreten waren, befürchteten nicht zu Unrecht, mittelfristig ganz aus dem Grossen Rat zu fallen. Auch deshalb versuchte Albrecht von Haller – der dafür lukrative Stellen an angesehenen Universitäten und Höfen ausschlug – derart verzweifelt, in den Kleinen Rat zu kommen: Es ging um das politische Überleben seiner Familie.

Das Los, das für Landvogteien ab 1710 und für den Kleinen Rat ab 1722 eingesetzt wurde, sollte die Ämterverteilung gleichmässiger machen und Bestechung erschweren. Wie in Glarus kam das Glück beziehungsweise Pech in goldenen und silbernen Kugeln zum Ausdruck. Dabei bestimmte nie das Los allein; vielmehr kam ein komplexes System zur Anwendung, das über mehrere Runden Wahl und Losverfahren kombinierte. Der Zufall hatte keine freie Bahn, sondern wurde im Gegenteil stark eingehegt. Denn die mächtigen Familien hatten kein Interesse daran, ihre Privilegien einfach so aufzugeben. Umgekehrt wollten sie aber auch nicht, dass innere Konflikte ihre Herrschaft gefährdeten. Die Einbindung des Loses erlaubte es, beiden Absichten gerecht zu werden. «Das Ziel der Einführung von Losverfahren in Bern war nicht eine Demokratisierung, sondern vielmehr der Abbau von Konflikten sowie eine Stabilisierung der aristokratischen Republik», schreibt der Historiker Nadir Weber. Wie wirksam das Los dabei war, ist offen. Jedenfalls blieb die Macht bis zum Zusammenbruch des Ancien Régime in den Händen weniger Familien konzentriert.

Albrecht von Haller war kein begeisterter Anhänger des Losverfahrens. Zwar schrieb er, dass das Los die Chancen von Aussenseitern auf Ämter verbessere. Das Übel der Wahlbestechung lasse sich damit aber nicht beheben, sondern verlagere sich lediglich auf die Phase der Vorselektion. Haller mag aufgrund seiner persönlichen Erfahrung nicht eben ein unvoreingenommener Richter sein. Letztlich stand er dem Los aber doch versöhnlich gegenüber: Man solle jener höheren Instanz vertrauen, die das Gold und Silber der Kugeln geschaffen und jede Farbe mit dem Namen dessen versehen habe, für den sie bestimmt sei. Haller sah in seinem Lospech offenbar einen Hinweis, dass Gott ihn nicht mit Regierungsgeschäften belasten wollte, so dass er sich ungestört seiner wissenschaftlichen Tätigkeit widmen konnte.

Reaktion auf Staatskrise

Auf den göttlichen Willen berief man sich auch anderswo wiederholt, etwa in Schaffhausen. Dort forderten die Zünfte, die das Fundament des Staats bildeten, 1688 die Einführung des «göttlichen Loss», um den Zugang zu höheren Ämtern gerechter zu gestalten.[5] Vorausgegangen waren dem Ansinnen wachsende Spannungen zwischen dem Kleinen Rat, der immer mehr Kompetenzen an sich zog, und dem Rest der Bürgerschaft, die sich schliesslich zu einer veritablen Staatskrise ausweiteten. Dem Kleinen Rat wurden Absolutismus, Korruption und Vetternwirtschaft vorgeworfen. Die Schwere der Krise erklärt wohl auch, warum Schaffhausen mit seiner Reform deutlich weiter ging als Bern. Der Grosse Rat beschloss, sämtliche Ämter auszulosen, wobei die Zünfte und Gesellschaften je einen Kandidaten stellen durften.

Demokratisierung war nicht das Ziel

Kurzum: In den Landsgemeindeorten ebenso wie in den Städterepubliken der Eidgenossenschaft wurde das Los als Mittel gegen politische Korruption und absolutistische Herrschaftsansprüche propagiert. Zahlreiche Orte griffen auf das Verfahren zurück, Auslöser waren oft Spannungen innerhalb der oberen Herrschaftsschichten. Angestrebt wurden eine breitere Verteilung der Macht und eine weniger berechenbare – und somit auch weniger beeinflussbare – Besetzung der Ämter. Eine wirkliche Demokratisierung war hingegen nie das Ziel und fand auch nirgends statt. Im Gegenteil: Oft lag das Losverfahren durchaus im Interesse der herrschenden Schicht. Sei es, weil diese (wie in Glarus) die horrenden Kosten der Wahlbestechung vermeiden wollte; sei es, weil (wie in Bern) der Kreis der Mächtigen immer enger wurde und damit die Stabilität der Regierung gefährdete.

Es mag sein, dass das Losverfahren Vorteile für die Demokratie mit sich bringen kann. Die Alte Eidgenossenschaft ist aber ein denkbar ungeeignetes Beispiel dafür. Die Berner Patrizier wären erstaunt über die Vorstellung, dass sie mit ihrer Reform Pioniere der Demokratie gewesen sein sollen.

 


[1] Zitiert in Nadir Weber (2017): «Gott würfelt nicht», in: Chollet, Antoine und Fontaine, Alexandre (2017): Expériences du tirage au sort en Suisse et en Europe (XVIe-XXIe siècle), S. 60.

[2] Chollet/Fontaine 2017.

[3] Aurèle Dupuis: «Un remède désespéré pour des démocraties aux abois», in Chollet/Fontaine 2017.

[4] Zitiert in Winteler, Jakob (1954): Geschichte des Landes Glarus. Band II: von 1638 bis zur Gegenwart, S. 128.

[5] Roland E. Hofer: Absolutismus oder Republik? Bemerkungen zur Verfassungskrise von 1688. Schaffhauser Beiträge zur Geschichte, 84 (2010), S. 95 ff.

Rezension: Andreas Glaser (Hrsg.) – Das Parlamentswahlrecht der Kantone

«Das Parlamentswahlrecht der Kantone», herausgegeben von Staatsrechtler Andreas Glaser, zeigt die Vielfalt und die Probleme der Wahlsysteme der kantonalen Parlamente auf. Eine Rezension.

Publiziert in der Zeitschrift «LeGes – Gesetzgebung & Evaluation», 30 (2019) 2.

Das Wahlrecht der Schweizer Kantonsparlamente war im 20. Jahrhundert, nachdem die meisten Kantone vom Mehrheitswahl- zum Verhältniswahlverfahren gewechselt hatten, durch grosse Stabilität geprägt. In den letzten zwei, drei Jahrzehnten gab es jedoch einige Reformwellen, die auch die kantonalen Parlamente respektive ihre Wahlverfahren nicht unberührt gelassen haben. So die Totalrevisionen diverser Kantonsverfassungen, territoriale Reformen, die Verkleinerung der Legislativen und schliesslich eine Reihe von höchstrichterlichen Urteilen zu den kantonalen Wahlsystemen.

Die aktuelle Zwischenpause nutzen Staatsrechtsprofessor Andreas Glaser und neun weitere Autorinnen und Autoren aus dem Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA), um eine längst überfällige, systematische Gesamtschau über das Parlamentswahlrecht der Schweizer Kantone vorzulegen.

Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Wahlsysteme der Kantone (§ 1)

Im Einführungskapitel erläutert Nagihan Musliu die bundesrechtlichen Vorgaben an die Wahlsysteme der Kantone. Zwar sind die Kantone in der Ausgestaltung des Wahlsystems für ihr Parlament frei (Art. 39 Abs. 1 BV); einige grundlegende bundesrechtliche Anforderungen müssen sie aber dennoch erfüllen. Nebst dem Demokratiegebot (Art. 51 Abs. 1 BV) ist vor allem die Wahlrechtsgleichheit (Art. 34 BV) einschlägig, die das Bundesgericht in den letzten Dekaden zu diversen Aspekten konkretisiert hat. In diesem Kapitel wird denn hauptsächlich (leider eher unkritisch) die bundesgerichtliche Rechtsprechung zu Fragen des kantonalen Wahlrechts resümiert.

Hierzu streift Musliu die bekannten und vielzitierten Bundesgerichtsentscheide, die seit 2002 die Kantone Zürich, Aargau, Zug, Nidwalden, Schwyz und Wallis zum nicht immer beliebten doppeltproportionalen Wahlverfahren geführt haben. In diesen Kantonen waren die Wahlkreise vormals zu klein und damit das natürliche Quorum für ein Parlamentsmandat zu hoch, genauer: Es lag in diversen Wahlkreisen bei einem Wähleranteil von über 10 Prozent, womit auch etablierten Parteien und ihrer Wählerschaft die parlamentarische Repräsentation verwehrt wurde (ein wichtiger Entscheid wurde übersehen, der bereits 1993 die Wahlkreisgrössen im Kanton Bern rügte: BGer 1P. 671/1992, 08. Dez.1993, in: ZBl 1994, 479 ff.). Hervorzuheben ist die ältere Rechtsprechung zu Sperrklauseln, die aufzeigt, dass die rote Linie von 10 Prozent nicht einfach vom Himmel gefallen ist. Indem das Bundesgericht sukzessive zu diversen konkreten Sperrklauseln (15 %: unzulässig; 12,4 %: unzulässig; 6,6 %: zulässig) Stellung bezog, konnte es die geltende Limite über Jahrzehnte hinweg dort einpendeln.

Leider lässt das Buch oftmals Querverweise zwischen den einzelnen Kapiteln vermissen. So wird hier zwar ausführlich die Rechtsprechung zu sogenannten indirekten Quoren zitiert (§ 1 II. 2.3 b)), doch weder erfährt man, ob und wo dieses Relikt von Quorum heute noch in Kraft ist, noch wird auf die entsprechende spätere Stelle (TI betreffend, § 5 Rz. 59) verwiesen. – Resümierend wird das Bundesgericht zu recht kritisiert, es wolle zwar die Erfolgswertgleichheit umfassend verwirklichen, schaue aber bei der Repräsentationsgleichheit zu wenig genau hin.

Wahlorgan, Wählbarkeit und Wahlkreise (§ 2)

Im zweiten Kapitel beleuchtet Corsin Bisaz die Zusammensetzung des Wahlorgans (aktives Wahlrecht), das passive Wahlrecht sowie die Einteilung in Wahlkreise. Das Elektorat besteht stets aus den volljährigen Schweizer Bürgerinnen und Bürgern mit Wohnsitz im jeweiligen Kanton (GL: ab 16 Jahren), zu denen mancherorts auch Ausländer oder Auslandschweizer dazustossen. Anschliessend werden die Aspekte Wählbarkeit einer Person, die Unvereinbarkeiten, Eid/Gelübde, Amtszwang, Amtsdauer/Amtsbeschränkung, Ausstand, Stellvertretung, Abberufung und Amtsenthebung in knappster Form dargelegt. Wenig bekannt sein dürfte etwa, dass in einigen Kantonen (SG, TI) auch Schweizer ins Kantonsparlament wählbar sind, die gar nicht im nämlichen Kanton wohnhaft sind. Oder dass die Nicht-Gewählten mit den meisten Stimmen in einigen Parlamenten (GE, GR, JU, NE) als Stellvertreter einspringen können, wenn die ordentlich Gewählten verhindert sind. Gerne hätte man über solcherlei mehr erfahren.

Schliesslich nimmt Bisaz die Wahlkreise und die Sitzzuteilung auf diese unter die Lupe (§ 2 III.). Die Aufteilung des Wahlgebiets in (teilweise auch kleine) Wahlkreise würdigt er positiv, er sieht darin gar eine «föderalistische Funktion». In der Tat fördern Wahlkreise freilich die Verbindung von Repräsentanten und ihrer Wählerschaft; in Kantonen mit tatsächlichen, insbesondere sprachlichen, Minderheiten sind sie essenziell. Umgekehrt werden hier die Vorteile von grösseren Wahlkreisen verkannt: die Wahlfreiheit des Souveräns, gerade auch durch das Verändern der offenen Listen. Zu Recht kritisch beurteilt werden aber auch hier die Sitzgarantien (und insbesondere Vorweg-Verteilungen wie in JU), die selbst Kleinstgemeinden wie Riemenstalden SZ (53 Stimmberechtigte) oder Avers GR (143 Stimmberechtigte) einen eigenen Parlamentssitz ermöglichen und damit die Repräsentationsgleichheit überstrapazieren. Letzteren Wahlkreis hat auch das Bundesgericht kürzlich als «deutlich zu klein» beurteilt und damit faktisch aufgehoben (BGer 1C_495/2017, 29.07.2019, E. 7.3 [Publ. vorges.]).

Kantone mit Proporzwahlverfahren nach Hagenbach-Bischoff (§ 3)

In den folgenden fünf Kapiteln (§§ 3–7) wird nacheinander die Ausgestaltung der Parlamentswahlverfahren aller 26 Kantone betrachtet. Corina Fuhrer kommt zunächst die Aufgabe zu, die elf Kantone mit dem herkömmlichen Proporzwahlsystem Hagenbach-Bischoff (BE, LU, OW, FR, SO, BL, SG, TG, NE, GE, JU) vorzustellen. Dieses Verfahren aus den Anfangstagen des Proporzes ist verzerrend, da es grössere Parteien überproportional begünstigt, was stärker hätte herausgestrichen werden dürfen. – Die Kurzportraits werden in einheitlicher Systematik dargestellt: Einleitend wird kurz auf ein paar historische Eckdaten eingegangen und folgend die aktuellen rechtlichen Grundlagen aufgeführt. Danach werden die jeweiligen Eigenheiten der Wahlsysteme präsentiert, so die Parlamentsgrösse und die Amtsdauer, das aktive und das passive Wahlrecht, die Wahlkreiseinteilung und die Sitzgarantien sowie die etwaige Möglichkeit von Listenverbindungen. Interessant ist etwa, dass das bekannte Kumulieren (mehrfaches Aufführen von Kandidaten) nicht überall erlaubt ist (so in FR, GE, NE).

Nebst dem rechtlich-deskriptiven Steckbrief untersucht Fuhrer auch empirisch je die letzten paar Wahlen und listet die Sitzzahlen der Wahlkreise und die jeweilige Höhe der natürlichen Quoren auf. Letztere Berechnung wirkt indes gekünstelt, wo Sperrklauseln (wie etwa in GE: 7 %) über dem natürlichen Quorum liegen und Letztere damit irrelevant sind. – Die elf Unterkapitel werden jeweils mit einer Einschätzung zur Verfassungskonformität abgeschlossen. Das Fazit ist hier eindeutig – und der Autorin ist dabei zuzustimmen: Abgesehen von Obwalden, dessen Wahlkreise mehrheitlich zu klein und damit verfassungswidrig sind, haben die verbleibenden Hagenbach-Bischoff -Kantone ein rechtmässiges Wahlsystem.

Kantone mit doppeltproportionalem Sitzzuteilungsverfahren (§ 4)

Die sieben Kantone, die ihr Kantonsparlament im modernsten Wahlverfahren Doppelproporz bestellen (ZH, AG, SH, NW, ZG, SZ, VS), werden von Julian-Ivan Beriger beschrieben. Die systematische Darstellung der jeweiligen Eckdaten – vom Anlass des Systemwechsels über die rechtlichen Grundlagen bis hin zu kantonalen Spezialitäten – wird auch in diesem Kapitel beibehalten. Dieses ist bedauerlicherweise mit vielen Unzulänglichkeiten gespickt: Da werden beiläufig wichtige Begriffe wie «Wählerzahl» oder «Kantonswahlschlüssel» erwähnt, ohne sie jedoch zu erklären, geschweige denn konkrete Beispiele darzulegen – obschon diese Zahlen für das Verständnis des doppeltproportionalen Wahlsystems wichtige Konzepte darstellen. Die mathematischen Formeln zur Berechnung des natürlichen Quorums sind nicht nur falsch, sondern in der Mehrheit der Kantone geradezu irrelevant, da sie dort von gesetzlichen Mindestquoren verdrängt werden. Es wird behauptet, Listenverbindungen seien «systemfremd» (zumindest innerhalb von Parteien wären solche sehr wohl sinnvoll und implementierbar), und es wird vorgebracht, der Doppelproporz werde in den Kantonsverfassungen festgeschrieben (es wird regelmässig nur das Verhältniswahlverfahren mit wahlkreisübergreifendem Ausgleich vorgegeben, was auch andere Wahlsysteme wie Wahlkreisverbände ermöglichen würde).

Offensichtlich hat sich der Autor bisher nie mit Sitzzuteilungsverfahren beschäftigt. Dies kommt dadurch zum Ausdruck, dass wichtige Publikationen (etwa Friedrich Pukelsheim, Proportional Representation – Apportionment Methods and Their Applications, Cham 2017) unerwähnt bleiben, und mathematische Literatur fehlt komplett. Daher kann es nicht erstaunen, dass Berigers Würdigung des Doppelproporzes vernichtend ausfällt: Er problematisiert insbesondere den wahlkreisübergreifenden Ausgleich, also just die Raison d’Être dieses Wahlsystems, das letztlich Wählern selbst in kleinen Wahlkreisen erlaubt, erfolgswertgleich zu wählen. Auf fast einer ganzen Seite breitet der Autor sodann empirische Beispiele von gegenläufigen Sitzverschiebungen aus, unterschlägt dabei aber, dass solche Anomalien ebenso in anderen Wahlsystemen vorkommen (etwa im sehr verbreiteten Hagenbach-Bischoff mit Listenverbindungen oder in Wahlkreisverbänden). Als Reformidee wird schliesslich unverständlicherweise die Einführung eines Grabenwahlsystems vorgeschlagen, das in den kleineren Wahlkreisen den Majorz vorsieht. Umgekehrt verschliesst Beriger die Augen vor effektiven Problemen, etwa den verbreiteten Mindestquoren in den Doppelproporz-Kantonen. Insbesondere im Kanton Zürich muss dieses als (kantonal-)verfassungswidrig bezeichnet werden (Tobias Jaag, Kommentar BGer 1C_369/2014, ZBl 2015, 85 ff.).

Kantone mit sonstigen Proporzwahlverfahren (§ 5)

In einem weiteren Kapitel bearbeitet Beriger die vier «Kantone mit sonstigen Proporzwahlverfahren». Dies sind zum einen Basel-Stadt und Glarus, die unlängst auf das Zuteilungsverfahren Sainte-Laguë (Divisorverfahren mit Standardrundung) gewechselt haben, zum anderen Waadt und Tessin, die gemäss Restzahlverfahren Hare/Niemeyer die Mandate verteilen. Beide Verfahren zeitigen meistens die gleichen Resultate und gelten grundsätzlich als fair, da sie weder grosse noch kleine Parteien systematisch begünstigen. Abgesehen von dieser Gemeinsamkeit unterscheiden sich die vier Kantone in wesentlichen Parametern: In Glarus wird seit der Grossfusion in hinreichend grossen Wahlkreisen gewählt, im Sinne des Traditionsanschlusses sind die (sinnvollen) Listenverbindungen weiterhin erlaubt. In Basel herrscht demgegenüber die schweizweit grösste Spannbreite der Wahlkreisgrössen: Während Grossbasel West 34 Sitze hält, liegt für die Gemeinde Bettingen nur ein einziger Sitz drin. Dass der dortige Grossrat im eher heiklen (und für ein Kantonsparlament schweizweit einmaligen) Verfahren First-past-the-post (ein Wahlgang mit relativem Mehr) gewählt wird, wird nicht erwähnt.

Die elektorale Spezialität des Kantons Waadt sind die Wahlkreisverbände. Anschaulich erklärt werden sie jedoch nicht, es geht nicht einmal hervor, auf welcher Ebene (Wahlkreise oder Unterwahlkreise?) die Kandidatinnen und Kandidaten gewählt werden. Der Autor versteigt sich sogar zur Empfehlung, diese undurchsichtigen Konstrukte als Ersatz für den Doppelproporz (NW, ZG, SZ) einzuführen. Abgesehen davon, dass diese das Stimmvolk etwa in Nidwalden explizit und klar abgelehnt hat: Just in Wahlkreisverbänden werden Mandate tatsächlich zwischen den Wahlkreisen hin- und hergeschoben. Was also im «Pukelsheim» nicht hinnehmbar sein soll, findet der Autor hier «aus verfassungsrechtlicher Sicht unproblematisch».

Derlei Probleme sind im Tessin inexistent, der keine Wahlkreise, sondern einen einzigen Einheitswahlkreis kennt. Eine freiwillige Regionalisierung innerhalb der Parteilisten ist aber möglich, sofern die Parteien dies wünschen (zu dieser spannenden Eigenheit werden leider keine empirischen Daten dargelegt). Eine weitere interessante Anomalie: Der Südkanton kennt kein allgemeines Auslandschweizerstimmrecht, sondern quasi ein Auslandtessinerstimmrecht, da dieses nur im Ausland wohnhafte Personen mit Tessiner Bürgerrecht miteinschliesst (und auch für Wahlen gilt). Der Kanton, der 1890 als erster die Proporzwahl einführte, krankt jedoch an einem anderen, schwerwiegenden Mangel: Das Restzahlverfahren Hare/Niemeyer wird nicht in Reinform berechnet, sondern enthält ein verstecktes, verzerrendes Quorum («indirektes Quorum»). Einerseits eliminiert dieses Listen, die weniger als 1,11 Prozent Wähleranteil haben, was legitim erscheint. Andererseits begünstigt das mathematisch unzulängliche Verfahren systematisch Kleinparteien, die diese Hürde erreicht haben; aufgrund der fehlerhaften Restsitzverteilung wird ihnen oft ein zusätzliches Mandat «geschenkt». Der Beitrag ignoriert diese grobe Verzerrung.

Kantone mit Mehrheitswahlverfahren (§ 6)

Ein so anspruchsvoller wie hervorragender Beitrag stammt von Marco Ehrat und Julia Eigenmann, welche die beiden Kantone Graubünden und Appenzell Innerrhoden vorstellen, die noch integral das Majorzwahlverfahren anwenden. Anspruchsvoll ist der Beitrag, weil das Wahlsystem dieser beiden Kantone noch nie höchstrichterlich beurteilt worden ist (bis zum Zeitpunkt seiner Erscheinung), die Einschätzung Kenntnisse der lokalen Verhältnisse verlangt und überdies die Lehre zum Majorz eher spärlich gesät ist (zu AI praktisch inexistent). Hervorragend ist das Kapitel, weil die Autoren weit über das deskriptive, positive Recht dieser beiden Bergkantone hinausgehen und stattdessen die Verfassungskonformität des jeweiligen Majorzsystems ausführlich, anhand der Kriterien des Bundesgerichts, herausschälen (Parteizugehörigkeit/Persönlichkeitswahl, Autonomie der Wahlkreise, geringe Bevölkerungszahl der Gemeinden, Besonderheiten). Hierfür werden die jeweiligen politischen, historischen, soziokulturellen, geografischen, sprachlichen und föderalistischen Ausprägungen der Wahlkreise respektive des Elektorats betrachtet.

Die Schlüsse, die Ehrat/Eigenmann daraus ziehen, sind so deutlich wie verschieden: In Graubünden sind die 39 (Wahl-)Kreise nicht nur äusserst unterschiedlich gross und teilweise sehr klein (Wahlkreis Avers: 160 Einwohner; Chur: 27 955), sie stellen nach der Gebietsreform per 2015 auch Entitäten dar, denen nunmehr keine andere Funktion mehr zukommt. Im Rahmen der diversen Gemeindefusionen erweisen sich die Grenzen der Kreise plötzlich als ziemlich flexibel, und sie werden sogar für Wahlkreismanipulationen missbraucht – «Gerrymandering» in der Surselva! Auch das beliebte Argument, der Majorz schütze die sprachlichen Minoritäten, zerpflücken die Autoren so simpel wie elegant, indem sie aufzeigen, dass die italienischsprachige Bevölkerung zwar 13 Prozent beträgt, die italienischsprachigen Wahlkreise aber nur 8 Prozent aller Grossratssitze stellen. Das Fazit ist unmissverständlich, der Bündner Majorz ist verfassungswidrig. Kürzlich ist das Bundesgericht dieser Kritik gefolgt und hat, mit diversen Verweisen auf diesen Beitrag, eine Beschwerde gegen den Bündner Majorz teilweise gutgeheissen (BGer 1C_495/2017, 29. Juli 2019 [Publ. vorges.]).

In Innerrhoden existieren derweil die Parteien SP und FDP erst seit wenigen Jahren, ja selbst die staatstragende CVP wurde hier erst 1988 gegründet; die Parteizugehörigkeit hat denn tatsächlich eine untergeordnete Bedeutung. Zusammen mit der geringen Bevölkerungszahl der Wahlkreise führt dies dazu, dass die Autoren den Innerrhoder Majorz als weiterhin zulässig erachten. Das Kapitel (und leider nur dieses) wird mit einem tabellarischen Anhang abgerundet, der die Wahlkreise mit den zugehörigen Kennzahlen auflistet.

Kantone mit gemischten Wahlverfahren (§ 7)

Die zwei verbleibenden Kantone Appenzell Ausserrhoden und Uri sind jene mit einem gemischten Wahlsystem Majorz/Proporz; sie werden von Liana Sala portraitiert. Zunächst werden auch hier die beiden Wahlsysteme in knappster Form dargestellt, so insbesondere die Aufteilung des Wahlgebiets in Majorz- und Proporz-Wahlkreise erläutert. Die Wahlkreise entsprechen jeweils den Gemeinden. Erwähnenswert ist in diesen beiden Kleinkantonen die Möglichkeit für Majorzgemeinden, ihre Kantons- bzw. Landräte an Gemeindeversammlungen mit Handmehr wählen zu lassen. Von dieser Option haben je zwei Urner und Ausserrhodener Gemeinden Gebrauch gemacht. Die Autorin weist sodann auf die kleinen Wahlkreisgrössen hin: Die Appenzeller Majorz-Gemeinden weisen durchschnittlich weniger als 2000 Einwohner auf, die zwölf Urner Majorz-Gemeinden haben gar, mit Ausnahme von Andermatt, weniger als 1000 Einwohner.

Die zwei letzten Bundesgerichtsentscheide zu kantonalen Wahlverfahren betrafen just diese beiden Kantone – die höchstrichterlichen Erwägungen nehmen denn auch den Hauptteil dieses Kapitels ein. Zunächst hält das Bundesgericht die grundsätzliche Zulässigkeit von Mischsystemen fest, die Unterteilung in Majorz- und Proporz-Wahlkreise müsse aber sachlich nachvollziehbar sein. Trotz Einbrüchen in die Erfolgswertgleichheit können Kantone den Majorz beibehalten, wenn die fraglichen Wahlkreise drei Bedingungen erfüllen: Erstens müssen sie eine geringe Bevölkerung aufweisen, zweitens müssen sie Entitäten mit eigener Autonomie darstellen, und drittens soll nicht die parteipolitische Haltung der Kandidatinnen und Kandidaten, sondern deren Persönlichkeit und individuelle Bekanntheit im Vordergrund stehen. Da Ausserrhoden diese Bedingungen derzeit (noch) erfüllt, beurteilte das Bundesgericht dieses Wahlsystem als rechtmässig. In Uri hingegen wurden zwar die Majorz-Wahlkreise – wenngleich weniger überzeugend, da hier parteiunabhängige Kandidaten praktisch inexistent sind – ebenfalls als verfassungskonform erachtet. Da aber sechs der acht Urner Proporz-Wahlkreise zu klein sind, musste der Kanton dennoch sein Wahlsystem revidieren.

Überprüfung kantonaler Wahlsysteme durch kantonale Gerichte (§ 8)

Der dritte Teil widmet sich in zwei Kapiteln (§§ 8–9) dem gerichtlichen Rechtsschutz. Nicolas Aubert untersucht hierbei die Überprüfung kantonaler Wahlsysteme durch kantonale Gerichte; er unterscheidet hier die Möglichkeit der gerichtlichen Prüfung im abstrakten Normkontrollverfahren von derjenigen im konkreten Normenkontrollverfahren. Die abstrakte Normenkontrolle (gerichtliche Überprüfung von generell-abstrakten Erlassen auf Konformität mit übergeordnetem Recht ohne konkreten Anwendungsfall) ist grundsätzlich zwar in elf Kantonen möglich, jedoch regelmässig bloss für Erlasse unterhalb der Gesetzesstufe. In einigen Kantonen (NW, GR, AG, VD, GE und JU) unterliegen aber auch Gesetze der Verfassungsgerichtsbarkeit (und in GE gar die Kantonsverfassung). Da indes die Grundzüge des Wahlsystems selbst auf Verfassungsstufe normiert sind, ist diese Kontrollmöglichkeit in der Praxis bedeutungslos.

Der erfolgreichere Weg, die Verfassungsmässigkeit eines Wahlverfahrens zu prüfen, erfolgt daher auf dem Weg der konkreten Normenkontrolle, also im Rahmen einer konkreten Wahl. Doch auch hier lauern diverse Schwierigkeiten, da dieses spezifische Rechtsmittel in den kantonalen Rechtsordnungen praktisch nicht normiert ist. Fragen betreffend Anfechtungsobjekt, Beschwerdefristen oder Instanzenzug können daher oftmals nicht a priori beantwortet werden. Aubert illustriert diese Unsicherheit anhand von formellen und prozeduralen Aspekten einiger Wahlbeschwerden vor kantonalen Gerichten (NW, ZG, AR, GR).

Überprüfung kantonaler Wahlsysteme durch das Bundesgericht (§ 9)

Der Überprüfung kantonaler Wahlsysteme durch das Bundesgericht mit der Beschwerde in Stimmrechtssachen widmet sich anschliessend Nevin Martina Bucher. Einerseits können Entscheide kantonaler Gerichte betreffend die Ausübung der politischen Rechte an die oberste rechtsprechende Behörde des Bundes weitergezogen werden. Andererseits ist das Bundesgericht oftmals Erstinstanz, da die Kantone gegen Akte der Regierung und des Parlaments keine kantonale Vorinstanz vorsehen müssen. Erlasse wie Wahlgesetze sind daher regelmässig mittels abstrakter Normenkontrolle direkt in Lausanne anzufechten. Die Autorin gliedert ihren Beitrag systematisch und übersichtlich in die Unterkapitel «Anfechtungsobjekt», «Vorinstanzen», «Beschwerderecht», «Beschwerdegründe», «Fristen», «Rechtsfolgen bei Gutheissung» und «Kosten». Hervorzuheben ist der umfassende Schutz der politischen Rechte: Dies etwa beim Anfechtungsobjekt, das nicht nur behördliche Erlasse und Entscheide betrifft, sondern alle Umstände, die geeignet sind, die Wahlfreiheit zu beeinträchtigen – also auch Realakte sowie Handlungen Privater. Die Beschwerdegründe, die gerügt werden können, sind ebenso breit: Nebst der Verletzung von verfassungsmässigen Rechten kann letztlich auch die Verletzung jeder beliebigen Gesetzes- oder Verordnungsbestimmung geltend gemacht werden.

Kantonales Wahlrecht zwischen harmonisiertem Proporz und neuen Spielräumen (§ 10)

Im Schlusskapitel nimmt Herausgeber Andreas Glaser eine resümierende Standortbestimmung und einen rechtspolitischen Ausblick vor. Das kantonale Wahlverfahren gehorche nun nicht mehr der klassischen Gebietseinteilung (Gemeinden, Bezirke), sondern die Gebietseinteilung müsse im Gegenteil – bezüglich des Wahlverfahrens – den Vorgaben der Wahlrechtsgleichheit angepasst oder jedenfalls insoweit in ihrer Bedeutung relativiert werden. Nach den wahlrechtlichen Umwälzungen in zahlreichen Kantonen stünden derzeit noch zwei Wahlsysteme unter dringendem Verdacht der Verfassungswidrigkeit: jene Obwaldens und Graubündens (womöglich zudem der Einerwahlkreis Bettingen in BS).

Der Autor kritisiert sodann die bundesgerichtliche «Präferenz», den Kantonen mit verfassungswidrigem Wahlsystem den Doppelproporz zu empfehlen. Nicht nur die gegenläufigen Sitzverschiebungen betrachtet er als grosses Manko. Auch der Zweck der Aufteilung des Wahlgebiets in Wahlkreise, nämlich die Bestellung der regionalen Parlamentsdeputation entsprechend dem Willen der Wählerinnen und Wähler in der betreffenden Region, werde jedenfalls teilweise vereitelt. Doch auch Glaser geht fehl in der Annahme, derlei Sitzverschiebungen seien eine Anomalie, die einzig dem doppeltproportionalen Wahlverfahren eigen sei. Wie erwähnt treten solche ebenso in herkömmlichen Wahlverfahren auf. Das Bundesgericht hat denn die hier problematisierten Sitzverschiebungen etwa im Kontext von Wahlkreisverbänden längst bemerkt und als unumgänglich und somit zulässig taxiert (BGer 09. Dez. 1986, in: ZBl 1987, 367 ff.; BGer 1P. 671/1992, 08. Dez.1993, in: ZBl 1994, 483 ff.).

Abschliessend beleuchtet Glaser zwei Standesinitiativen der Kantone Zug und Uri, die in Reaktion auf ihre Wahlsysteme rügende Bundesgerichtsentscheide die «Wiederherstellung der Souveränität der Kantone bei Wahlfragen» verlangt haben. Die beiden Initiativen wurden 2015 von der Staatspolitischen Kommission des Ständerats (SPK-S) und 2016 vom Nationalrat angenommen, worauf 2017 die SPK-S eine entsprechende Bundesverfassungsänderung ausarbeitete. Die Novelle hätte einerseits wieder Mehrheits- und Mischsysteme dem Proporz gleichgestellt, anderseits die Festlegung der Wahlkreiseinteilungen den Kantonen mehr oder weniger frei anheimgestellt. – Glaser hätte die Stossrichtung begrüsst. Der Nationalrat hat die Verfassungsänderung indes in letzter Minute, anlässlich der Schlussabstimmung im Dezember 2018, knapp mit 103 zu 90 Stimmen abgelehnt. Gemäss Andreas Auer habe es «noch nie in der schweizerischen Verfassungsgeschichte einen derart unverschämten Versuch gegeben, zentrale Grundrechte einfach auszuschalten und dem Richter diesbezüglich die Augen zu verbinden» (NZZ, 17. Mai 2018).

Was ist neu bei den Wahlen 2019? (Teil II: kantonales Recht)

Wahlrecht für Auslandschweizer, neue Zustellkuverts, Berechnung des absoluten Mehrs oder Urnenöffnungszeiten: Bei den eidgenössischen Wahlen kommen auch Dutzende Neuerungen im kantonalen Wahlrecht zur Anwendung. Wir erläutern die wesentlichen Novellen in sämtlichen Kantonen.

Im ersten Teil dieses Beitrags haben wir die rechtlichen Neuerungen des Bundesrechts für die anstehenden Wahlen erläutert. Im Verlauf der letzten vier Jahre haben jedoch auch etliche Kantone grössere oder kleinere Schraubendrehungen an ihren kantonalen Wahlgesetzen vorgenommen. Da das kantonale (und teilweise sogar kommunale) Wahlrecht subsidiär für die Nationalratswahlen gilt,[1] ergeben sich auch hierdurch einige lokale Neuerungen. Darüber hinaus sind die Ständeratswahlen kantonale Wahlen; die Kantone regeln das Wahlsystem fürs Stöckli also weitgehend eigenständig.[2] Im Folgenden erläutern wir die wesentlichen Änderungen, die auch die aktuellen Nationalrats- und Ständeratswahlen betreffen.[3]

 

Aargau: Auslandschweizer wählen auch die Ständeräte

Bei den Nationalratswahlen, die primär vom Bund geregelt werden, sind die Auslandschweizer schweizweit wahlberechtigt. Ständeratswahlen sind demgegenüber kantonale Wahlen, weshalb hier die Kantone individuell darüber entscheiden, ob auch den Auslandschweizern das Wahlrecht einzuräumen sei;[4] knapp die Hälfte der Kantone lässt dies zu.[5]

Im vergangenen Herbst hat der Aargauer Verfassungsgeber knapp (50.7 % Ja) das Ständeratswahlrecht für Auslandschweizer eingeführt.[6] Die Befürworter argumentierten, es sei «nur schwer nachvollziehbar, warum im Ausland wohnhafte Stimmberechtigte sich an den Nationalratswahlen beteiligen dürfen, hingegen von den gleichzeitig stattfindenden Ständeratswahlen ausgeschlossen sind». Die von der Auslandschweizer-Organisation (ASO) beantragte Ausweitung des Stimmrechts sei daher sinnvoll. Die ablehnende Minderheit brachte vor, die Nähe und der Bezug zum Kanton Aargau seien für die Standesvertreter wichtig. Wer den Aargau vertreten wolle, müsse mit den hiesigen Gegebenheiten und Sachverhalten vertraut sein.

 

Appenzell Innerrhoden: Ausmehrung des Ständerats an der Landsgemeinde

Der Kanton Appenzell Innerrhoden tanzt bei der Bestellung des Ständerats gleich mehrfach aus der Reihe: Als Kanton mit bloss halber Standesstimme stellt er nur einen statt zwei Ständeräte. Dieser wiederum wird nicht wie in den anderen 25 Kantonen an der Urne gewählt, sondern an der traditionellen Landsgemeinde. Damit einhergehend fällt in Innerrhoden die Nationalrats- und Ständeratswahl zeitlich auseinander, da die ordentliche Landsgemeinde jeweils Ende April tagt. Am 28. April wurde daher bereits Daniel Fässler als «erster» der diesjährigen Gesamterneuerungswahlen gewählt; er nimmt seit vergangener Sommersession im Stöckli Einsitz.

Wiederkandidierende Ständeräte wurden bisher stillschweigend gewählt, wenn die Landsgemeinde keine Namen von Gegenkandidaten in den Ring rief. Neu ist nun, dass an der Landsgemeinde auch die bisherigen Ständeräte explizit gewählt werden müssen; es wird immer ausgemehrt.[7]

 

Basel-Landschaft: Unvereinbarkeit Regierungsrat–Bundesversammlung / Informationsblatt

Seit 1892 durfte einer (aber nicht mehr!) der fünf Basellandschaftlichen Regierungsräte gleichzeitig auch dem National- oder Ständerat angehören. Zuletzt sass 1945 ein Regierungsrat parallel im Nationalrat; ein Doppelmandat mit Ständerat gab es nie. Seit einem Jahr ist diese Ämterkumulation nicht mehr zugelassen.[8] Die Arbeitsbelastung für eine wirkungsvolle Ausübung beider Ämter sei zu hoch, da in den vergangenen Jahrzehnten die Anforderungen sowohl im Regierungskollegium als auch in den eidgenössischen Räten kontinuierlich angestiegen sei.

Die Stimmberechtigten erhalten überdies zusammen mit den Wahlzetteln neu ein amtliches Informationsblatt mit den Namen aller Kandidaten für den Ständerat, die von mindestens 15 Stimmberechtigten vorgeschlagen worden sind.[9] Wählbar sind aber weiterhin alle Stimmberechtigten.

 

Basel-Stadt: Befreiung Wahlvorschlags-Unterzeichnungen, separater Stimmrechtsausweis

Bei den Baselstädtischen Majorzwahlen können 30 Stimmberechtigte einen Wahlvorschlag einreichen, der dann auf dem Wahlzettel abgedruckt wird. Die Wähler können so ihre bevorzugten Kandidaten einfach ankreuzen. Ab diesen Wahlen sind Parteien, die bei den letzten Wahlen für den Grossen Rat mindestens einen Sitz erzielten, von dieser Unterzeichnungspflicht befreit.[10]

Neu gilt bei der Briefwahl das Stimmkuvert nicht mehr gleichzeitig als Stimmrechtsausweis. Dieser ist nun, wie andernorts üblich, separat im Abstimmungskuvert enthalten (eigentlich sogar gleich zwei: ein Stimmrechtsausweis für die persönliche und ein weiterer, anonymisierter, für die briefliche Stimmabgabe).[11]

 

Bern: Weniger Kandidaten im zweiten Wahlgang, keine kantonalen Vorlagen im Wahlherbst

Im Kanton Bern sind bei Majorzwahlen (wie den Ständeratswahlen) nur Personen wählbar, die auf einem Wahlvorschlag figurieren. Verbleiben im zweiten Wahlgang, nachdem sich die wenig chancenreichen Kandidaten zurückgezogen haben, nur noch so viele Kandidaturen wie Sitze zu besetzen sind, so werden diese in stiller Wahl gewählt. In der Vergangenheit hielten jedoch auch Personen mit äusserst geringen Erfolgschancen an der Teilnahme am zweiten Wahlgang fest und forcierten damit als unnötig erachtete Wahlgänge (beispielsweise 2015, als nebst den bisherigen Ständeräten Werner Luginbühl [43 % der Stimmen] und Hans Stöckli [41 %] auch Bruno Moser [1 %] an der Kandidatur festhielt). – Neu sind für den zweiten Wahlgang nur noch jene Kandidaten zugelassen, die im ersten Wahlgang mindestens drei Prozent der Stimmen erhalten haben.[12] Die Urheber eines Wahlvorschlags dürfen jedoch für den zweiten Wahlgang Ersatzkandidaturen vorschlagen.[13]

Überdies wird neu im Jahr der nationalen Wahlen – analog zur Regelung auf Bundesebene – die zehnmonatige Frist zur Ansetzung von Volksabstimmungen um ein halbes Jahr verlängert.[14] Dadurch müssen im Wahlherbst keine kantonalen Abstimmungen abgehalten werden; solche können ins Folgejahr verschoben werden.

 

Freiburg: Noch keine Transparenz bei nationalen Wahlen

Im März 2018 wurde im Kanton Freiburg die Volksinitiative «Transparenz bei der Finanzierung der Politik» mit fast 70 Prozent Ja-Stimmen angenommen. Sie verlangt, dass politische Parteien und Organisationen, die sich an Wahlen beteiligen, ihre Budgets, Rechnungen und Zuwendungen offenlegen. Der Verfassungsartikel[15] ist nicht unmittelbar anwendbar, er wird derzeit in einem Umsetzungserlass konkretisiert und soll auf die kantonalen Wahlen 2021 Anwendung finden. Erwähnenswert ist, dass das Gesetz über die Politikfinanzierung nicht nur für die Ständeratswahlen, sondern auch für die (primär bundesrechtlich geregelten) Nationalratswahlen gelten soll – erstmals voraussichtlich bei den eidgenössischen Wahlen 2023.[16]

Bis zu den letzten Wahlen galt das Antwortcouvert gleichzeitig als Stimmrechtsauswies, letzterer war auf dem Kuvert aufgedruckt. Seit 2016 liegt der Stimmrechtsausweis separat bei; wird er umgedreht, so ist im Sichtfenster die Adresse des Abstimmungsbüros sichtbar, wohin das Antwortcouvert retourniert werden kann.[17]

 

Glarus: Totalrevidiertes Wahlgesetz bringt diverse kleinere Neuerungen

Im Gegensatz zu Appenzell Innerrhoden werden in Glarus die Ständeräte nicht an der Landsgemeinde, sondern an der Urne gewählt, gleichzeitig wie der Nationalrat. Die Glarner Landsgemeinde hat 2017 ein neues Wahlgesetz[18] beschlossen, welches nun auch diverse kleinere Anpassungen für die nationalen Wahlen mit sich bringt: Zunächst wurden die Zustellfristen für das Wahlmaterial denjenigen des Bundes angepasst; die Wahlzettel für den Ständerat müssen (wie diejenigen für den Nationalrat) den Wählern zwischen drei und vier Wochen vor dem Wahltag zugestellt werden.[19]

Wer seine Stimme an der Urne abgeben will, soll sich seinen Weg nicht durch Unterschriftensammlungen oder andere Aktionen bahnen müssen. Solche sind daher nicht nur in, sondern neu auch vor den Stimmlokalen verboten.[20] – Die Wahlzettel müssen nicht mehr abgestempelt werden.[21] – Nachdem die Glarner 2014 nach zwei überraschenden Vakanzen (SR Pankraz Freitag verstarb und SR This Jenny trat kurz darauf zurück) gleich zwei kurzfristige Ersatzwahlen in den Ständerat durchführen mussten, ist die Frist, innert welcher Ersatzwahlen durchzuführen sind, von drei auf sechs Monate heraufgesetzt worden.[22] – Neu dürfen die Resultate bei Wahlen und Abstimmungen soziodemografisch ausgewertet werden.[23]

 

Nidwalden: Mehr Unterschriften, mehr gültige Wahlzettel, kleineres absolutes Mehr

Wahlvorschläge für den je einen Sitz in den Nationalrat und Ständerat konnten bisher von Einzelpersonen eingereicht werden. Nunmehr findet für alle Mehrheitswahlen dasselbe Wahlvorschlagsverfahren statt, das die Unterzeichnung von mindestens fünf Aktivbürgern erfordert.[24] – Wahlzettel sind nun auch gültig, wenn sie lediglich ins Rückantwortkuvert gelegt werden.[25] Sie werden nicht mehr als ungültig ausgeschieden, wenn sie sich nicht im separaten, kleinen Stimmzettelkuvert befinden. Mit dieser Massnahme soll die Anzahl ungültiger Stimmen reduziert werden.

Für die Berechnung des absoluten Mehrs im ersten Wahlgang bei Majorzwahlen wurden bisher auch leere Wahlzettel miteinbezogen. Fortan werden hierzu nur noch die in Betracht fallenden Stimmen berücksichtigt, womit das absolute Mehr leicht gesenkt wird.[26] Die Regel kommt heuer indes noch nicht zur Anwendung, weil Ständerat Hans Wicki bereits in stiller Wahl gewählt worden ist (und bei den Nationalratswahlen das relative Mehr genügt).

 

Obwalden: Neues Stimmkuvert mit zwei Innenfächern

Wie auch in einigen anderen Kantonen, musste der Kanton Obwalden aufgrund neuen Vorgaben der Post sein Stimmkuvert anpassen. Er hat sich für die «Solothurner Lösung» entschieden. Das neue Stimmkuvert hat zwei Innenfächer: Im Fach ohne Sichtfenster liegen die Stimmzettel und die Abstimmungserläuterungen, im Fach mit Sichtfenster befindet sich der Stimmrechtsausweis.[27]

Fahrende mit Obwaldner Heimatort waren bisher einzig in eidgenössischen Angelegenheiten stimm- und wahlberechtigt. Diese Diskriminierung ist nun beseitigt worden, indem ihnen das Stimmrecht auch in kantonalen Angelegenheiten (wie die Ständeratswahlen) zuerkannt worden ist.[28]

 

Schaffhausen: Neue Vergabe der Listennummern, vereinfachte Briefwahl

Es gibt verschiedene Methoden, wie die Listennummern für die Wahllisten vergeben werden (siehe Wo die Juso die Nummer 1 ist). Im Kanton Schaffhausen wird die Reihenfolge der Wahlzettel für den Nationalrat neu anhand der Wählerstärke der Listen bei der jüngsten Kantonsratswahl zugeteilt.[29] Die SVP hält damit die Listennummer 1, die SP die 2, die FDP die 3 usw.

Nachdem bei den Wahlen 2015 die Gebühr fürs Versäumen der Stimmpflicht von drei auf sechs Franken erhöht worden ist, haben die Behörden seit diesem Jahr die briefliche Stimmabgabe ein bisschen bürgerfreundlicher ausgestaltet: Einerseits werden die Gemeindebriefkästen neu am Wahlsonntag um 11 Uhr geleert anstatt bereits am Samstagmittag.[30] Andererseits müssen in den Gemeinden Schaffhausen[31], Neuhausen[32] und Stein am Rhein[33] die Rücksendekuverts nicht mehr frankiert werden (siehe Wer Briefmarke selber bezahlen muss, stimmt seltener ab).

 

Schwyz: Einheitliche Urnenöffnungszeiten, noch keine transparente Wahlfinanzierung

Bisher konnten die Gemeinden des Kantons Schwyz die Urnen bis 12 Uhr geöffnet haben. Neu gilt eine kantonsweit einheitliche Urnenöffnungszeit am Wahlsonntag von 10 bis 11 Uhr.[34] – Neu gewählte Ständeräte dürfen erst dann Einsitz im Rat nehmen, wenn beide Mitglieder rechtskräftig gewählt sind.[35] Wird also gegen die Wahl des einen Mitglieds Beschwerde erhoben, so ist automatisch auch die Vereidigung des anderen neu gewählten Ständerats in der Schwebe.

Wie in Freiburg, so ist im März 2018 auch in Schwyz ein ähnlicher neuer Verfassungsartikel zur Offenlegung der Politikfinanzierung angenommen worden.[36] Das darauf fussende, neue Transparenzgesetz wurde im vergangenen Mai vom Volk angenommen (54 % Ja, obschon es alle Parteien abgelehnt haben) und würde auch die Ständeratswahlen betreffen.[37] Aus Sicht der Initianten wurde die Initiative aber nur unzulänglich umgesetzt, weshalb sie beim Bundesgericht gegen den Erlass Beschwerde erhoben haben. Ob, wann und in welcher Form das Schwyzer Transparenzgesetz in Kraft gesetzt werden wird, ist also noch offen.

 

St. Gallen: Neues Wahlgesetz bringt neue Vergabe der Listennummern und ermöglicht Rückzüge

Im Kanton St. Gallen ist dieses Jahr ein totalrevidiertes Wahl- und Abstimmungsgesetz[38] in Kraft getreten. Die Neuerungen für die aktuellen National- und Ständeratswahlen sind indes von begrenzter Tragweite. Der Regierungsrat hat immerhin vorgeschlagen, die Berechnung des absoluten Mehrs nicht mehr anhand der gültigen Wahlzettel, sondern anhand der gültigen Stimmen vorzunehmen (wie in den meisten Kantonen der Deutschschweiz üblich).[39] Dadurch wäre das absolute Mehr gesunken, womit auf einige zweite Wahlgänge hätte verzichtet werden können. Der Kantonrat lehnte dies jedoch ab.

Im Kantonsrat eingebracht wurde jedoch eine neue Regelung zur Vergabe der Listennummern bei Proporzwahlen. Neu werden diese in der Reihenfolge des Stimmenanteils vergeben, den die Parteien bei den letzten Wahlen erlangt haben.[40] Etwaige Unterlisten von Parteien erhalten ebenfalls dieselbe Listennummer, jedoch mit einem Buchstaben als Zusatz.[41] So tritt derzeit die SVP mit den Listen 01a, 01b, 01c und 01d an, die CVP mit den Listen 02a, 02b, 02c und 02d usw. – Eingeführt wurde zudem die Möglichkeit, Kandidaten wieder zurückzuziehen.[42] Damit soll verhindert werden, dass Personen auf den Wahlzetteln aufgeführt werden, die faktisch gar nicht mehr zur Verfügung stehen.

 

Tessin: harmonisierte Stimmgemeinde der Auslandtessiner

Am 10. Februar 2019 hat das Tessin eine Verfassungsänderung angenommen, welche das kantonale (und kommunale) Wahlrecht der Auslandtessiner neu regelt.[43] Bisher waren nämlich nur jene Auslandschweizer in Tessiner Angelegenheiten stimm- und wahlberechtigt, die ihren Heimatort im Südkanton haben. Neu ist der letzte Wohnsitz in der Schweiz massgeblich, so wie es auch das neue Auslandschweizergesetz für die politischen Recht auf Bundesebene vorsieht. Durch diese Harmonisierung werden einige Nachteile behoben, etwa das Auseinanderfallen der massgeblichen Stimmgemeinde bei kantonalen und nationalen Wahlen sowie Schwierigkeiten bei der Aktualisierung der Stimmregister.

 

Wallis: Briefwahl muss am Freitag eintreffen

Wer im Kanton Wallis brieflich wählen möchte, musste bisher dafür besorgt sein, dass die Sendung vor Schluss des Urnengangs bei der Gemeindeverwaltung eintrifft. Neu muss die Post bereits am Freitag vor der Wahl eintreffen, ansonsten ist die briefliche Stimmabgabe ungültig.[44]

 

Zug: Unterstützung privater Abstimmungs- und Wahlhilfen

Der Kanton Zug hat die gesetzliche Grundlage geschaffen, um jungen Stimmbürgern (von 18 bis 25 Jahren) nebst dem offiziellen Stimmmaterial auch private Wahl- und Abstimmungshilfen zustellen zu können. Damit sind beispielsweise private Abstimmungserläuterungen wie «Easyvote» gemeint. Kanton und Gemeinden können solche Projekte finanziell unterstützen und ihnen die Adressen der Jungwähler zur Verfügung stellen, falls die Wahl- und Abstimmungshilfen die Grundsätze der Neutralität und Sachlichkeit gewährleisten.[45]

 

Zürich: Verkürzte Fristen für zweiten Ständerats-Wahlgang

Findet im Kanton Zürich für die Ständeratswahlen ein zweiter Wahlgang statt, so gelten neu ziemlich kurze Mindestfristen für die Zustellung der Wahlunterlagen: Es genügt, wenn das Wahlkuvert zehn Tage vor dem Wahlgang bei den Wählern eintrifft.[46] Diese stark verkürzte Frist (die normale Frist beträgt drei bis vier Wochen) gilt zudem nicht nur für die Ständeratswahlen, sondern auch für jegliche weitere kantonale oder kommunale Wahlen und Abstimmungen, die auf jenen Wahltag gelegt werden.[47] – Für kommunale Abstimmungsvorlagen (wie etwa am 17. November in der Stadt Zürich) gilt daher eine unterschiedliche Zustellfrist, je nachdem, ob überhaupt ein zweiter Ständerats-Wahlgang vonnöten ist oder nicht.

 

Im ersten Teil dieses Beitrags sind die Neuerungen der Wahlen 2019 dargelegt, die sich aufgrund Änderungen des Bundesrechts ergeben.

 


[1] Art. 83 BPR.

[2] Art. 39 Abs. 1 und Art. 150 Abs. 3 BV.

[3] Keine oder nur untergeordnete, die Wähler nicht betreffende Änderungen seit den letzten Wahlen 2015 gibt es in den Kantonen AR, GR, LU, SO, TG und UR. In den Kantonen GE, JU, NE, TI und VD wurden nur die grundlegenden Änderungen auf Verfassungsstufe berücksichtigt. Nicht berücksichtigt wurden überdies Novellierungen betreffend die elektronische Stimmabgabe, da derzeit kein E-Voting-System in Betrieb ist.

[4] Art. 150 Abs. 3 BV.

[5] Vgl. VPB 1/2014 vom 6. März 2014 (Bundesverfassung, Auslandschweizer Stimmberechtigte und Ständeratswahlen).

[6] § 59 Abs. 3 KV/AG.

[7] Art. 7 Abs. 3 VLGV/AI.

[8] § 72 Abs. 2 KV/BL.

[9] § 26 Abs. 3 GPR/BL.

[10] § 36 Abs. 5 WahlG/BS.

[11] § 8 Abs. 1 WahlV/BS.

[12] Art. 109 Abs. 1 PRG/BE.

[13] Art. 111 PRG/BE. Diese Möglichkeit ist erstaunlicherweise selbst Unterzeichnern von Wahlvorschlägen erlaubt, deren Kandidat die 3%-Hürde im ersten Wahlgang nicht erreicht hat!

[14] Art. 42 Abs. 3 PRG/BE.

[15] Art. 139a KV/FR.

[16] Erläuternder Bericht vom 19. August 2019 zum Vorentwurf des Gesetzes über die Politikfinanzierung, S. 22.

[17] Art. 18 Abs. 3 PRG/FR.

[18] Gesetz über die politischen Rechte (GPR) vom 07.05.2017.

[19] Art. 32 Abs. 1 GPR/GL; für den zweiten Wahlgang gilt weiterhin die verkürzte Frist von 10 Tagen.

[20] Art. 11 Abs. 4 GPR/GL.

[21] Art. 17 GPR/GL e contrario.

[22] Art. 39 Abs. 2 GPR/GL.

[23] Art. 26 Abs. 1 GPR/GL.

[24] Art. 60 WAG/NW.

[25] Art. 28 Abs. 1 Ziff. 5 EG BPR/NW.

[26] Art. 72 Abs. 1 WAG/NW.

[27] Art. 16 und 35 AbstV/OW.

[28] Art. 3 Abs. 5 AG/OW.

[29] Art. 2g WahlG/SH.

[30] Art. 53bis Abs. 3 WahlG/SH.

[31] Art. 2 Abs. 1 Verordnung über die briefliche Stimmabgabe/Schaffhausen.

[32] Art. 1 Abs. 1 Verordnung betreffend vorfrankierte Stimm- und Wahlcouverts/Neuhausen am Rheinfall.

[33] Art. 1 Abs. 1 Verordnung betreffend vorfrankierte Stimm- und Wahlcouverts/Stein am Rhein.

[34] § 26 Abs. 1 WAG/SZ.

[35] § 54a Abs. 1 WAG/SZ.

[36] § 45a KV/SZ.

[37] § 2 Abs. 1 und § 7 Abs. 2 TPG/SZ.

[38] Gesetz über Wahlen und Abstimmungen vom 05.12.2018 (WAG).

[39] Art. 92 Abs. 2 E-WAG/SG.

[40] Art. 42 Abs. 2 WAG/SG.

[41] Art. 42 Abs. 4 WAG/SG.

[42] Art. 26 Abs. 1 WAG/SG.

[43] Art. 30 KV/TI.

[44] Art. 26 Abs. 2 kGPR/VS; Art. 14 Abs. 2 Verordnung über die briefliche Stimmabgabe/VS sah indes bereits früher vor, dass «[d]ie Sendung bei der Gemeindeverwaltung spätestens am Freitag, der der Wahl oder der Abstimmung vorausgeht, eintreffen [muss]. Die zu spät eintreffenden Übermittlungsumschläge werden nicht geöffnet».

[45] § 8 Abs. 6 WAG/ZG.

[46] § 84a Abs. 2 GPR/ZH.

[47] § 84a Abs. 3 GPR/ZH.

 

Die neunköpfige CVP-Hydra – ein Gesetzgebungs-Flop führt zu einer Listenflut bei den Nationalratswahlen

In den ersten Kantonen sind die Listen für die Nationalratswahlen publik. Dabei zeigt sich bereits, dass deren Anzahl markant zunimmt. Ein wesentlicher Grund dafür ist eine unglückliche Gesetzesrevision.

Anfangs Woche ist die Frist für die Einreichung von Listen für die Nationalratswahlen vom 20. Oktober in den ersten vier Kantonen Bern, Graubünden, Aargau und Genf abgelaufen. Zürich folgt heute Donnerstag. Anhand dieser ersten Kantone lässt sich bereits erkennen, dass die Anzahl eingereichter Listen und damit portierter Kandidaten erneut – und teilweise markant – angestiegen ist.

 

Politologen wie Michael Hermann erklären diese Kandidatenflut mit der veränderten Medienlandschaft: National ausgerichtete Medien würden immer dominanter; dies steigere die Attraktivität der Bundespolitik. Überdies sei ein «Smartvote-Effekt» verantwortlich: Für die Parteien sei es interessant, auf dieser Wahlempfehlungs-Plattform möglichst viele Kandidaten zu präsentieren, um die Chancen eines «Matchs» zu erhöhen. Ähnlich argumentiert Politologe Thomas Milic, der einen «Boyband-Effekt» ausmacht: «Man will für jeden Geschmack etwas bieten.»

Diese Begründungen alleine vermögen jedoch die neuerliche Listenflut nicht zu erklären. Ein wesentlicher Grund ist eine kleine, aber folgenreiche Änderung des Wahlgesetzes vor fünf Jahren, die sich erst heute auswirkt.

Damit eine Partei an den Nationalratswahlen teilnehmen kann, muss sie grundsätzlich eine gewisse Anzahl Unterschriften von Stimmberechtigten sammeln – ähnlich wie für eine Volksinitiative. Um der unterschiedlichen Grösse der Kantone, welche die Wahlkreise bilden, Rechnung zu tragen, ist das Unterzeichnungsquorum seit 1994 gestaffelt ausgestaltet. Im kleinen Schaffhausen sollen nicht so viele Unterschriften wie im grossen Zürich nebenan gesammelt werden müssen.

Wahlkreisgrösse Nationalrat Unterzeichnungsquorum Kantone (2019)
2–10 Sitze 100 Unterschriften BL, BS, FR, GR, JU, LU, NE, SH, SO, SZ, TG, TI, VS, ZG
11–20 Sitze 200 Unterschriften AG, GE, SG, VD
über 20 Sitze 400 Unterschriften BE, ZH

 

Bis zu den letzten Wahlen 2015 wurden aber die «etablierten» Parteien in einigen Kantonen von dieser Unterschriftensammlung dispensiert, wenn sie drei Bedingungen kumuliert erfüllten: Erstens musste sich die Partei ins offizielle Parteienregister der Bundeskanzlei eingetragen haben. Zweitens musste die Partei im jeweiligen Kanton eine gewisse Wählerstärke aufweisen (ein Nationalratssitz oder 3 Prozent Wähleranteil bei den letzten Wahlen). Und Drittens galt diese Erleichterung nur, falls sich die Partei auf einen einzigen Wahlvorschlag beschränkte. – Sobald also eine SVP-Kantonalpartei zusätzlich eine JSVP-Liste oder eine SP-Sektion eine Frauen- als auch eine Männer-Liste vorlegen wollte, mussten sie wieder auf die Strasse, die nötigen Unterschriften einholen. Und dies nicht nur für die zusätzliche zweite Liste, sondern auch für die Hauptliste. Die SVP Kanton Zürich musste damit 2015 für ihre beiden Listen 800 Unterschriften, die SP Kanton Bern für ihre drei Listen gar 1200 Unterschriften sammeln.

«Unnötige Schikane»

Während der Beratung einer Revision des Bundesgesetzes über die politischen Rechte im Jahr 2014 schlug Nationalrätin Marianne Streiff-Feller (EVP/BE) daher vor, auf die dritte Bedingung zu verzichten. Sie begründete ihren Einzelantrag dahingehend, es sei nicht zeitgemäss, wenn diese administrative Erleichterung hinfällig werde, sobald eine junge Liste, eine Seniorenliste oder eine Auslandschweizerliste eingereicht werde. Und weiter: «Es handelt sich um eine unnötige Schikane, die nichts zur Verminderung der Anzahl der Kandidierenden beiträgt.»

Der Antrag Streiff wurde erst im Plenum eingebracht, die vorberatende Staatspolitische Kommission konnte ihn daher nicht evaluieren. Nichtsdestotrotz empfahl auch Kommissionssprecher Rudolf Joder (SVP/BE), dem Antrag zuzustimmen. Die Differenzierung mache keinen Sinn: Wenn eine politische Partei registriert sei, solle sie keine Unterschriften einreichen müssen, unabhängig davon, ob sie in einem Kanton eine, zwei oder drei Listen einreiche. «Nach dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit scheint es sinnvoll, diese Detailfrage im Sinne der Vereinfachung des administrativen Aufwandes für politische Parteien zu klären.»

Die anwesende «Hüterin der politischen Rechte», Bundeskanzlerin Corina Casanova, schien ob diesem Vorschlag überrumpelt: Sie verzichtete auf ein Votum. Der Änderungsantrag Streiff wurde schliesslich mit 121 zu 55 Stimmen angenommen. Die Fraktionen SP, CVP/EVP, GPS und GLP unterstützten den Antrag, die FDP lehnte ihn ab, während SVP und BDP gespalten waren.

Da die «Chambre de réflexion» bei Fragen, die den Nationalrat selbst betreffen, usanzgemäss Zurückhaltung übt, reflektierte auch der Ständerat diese Novelle kaum. Kommissionssprecherin Christine Egerszegi (AG/FDP) empfahl mit wenig substanziierter Begründung, dem Nationalrat zu folgen. (Die Bundeskanzlerin schwieg auch hier, obschon das Wahlgesetz fast das einzige Gesetz ist, das die «achte Bundesrätin» im Parlament zu vertreten hätte.)

CVPCS, CVPBZ, CVP#1, CVPFT & Co.

Der revidierte und unterdessen in Kraft getretene Artikel 24 des nationalen Wahlgesetzes zeitigt Wirkung. Im Kanton Bern konnte die EVP nunmehr ihre beiden Listen (EVP und *jevp) einreichen, ohne eine einzige Unterschrift vorlegen zu müssen; die Jungfreisinnigen durften ohne Zusatzaufwand eine Stadt- und eine Land-Liste portieren. In Graubünden finden sich heute gegenüber 2015 fünf zusätzliche Nebenlisten, etwa Juso-Frauen nebst Juso-Männern, eine «Gemeindepolitik»-FDP, SVP-Senioren oder verheissungsvolle «CVP Junge 1» gekoppelt an «CVP Junge A».

Der bisher eindrücklichste Listen-Wildwuchs treibt im elektoralen Garten des Aargaus, wo sich die Anzahl Listen der etablierten Parteien fast verdoppelt hat. Da spriessen plötzlich Blüten wie «BDP3 – die Dritte» oder «SP queer*feministisch». In den Schatten gestellt werden diese Wahlvorschläge aber von der vielköpfigen christlichdemokratischen Hydra: Mit nicht weniger als neun Split-Listen will die CVP ihren Nationalratssitz verteidigen, die so kryptische Namen wie «CVPBZ» (für: «Miteinander.Für Baden und Zurzach.») oder «CVP#1» («Miteinander.Für Kulm, Lenzburg, Brugg.») tragen – total 127 Kandidatinnen und Kandidaten, für welche die CVP keine einzige Unterschrift sammeln musste.

Wer Briefmarke selber bezahlen muss, stimmt seltener ab

In Gemeinden, die Stimmcouverts nicht vorfrankieren, liegt die Beteiligung laut einer Studie 2 Prozentpunkte tiefer. Die Forscher glauben nicht, dass dies an den Kosten für eine Briefmarke liegt, sondern an der zusätzlichen Hürde.

Publiziert in der «Luzerner Zeitung» und im «St. Galler Tagblatt» am 5. September 2017.

Bald steht die wichtige Abstimmung über die Rentenreform an. In einer Umfrage von GFS Bern gaben indes lediglich 55 Prozent der Befragten an, am 24. September bestimmt teilnehmen zu wollen. Eine Studie der Universität Freiburg zeigt nun, dass die Beteiligung bei Abstimmungen auch davon abhängt, ob den Stimmbürgern ein vorfrankiertes Couvert vorliegt. Gemäss den Forschern steigt die Beteiligung um rund 2 Prozentpunkte, wenn dies der Fall ist.

porto-stimmcouvert

In welchen Kantonen der Staat das Porto fürs Abstimmen bezahlt (zum Vergrössern klicken).

Neun Kantone übernehmen derzeit bei Wahlen und Abstimmungen das Porto für die Rücksendung oder verpflichten die Gemeinden, dies zu tun, so etwa Zürich, St. Gallen oder Genf (siehe Soll der Staat pflichtbewussten Bürgern das Porto abnehmen?). In sieben Kantonen ist die Vorfrankierung für die Gemeinden optional (siehe Karte rechts). In den letzten Jahren gab es in verschiedenen Kantonen und Gemeinden Forderungen, diese Massnahme einzuführen, um die Stimmbürger zur Teilnahme an Urnengängen zu motivieren. Meist scheiterten sie aus Kostengründen. In der Stadt Luzern etwa rechnete die Regierung mit einem Aufwand von etwa 27’000 Franken pro Urnengang, wenn sich ein wenig mehr als 50’000 Stimmberechtigte beteiligen. Zudem weisen die Gegner regelmässig darauf hin, dass aufgrund der bisherigen Erfahrungen kein positiver Einfluss auf die Stimmbeteiligung festgestellt werden könne.

«Effekt ist grösser als erwartet»

Letzteres Argument hat nun allerdings an Überzeugungskraft verloren. In ihrer Studie haben die Ökonomen Mark Schelker und Marco Schneiter die Stimmbeteiligung in den Gemeinden des Kantons Bern über den Zeitraum von 1989 bis 2014 verglichen. Bern gehört zu jenen Kantonen, welche die Rücksendecouverts nicht vorfrankieren, den Gemeinden aber erlauben, dies zu tun.

18 der 325 untersuchten Gemeinden übernahmen zumindest zeitweise das Porto für die Rücksendung, wobei 6 die Massnahme wieder aufhoben (oft aus Kostengründen). Die Wissenschafter berücksichtigten weitere Faktoren, die einen Einfluss auf die Stimmbeteiligung haben könnten, etwa Durchschnittseinkommen oder Demografie, um die Auswirkung der Portoübernahme isolieren zu können. «Der Effekt ist grösser, als ich erwartet hätte», kommentiert Mark Schelker das Resultat der Untersuchung, die demnächst in der wissenschaftlichen Zeitschrift «Electoral Studies» veröffentlicht wird. Er geht davon aus, dass nicht in erster Linie die Kosten der Briefmarke die Leute vom Abstimmen abhält. «Es ist schlicht eine zusätzliche Hürde für die Stimmabgabe, wenn man eine Briefmarke bereithaben oder einkaufen muss.» Grundsätzlich sei die Beteiligung umso höher, je tiefer die Hürden lägen.
Soll die Post Stimmcouverts gratis verschicken?

Befürworter von vorfrankierten Stimmcouverts fühlen sich durch die Untersuchung in ihrem Anliegen bestärkt. Die Luzerner SVP-Nationalrätin Yvette Estermann sagt, das Resultat bestätige ihren persönlichen Eindruck. «Ich spreche immer wieder mit Leuten, die nicht abgestimmt haben, weil sie gerade keine Briefmarke zu Hause hatten.»

Estermann hatte vor vier Jahren in einer Interpellation angeregt, die Vorfrankierung schweizweit einzuführen. Der Bundesrat schrieb in seiner Antwort, aufgrund der Erfahrungen aus den Kantonen sei eine Erhöhung der Stimmbeteiligung durch die Massnahme «nicht zu erwarten». Weiter wies er auf die Bestrebungen der Regierung hin, die elektronische Stimmabgabe flächendeckend einzuführen. Damit könnten die Stimmberechtigten ihre Stimme ebenfalls ohne Zusatzkosten abgeben.

«Eine Investition, die sich lohnt»

Estermann plant nun, in der Herbstsession einen neuen Vorstoss einzureichen. Ihr geht es ­darum, möglichst viele Bürger einzubinden. «Ich denke, die Vorfrankierung würde das Bewusstsein der Leute für ihre politischen Rechte stärken», sagt sie. Der Bundesrat schätzte in seiner damaligen Antwort, dass es etwas über eine Million Franken pro Urnengang kosten würde, die Antwortcouverts aller Stimmberechtigten in der Schweiz vorzufrankieren. Estermann schlägt vor, dass die Post diesen Aufwand tragen soll – im Sinne eines Service public.

Nicht alle sind aber damit einverstanden, dass der Staat die Portokosten der brieflich Stimmenden übernehmen soll. In Obwalden schlug der Regierungsrat jüngst vor, die Vorfrankierung abzuschaffen. Die Anregung dazu kam von den Gemeinden, welche die Kosten für die Massnahmen tragen müssen. Der Kantonsrat entschied im Juni aber, die Regelung beizubehalten. Der zuständige Regierungsrat Christoph Amstad (CVP) findet, es sei zumutbar, dass die Stimmberechtigten das Porto selber bezahlen. «Es ist ein Privileg, dass die Bürgerinnen und Bürger abstimmen können», sagt er. «Das sollte jedem eine Briefmarke wert sein.» Wem die Kosten dafür zu hoch seien, könne das Couvert auch direkt bei der Gemeinde einwerfen.

Studienautor Mark Schelker hingegen hält es für sinnvoll, wenn der Staat die Portokosten übernimmt. «Die Vorfrankierung von Stimmcouverts ist eine Investition, die sich lohnt», sagt er. Zum einen sei es normativ wünschenswert, dass sich die Bürger möglichst frei von Hürden an der Demokratie beteiligten. «Zum anderen sind auch bessere Ergebnisse zu erwarten, wenn mehr Stimmbürger ihre Präferenzen an Abstimmungen ausdrücken – vorausgesetzt, sie beteiligen sich aus freien Stücken und nicht aus Zwang.»

Die Vertretung der Westschweiz im Nationalrat wächst – auf Kosten von Bern und Luzern

In Kürze werden die 200 Nationalratssitze neu auf die Kantone verteilt. Die Gewinner finden sich ennet der Saane. Derweil hält Berns Abwärtstrend an.

Nach den letzten Nationalratswahlen 2015 mussten im Kanton Bern die Nationalräte Heinz Siegenthaler (BDP) und Aline Trede (Grüne) ihre Mandate abgeben, weil ihre Parteien je einen Sitz einbüssten. Nicht besser erging es Roland Fischer (GLP) im Luzernischen, auch er wurde nicht wiedergewählt. Und die Chancen dieser drei Kantonalsektionen, anlässlich der nächsten Wahlen 2019 wieder Mandate zurückzugewinnen, sind seither kaum gestiegen.

Aufgrund des neuen Volkszählungsgesetzes werden die 200 Nationalratssitze vor jeder Gesamterneuerungswahl gemäss der aktuellen Wohnbevölkerung verteilt,[1] also auch wieder für die Wahlen 2019. Der Bundesrat wird bald, sobald die finalen Registererhebungen der hierfür massgeblichen ständigen Wohnbevölkerung per 31. Dezember 2016 verfügbar sind, diese Sitzverteilung vornehmen. Anhand der provisorischen Erhebungen des Bundesamts für Statistik (BFS) lässt sich diese Neuverteilung aber schon heute berechnen.[2] Und diese zeigt: Nachdem der Kanton Bern bereits anslässlich der Wahlen 2015 einen Sitz verlor (25), wird er per 2019 einen weiteren einbüssen (neu: 24). Auch der Kanton Luzern muss Federn lassen und seinen zehnten Sitz, den er von 1991 bis 2015 halten konnte, wieder abgeben (wie wir übrigens schon vor vier Jahren prophezeit haben):

Kanton Δ ständige Wohnbevölkerung 2012–2016 NR-Sitze 2015 NR-Sitze 2019 Δ Sitze 2015–2019
Aargau +5.7% 16 16 =
Appenzell Ausserrhoden +2.8% 1 1 =
Appenzell Innerrhoden +1.8% 1 1 =
Basel-Landschaft +3.3% 7 7 =
Basel-Stadt +3.0% 5 5 =
Bern +3.4% 25 24 -1
Freiburg +7.0% 7 7 =
Genf +5.7% 11 12 +1
Glarus +2.0% 1 1 =
Graubünden +1.9% 5 5 =
Jura +3.1% 2 2 =
Luzern +4.5% 10 9 -1
Neuenburg +2.3% 4 4 =
Nidwalden +2.3% 1 1 =
Obwalden +3.5% 1 1 =
Schaffhausen +3.6% 2 2 =
Schwyz +4.0% 4 4 =
Solothurn +3.9% 6 6 =
St. Gallen +3.2% 12 12 =
Tessin +3.7% 8 8 =
Thurgau +5.6% 6 6 =
Uri +1.3% 1 1 =
Waadt +6.9% 18 19 +1
Wallis +5.4% 8 8 =
Zug +6.3% 3 3 =
Zürich +5.6% 35 35 =

 

Des einen Leid, des anderen Freud: Die zwei Nationalratssitze werden den Kantonen Genf und Waadt gutgeschrieben. Damit wächst die Westschweizer «Bundeshausfraktion» auf 50 Sitze an und stellt neu exakt einen Viertel der Volksvertreung.[3]

Wieso gewinnen respektive verlieren gerade diese vier Kantone je einen Sitz? Hier spielt natürlich einerseits ihr über- respektive unterproportionales Bevölkerungswachstum eine Rolle. Die Sitzgewinner Waadt und Genf sind, nach Freiburg, die zweit- und fünftstärkst wachsenden Kantone der massgeblichen Periode 2012–2016. Andererseits sind grosse Kantone schlicht anfälliger für Sitzgewinne und -verluste, weil sich dort relative Bevölkerungsveränderungen, absolut betrachtet, in ungleich mehr Personen niederschlagen als in einem Kleinkanton. Dass von den neuerlichen Sitzverschiebungen der zweit-, dritt-, fünft- und siebtgrösste Kanton betroffen ist, erstaunt daher nicht.

Und wer wären – hypothetisch betrachtet – konkret die Mandatsgewinner und -verlierer in diesen vier Kantonen, würde die neue Sitzverteilung schon in der laufenden Legislatur gelten?

  • Genf: Ensemble à Gauche (Jean Batou): +1 (neu: 1)
  • Waadt: Grüne (Christian Van Singer): +1 (neu: 3)
  • Bern: SP Männer (Alexander Tschäppät): -1 (neu: 2)
  • Luzern: CVP (Andrea Gmür): -1 (neu: 2)

 

Nachtrag 30. August 2017:

Der Bundesrat hat heute die finale Sitzverteilung auf die Kantone für die Nationalratswahlen 2019 vorgenommen und dabei die hier dargestellten Berechnungen bestätigt.

 


[1] Siehe Details zum Verteilverfahren und zum Systemwechsel im Beitrag Wieso Aargau, Wallis und Zürich 2015 mehr Nationalräte bekommen.

[2] Erfahrungsgemäss sind die provisorischen Erhebungen sehr verlässlich und verändern sich kaum mehr. Dazu kommt, dass die hier dargestellte Sitzverteilung sehr stabil ist: Luzern müsste 730 zusätzliche Bewohner erhalten, damit der Sitzverlust abgewendet werden könnte. Bern bräuchte gar 12’560 zusätzliche Bewohner.

[3] Die 8 Walliser Sitze wurden hierbei proportional zur Oberwalliser Wohnbevölkerung einerseits (2 Sitze) und derjenigen des Mittel- und Unterwallis (6 Sitze) andererseits aufgeteilt.

 

Das Wahlsystem, das Zürcher Wähler vom Bauchweh befreien (und gleichzeitig den Berner Staatshaushalt um 500’000 Franken entlasten) könnte

Das Verfahren, mit dem in der Schweiz die Ständeräte gewählt werden, hat offensichtliche Mängel. Höchste Zeit, über Alternativen zu diskutieren.

Die SVP-Wähler im Kanton Zürich stehen vor einem Dilemma: Am kommenden Sonntag müssen sie einen zweiten Ständerat bestimmen, und wenn es – aus Sicht der SVP – blöd läuft, wird auch der Zweite aus dem linken Lager kommen. Dann nämlich, wenn sich die Stimmen der bürgerlichen Wähler auf SVP-Kandidat Hans-Ueli Vogt und FDP-Kandidat Ruedi Noser aufteilen, während das linke Lager geschlossen für den Grünen Bastien Girod stimmt und dieser damit obenauf schwingt. Verhindern liesse sich dies am besten, indem sich die bürgerlichen Stimmen auf den aussichtsreicheren Kandidaten konzentrieren – wohl also Ruedi Noser. Sollen also die SVP-Wähler ihren bevorzugten Kandidaten Vogt wählen oder ihn zugunsten von Noser verschmähen, um Girod zu verhindern?

Die Wähler auf der anderen Seite des politischen Spektrums befinden sich im umgekehrten Dilemma: Den meisten SP-Wählern steht Bastien Girod näher als Ruedi Noser. Geben sie ihre Stimme aber Girod, gehen sie das Risiko ein, dass SVP-Kandidat Vogt mit ihrer Mithilfe in den Ständerat gewählt wird. Sollen sie ihrem bevorzugten Kandidaten Girod die Stimme geben oder besser aus taktischen Gründen Noser wählen, um Vogt zu verhindern?

Vor analogen Dilemmata stehen viele Wähler auch im Nachbarkanton Aargau, der ebenfalls am Sonntag seinen zweiten Ständeratssitz besetzt. Wähler aus dem linken politischen Spektrum würden wohl am liebsten CVP-Frau Ruth Humbel wählen, viele von ihnen werden aber versucht sein, stattdessen FDP-Kandidat Philipp Müller zu unterstützen, weil ihnen dieser immer noch lieber ist als SVP-Mann Hansjörg Knecht. Umgekehrt müssen sich SVP-Wähler fragen, ob sie wirklich ihrem eigenen Kandidaten die Stimme geben wollen, wenn dadurch die Chancen der CVP-Kandidatin Humbel steigen.

Einladung zum taktischen Wählen

Den meisten Wähler bereitet es eher Bauchweh als Freude, vor solchen Entscheidungen zu stehen. Leider konfrontiert sie das Wahlsystem, das in den meisten Kantonen[1] für den Ständerat zur Anwendung kommt, immer wieder damit. Es lädt dazu ein, taktisch zu wählen.[2] Umso erstaunlicher, dass es in der öffentlichen Diskussion in den Kantonen kaum einmal in Frage gestellt wird. Dabei gäbe es durchaus Alternativen, die in mehrerer Hinsicht vorteilhaft wären.

Gehen wir beispielsweise einmal davon aus, die Zürcher Wähler könnten nicht einfach einen Namen auf den Wahlzettel schreiben, sondern könnten die drei Kandidaten nach ihren Präferenzen ordnen. In einem einfachen Beispiel sieht das so aus:

 

Wähler A Wähler B Wähler C Wähler D Wähler E
Hans-Ueli Vogt (SVP) 1 1 2 3 3
Ruedi Noser (FDP) 2 2 1 1 2
Bastien Girod (Grüne) 3 3 3 2 1

 

Jeder Wähler hat also angegeben, welcher Kandidat ihm am liebsten ist, aber auch, wen er bevorzugen würde, falls sein Lieblingskandidat nicht gewählt würde.

Wie geht man nun mit diesem Präferenzen um?

  • Zunächst schaut man, ob ein Kandidat von einer Mehrheit der Wähler als erste Wahl angegeben wird. Dieses Vorgehen entspricht jenem in den ersten Wahlgängen der Ständeratswahlen. Das absolute Mehr liegt bei 3 Stimmen. Diese Marke erreicht keiner der drei Kandidaten.
  • Daher wird als zweiten Schritt der Kandidat, der am wenigsten Erstpräferenzstimmen erhalten hat, ausgeschlossen. In diesem Beispiel ist das Bastien Girod. Die Stimmen seiner Wähler gehen jedoch nicht verloren, sondern werden gemäss ihren Präferenzen an die anderen Kandidaten verteilt. In diesem Beispiel hat Bastien Girod nur einen Wähler (Wähler E), dessen zweite Präferenz Ruedi Noser ist. Seine Stimme geht daher an Noser.
  • Nun schaut man erneut, ob jemand das absolute Mehr erreicht hat. In diesem Beispiel hat Noser nun 2+1=3 Stimmen. Er ist damit gewählt.

Dieses Wahlsystem ist unter dem Namen Single Transferable Vote (auch Präferenzwahlverfahren) bekannt.[3] Es kommt unter anderem in Australien, Indien, Irland und Nordirland zur Anwendung.

Nun werden bei Ständeratswahlen in den meisten Kantonen nicht nur ein Sitz, sondern zwei Sitze vergeben. Das System lässt sich aber auch da problemlos anwenden. Dabei muss ein Anteil der Stimmen definiert werden, mit dem ein Kandidat gewählt ist. (In der Regel verwendet man die so genannte Droop-Quote, die bei zwei Sitzen 33.3 Prozent der Stimmen entspricht, es gibt aber auch andere Optionen, etwa die Hare-Quote, die in diesem Fall bei 50 Prozent liegt.) Liegt ein Kandidat darüber, ist er gewählt und seine «übriggebliebenen» Stimmen werden an die anderen Kandidaten verteilt.

Dieses System hat mehrere Vorteile:

  • Erstens kann verhindert werden, dass ein Kandidat nur deshalb gewählt wird, weil sich seine Gegner gegenseitig Stimmen wegnahmen. Dank den Präferenzen, die jeder Wähler angeben kann, ist keine Stimme verloren.
  • Zweitens gibt es viel weniger Anreize, taktisch zu wählen – dadurch fällt auch das Bauchweh weg, das damit verbunden ist. Im obigen Beispiel konnte Wähler E die Stimme seinem bevorzugten Kandidaten geben, ohne befürchten zu müssen, dass er damit seinem am wenigsten bevorzugten Kandidaten zur Wahl verhelfen könnte.
  • Drittens ist schon nach dem ersten Wahlgang klar, wer in den Ständerat einzieht.
  • Viertens sparen sich Wähler und Behörden damit den Aufwand, einen zweiten Wahlgang durchzuführen. So könnte der Kanton Bern, der jedes Jahr über eine Milliarde Franken aus dem Finanzausgleich erhält, seine Staatskasse pro Wahl um 500’000 Franken entlasten (bei den anderen Kantonen dürfte sich der Betrag in ähnlicher Grössenordnung bewegen).

Spätestens das letzte Argument sollte die kostenbewussten Schweizer davon überzeugen, alternative Wahlsysteme zumindest einmal zu prüfen. Denn eine Diskussion darüber fehlte bislang fast gänzlich, trotz der offensichtlichen Nachteile des geltenden Systems.

 


[1] Ausnahmen bilden die Kantone Jura und Neuenburg, die im Proporzverfahren wählen.

[2] Grund dafür ist, dass im zweiten Wahlgang das relative Mehr zur Anwendung kommt, dass also jener Kandidat gewinnt, der die meisten Stimmen hat, auch wenn er nicht die absolute Mehrheit der Stimmen erreicht.

[3] Kommt das System in Einerwahlkreisen zur Anwendung, wird es meist Alternative Vote oder Instant-runoff voting genannt.

Funktioniert der Doppelproporz auch im Berner Jura?

Der Berner Regierungsrat meint, das faire doppeltproportionale Wahlverfahren funktioniere in Bern nicht gut – aufgrund der 12 Garantiesitze für den Berner Jura. Die exekutive Abwehrhaltung erweist sich jedoch als unbegründet.[1]

In der am kommenden Montag startenden Januarsession wird sich der Berner Grosse Rat über die Frage beugen, ob sein kantonales Wahlsystem reformiert werden soll. Zur Debatte steht eine Motion «Proporzgerechtigkeit bei Grossratswahlen» der beiden EVP-Grossräte Steiner-Brütsch und Löffel-Wenger. Sie verlangen, das doppeltproportionale Zuteilungsverfahren einzuführen, wie dies in den letzten Jahren bereits diverse Kantone (ZH, AG, SH, NW, ZG) taten und wohl demnächst noch einige (SZ und VS) dazustossen werden.

Die Motionäre fassen ihre Motivation wie folgt zusammen: «Das aktuell angewandte Sitzzuteilungsverfahren nach Hagenbach-Bischoff kann aus Sicht der Proporzgerechtigkeit gerade in kleineren Wahlkreisen zu verfälschten Ergebnissen führen.» Zu präzisieren ist sodann, dass die erwähnten Verfälschung stets zulasten der kleineren Gruppierungen und somit zugunsten der Grossparteien gehen. Politikwissenschafter Daniel Bochsler spricht gar von einer «Kopfsteuer», welche den Grossparteien zu entrichten ist – in Form von Sitzen.

test

Die unfairen Verzerrungen zugunsten der grösseren Listen spielen auch innerhalb von Parteien – hier die SVP-Listen-verbindung im Wahlkreis «Biel/Bienne – Seeland».

Anhand der Resultate der Berner Grossratswahlen 2014 lässt sich diese Begünstigung eindrücklich veranschaulichen: Im Wahlkreis Biel/Bienne – Seeland wurden der SVP total acht Sitze zugewiesen. Da jener Wahlkreis, wie sein Name verlauten lässt, jedoch aus zwei benachbarten Verwaltungskreisen besteht, schlossen sich hier zwei SVP-Sektionen durch eine (Unter-)Listenverbindung zusammen. Die acht Sitze mussten daher noch auf die beiden Listen SVP Biel/Bienne beziehungsweise SVP Seeland weiterverteilt werden. Ein einfaches Spiel, sollte man meinen, kamen ersterer Sektion doch knapp 50’000 Stimmen zu, der zweiteren gut 180’000, also etwa 3.5-mal so viel. Die Sitze wurden indes – dank Hagenbach-Bischoff – im Verhältnis 1 zu 7 verteilt. Innerhalb der Volkspartei klauten dadurch die «grossen Seeländer» den «kleinen Bielern» einen Sitz.

Tückische bernjurassische Sitzgarantie

Selbst der Regierungsrat gibt in Beantwortung der Motion zu, dass «das Verfahren tendenziell grössere Parteien bevorzugt». Einer Wahlreform widersetzt er sich jedoch. Abgesehen von den üblichen Gegenargumenten («braucht Computer», «mit aktuellem Verfahren nur gute Erfahrungen gemacht») weist er auf einen bedenkenswerten Punkt hin: Gemäss Bevölkerung hätte der Wahlkreis Berner Jura eigentlich lediglich acht Sitze zugute. Die Verfassung weist dem französischsprachigen Arrondissement im Sinne eines Minderheitenschutzes jedoch gleich zwölf Parlamentssitze zu – also 50 Prozent mehr Sitze.

Würde nun der Berner Jura in einen kantonsweiten Doppelproporz eingebettet, so hätten tendenziell Parteien das Nachsehen, die exklusiv nur im Berner Jura antreten, etwa die Parti socialiste autonome (PSA). Holt die PSA heute 25 Prozent der Stimmen, so kann sie auch auf 25 Prozent der zwölf Sitze zählen, also auf deren drei. Innerhalb einer gesamtkantonalen Zuteilung sähe es jedoch anders aus: Die 25 Prozent PSA-Wähler werden in der Oberzuteilung um etwa 33 Prozent marginalisiert. Dies deshalb, weil für die zwölf Berner Jura-Sitze gewissermassen «zu wenig Leute wählen». In den gesamtkantonalen Topf flössen schliesslich total nur grob so viele Stimmen aus dem Berner Jura ein, als hätte es Wähler für grob acht Sitze. Denn die Wähler haben sich durch die Begünstigung ja nicht vermehrt, «nur» die zugeteilten (zwölf) Sitze. Daher erhielte die PSA in diesem Fall wahrscheinlich nur noch zwei (statt drei) Mandate.[2]

Nichtsdestotrotz besteht kein Grund für wahlrechtlichen Defätismus, wie ihn die Regierung übt. Drei Varianten, wie das doppeltproportionale Zuteilungsverfahren auch im Kanton Bern eingeführt werden könnte:

 

Variante 1: Doppelproporz mit ausgeglichenen Wählerzahlen für Berner Jura

Der Berner Jura ist, wie gezeigt, derzeit um 50 Prozent begünstigt. Dieser «Bonus» betrifft primär die Repräsentationsgleichheit, weil nicht acht, sondern gleich deren zwölf Grossrätinnen und Grossräte den Jura bernois geografisch repräsentieren. Doch darauf fussend ist heute auch die Erfolgswertgleichheit «verzerrt»: Bernjurassier haben (50 Prozent) mehr zu sagen als etwa Emmentaler, wie der 160-köpfige Berner Grosse Rat parteilich zusammengesetzt sein soll.

Soll nun der Berner Jura in eine gesamtkantonale Oberzuteilung eingebunden werden und will man an der geltenden Begünstigung der Repräsentations- und Erfolgswertgleichheit festhalten, so braucht es eine kleine Anpassung. Die bernjurassischen Wählerzahlen müssen hierbei mit einem Faktor von annäherungsweise p = 12 Sitze[effektiv] / 8 Sitze[gem. Bevölkerung] = 1.5 multipliziert werden.[3] Die Stimmen werden hierbei sozusagen den überproportionalen zwölf Sitzen angepasst. So wie es heute, wenngleich «unsichtbar», ebenso der Fall ist. Der Berner Grosse Rat sähe in dieser Variante wie folgt aus:

BE 2014 Biproporz (inkl. Ausgleich JuraBE)

Im Wahlkreis Berner Jura hätte also – trotz Ausgleich – die Parti socialiste autonome einen Sitz (neu: 2) abgeben müssen. Dieser wäre jedoch an die befreundete Liste La Gauche gegangen, mit welcher die PSA derzeit eine Listenverbindung unterhält und somit von den Stimmen der Linken profitieren konnte.

Die Vorteile dieser Variante stellen insbesondere die weitestgehend proportionale Abbildung der bernjurassischen Wählerstimmen auf die zwölf Sitze des Berner Juras dar. Zudem wird ein Traditionsanschluss hinsichtlich der «positiv diskriminierenden» Erfolgswert(un)gleichheit für ebendiese Minorität erreicht.

Als Nachteil könnte hervorgebracht werden, der Ausgleichsfaktor p sei kasuistisch und müsse vor jeder Wahl neu festgelegt werden. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass ohnehin vor jeder Wahl die 160 Grossratssitze von neuem auf die neun Wahlkreise verteilt werden müssen.[4] Und dass ursprünglich nicht der Ausgleichsfaktor p willkürlich ist, sondern – wenngleich politisch legitim – die statisch-diskretionäre Anzahl von zwölf bernjurassischen Sitzen in der Berner Verfassung.

 

Variante 2: Doppelproporz (ohne Repräsentations/Erfolgswert-Ausgleich)

Eine zweite Variante bestünde darin – trotz den Eingangs erwähnten Bedenken –, den Berner Jura ohne den oben eingeführten Repräsentations/Erfolgswert-Ausgleich in den Doppelproporz einzubeziehen. Die demokratietheoretische Begründung dahinter: Der Berner Jura ist bereits durch die überproportional zugeteilte Sitzzahl (zwölf statt acht) begünstigt; die intendierte geografische Repräsentation ist dabei gesichert. Dieser Einbruch in die Stimmkraftgleichheit ist gewollt und durchaus gerechtfertigt.

Doch muss hierauf zwingend gefolgert werden, dass für diesen Wahlkreis auch noch die Erfolgswertgleichheit ebenso stark (plus ungefähr 50 Prozent) verzerrt wird? Nicht zwingend. Man kann durchaus argumentieren, die parteipolitische Sitzverteilung des Grossen Rates soll dem gleichberechtigten gesamtkantonalen Willen gehorchen. Mit anderen Worten: Die Bernjurassier sollen zwar weiterhin mit 12 Grossräten vertreten sein. Bei der Frage, wie stark der (gesamte) Grossrat links oder rechts, liberal oder konservativ zu besetzen ist, sollen wiederum alle Berner genau gleich stark partizipieren. Hier sähe die Mandatsverteilung folgendermassen aus:

BE 2014 Biproporz

Hier tritt nun der prognostizierte Fall ein, dass Parteien, die exklusiv im Berner Jura antreten (PSA) oder zumindest dort verhältnismässig stark sind (PdA / La Gauche), Federn lassen müssen. Weil ihr vergleichsweise «kleines» Elektorat hier nicht mehr gegenüber der künstlich vergrössterten Sitzzahl «aufgebläht» wird.

 

Variante 3: Unabhängiger, separater Wahlkreis Jura bernois

Letztlich könnte der Berner Jura aber auch – wie bisher – separat und unabhängig vom Restkanton seine zwölf Vertreter wählen. Der Doppelproporz würde dabei einfach über die anderen acht Wahlkreise laufen. Dies ist problemlos möglich, da ein Doppelproporz nicht zwingend das gesamte Wahlgebiet umfassen muss. Im Kanton Wallis wird derzeit sogar über einen «dreifachen Doppelproporz» debattiert, also drei parallele Regionen, in denen jeweils via Doppelproporz gewählt werden soll.

Der Doppelproporz über den «restlichen» Kanton Bern, ohne Jura bernois, sähe vorab so aus…

BE 2014 Biproporz (ohne JuraBE)

…während im Berner Jura aus Kohärenzgründen die separate Auswertung mittels Divisorverfahren mit Standardrundung ermittelt werden sollte.[5] Hierbei würden auch in diesem separaten Wahlkreis alle Parteien, egal ob gross oder klein, gleich behandelt. Dabei stellt sich bloss noch die Frage, ob Listenverbindungen weiterhin erlaubt sein sollen oder nicht. Im Folgenden sind beide Möglichkeiten dargestellt:

BE 2014 JuraBE separat

Die Vorteile liegen auf der Hand: Die separate Auswertung des Berner Juras ist relativ simpel und knüpft weitestgehend am heutigen System an. Da in diesem Wahlkreis immerhin zwölf Sitze zu vergeben wären, würde doch noch ein einigermassen akzeptables natürliches Quorum resultieren – also die Mindesthürde für eine Partei, um wenigstens ein Mandat zu ergattern.

Als nachteilig könnte hervorgebracht werden, dass hier Kleinparteien (insbesondere falls keine Listenverbindungen erlaubt würden) leer ausgehen beziehungsweise ihre nicht-verwertete Stimmen (z.B. für die GLP oder die EDU) wirkungslos verpuffen. Da sie hier nicht in die gesamtkantonale Oberzuteilung einfliessen.

 

Schlussbemerkungen und Übersicht:

Prima vista erscheint die Variante 3 («Jura bernois separat») am einfachsten. Was sie wohl auch ist. Nichtsdestotrotz flüchtet man sich bei dieser Variante ein wenig vor der Diskussion über die Legitimation und Funktion der Bernjurassier Sonderregel, beziehungsweise davor, wie diese Minorität adäquat in den Doppelproporz eingebettet werden kann.

Dieser Minderheitenschutz, respektive seine konkrete Ausgestaltung ist letztlich nicht in Stein gemeisselt; die Politik, die entsprechende Region und schliesslich etwaig der Souverän sollen durchaus periodisch über diesen Sitzanspruch debattieren dürfen, was ihm letztendlich zur Legitimation gereicht.[6] Bei der Beantwortung dieser Frage kann man mit guten Gründen sowohl zur Variante 1 oder 2 gelangen, die in der Praxis ohnehin sehr ähnlich ausfallen:[7]

Übersicht Doppelproporz BE 2014

 


[1] Der Autor dankt Daniel Bochsler, Andrea Töndury und Lukas Leuzinger für ihre Kommentare.

[2] Es wird hier davon ausgegangen, dass die Wahlbeteiligung im Berner Jura nicht wesentlich von derjenigen im restlichen Wahlgebiet abweicht (Wahlbeteiligung 2014: Berner Jura 33 %; ganzer Kanton Bern 32 %).

[3] Die exakte Formel des Faktors p für den Repräsentations/Erfolgswert-Ausgleich lautet

Formel pJuraBE

, wobei bedeuten: GR_SitzeJuraBE die effektiv zugewiesenen Grossratssitze für den Wahlkreis Berner Jura (= 12); GR_SitzeKtBern die totale Anzahl Grossratssitze (= 160); Bevoelk.KtBern die Einwohnerzahl des gesamten Kantons Bern (= 985’046); Bevoelk.JuraBE die Einwohnerzahl des Wahlkreises Berner Jura (= 51’796). Die massgeblichen Einwohnerzahlen wurden dem Regierungsratsbeschluss über die Verteilung der Mandate auf die Wahlkreise für die Grossratswahlen vom 30. März 2014 entnommen.

[4] Artikel 64 des Gesetzes vom 5. Juni 2012 über die politischen Rechte (PRG). Vgl. dabei auch die Spezialregel in Art. 64 Abs. 3 für den zweisprachigen Wahlkreis Biel-Seeland, welche «der französischsprachigen Bevölkerung so viele Mandate garantiert, wie es ihrem prozentualen Anteil an der Gesamtbevölkerung des Wahlkreises entspricht».

[5] Das Divisorverfahren mit Standardrundung findet auch innerhalb des doppeltproportionalen Zuteilungsverfahrens (sowohl Oberzuteilung wie auch Unterzuteilung) Anwendung. Darüber hinaus wählt der Kanton Basel-Stadt sein Parlament mit dieser Methode («Sainte-Laguë»).

[6] Wenngleich die derzeitige Regelung noch nicht sehr lange in die Verfassung des Kantons Bern aufgenommen wurde: Der entsprechende Art. 73 Abs. 3 KV/BE wurde mit Volksabstimmung vom 22. September 2002 im Rahmen der Reduktion des Grossen Rates von 200 auf 160 Sitze angenommen.

[7] Beachtenswert ist letztlich noch, dass im Kanton Bern Listenverbindungen (und Unterlistenverbindung) erlaubt sind, die rege genutzt werden. Insbesondere die einparteiigen Listenverbindungen sollten auch im Doppelproporz erlaubt bleiben (was technisch problemlos möglich ist). Hierbei könnte auch die Sitzgarantie für den zweisprachigen Wahlkreis Biel-Seeland, welche «der französischsprachigen Bevölkerung so viele Mandate garantiert, wie es ihrem prozentualen Anteil an der Gesamtbevölkerung des Wahlkreises entspricht» (derzeit: drei), aufrecht erhalten werden.

«Es wird vermehrt versucht, radikale Anliegen mit Volksinitiativen zu verwirklichen»

Andrea Töndury.

Andrea Töndury.

Nach dem Ja das Berner Stimmvolks zur Einbürgerungsinitiative müssen National- und Ständerat grünes Licht geben. Der Staatsrechtler Andrea Töndury glaubt, dass die Initiative mit der Bundesverfassung vereinbar ist. Er stellt aber eine Häufung von Konflikten zwischen kantonalem und Bundesrecht fest.

Publiziert im «Bund» vom 11. Dezember 2013.

Die Berner Stimmbürger haben am 24. November die Einbürgerungsinitiative der Jungen SVP angenommen. Wieso muss sich nun auch noch das Bundesparlament damit beschäftigen?

Keine Kantonsverfassung darf zum Bundesrecht in Widerspruch stehen. Die Bundesverfassung schreibt deshalb vor, dass National- und Ständerat jede Verfassungsänderung auf kantonaler Ebene gewährleisten müssen. Das Ziel ist, dass wir in der Schweiz einen einheitlichen Rechtsraum haben.

Welcher Teil der Initiative könnte denn nicht bundesrechtskonform sein?

Ein konkretes Problem könnte die Bestimmung sein, dass nicht eingebürgert wird, wer Sozialhilfe bezieht. Wenn man das streng wörtlich auslegt, könnte beispielsweise einer behinderten Person, die auf Sozialhilfe angewiesen ist, die Einbürgerung verweigert werden. Das würde im Widerspruch stehen zum Diskriminierungsverbot in der Bundesverfassung.

Heisst das, das Parlament müsste die Gewährleistung verweigern?

Nein, ich glaube nicht, dass das nötig ist. Die eidgenössischen Räte versuchen beim Gewährleistungsverfahren immer, eine bundesrechtskonforme Auslegung zu finden. Wichtig ist, dass die Einzelfallgerechtigkeit berücksichtigt wird. Man darf zwar strenge Einbürgerungsvoraussetzungen verankern, auch in einer Kantonsverfassung. Diese Voraussetzungen müssen aber fair sein, sie müssen erreichbar sein – auch für Behinderte oder Personen, die unverschuldet in eine Notlage geraten sind. Nach meiner Meinung ist es möglich, den neuen Artikel so zu verstehen. Teilt das Parlament diese Einschätzung, muss es die Verfassungsänderung gewährleisten.

Wieso braucht es den Segen des Parlaments überhaupt? Es ist doch stossend, wenn man als Initianten 15’000 Unterschriften sammelt, eine Mehrheit der Bevölkerung überzeugt, und am Ende von Bundesbern zurückgepfiffen wird.

Es ist ja nicht so, dass die Initianten aus allen Wolken fallen würden. Volksinitiativen laufen in den Kantonen verschiedene Prüfungsverfahren durch. Im Fall der Einbürgerungsinitiative machte der Regierungsrat bereits vor der Abstimmung deutlich, dass einige der Bestimmungen der Initiative ein Problem darstellen könnten. Man kann sich also nicht auf den Standpunkt stellen, dass eine Nicht-Gewährleistung eine Überraschung wäre.

Bei anderen kantonalen Initiativen stellt sich ebenfalls die Frage der Vereinbarkeit mit der Bundesverfassung. Erst im September haben die Tessiner Stimmberechtigten ein Burka-Verbot in die Verfassung geschrieben.

In diesem Fall sehe ich grosse Probleme für die Gewährleistung. Genaugenommen handelt es sich nicht um ein Burka-Verbot. Die Initianten wollten das neutral formulieren und forderten deshalb ein allgemeines Vermummungsverbot in der Öffentlichkeit. Das führt zu einem Dilemma: Entweder man legt die Initiative wörtlich aus, dann darf sich gar niemand mehr verhüllen, nicht einmal als Samichlaus – das wäre ein unverhältnismässiger Eingriff in die persönliche Freiheit. Oder man wendet das Verbot nur auf Burka-Trägerinnen an – das wäre eine Einschränkung der religiösen Freiheit. Ich glaube nicht, dass sich dieser Teil der Initiative bundesrechtskonform umsetzen lässt.

Vor wenigen Monaten hatte der Nationalrat einem Artikel in der neuen Schwyzer Verfassung die Gewährleistung verweigert. Das Problem war dort das Wahlsystem, das kleine Parteien zu stark benachteiligte. Täuscht der Eindruck oder häufen sich die Konflikte zwischen kantonalem Recht und Bundesrecht?

Nach der Gründung des Bundesstaats 1848 gab es regelmässig Nicht-Gewährleistungen. Damals war das ein Instrument, um die bundesstaatliche Einheit sicherzustellen. Seit dem Ersten Weltkrieg ist es aber nur selten vorgekommen, dass eine kantonale Verfassungsbestimmung nicht gewährleistet wurde. Die Häufung in jüngster Zeit ist neu.

Wie erklären sie sich diese Entwicklung?

Die Entwicklung scheint mir die gleiche wie auf Bundesebene. Es wird vermehrt versucht, radikale Anliegen über das Mittel der Volksinitiative zu verwirklichen. Im Vergleich zu früher haben solche Volksinitiativen vermehrt auch Erfolg.

Nehmen die Initianten bewusst in Kauf, dass ihre Initiative allenfalls nicht so gewährleistet werden kann?

Möglicherweise ja. Ich kann mir auch vorstellen, dass einige Initianten hoffen, politisch Kapital daraus zu schlagen, dass sie vom «Vogt in Bern» daran gehindert wurden, ihr Anliegen zu verwirklichen.

Sind bei Gewährleistungen einzig juristische Fragen entscheidend oder spielen auch politische Überlegungen eine Rolle?

Grundsätzlich handelt es sich um ein rechtliches Verfahren. Aber wenn ein Parlament entscheidet, ist klar, dass politische Erwägungen hineinspielen. Ein gutes Beispiel ist der Wiedervereinigungsartikel in der Verfassung des neuen Kantons Jura. Darin formulierten die Jurassier das Ziel, sich mit dem Berner Jura zusammenzuschliessen. Rein juristisch betrachtet war daran nichts zu beanstanden. Aber angesichts der Spannungen, die damals herrschten, wäre es falsch gewesen, die Frage nur aus der juristischen Perspektive zu betrachten. Man musste auch die politischen Auswirkungen berücksichtigen. Genau das tat das Parlament und gewährleistete den Wiedervereinigungsartikel nicht.

Werden politische Erwägungen auch bei der Gewährleistung der Einbürgerungsinitiative eine Rolle spielen?

Die politische Komponente wird sicherlich einfliessen. Ich denke aber, dass die Initiative gute Chancen hat, gewährleistet zu werden. Es ist auch denkbar, dass das Parlament einen Vorbehalt anbringt, dass die Initiative bundesrechtskonform umgesetzt werden muss. Dieser hätte rechtlich keine direkte Bedeutung, sondern wäre ein politischer «Wink mit dem Zaunpfahl».