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Das Losverfahren brachte in der Schweizer Geschichte vor allem Aristokraten Glück

Verbessert das Losverfahren die Demokratie? Seine Fürsprecher verweisen gern auf die Alte Eidgenossenschaft. Aber gerade hier diente die Verlosung von Ämtern vor allem den Mächtigen.

Publiziert im Magazin «NZZ Geschichte» vom 9. Juli 2020.

Gott meinte es offensichtlich nicht gut mit Albrecht von Haller. Der Universalgelehrte sass seit bald dreissig Jahren im bernischen Grossen Rat. Es war längst Zeit für den nächsten Schritt in der Karriere des Patriziers. Wiederholt bewarb sich von Haller um einen Sitz im Kleinen Rat, in der Regierung, mehrmals kandidierte er für eine Landvogtei. Doch immer wieder traf das Glück beim Losentscheid einen Konkurrenten. Haller tröstete sich mit dem Gedanken, dass die politische Karriere offenbar nicht seine Bestimmung sei. Nachdem er 1772 beim Rennen um den Einzug in den Kleinen Rat ein weiteres Mal leer ausgegangen war, bezeichnete er das Los in einem Brief an seinen Freund, den Genfer Gelehrten Charles Bonnet, als «Stimme Gottes». Sie sei tiefsinniger als menschliche Entscheide.[1]

Wer die goldene Kugel zog, stieg in der Berner Machthierarchie auf. (Bild: Bernisches Historisches Museum)

 

Kaum jemand sieht im Los heute noch ein Verdikt Gottes. Und doch erlebt die Idee, politische Vertreter nicht per Wahl, sondern per Zufall zu bestimmen, wieder einen Aufschwung. Vorangetrieben wird sie von Wissenschaftern wie dem belgischen Historiker David Van Reybrouck. Das Los, so argumentiert er in seinem 2016 auf Deutsch erschienenen Buch «Gegen Wahlen», sei das wahrhaft demokratische Verfahren.

Ansätze, es in moderne Demokratien zu integrieren, gab es in der jüngeren Vergangenheit unter anderem in Irland, im US-Gliedstaat Oregon und im deutschsprachigen Teil Belgiens. In Sitten wurde kürzlich ein Pilotversuch durchgeführt, bei dem wie in Oregon eine ausgeloste Gruppe von Bürgern über eine Abstimmungsvorlage diskutierte und einen kurzen Bericht zuhanden ihrer Mitbürger verfasste. Weiter geht die Justizinitiative, welche die Auslosung von Bundesrichtern fordert. Das Begehren ist zustande gekommen, bald will der Bundesrat seine Botschaft dazu vorlegen. Noch nicht so weit ist die Volksinitiative Génération Nomination. Sie will, dass der Nationalrat künftig per Los besetzt wird. Die Initianten wollen zusätzliche Unterstützer und finanzielle Mittel sammeln, bevor sie mit der Unterschriftensammlung starten.

Die Eidgenossenschaft war ein Spätzünder

Verfechter des Losverfahrens betonen, es sei demokratischer als die Wahl, weil es das Prinzip der Gleichheit besser zur Geltung bringe. So schreiben die zwei Politikwissenschafter Nenad Stojanović und Alexander Geisler in der «Zeit», das Los sei «lange Zeit die demokratische Methode par excellence» gewesen. Sie und andere Befürworter des Modells verweisen auf den antiken Stadtstaat Athen, wo das Losverfahren zur Besetzung einiger (nicht aller) wichtiger Ämter zum Einsatz kam, sowie auf die norditalienischen Stadtstaaten wie Venedig oder Florenz, die im Mittelalter beim Besetzen von Ämtern auf den Zufall setzten. Und noch ein Vorbild wird genannt: die Eidgenossenschaft. Verschiedene Kantone und Gemeinden vergaben ab dem 17. Jahrhundert Ämter per Los. Ein genauerer Blick zeigt aber, dass sie damit keineswegs eine Demokratisierung anstrebten – im Gegenteil.

Im Vergleich zu anderen Gebieten findet das Los in der Schweiz relativ spät Aufnahme in die politischen Systeme. Während das Verfahren in Venedig bereits im 13. Jahrhundert eingeführt wurde, tauchen die ersten Beispiele in der Schweiz erst im 17. Jahrhundert auf. Die Schweiz ist für die Geschichte des Losverfahrens aber besonders interessant, weil es in sehr unterschiedlichen Staatsformen zur Anwendung kam: in den ländlichen Landsgemeindeorten ebenso wie in aristokratischen Städterepubliken und nach dem Ende der Alten Eidgenossenschaft auch in der Helvetischen Republik, wie ein 2017 von Wissenschaftern der Universität Lausanne herausgegebener Sammelband eindrücklich aufzeigt.[2]

Ruinöses Wettrüsten

Unter den Landsgemeindeorten war Glarus jener, der das Losverfahren als erster einführte und am längsten beibehielt. Vor der Einführung waren die wichtigen Ämter in offenen Wahlen an der Landsgemeinde besetzt worden. Dabei war allerdings der Stimmenkauf weit verbreitet. Um dem Missstand beizukommen, führten die Glarner 1623 zunächst Abgaben ein; wer in ein Amt gewählt wurde, musste einen gewissen Betrag an die Staatskasse oder direkt an die Stimmbürger entrichten. Das sollte den Anreiz mindern, Stimmen zu kaufen. Die Massnahme scheint aber nicht den gewünschten Effekt gehabt zu haben, ja sie verstärkte die Aristokratisierung noch. Jedenfalls beschloss 1640 die evangelische Landsgemeinde – Glarus war inzwischen konfessionell geteilt –, wichtige Amtsträger nicht mehr zu wählen, sondern auszulosen. Das Verfahren war zweistufig: Zunächst wurden per Handmehr acht Kandidaten ausgewählt (zwei aus dem hinteren, vier aus dem mittleren und zwei aus dem vorderen Landesteil). Unter diesen wurde danach gelost. Ein unmündiger Knabe gab jedem Bewerber eine schwarz eingefasste Kugel; sieben waren silbern, eine golden. Wer die goldene Kugel zog, bekam das Amt. Der katholische Teil von Glarus übernahm das Verfahren 1649.

Anders als man denken würde, lag das Losverfahren durchaus im Interesse der Eliten, wie der Historiker Aurèle Dupuis von der Universität Lausanne betont.[3] Denn die Wahlbestechung hatte mit der Zeit zu einem immer kostspieligeren Wettstreit um Ämter geführt, der ganze Familien zu ruinieren drohte. Durch das Los sollte der Anreiz für dieses ruinöse Wettrüsten gesenkt werden. Ausserdem erhofften sich insbesondere Angehörige von Familien, die zwar zur Elite, aber nicht zu den ganz mächtigen Geschlechtern zählten, eine ausgeglichenere Verteilung der Ämter.

Verdächtiger Zufall

Allerdings scheint auch beim Los nicht immer alles mit rechten Dingen zugegangen zu sein. Jedenfalls ist es auffällig, dass einige Herren das gleiche Amt mehrmals hintereinander erlangten. So gelang Johann Heinrich Zwicky das Kunststück, zwischen 1699 und 1719 fünfmal in Folge zum Landesstatthalter gelost zu werden (wodurch er jeweils zwei Jahre später Landammann werden konnte). Die Wahrscheinlichkeit, das in einem fairen Verfahren zu schaffen (gegen jeweils sieben Mitbewerber), liegt bei 1 zu 32 768. Die Vermutung liegt nahe, dass Zwicky seinem Glück auf die Sprünge zu helfen wusste, etwa mittels Absprachen mit anderen Kandidaten. Auf Unregelmässigkeiten lässt auch ein Beschluss der evangelischen Landsgemeinde von 1764 schliessen, in dem die Kandidaten ermahnt werden, sie sollten «keine Kugeln mehr wechseln, sondern jeder die ihn treffende Kugel behalten».[4] Statt der Wähler bestachen die Politiker nun also einfach ihre Mitbewerber.

Gleichwohl hielten die Glarner am Losverfahren fest. 1791 ging die evangelische Landsgemeinde sogar noch einen Schritt weiter: Sie führte für einige Ämter (Landschreiber, Läufer und Landvögte) das sogenannte Kübellos ein. Dieses verzichtete ganz auf eine vorgängige Wahl und loste die Ämter direkt unter allen Bürgern aus. Dafür wurden Zettel mit Namen aus einem Butterfass gezogen. Weil keinerlei Vorselektion stattfand, konnte es vorkommen, dass das Los Leute traf, die ein Amt nicht ausüben wollten oder konnten, zum Beispiel wenn ein Analphabet zum Landschreiber ernannt wurde. In vielen Fällen wurde es daher an den Meistbietenden versteigert, womit man wieder gleich weit war wie im 17. Jahrhundert: beim Ämterkauf.

Inspiriert von Glarus, übernahmen zwei weitere Landsgemeindeorte das Losverfahren, wenn auch nur für kurze Zeit: In Schwyz wurde es 1692 eingeführt und blieb formell bis 1706 in Kraft, wobei es in der Praxis schon vorher nicht mehr angewandt wurde. In Zug dauerte das Experiment noch kürzer, nämlich von 1697 bis 1699. In Glarus überlebte das Losverfahren derweil bis weit ins 19. Jahrhundert hinein. Erst als die Glarner im Zuge der Regenerationsbewegung 1837 eine neue Verfassung beschlossen, schafften sie die alten Strukturen der konfessionellen Trennung ab – und mit ihnen das Losverfahren.

Verengung der Herrschaftsschicht

Nicht nur in Landsgemeindeorten fand das Losverfahren Anwendung, sondern auch in städtischen Aristokratien wie Bern, Basel oder Schaffhausen. Und so unterschiedlich die politischen Systeme waren, so ähnlich waren die Gründe, die sie aufs Los brachten: Einerseits wollte man die verbreitete politische Korruption eindämmen, andererseits die Tendenz zur Machtkonzentration entschärfen. In Bern etwa wurde die herrschende Schicht ab dem 17. Jahrhundert immer schmaler: Zählten 1630 noch 139 Familien zum Patriziat, waren es 1701 nur noch 88.

Die zunehmende Abkapselung führte zu Spannungen, einerseits zwischen den regierenden Geschlechtern und dem Rest der Burgerschaft, andererseits aber auch innerhalb des Patriziats. Die Aufnahme in den Grossen Rat erfolgte durch Kooptation: Das Gremium bestimmte selber, wen es neu aufnehmen wollte. Dabei hatten die Mitglieder des Kleinen Rats und des Rats der Sechzehn ein Vorschlagsrecht; sie konnten so sicherstellen, dass Mitglieder der eigenen Familie zum Zug kamen. Die weniger mächtigen Geschlechter, die nicht im Kleinen Rat vertreten waren, befürchteten nicht zu Unrecht, mittelfristig ganz aus dem Grossen Rat zu fallen. Auch deshalb versuchte Albrecht von Haller – der dafür lukrative Stellen an angesehenen Universitäten und Höfen ausschlug – derart verzweifelt, in den Kleinen Rat zu kommen: Es ging um das politische Überleben seiner Familie.

Das Los, das für Landvogteien ab 1710 und für den Kleinen Rat ab 1722 eingesetzt wurde, sollte die Ämterverteilung gleichmässiger machen und Bestechung erschweren. Wie in Glarus kam das Glück beziehungsweise Pech in goldenen und silbernen Kugeln zum Ausdruck. Dabei bestimmte nie das Los allein; vielmehr kam ein komplexes System zur Anwendung, das über mehrere Runden Wahl und Losverfahren kombinierte. Der Zufall hatte keine freie Bahn, sondern wurde im Gegenteil stark eingehegt. Denn die mächtigen Familien hatten kein Interesse daran, ihre Privilegien einfach so aufzugeben. Umgekehrt wollten sie aber auch nicht, dass innere Konflikte ihre Herrschaft gefährdeten. Die Einbindung des Loses erlaubte es, beiden Absichten gerecht zu werden. «Das Ziel der Einführung von Losverfahren in Bern war nicht eine Demokratisierung, sondern vielmehr der Abbau von Konflikten sowie eine Stabilisierung der aristokratischen Republik», schreibt der Historiker Nadir Weber. Wie wirksam das Los dabei war, ist offen. Jedenfalls blieb die Macht bis zum Zusammenbruch des Ancien Régime in den Händen weniger Familien konzentriert.

Albrecht von Haller war kein begeisterter Anhänger des Losverfahrens. Zwar schrieb er, dass das Los die Chancen von Aussenseitern auf Ämter verbessere. Das Übel der Wahlbestechung lasse sich damit aber nicht beheben, sondern verlagere sich lediglich auf die Phase der Vorselektion. Haller mag aufgrund seiner persönlichen Erfahrung nicht eben ein unvoreingenommener Richter sein. Letztlich stand er dem Los aber doch versöhnlich gegenüber: Man solle jener höheren Instanz vertrauen, die das Gold und Silber der Kugeln geschaffen und jede Farbe mit dem Namen dessen versehen habe, für den sie bestimmt sei. Haller sah in seinem Lospech offenbar einen Hinweis, dass Gott ihn nicht mit Regierungsgeschäften belasten wollte, so dass er sich ungestört seiner wissenschaftlichen Tätigkeit widmen konnte.

Reaktion auf Staatskrise

Auf den göttlichen Willen berief man sich auch anderswo wiederholt, etwa in Schaffhausen. Dort forderten die Zünfte, die das Fundament des Staats bildeten, 1688 die Einführung des «göttlichen Loss», um den Zugang zu höheren Ämtern gerechter zu gestalten.[5] Vorausgegangen waren dem Ansinnen wachsende Spannungen zwischen dem Kleinen Rat, der immer mehr Kompetenzen an sich zog, und dem Rest der Bürgerschaft, die sich schliesslich zu einer veritablen Staatskrise ausweiteten. Dem Kleinen Rat wurden Absolutismus, Korruption und Vetternwirtschaft vorgeworfen. Die Schwere der Krise erklärt wohl auch, warum Schaffhausen mit seiner Reform deutlich weiter ging als Bern. Der Grosse Rat beschloss, sämtliche Ämter auszulosen, wobei die Zünfte und Gesellschaften je einen Kandidaten stellen durften.

Demokratisierung war nicht das Ziel

Kurzum: In den Landsgemeindeorten ebenso wie in den Städterepubliken der Eidgenossenschaft wurde das Los als Mittel gegen politische Korruption und absolutistische Herrschaftsansprüche propagiert. Zahlreiche Orte griffen auf das Verfahren zurück, Auslöser waren oft Spannungen innerhalb der oberen Herrschaftsschichten. Angestrebt wurden eine breitere Verteilung der Macht und eine weniger berechenbare – und somit auch weniger beeinflussbare – Besetzung der Ämter. Eine wirkliche Demokratisierung war hingegen nie das Ziel und fand auch nirgends statt. Im Gegenteil: Oft lag das Losverfahren durchaus im Interesse der herrschenden Schicht. Sei es, weil diese (wie in Glarus) die horrenden Kosten der Wahlbestechung vermeiden wollte; sei es, weil (wie in Bern) der Kreis der Mächtigen immer enger wurde und damit die Stabilität der Regierung gefährdete.

Es mag sein, dass das Losverfahren Vorteile für die Demokratie mit sich bringen kann. Die Alte Eidgenossenschaft ist aber ein denkbar ungeeignetes Beispiel dafür. Die Berner Patrizier wären erstaunt über die Vorstellung, dass sie mit ihrer Reform Pioniere der Demokratie gewesen sein sollen.

 


[1] Zitiert in Nadir Weber (2017): «Gott würfelt nicht», in: Chollet, Antoine und Fontaine, Alexandre (2017): Expériences du tirage au sort en Suisse et en Europe (XVIe-XXIe siècle), S. 60.

[2] Chollet/Fontaine 2017.

[3] Aurèle Dupuis: «Un remède désespéré pour des démocraties aux abois», in Chollet/Fontaine 2017.

[4] Zitiert in Winteler, Jakob (1954): Geschichte des Landes Glarus. Band II: von 1638 bis zur Gegenwart, S. 128.

[5] Roland E. Hofer: Absolutismus oder Republik? Bemerkungen zur Verfassungskrise von 1688. Schaffhauser Beiträge zur Geschichte, 84 (2010), S. 95 ff.

Rezension: Andreas Glaser (Hrsg.) – Das Parlamentswahlrecht der Kantone

«Das Parlamentswahlrecht der Kantone», herausgegeben von Staatsrechtler Andreas Glaser, zeigt die Vielfalt und die Probleme der Wahlsysteme der kantonalen Parlamente auf. Eine Rezension.

Publiziert in der Zeitschrift «LeGes – Gesetzgebung & Evaluation», 30 (2019) 2.

Das Wahlrecht der Schweizer Kantonsparlamente war im 20. Jahrhundert, nachdem die meisten Kantone vom Mehrheitswahl- zum Verhältniswahlverfahren gewechselt hatten, durch grosse Stabilität geprägt. In den letzten zwei, drei Jahrzehnten gab es jedoch einige Reformwellen, die auch die kantonalen Parlamente respektive ihre Wahlverfahren nicht unberührt gelassen haben. So die Totalrevisionen diverser Kantonsverfassungen, territoriale Reformen, die Verkleinerung der Legislativen und schliesslich eine Reihe von höchstrichterlichen Urteilen zu den kantonalen Wahlsystemen.

Die aktuelle Zwischenpause nutzen Staatsrechtsprofessor Andreas Glaser und neun weitere Autorinnen und Autoren aus dem Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA), um eine längst überfällige, systematische Gesamtschau über das Parlamentswahlrecht der Schweizer Kantone vorzulegen.

Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Wahlsysteme der Kantone (§ 1)

Im Einführungskapitel erläutert Nagihan Musliu die bundesrechtlichen Vorgaben an die Wahlsysteme der Kantone. Zwar sind die Kantone in der Ausgestaltung des Wahlsystems für ihr Parlament frei (Art. 39 Abs. 1 BV); einige grundlegende bundesrechtliche Anforderungen müssen sie aber dennoch erfüllen. Nebst dem Demokratiegebot (Art. 51 Abs. 1 BV) ist vor allem die Wahlrechtsgleichheit (Art. 34 BV) einschlägig, die das Bundesgericht in den letzten Dekaden zu diversen Aspekten konkretisiert hat. In diesem Kapitel wird denn hauptsächlich (leider eher unkritisch) die bundesgerichtliche Rechtsprechung zu Fragen des kantonalen Wahlrechts resümiert.

Hierzu streift Musliu die bekannten und vielzitierten Bundesgerichtsentscheide, die seit 2002 die Kantone Zürich, Aargau, Zug, Nidwalden, Schwyz und Wallis zum nicht immer beliebten doppeltproportionalen Wahlverfahren geführt haben. In diesen Kantonen waren die Wahlkreise vormals zu klein und damit das natürliche Quorum für ein Parlamentsmandat zu hoch, genauer: Es lag in diversen Wahlkreisen bei einem Wähleranteil von über 10 Prozent, womit auch etablierten Parteien und ihrer Wählerschaft die parlamentarische Repräsentation verwehrt wurde (ein wichtiger Entscheid wurde übersehen, der bereits 1993 die Wahlkreisgrössen im Kanton Bern rügte: BGer 1P. 671/1992, 08. Dez.1993, in: ZBl 1994, 479 ff.). Hervorzuheben ist die ältere Rechtsprechung zu Sperrklauseln, die aufzeigt, dass die rote Linie von 10 Prozent nicht einfach vom Himmel gefallen ist. Indem das Bundesgericht sukzessive zu diversen konkreten Sperrklauseln (15 %: unzulässig; 12,4 %: unzulässig; 6,6 %: zulässig) Stellung bezog, konnte es die geltende Limite über Jahrzehnte hinweg dort einpendeln.

Leider lässt das Buch oftmals Querverweise zwischen den einzelnen Kapiteln vermissen. So wird hier zwar ausführlich die Rechtsprechung zu sogenannten indirekten Quoren zitiert (§ 1 II. 2.3 b)), doch weder erfährt man, ob und wo dieses Relikt von Quorum heute noch in Kraft ist, noch wird auf die entsprechende spätere Stelle (TI betreffend, § 5 Rz. 59) verwiesen. – Resümierend wird das Bundesgericht zu recht kritisiert, es wolle zwar die Erfolgswertgleichheit umfassend verwirklichen, schaue aber bei der Repräsentationsgleichheit zu wenig genau hin.

Wahlorgan, Wählbarkeit und Wahlkreise (§ 2)

Im zweiten Kapitel beleuchtet Corsin Bisaz die Zusammensetzung des Wahlorgans (aktives Wahlrecht), das passive Wahlrecht sowie die Einteilung in Wahlkreise. Das Elektorat besteht stets aus den volljährigen Schweizer Bürgerinnen und Bürgern mit Wohnsitz im jeweiligen Kanton (GL: ab 16 Jahren), zu denen mancherorts auch Ausländer oder Auslandschweizer dazustossen. Anschliessend werden die Aspekte Wählbarkeit einer Person, die Unvereinbarkeiten, Eid/Gelübde, Amtszwang, Amtsdauer/Amtsbeschränkung, Ausstand, Stellvertretung, Abberufung und Amtsenthebung in knappster Form dargelegt. Wenig bekannt sein dürfte etwa, dass in einigen Kantonen (SG, TI) auch Schweizer ins Kantonsparlament wählbar sind, die gar nicht im nämlichen Kanton wohnhaft sind. Oder dass die Nicht-Gewählten mit den meisten Stimmen in einigen Parlamenten (GE, GR, JU, NE) als Stellvertreter einspringen können, wenn die ordentlich Gewählten verhindert sind. Gerne hätte man über solcherlei mehr erfahren.

Schliesslich nimmt Bisaz die Wahlkreise und die Sitzzuteilung auf diese unter die Lupe (§ 2 III.). Die Aufteilung des Wahlgebiets in (teilweise auch kleine) Wahlkreise würdigt er positiv, er sieht darin gar eine «föderalistische Funktion». In der Tat fördern Wahlkreise freilich die Verbindung von Repräsentanten und ihrer Wählerschaft; in Kantonen mit tatsächlichen, insbesondere sprachlichen, Minderheiten sind sie essenziell. Umgekehrt werden hier die Vorteile von grösseren Wahlkreisen verkannt: die Wahlfreiheit des Souveräns, gerade auch durch das Verändern der offenen Listen. Zu Recht kritisch beurteilt werden aber auch hier die Sitzgarantien (und insbesondere Vorweg-Verteilungen wie in JU), die selbst Kleinstgemeinden wie Riemenstalden SZ (53 Stimmberechtigte) oder Avers GR (143 Stimmberechtigte) einen eigenen Parlamentssitz ermöglichen und damit die Repräsentationsgleichheit überstrapazieren. Letzteren Wahlkreis hat auch das Bundesgericht kürzlich als «deutlich zu klein» beurteilt und damit faktisch aufgehoben (BGer 1C_495/2017, 29.07.2019, E. 7.3 [Publ. vorges.]).

Kantone mit Proporzwahlverfahren nach Hagenbach-Bischoff (§ 3)

In den folgenden fünf Kapiteln (§§ 3–7) wird nacheinander die Ausgestaltung der Parlamentswahlverfahren aller 26 Kantone betrachtet. Corina Fuhrer kommt zunächst die Aufgabe zu, die elf Kantone mit dem herkömmlichen Proporzwahlsystem Hagenbach-Bischoff (BE, LU, OW, FR, SO, BL, SG, TG, NE, GE, JU) vorzustellen. Dieses Verfahren aus den Anfangstagen des Proporzes ist verzerrend, da es grössere Parteien überproportional begünstigt, was stärker hätte herausgestrichen werden dürfen. – Die Kurzportraits werden in einheitlicher Systematik dargestellt: Einleitend wird kurz auf ein paar historische Eckdaten eingegangen und folgend die aktuellen rechtlichen Grundlagen aufgeführt. Danach werden die jeweiligen Eigenheiten der Wahlsysteme präsentiert, so die Parlamentsgrösse und die Amtsdauer, das aktive und das passive Wahlrecht, die Wahlkreiseinteilung und die Sitzgarantien sowie die etwaige Möglichkeit von Listenverbindungen. Interessant ist etwa, dass das bekannte Kumulieren (mehrfaches Aufführen von Kandidaten) nicht überall erlaubt ist (so in FR, GE, NE).

Nebst dem rechtlich-deskriptiven Steckbrief untersucht Fuhrer auch empirisch je die letzten paar Wahlen und listet die Sitzzahlen der Wahlkreise und die jeweilige Höhe der natürlichen Quoren auf. Letztere Berechnung wirkt indes gekünstelt, wo Sperrklauseln (wie etwa in GE: 7 %) über dem natürlichen Quorum liegen und Letztere damit irrelevant sind. – Die elf Unterkapitel werden jeweils mit einer Einschätzung zur Verfassungskonformität abgeschlossen. Das Fazit ist hier eindeutig – und der Autorin ist dabei zuzustimmen: Abgesehen von Obwalden, dessen Wahlkreise mehrheitlich zu klein und damit verfassungswidrig sind, haben die verbleibenden Hagenbach-Bischoff -Kantone ein rechtmässiges Wahlsystem.

Kantone mit doppeltproportionalem Sitzzuteilungsverfahren (§ 4)

Die sieben Kantone, die ihr Kantonsparlament im modernsten Wahlverfahren Doppelproporz bestellen (ZH, AG, SH, NW, ZG, SZ, VS), werden von Julian-Ivan Beriger beschrieben. Die systematische Darstellung der jeweiligen Eckdaten – vom Anlass des Systemwechsels über die rechtlichen Grundlagen bis hin zu kantonalen Spezialitäten – wird auch in diesem Kapitel beibehalten. Dieses ist bedauerlicherweise mit vielen Unzulänglichkeiten gespickt: Da werden beiläufig wichtige Begriffe wie «Wählerzahl» oder «Kantonswahlschlüssel» erwähnt, ohne sie jedoch zu erklären, geschweige denn konkrete Beispiele darzulegen – obschon diese Zahlen für das Verständnis des doppeltproportionalen Wahlsystems wichtige Konzepte darstellen. Die mathematischen Formeln zur Berechnung des natürlichen Quorums sind nicht nur falsch, sondern in der Mehrheit der Kantone geradezu irrelevant, da sie dort von gesetzlichen Mindestquoren verdrängt werden. Es wird behauptet, Listenverbindungen seien «systemfremd» (zumindest innerhalb von Parteien wären solche sehr wohl sinnvoll und implementierbar), und es wird vorgebracht, der Doppelproporz werde in den Kantonsverfassungen festgeschrieben (es wird regelmässig nur das Verhältniswahlverfahren mit wahlkreisübergreifendem Ausgleich vorgegeben, was auch andere Wahlsysteme wie Wahlkreisverbände ermöglichen würde).

Offensichtlich hat sich der Autor bisher nie mit Sitzzuteilungsverfahren beschäftigt. Dies kommt dadurch zum Ausdruck, dass wichtige Publikationen (etwa Friedrich Pukelsheim, Proportional Representation – Apportionment Methods and Their Applications, Cham 2017) unerwähnt bleiben, und mathematische Literatur fehlt komplett. Daher kann es nicht erstaunen, dass Berigers Würdigung des Doppelproporzes vernichtend ausfällt: Er problematisiert insbesondere den wahlkreisübergreifenden Ausgleich, also just die Raison d’Être dieses Wahlsystems, das letztlich Wählern selbst in kleinen Wahlkreisen erlaubt, erfolgswertgleich zu wählen. Auf fast einer ganzen Seite breitet der Autor sodann empirische Beispiele von gegenläufigen Sitzverschiebungen aus, unterschlägt dabei aber, dass solche Anomalien ebenso in anderen Wahlsystemen vorkommen (etwa im sehr verbreiteten Hagenbach-Bischoff mit Listenverbindungen oder in Wahlkreisverbänden). Als Reformidee wird schliesslich unverständlicherweise die Einführung eines Grabenwahlsystems vorgeschlagen, das in den kleineren Wahlkreisen den Majorz vorsieht. Umgekehrt verschliesst Beriger die Augen vor effektiven Problemen, etwa den verbreiteten Mindestquoren in den Doppelproporz-Kantonen. Insbesondere im Kanton Zürich muss dieses als (kantonal-)verfassungswidrig bezeichnet werden (Tobias Jaag, Kommentar BGer 1C_369/2014, ZBl 2015, 85 ff.).

Kantone mit sonstigen Proporzwahlverfahren (§ 5)

In einem weiteren Kapitel bearbeitet Beriger die vier «Kantone mit sonstigen Proporzwahlverfahren». Dies sind zum einen Basel-Stadt und Glarus, die unlängst auf das Zuteilungsverfahren Sainte-Laguë (Divisorverfahren mit Standardrundung) gewechselt haben, zum anderen Waadt und Tessin, die gemäss Restzahlverfahren Hare/Niemeyer die Mandate verteilen. Beide Verfahren zeitigen meistens die gleichen Resultate und gelten grundsätzlich als fair, da sie weder grosse noch kleine Parteien systematisch begünstigen. Abgesehen von dieser Gemeinsamkeit unterscheiden sich die vier Kantone in wesentlichen Parametern: In Glarus wird seit der Grossfusion in hinreichend grossen Wahlkreisen gewählt, im Sinne des Traditionsanschlusses sind die (sinnvollen) Listenverbindungen weiterhin erlaubt. In Basel herrscht demgegenüber die schweizweit grösste Spannbreite der Wahlkreisgrössen: Während Grossbasel West 34 Sitze hält, liegt für die Gemeinde Bettingen nur ein einziger Sitz drin. Dass der dortige Grossrat im eher heiklen (und für ein Kantonsparlament schweizweit einmaligen) Verfahren First-past-the-post (ein Wahlgang mit relativem Mehr) gewählt wird, wird nicht erwähnt.

Die elektorale Spezialität des Kantons Waadt sind die Wahlkreisverbände. Anschaulich erklärt werden sie jedoch nicht, es geht nicht einmal hervor, auf welcher Ebene (Wahlkreise oder Unterwahlkreise?) die Kandidatinnen und Kandidaten gewählt werden. Der Autor versteigt sich sogar zur Empfehlung, diese undurchsichtigen Konstrukte als Ersatz für den Doppelproporz (NW, ZG, SZ) einzuführen. Abgesehen davon, dass diese das Stimmvolk etwa in Nidwalden explizit und klar abgelehnt hat: Just in Wahlkreisverbänden werden Mandate tatsächlich zwischen den Wahlkreisen hin- und hergeschoben. Was also im «Pukelsheim» nicht hinnehmbar sein soll, findet der Autor hier «aus verfassungsrechtlicher Sicht unproblematisch».

Derlei Probleme sind im Tessin inexistent, der keine Wahlkreise, sondern einen einzigen Einheitswahlkreis kennt. Eine freiwillige Regionalisierung innerhalb der Parteilisten ist aber möglich, sofern die Parteien dies wünschen (zu dieser spannenden Eigenheit werden leider keine empirischen Daten dargelegt). Eine weitere interessante Anomalie: Der Südkanton kennt kein allgemeines Auslandschweizerstimmrecht, sondern quasi ein Auslandtessinerstimmrecht, da dieses nur im Ausland wohnhafte Personen mit Tessiner Bürgerrecht miteinschliesst (und auch für Wahlen gilt). Der Kanton, der 1890 als erster die Proporzwahl einführte, krankt jedoch an einem anderen, schwerwiegenden Mangel: Das Restzahlverfahren Hare/Niemeyer wird nicht in Reinform berechnet, sondern enthält ein verstecktes, verzerrendes Quorum («indirektes Quorum»). Einerseits eliminiert dieses Listen, die weniger als 1,11 Prozent Wähleranteil haben, was legitim erscheint. Andererseits begünstigt das mathematisch unzulängliche Verfahren systematisch Kleinparteien, die diese Hürde erreicht haben; aufgrund der fehlerhaften Restsitzverteilung wird ihnen oft ein zusätzliches Mandat «geschenkt». Der Beitrag ignoriert diese grobe Verzerrung.

Kantone mit Mehrheitswahlverfahren (§ 6)

Ein so anspruchsvoller wie hervorragender Beitrag stammt von Marco Ehrat und Julia Eigenmann, welche die beiden Kantone Graubünden und Appenzell Innerrhoden vorstellen, die noch integral das Majorzwahlverfahren anwenden. Anspruchsvoll ist der Beitrag, weil das Wahlsystem dieser beiden Kantone noch nie höchstrichterlich beurteilt worden ist (bis zum Zeitpunkt seiner Erscheinung), die Einschätzung Kenntnisse der lokalen Verhältnisse verlangt und überdies die Lehre zum Majorz eher spärlich gesät ist (zu AI praktisch inexistent). Hervorragend ist das Kapitel, weil die Autoren weit über das deskriptive, positive Recht dieser beiden Bergkantone hinausgehen und stattdessen die Verfassungskonformität des jeweiligen Majorzsystems ausführlich, anhand der Kriterien des Bundesgerichts, herausschälen (Parteizugehörigkeit/Persönlichkeitswahl, Autonomie der Wahlkreise, geringe Bevölkerungszahl der Gemeinden, Besonderheiten). Hierfür werden die jeweiligen politischen, historischen, soziokulturellen, geografischen, sprachlichen und föderalistischen Ausprägungen der Wahlkreise respektive des Elektorats betrachtet.

Die Schlüsse, die Ehrat/Eigenmann daraus ziehen, sind so deutlich wie verschieden: In Graubünden sind die 39 (Wahl-)Kreise nicht nur äusserst unterschiedlich gross und teilweise sehr klein (Wahlkreis Avers: 160 Einwohner; Chur: 27 955), sie stellen nach der Gebietsreform per 2015 auch Entitäten dar, denen nunmehr keine andere Funktion mehr zukommt. Im Rahmen der diversen Gemeindefusionen erweisen sich die Grenzen der Kreise plötzlich als ziemlich flexibel, und sie werden sogar für Wahlkreismanipulationen missbraucht – «Gerrymandering» in der Surselva! Auch das beliebte Argument, der Majorz schütze die sprachlichen Minoritäten, zerpflücken die Autoren so simpel wie elegant, indem sie aufzeigen, dass die italienischsprachige Bevölkerung zwar 13 Prozent beträgt, die italienischsprachigen Wahlkreise aber nur 8 Prozent aller Grossratssitze stellen. Das Fazit ist unmissverständlich, der Bündner Majorz ist verfassungswidrig. Kürzlich ist das Bundesgericht dieser Kritik gefolgt und hat, mit diversen Verweisen auf diesen Beitrag, eine Beschwerde gegen den Bündner Majorz teilweise gutgeheissen (BGer 1C_495/2017, 29. Juli 2019 [Publ. vorges.]).

In Innerrhoden existieren derweil die Parteien SP und FDP erst seit wenigen Jahren, ja selbst die staatstragende CVP wurde hier erst 1988 gegründet; die Parteizugehörigkeit hat denn tatsächlich eine untergeordnete Bedeutung. Zusammen mit der geringen Bevölkerungszahl der Wahlkreise führt dies dazu, dass die Autoren den Innerrhoder Majorz als weiterhin zulässig erachten. Das Kapitel (und leider nur dieses) wird mit einem tabellarischen Anhang abgerundet, der die Wahlkreise mit den zugehörigen Kennzahlen auflistet.

Kantone mit gemischten Wahlverfahren (§ 7)

Die zwei verbleibenden Kantone Appenzell Ausserrhoden und Uri sind jene mit einem gemischten Wahlsystem Majorz/Proporz; sie werden von Liana Sala portraitiert. Zunächst werden auch hier die beiden Wahlsysteme in knappster Form dargestellt, so insbesondere die Aufteilung des Wahlgebiets in Majorz- und Proporz-Wahlkreise erläutert. Die Wahlkreise entsprechen jeweils den Gemeinden. Erwähnenswert ist in diesen beiden Kleinkantonen die Möglichkeit für Majorzgemeinden, ihre Kantons- bzw. Landräte an Gemeindeversammlungen mit Handmehr wählen zu lassen. Von dieser Option haben je zwei Urner und Ausserrhodener Gemeinden Gebrauch gemacht. Die Autorin weist sodann auf die kleinen Wahlkreisgrössen hin: Die Appenzeller Majorz-Gemeinden weisen durchschnittlich weniger als 2000 Einwohner auf, die zwölf Urner Majorz-Gemeinden haben gar, mit Ausnahme von Andermatt, weniger als 1000 Einwohner.

Die zwei letzten Bundesgerichtsentscheide zu kantonalen Wahlverfahren betrafen just diese beiden Kantone – die höchstrichterlichen Erwägungen nehmen denn auch den Hauptteil dieses Kapitels ein. Zunächst hält das Bundesgericht die grundsätzliche Zulässigkeit von Mischsystemen fest, die Unterteilung in Majorz- und Proporz-Wahlkreise müsse aber sachlich nachvollziehbar sein. Trotz Einbrüchen in die Erfolgswertgleichheit können Kantone den Majorz beibehalten, wenn die fraglichen Wahlkreise drei Bedingungen erfüllen: Erstens müssen sie eine geringe Bevölkerung aufweisen, zweitens müssen sie Entitäten mit eigener Autonomie darstellen, und drittens soll nicht die parteipolitische Haltung der Kandidatinnen und Kandidaten, sondern deren Persönlichkeit und individuelle Bekanntheit im Vordergrund stehen. Da Ausserrhoden diese Bedingungen derzeit (noch) erfüllt, beurteilte das Bundesgericht dieses Wahlsystem als rechtmässig. In Uri hingegen wurden zwar die Majorz-Wahlkreise – wenngleich weniger überzeugend, da hier parteiunabhängige Kandidaten praktisch inexistent sind – ebenfalls als verfassungskonform erachtet. Da aber sechs der acht Urner Proporz-Wahlkreise zu klein sind, musste der Kanton dennoch sein Wahlsystem revidieren.

Überprüfung kantonaler Wahlsysteme durch kantonale Gerichte (§ 8)

Der dritte Teil widmet sich in zwei Kapiteln (§§ 8–9) dem gerichtlichen Rechtsschutz. Nicolas Aubert untersucht hierbei die Überprüfung kantonaler Wahlsysteme durch kantonale Gerichte; er unterscheidet hier die Möglichkeit der gerichtlichen Prüfung im abstrakten Normkontrollverfahren von derjenigen im konkreten Normenkontrollverfahren. Die abstrakte Normenkontrolle (gerichtliche Überprüfung von generell-abstrakten Erlassen auf Konformität mit übergeordnetem Recht ohne konkreten Anwendungsfall) ist grundsätzlich zwar in elf Kantonen möglich, jedoch regelmässig bloss für Erlasse unterhalb der Gesetzesstufe. In einigen Kantonen (NW, GR, AG, VD, GE und JU) unterliegen aber auch Gesetze der Verfassungsgerichtsbarkeit (und in GE gar die Kantonsverfassung). Da indes die Grundzüge des Wahlsystems selbst auf Verfassungsstufe normiert sind, ist diese Kontrollmöglichkeit in der Praxis bedeutungslos.

Der erfolgreichere Weg, die Verfassungsmässigkeit eines Wahlverfahrens zu prüfen, erfolgt daher auf dem Weg der konkreten Normenkontrolle, also im Rahmen einer konkreten Wahl. Doch auch hier lauern diverse Schwierigkeiten, da dieses spezifische Rechtsmittel in den kantonalen Rechtsordnungen praktisch nicht normiert ist. Fragen betreffend Anfechtungsobjekt, Beschwerdefristen oder Instanzenzug können daher oftmals nicht a priori beantwortet werden. Aubert illustriert diese Unsicherheit anhand von formellen und prozeduralen Aspekten einiger Wahlbeschwerden vor kantonalen Gerichten (NW, ZG, AR, GR).

Überprüfung kantonaler Wahlsysteme durch das Bundesgericht (§ 9)

Der Überprüfung kantonaler Wahlsysteme durch das Bundesgericht mit der Beschwerde in Stimmrechtssachen widmet sich anschliessend Nevin Martina Bucher. Einerseits können Entscheide kantonaler Gerichte betreffend die Ausübung der politischen Rechte an die oberste rechtsprechende Behörde des Bundes weitergezogen werden. Andererseits ist das Bundesgericht oftmals Erstinstanz, da die Kantone gegen Akte der Regierung und des Parlaments keine kantonale Vorinstanz vorsehen müssen. Erlasse wie Wahlgesetze sind daher regelmässig mittels abstrakter Normenkontrolle direkt in Lausanne anzufechten. Die Autorin gliedert ihren Beitrag systematisch und übersichtlich in die Unterkapitel «Anfechtungsobjekt», «Vorinstanzen», «Beschwerderecht», «Beschwerdegründe», «Fristen», «Rechtsfolgen bei Gutheissung» und «Kosten». Hervorzuheben ist der umfassende Schutz der politischen Rechte: Dies etwa beim Anfechtungsobjekt, das nicht nur behördliche Erlasse und Entscheide betrifft, sondern alle Umstände, die geeignet sind, die Wahlfreiheit zu beeinträchtigen – also auch Realakte sowie Handlungen Privater. Die Beschwerdegründe, die gerügt werden können, sind ebenso breit: Nebst der Verletzung von verfassungsmässigen Rechten kann letztlich auch die Verletzung jeder beliebigen Gesetzes- oder Verordnungsbestimmung geltend gemacht werden.

Kantonales Wahlrecht zwischen harmonisiertem Proporz und neuen Spielräumen (§ 10)

Im Schlusskapitel nimmt Herausgeber Andreas Glaser eine resümierende Standortbestimmung und einen rechtspolitischen Ausblick vor. Das kantonale Wahlverfahren gehorche nun nicht mehr der klassischen Gebietseinteilung (Gemeinden, Bezirke), sondern die Gebietseinteilung müsse im Gegenteil – bezüglich des Wahlverfahrens – den Vorgaben der Wahlrechtsgleichheit angepasst oder jedenfalls insoweit in ihrer Bedeutung relativiert werden. Nach den wahlrechtlichen Umwälzungen in zahlreichen Kantonen stünden derzeit noch zwei Wahlsysteme unter dringendem Verdacht der Verfassungswidrigkeit: jene Obwaldens und Graubündens (womöglich zudem der Einerwahlkreis Bettingen in BS).

Der Autor kritisiert sodann die bundesgerichtliche «Präferenz», den Kantonen mit verfassungswidrigem Wahlsystem den Doppelproporz zu empfehlen. Nicht nur die gegenläufigen Sitzverschiebungen betrachtet er als grosses Manko. Auch der Zweck der Aufteilung des Wahlgebiets in Wahlkreise, nämlich die Bestellung der regionalen Parlamentsdeputation entsprechend dem Willen der Wählerinnen und Wähler in der betreffenden Region, werde jedenfalls teilweise vereitelt. Doch auch Glaser geht fehl in der Annahme, derlei Sitzverschiebungen seien eine Anomalie, die einzig dem doppeltproportionalen Wahlverfahren eigen sei. Wie erwähnt treten solche ebenso in herkömmlichen Wahlverfahren auf. Das Bundesgericht hat denn die hier problematisierten Sitzverschiebungen etwa im Kontext von Wahlkreisverbänden längst bemerkt und als unumgänglich und somit zulässig taxiert (BGer 09. Dez. 1986, in: ZBl 1987, 367 ff.; BGer 1P. 671/1992, 08. Dez.1993, in: ZBl 1994, 483 ff.).

Abschliessend beleuchtet Glaser zwei Standesinitiativen der Kantone Zug und Uri, die in Reaktion auf ihre Wahlsysteme rügende Bundesgerichtsentscheide die «Wiederherstellung der Souveränität der Kantone bei Wahlfragen» verlangt haben. Die beiden Initiativen wurden 2015 von der Staatspolitischen Kommission des Ständerats (SPK-S) und 2016 vom Nationalrat angenommen, worauf 2017 die SPK-S eine entsprechende Bundesverfassungsänderung ausarbeitete. Die Novelle hätte einerseits wieder Mehrheits- und Mischsysteme dem Proporz gleichgestellt, anderseits die Festlegung der Wahlkreiseinteilungen den Kantonen mehr oder weniger frei anheimgestellt. – Glaser hätte die Stossrichtung begrüsst. Der Nationalrat hat die Verfassungsänderung indes in letzter Minute, anlässlich der Schlussabstimmung im Dezember 2018, knapp mit 103 zu 90 Stimmen abgelehnt. Gemäss Andreas Auer habe es «noch nie in der schweizerischen Verfassungsgeschichte einen derart unverschämten Versuch gegeben, zentrale Grundrechte einfach auszuschalten und dem Richter diesbezüglich die Augen zu verbinden» (NZZ, 17. Mai 2018).

Was ist neu bei den Wahlen 2019? (Teil II: kantonales Recht)

Wahlrecht für Auslandschweizer, neue Zustellkuverts, Berechnung des absoluten Mehrs oder Urnenöffnungszeiten: Bei den eidgenössischen Wahlen kommen auch Dutzende Neuerungen im kantonalen Wahlrecht zur Anwendung. Wir erläutern die wesentlichen Novellen in sämtlichen Kantonen.

Im ersten Teil dieses Beitrags haben wir die rechtlichen Neuerungen des Bundesrechts für die anstehenden Wahlen erläutert. Im Verlauf der letzten vier Jahre haben jedoch auch etliche Kantone grössere oder kleinere Schraubendrehungen an ihren kantonalen Wahlgesetzen vorgenommen. Da das kantonale (und teilweise sogar kommunale) Wahlrecht subsidiär für die Nationalratswahlen gilt,[1] ergeben sich auch hierdurch einige lokale Neuerungen. Darüber hinaus sind die Ständeratswahlen kantonale Wahlen; die Kantone regeln das Wahlsystem fürs Stöckli also weitgehend eigenständig.[2] Im Folgenden erläutern wir die wesentlichen Änderungen, die auch die aktuellen Nationalrats- und Ständeratswahlen betreffen.[3]

 

Aargau: Auslandschweizer wählen auch die Ständeräte

Bei den Nationalratswahlen, die primär vom Bund geregelt werden, sind die Auslandschweizer schweizweit wahlberechtigt. Ständeratswahlen sind demgegenüber kantonale Wahlen, weshalb hier die Kantone individuell darüber entscheiden, ob auch den Auslandschweizern das Wahlrecht einzuräumen sei;[4] knapp die Hälfte der Kantone lässt dies zu.[5]

Im vergangenen Herbst hat der Aargauer Verfassungsgeber knapp (50.7 % Ja) das Ständeratswahlrecht für Auslandschweizer eingeführt.[6] Die Befürworter argumentierten, es sei «nur schwer nachvollziehbar, warum im Ausland wohnhafte Stimmberechtigte sich an den Nationalratswahlen beteiligen dürfen, hingegen von den gleichzeitig stattfindenden Ständeratswahlen ausgeschlossen sind». Die von der Auslandschweizer-Organisation (ASO) beantragte Ausweitung des Stimmrechts sei daher sinnvoll. Die ablehnende Minderheit brachte vor, die Nähe und der Bezug zum Kanton Aargau seien für die Standesvertreter wichtig. Wer den Aargau vertreten wolle, müsse mit den hiesigen Gegebenheiten und Sachverhalten vertraut sein.

 

Appenzell Innerrhoden: Ausmehrung des Ständerats an der Landsgemeinde

Der Kanton Appenzell Innerrhoden tanzt bei der Bestellung des Ständerats gleich mehrfach aus der Reihe: Als Kanton mit bloss halber Standesstimme stellt er nur einen statt zwei Ständeräte. Dieser wiederum wird nicht wie in den anderen 25 Kantonen an der Urne gewählt, sondern an der traditionellen Landsgemeinde. Damit einhergehend fällt in Innerrhoden die Nationalrats- und Ständeratswahl zeitlich auseinander, da die ordentliche Landsgemeinde jeweils Ende April tagt. Am 28. April wurde daher bereits Daniel Fässler als «erster» der diesjährigen Gesamterneuerungswahlen gewählt; er nimmt seit vergangener Sommersession im Stöckli Einsitz.

Wiederkandidierende Ständeräte wurden bisher stillschweigend gewählt, wenn die Landsgemeinde keine Namen von Gegenkandidaten in den Ring rief. Neu ist nun, dass an der Landsgemeinde auch die bisherigen Ständeräte explizit gewählt werden müssen; es wird immer ausgemehrt.[7]

 

Basel-Landschaft: Unvereinbarkeit Regierungsrat–Bundesversammlung / Informationsblatt

Seit 1892 durfte einer (aber nicht mehr!) der fünf Basellandschaftlichen Regierungsräte gleichzeitig auch dem National- oder Ständerat angehören. Zuletzt sass 1945 ein Regierungsrat parallel im Nationalrat; ein Doppelmandat mit Ständerat gab es nie. Seit einem Jahr ist diese Ämterkumulation nicht mehr zugelassen.[8] Die Arbeitsbelastung für eine wirkungsvolle Ausübung beider Ämter sei zu hoch, da in den vergangenen Jahrzehnten die Anforderungen sowohl im Regierungskollegium als auch in den eidgenössischen Räten kontinuierlich angestiegen sei.

Die Stimmberechtigten erhalten überdies zusammen mit den Wahlzetteln neu ein amtliches Informationsblatt mit den Namen aller Kandidaten für den Ständerat, die von mindestens 15 Stimmberechtigten vorgeschlagen worden sind.[9] Wählbar sind aber weiterhin alle Stimmberechtigten.

 

Basel-Stadt: Befreiung Wahlvorschlags-Unterzeichnungen, separater Stimmrechtsausweis

Bei den Baselstädtischen Majorzwahlen können 30 Stimmberechtigte einen Wahlvorschlag einreichen, der dann auf dem Wahlzettel abgedruckt wird. Die Wähler können so ihre bevorzugten Kandidaten einfach ankreuzen. Ab diesen Wahlen sind Parteien, die bei den letzten Wahlen für den Grossen Rat mindestens einen Sitz erzielten, von dieser Unterzeichnungspflicht befreit.[10]

Neu gilt bei der Briefwahl das Stimmkuvert nicht mehr gleichzeitig als Stimmrechtsausweis. Dieser ist nun, wie andernorts üblich, separat im Abstimmungskuvert enthalten (eigentlich sogar gleich zwei: ein Stimmrechtsausweis für die persönliche und ein weiterer, anonymisierter, für die briefliche Stimmabgabe).[11]

 

Bern: Weniger Kandidaten im zweiten Wahlgang, keine kantonalen Vorlagen im Wahlherbst

Im Kanton Bern sind bei Majorzwahlen (wie den Ständeratswahlen) nur Personen wählbar, die auf einem Wahlvorschlag figurieren. Verbleiben im zweiten Wahlgang, nachdem sich die wenig chancenreichen Kandidaten zurückgezogen haben, nur noch so viele Kandidaturen wie Sitze zu besetzen sind, so werden diese in stiller Wahl gewählt. In der Vergangenheit hielten jedoch auch Personen mit äusserst geringen Erfolgschancen an der Teilnahme am zweiten Wahlgang fest und forcierten damit als unnötig erachtete Wahlgänge (beispielsweise 2015, als nebst den bisherigen Ständeräten Werner Luginbühl [43 % der Stimmen] und Hans Stöckli [41 %] auch Bruno Moser [1 %] an der Kandidatur festhielt). – Neu sind für den zweiten Wahlgang nur noch jene Kandidaten zugelassen, die im ersten Wahlgang mindestens drei Prozent der Stimmen erhalten haben.[12] Die Urheber eines Wahlvorschlags dürfen jedoch für den zweiten Wahlgang Ersatzkandidaturen vorschlagen.[13]

Überdies wird neu im Jahr der nationalen Wahlen – analog zur Regelung auf Bundesebene – die zehnmonatige Frist zur Ansetzung von Volksabstimmungen um ein halbes Jahr verlängert.[14] Dadurch müssen im Wahlherbst keine kantonalen Abstimmungen abgehalten werden; solche können ins Folgejahr verschoben werden.

 

Freiburg: Noch keine Transparenz bei nationalen Wahlen

Im März 2018 wurde im Kanton Freiburg die Volksinitiative «Transparenz bei der Finanzierung der Politik» mit fast 70 Prozent Ja-Stimmen angenommen. Sie verlangt, dass politische Parteien und Organisationen, die sich an Wahlen beteiligen, ihre Budgets, Rechnungen und Zuwendungen offenlegen. Der Verfassungsartikel[15] ist nicht unmittelbar anwendbar, er wird derzeit in einem Umsetzungserlass konkretisiert und soll auf die kantonalen Wahlen 2021 Anwendung finden. Erwähnenswert ist, dass das Gesetz über die Politikfinanzierung nicht nur für die Ständeratswahlen, sondern auch für die (primär bundesrechtlich geregelten) Nationalratswahlen gelten soll – erstmals voraussichtlich bei den eidgenössischen Wahlen 2023.[16]

Bis zu den letzten Wahlen galt das Antwortcouvert gleichzeitig als Stimmrechtsauswies, letzterer war auf dem Kuvert aufgedruckt. Seit 2016 liegt der Stimmrechtsausweis separat bei; wird er umgedreht, so ist im Sichtfenster die Adresse des Abstimmungsbüros sichtbar, wohin das Antwortcouvert retourniert werden kann.[17]

 

Glarus: Totalrevidiertes Wahlgesetz bringt diverse kleinere Neuerungen

Im Gegensatz zu Appenzell Innerrhoden werden in Glarus die Ständeräte nicht an der Landsgemeinde, sondern an der Urne gewählt, gleichzeitig wie der Nationalrat. Die Glarner Landsgemeinde hat 2017 ein neues Wahlgesetz[18] beschlossen, welches nun auch diverse kleinere Anpassungen für die nationalen Wahlen mit sich bringt: Zunächst wurden die Zustellfristen für das Wahlmaterial denjenigen des Bundes angepasst; die Wahlzettel für den Ständerat müssen (wie diejenigen für den Nationalrat) den Wählern zwischen drei und vier Wochen vor dem Wahltag zugestellt werden.[19]

Wer seine Stimme an der Urne abgeben will, soll sich seinen Weg nicht durch Unterschriftensammlungen oder andere Aktionen bahnen müssen. Solche sind daher nicht nur in, sondern neu auch vor den Stimmlokalen verboten.[20] – Die Wahlzettel müssen nicht mehr abgestempelt werden.[21] – Nachdem die Glarner 2014 nach zwei überraschenden Vakanzen (SR Pankraz Freitag verstarb und SR This Jenny trat kurz darauf zurück) gleich zwei kurzfristige Ersatzwahlen in den Ständerat durchführen mussten, ist die Frist, innert welcher Ersatzwahlen durchzuführen sind, von drei auf sechs Monate heraufgesetzt worden.[22] – Neu dürfen die Resultate bei Wahlen und Abstimmungen soziodemografisch ausgewertet werden.[23]

 

Nidwalden: Mehr Unterschriften, mehr gültige Wahlzettel, kleineres absolutes Mehr

Wahlvorschläge für den je einen Sitz in den Nationalrat und Ständerat konnten bisher von Einzelpersonen eingereicht werden. Nunmehr findet für alle Mehrheitswahlen dasselbe Wahlvorschlagsverfahren statt, das die Unterzeichnung von mindestens fünf Aktivbürgern erfordert.[24] – Wahlzettel sind nun auch gültig, wenn sie lediglich ins Rückantwortkuvert gelegt werden.[25] Sie werden nicht mehr als ungültig ausgeschieden, wenn sie sich nicht im separaten, kleinen Stimmzettelkuvert befinden. Mit dieser Massnahme soll die Anzahl ungültiger Stimmen reduziert werden.

Für die Berechnung des absoluten Mehrs im ersten Wahlgang bei Majorzwahlen wurden bisher auch leere Wahlzettel miteinbezogen. Fortan werden hierzu nur noch die in Betracht fallenden Stimmen berücksichtigt, womit das absolute Mehr leicht gesenkt wird.[26] Die Regel kommt heuer indes noch nicht zur Anwendung, weil Ständerat Hans Wicki bereits in stiller Wahl gewählt worden ist (und bei den Nationalratswahlen das relative Mehr genügt).

 

Obwalden: Neues Stimmkuvert mit zwei Innenfächern

Wie auch in einigen anderen Kantonen, musste der Kanton Obwalden aufgrund neuen Vorgaben der Post sein Stimmkuvert anpassen. Er hat sich für die «Solothurner Lösung» entschieden. Das neue Stimmkuvert hat zwei Innenfächer: Im Fach ohne Sichtfenster liegen die Stimmzettel und die Abstimmungserläuterungen, im Fach mit Sichtfenster befindet sich der Stimmrechtsausweis.[27]

Fahrende mit Obwaldner Heimatort waren bisher einzig in eidgenössischen Angelegenheiten stimm- und wahlberechtigt. Diese Diskriminierung ist nun beseitigt worden, indem ihnen das Stimmrecht auch in kantonalen Angelegenheiten (wie die Ständeratswahlen) zuerkannt worden ist.[28]

 

Schaffhausen: Neue Vergabe der Listennummern, vereinfachte Briefwahl

Es gibt verschiedene Methoden, wie die Listennummern für die Wahllisten vergeben werden (siehe Wo die Juso die Nummer 1 ist). Im Kanton Schaffhausen wird die Reihenfolge der Wahlzettel für den Nationalrat neu anhand der Wählerstärke der Listen bei der jüngsten Kantonsratswahl zugeteilt.[29] Die SVP hält damit die Listennummer 1, die SP die 2, die FDP die 3 usw.

Nachdem bei den Wahlen 2015 die Gebühr fürs Versäumen der Stimmpflicht von drei auf sechs Franken erhöht worden ist, haben die Behörden seit diesem Jahr die briefliche Stimmabgabe ein bisschen bürgerfreundlicher ausgestaltet: Einerseits werden die Gemeindebriefkästen neu am Wahlsonntag um 11 Uhr geleert anstatt bereits am Samstagmittag.[30] Andererseits müssen in den Gemeinden Schaffhausen[31], Neuhausen[32] und Stein am Rhein[33] die Rücksendekuverts nicht mehr frankiert werden (siehe Wer Briefmarke selber bezahlen muss, stimmt seltener ab).

 

Schwyz: Einheitliche Urnenöffnungszeiten, noch keine transparente Wahlfinanzierung

Bisher konnten die Gemeinden des Kantons Schwyz die Urnen bis 12 Uhr geöffnet haben. Neu gilt eine kantonsweit einheitliche Urnenöffnungszeit am Wahlsonntag von 10 bis 11 Uhr.[34] – Neu gewählte Ständeräte dürfen erst dann Einsitz im Rat nehmen, wenn beide Mitglieder rechtskräftig gewählt sind.[35] Wird also gegen die Wahl des einen Mitglieds Beschwerde erhoben, so ist automatisch auch die Vereidigung des anderen neu gewählten Ständerats in der Schwebe.

Wie in Freiburg, so ist im März 2018 auch in Schwyz ein ähnlicher neuer Verfassungsartikel zur Offenlegung der Politikfinanzierung angenommen worden.[36] Das darauf fussende, neue Transparenzgesetz wurde im vergangenen Mai vom Volk angenommen (54 % Ja, obschon es alle Parteien abgelehnt haben) und würde auch die Ständeratswahlen betreffen.[37] Aus Sicht der Initianten wurde die Initiative aber nur unzulänglich umgesetzt, weshalb sie beim Bundesgericht gegen den Erlass Beschwerde erhoben haben. Ob, wann und in welcher Form das Schwyzer Transparenzgesetz in Kraft gesetzt werden wird, ist also noch offen.

 

St. Gallen: Neues Wahlgesetz bringt neue Vergabe der Listennummern und ermöglicht Rückzüge

Im Kanton St. Gallen ist dieses Jahr ein totalrevidiertes Wahl- und Abstimmungsgesetz[38] in Kraft getreten. Die Neuerungen für die aktuellen National- und Ständeratswahlen sind indes von begrenzter Tragweite. Der Regierungsrat hat immerhin vorgeschlagen, die Berechnung des absoluten Mehrs nicht mehr anhand der gültigen Wahlzettel, sondern anhand der gültigen Stimmen vorzunehmen (wie in den meisten Kantonen der Deutschschweiz üblich).[39] Dadurch wäre das absolute Mehr gesunken, womit auf einige zweite Wahlgänge hätte verzichtet werden können. Der Kantonrat lehnte dies jedoch ab.

Im Kantonsrat eingebracht wurde jedoch eine neue Regelung zur Vergabe der Listennummern bei Proporzwahlen. Neu werden diese in der Reihenfolge des Stimmenanteils vergeben, den die Parteien bei den letzten Wahlen erlangt haben.[40] Etwaige Unterlisten von Parteien erhalten ebenfalls dieselbe Listennummer, jedoch mit einem Buchstaben als Zusatz.[41] So tritt derzeit die SVP mit den Listen 01a, 01b, 01c und 01d an, die CVP mit den Listen 02a, 02b, 02c und 02d usw. – Eingeführt wurde zudem die Möglichkeit, Kandidaten wieder zurückzuziehen.[42] Damit soll verhindert werden, dass Personen auf den Wahlzetteln aufgeführt werden, die faktisch gar nicht mehr zur Verfügung stehen.

 

Tessin: harmonisierte Stimmgemeinde der Auslandtessiner

Am 10. Februar 2019 hat das Tessin eine Verfassungsänderung angenommen, welche das kantonale (und kommunale) Wahlrecht der Auslandtessiner neu regelt.[43] Bisher waren nämlich nur jene Auslandschweizer in Tessiner Angelegenheiten stimm- und wahlberechtigt, die ihren Heimatort im Südkanton haben. Neu ist der letzte Wohnsitz in der Schweiz massgeblich, so wie es auch das neue Auslandschweizergesetz für die politischen Recht auf Bundesebene vorsieht. Durch diese Harmonisierung werden einige Nachteile behoben, etwa das Auseinanderfallen der massgeblichen Stimmgemeinde bei kantonalen und nationalen Wahlen sowie Schwierigkeiten bei der Aktualisierung der Stimmregister.

 

Wallis: Briefwahl muss am Freitag eintreffen

Wer im Kanton Wallis brieflich wählen möchte, musste bisher dafür besorgt sein, dass die Sendung vor Schluss des Urnengangs bei der Gemeindeverwaltung eintrifft. Neu muss die Post bereits am Freitag vor der Wahl eintreffen, ansonsten ist die briefliche Stimmabgabe ungültig.[44]

 

Zug: Unterstützung privater Abstimmungs- und Wahlhilfen

Der Kanton Zug hat die gesetzliche Grundlage geschaffen, um jungen Stimmbürgern (von 18 bis 25 Jahren) nebst dem offiziellen Stimmmaterial auch private Wahl- und Abstimmungshilfen zustellen zu können. Damit sind beispielsweise private Abstimmungserläuterungen wie «Easyvote» gemeint. Kanton und Gemeinden können solche Projekte finanziell unterstützen und ihnen die Adressen der Jungwähler zur Verfügung stellen, falls die Wahl- und Abstimmungshilfen die Grundsätze der Neutralität und Sachlichkeit gewährleisten.[45]

 

Zürich: Verkürzte Fristen für zweiten Ständerats-Wahlgang

Findet im Kanton Zürich für die Ständeratswahlen ein zweiter Wahlgang statt, so gelten neu ziemlich kurze Mindestfristen für die Zustellung der Wahlunterlagen: Es genügt, wenn das Wahlkuvert zehn Tage vor dem Wahlgang bei den Wählern eintrifft.[46] Diese stark verkürzte Frist (die normale Frist beträgt drei bis vier Wochen) gilt zudem nicht nur für die Ständeratswahlen, sondern auch für jegliche weitere kantonale oder kommunale Wahlen und Abstimmungen, die auf jenen Wahltag gelegt werden.[47] – Für kommunale Abstimmungsvorlagen (wie etwa am 17. November in der Stadt Zürich) gilt daher eine unterschiedliche Zustellfrist, je nachdem, ob überhaupt ein zweiter Ständerats-Wahlgang vonnöten ist oder nicht.

 

Im ersten Teil dieses Beitrags sind die Neuerungen der Wahlen 2019 dargelegt, die sich aufgrund Änderungen des Bundesrechts ergeben.

 


[1] Art. 83 BPR.

[2] Art. 39 Abs. 1 und Art. 150 Abs. 3 BV.

[3] Keine oder nur untergeordnete, die Wähler nicht betreffende Änderungen seit den letzten Wahlen 2015 gibt es in den Kantonen AR, GR, LU, SO, TG und UR. In den Kantonen GE, JU, NE, TI und VD wurden nur die grundlegenden Änderungen auf Verfassungsstufe berücksichtigt. Nicht berücksichtigt wurden überdies Novellierungen betreffend die elektronische Stimmabgabe, da derzeit kein E-Voting-System in Betrieb ist.

[4] Art. 150 Abs. 3 BV.

[5] Vgl. VPB 1/2014 vom 6. März 2014 (Bundesverfassung, Auslandschweizer Stimmberechtigte und Ständeratswahlen).

[6] § 59 Abs. 3 KV/AG.

[7] Art. 7 Abs. 3 VLGV/AI.

[8] § 72 Abs. 2 KV/BL.

[9] § 26 Abs. 3 GPR/BL.

[10] § 36 Abs. 5 WahlG/BS.

[11] § 8 Abs. 1 WahlV/BS.

[12] Art. 109 Abs. 1 PRG/BE.

[13] Art. 111 PRG/BE. Diese Möglichkeit ist erstaunlicherweise selbst Unterzeichnern von Wahlvorschlägen erlaubt, deren Kandidat die 3%-Hürde im ersten Wahlgang nicht erreicht hat!

[14] Art. 42 Abs. 3 PRG/BE.

[15] Art. 139a KV/FR.

[16] Erläuternder Bericht vom 19. August 2019 zum Vorentwurf des Gesetzes über die Politikfinanzierung, S. 22.

[17] Art. 18 Abs. 3 PRG/FR.

[18] Gesetz über die politischen Rechte (GPR) vom 07.05.2017.

[19] Art. 32 Abs. 1 GPR/GL; für den zweiten Wahlgang gilt weiterhin die verkürzte Frist von 10 Tagen.

[20] Art. 11 Abs. 4 GPR/GL.

[21] Art. 17 GPR/GL e contrario.

[22] Art. 39 Abs. 2 GPR/GL.

[23] Art. 26 Abs. 1 GPR/GL.

[24] Art. 60 WAG/NW.

[25] Art. 28 Abs. 1 Ziff. 5 EG BPR/NW.

[26] Art. 72 Abs. 1 WAG/NW.

[27] Art. 16 und 35 AbstV/OW.

[28] Art. 3 Abs. 5 AG/OW.

[29] Art. 2g WahlG/SH.

[30] Art. 53bis Abs. 3 WahlG/SH.

[31] Art. 2 Abs. 1 Verordnung über die briefliche Stimmabgabe/Schaffhausen.

[32] Art. 1 Abs. 1 Verordnung betreffend vorfrankierte Stimm- und Wahlcouverts/Neuhausen am Rheinfall.

[33] Art. 1 Abs. 1 Verordnung betreffend vorfrankierte Stimm- und Wahlcouverts/Stein am Rhein.

[34] § 26 Abs. 1 WAG/SZ.

[35] § 54a Abs. 1 WAG/SZ.

[36] § 45a KV/SZ.

[37] § 2 Abs. 1 und § 7 Abs. 2 TPG/SZ.

[38] Gesetz über Wahlen und Abstimmungen vom 05.12.2018 (WAG).

[39] Art. 92 Abs. 2 E-WAG/SG.

[40] Art. 42 Abs. 2 WAG/SG.

[41] Art. 42 Abs. 4 WAG/SG.

[42] Art. 26 Abs. 1 WAG/SG.

[43] Art. 30 KV/TI.

[44] Art. 26 Abs. 2 kGPR/VS; Art. 14 Abs. 2 Verordnung über die briefliche Stimmabgabe/VS sah indes bereits früher vor, dass «[d]ie Sendung bei der Gemeindeverwaltung spätestens am Freitag, der der Wahl oder der Abstimmung vorausgeht, eintreffen [muss]. Die zu spät eintreffenden Übermittlungsumschläge werden nicht geöffnet».

[45] § 8 Abs. 6 WAG/ZG.

[46] § 84a Abs. 2 GPR/ZH.

[47] § 84a Abs. 3 GPR/ZH.

 

Fusion wider Willen: Wenn Gemeinden zwangsverheiratet werden

Ein Überblick über die Möglichkeit und Wirklichkeit von Zwangsfusionen von Gemeinden in den Schweizer Kantonen. Und wie solche begründet werden.

Ein Gastbeitrag von Sandro Lüscher[1]

1. Einleitung

Das schweizerische Gemeindewesen befindet sich in einem tiefgreifenden Wandlungsprozess. Alte Gemeindestrukturen werden durch neue Formen interkommunaler Zusammenarbeit und territoriale Umstrukturierungen abgelöst. Seit der Jahrtausendwende hat ein veritables Fusionsfieber eingesetzt. Jährlich werden dutzende territoriale Reformprojekte aufgegleist, von denen die grosse Mehrheit schliesslich auch die Abstimmungshürde nimmt. Der Gemeindebestand nahm seither um etwa 700 Gemeinden auf 2’212 ab.[2]

In der Regel verlaufen die Fusionen und Eingemeindungen einvernehmlich und im Interesse aller beteiligten Parteien. Trotzdem kommt es gelegentlich vor, dass einzelne Gemeinden gegen ihren Willen zur Fusion gedrängt werden. Darauf kann ein intensiver Rechtsstreit entbrechen, der bisweilen bis ans Bundesgericht als letztinstanzliche Entscheidungsbehörde weitergezogen wird.

Dieser Beitrag soll einerseits einen Überblick über die Rechtsgrundlagen und damit die Möglichkeiten für Zwangsfusionen in den Schweizer Kantonen bieten. Andererseits sollen anhand bisheriger Streitfälle die Argumente sowie bundesgerichtlichen Erwägungen für und wider Zwangsfusionen erörtert werden. Durch diese Gesamtschau kann ein Beitrag zu einem besseren Verständnis von Zwangsfusionen als «schwerstmöglicher Eingriff in den Schutzbereich der Gemeindeautonomie»[3] geleistet werden

2. Die kantonalen Rechtsgrundlagen für Zwangsfusionen

Im Unterschied zu anderen Staaten sind die öffentlichen Strukturen der Schweiz ausgeprägt dezentral organisiert. Die öffentlichen Verwaltungsaufgaben werden zu einem wesentlichen Teil von den Gemeinden als unabhängige demokratische Gebietskörperschaften und als Vollzugsorgane von Bund und Kantonen in subsidiärer Allzuständigkeit erledigt.[4] Nur wenn sie mangels Ressourcen dazu ausserstande sind oder wenn die Bereitstellung bestimmter öffentlicher Güter auf einer höheren Staatsebene effizienter vollbracht werden kann, findet eine vertikale Kompetenzverschiebung «nach oben» statt.

Dieses Subsidiaritätsprinzip findet seinen Niederschlag auch in der Kompetenzregelung für Gemeindereformen: Sie fallen in die Zuständigkeit der Kantone. Es gibt weder eine gesetzliche oder verfassungsmässige Grundlage, die dem Bund die aktive Einmischung in kommunale Fusionsprozesse erlauben würde, noch eine bundesrechtliche Bestandesgarantie zugunsten der Gemeinden. Die Bundesverfassung hält einzig fest: «Die Gemeindeautonomie ist nach Massgabe des kantonalen Rechts gewährleistet.»[5] Jeder Kanton hat daher sein eigenes Fusionsregime und seine eigene Praxis im Umgang mit «fusionsrenitenten» Gemeinden. Im Folgenden werden die 26 kantonalen Fusionsregimes in drei unterschiedliche Regime-Typen aufgeteilt.

Die drei Fusionstypen im Überblick.

 

2.1. Protektiver Typus: Bestandesgarantie

Dem ersten protektiven Typus werden jene 17 Kantone (AG, AI, AR, BL, BS, GE, NE, NW, OW, SG, SH, SO, SZ, UR, VD, ZG, ZH) zugerechnet, bei denen die Gemeindeautonomie durch eine in der Kantonsverfassung verankerte Bestandesgarantie geschützt wird.[6] Zwangsfusionen sind hier nicht erlaubt. Eine Möglichkeit, dies zu erreichen, ist die namentliche Aufzählung aller Gemeinden in der Kantonsverfassung (AI, AR, BS, OW, ZG)[7].

Der Kanton St. Gallen kennt zwar eine Verfassungsgrundlage für Zwangsfusionen.[8] Das konkretisierende Gemeindevereinigungsgesetz verzichtet aber auf diese Möglichkeit, womit auch in St. Gallen der Gemeindebestand gesetzlich geschützt ist.[9]

2.2. Regulativer Typus: Zwangsfusionen theoretisch möglich

Den zweiten regulativen Typus bilden die sechs Kantone (BE, FR, GL, GR, JU, LU), in denen eine Zwangsfusion zwar rechtlich möglich ist, bisher jedoch nie angewandt wurde.

Ein Zusammenschluss von Gemeinden gegen ihren Willen bedürfte immerhin einiger Voraussetzungen. So werden hier, eher vage, «überwiegende kommunale, regionale oder kantonale Interessen» (BE, FR)[10] oder dort das Erfordernis «einer wirksamen und wirtschaftlichen Aufgabenerfüllung» (LU)[11] verlangt. In Graubünden kann eine Gemeinde fusioniert werden, die infolge ihrer geringen Anzahl Einwohner oder unzureichender personeller oder finanzieller Ressourcen dauernd ausserstande ist, den gesetzlichen Anforderungen zu genügen und ihre Aufgaben zu erfüllen. Desgleichen droht Gemeinden, wenn ihr Mitwirken für die Abgrenzung oder Aufgabenerfüllung einer neuen Gemeinde unentbehrlich ist (eine Mehrheit der anderen betroffenen Gemeinden muss dem Zusammenschluss aber zugestimmt haben).[12] Man möchte hiermit verhindern, dass bei Zusammenschlüssen von Talschaften das Veto einer Gemeinde die ganze Fusion verhindert.[13] Auch im Jura wären Zwangsfusionen nur in Ausnahmefällen möglich, so etwa, wenn die Gemeinde aufgrund ihrer prekären finanziellen Lage nicht mehr in der Lage ist, ihren Verpflichtungen nachzukommen oder wenn ihre Organe in der Vergangenheit regelmässig unvollständig gebildet wurden.[14]

Das Organ, das die Zwangsfusion verfügen würde, ist regelmässig das kantonale Parlament.[15] In Luzern unterliegt dieser Beschluss dem fakultativen Referendum, womit das kantonale Stimmvolk über Zwangsfusionen befindet.[16]

2.2.1. Spezialfall Glarus

Seit dem 1. Januar 2011 sieht zwar auch die Verfassung der Kantons Glarus eine Bestandesgarantie für die nunmehr bloss drei Gemeinden vor.[17] Doch die Umstände, unter denen am 7. Mai 2006 die Glarner Landsgemeinde einer Massenfusion zustimmte, vermögen die zahlreichen Bedenken prozeduraler sowie verfassungsrechtlicher Art nicht gänzlich auszuräumen.[18] Denn bei der Zwangsfusion der 25 bestehenden Ortsgemeinden zu drei Einheitsgemeinden handelte es sich nicht um ein ordentliches Traktandum, sondern um einen Abänderungsantrag, der den ursprünglichen Antrag seitens des Landrats und der Regierung zur Schaffung eines zehn Gemeinden umfassenden Verbunds modifizierte. Es ist zum einen fraglich, ob das anwesende Stimmvolk in der Lage war, sich zu diesem spontan in der Versammlung eingebrachten Abänderungsantrag eine differenzierte Meinung zu bilden und über allfällige Konsequenzen zu räsonieren, die mit dem Fusionsentscheid verbunden sind.[19] Zum anderen wurden die Gemeinden weder angehört noch ging dem Entscheid eine Beschlussfassung der Gemeinden voraus, wie die Verfassung damals explizit verlangte.[20]

2.3. Restriktiver Typus: Zwangsfusionen effektiv angeordnet

Den dritten restriktiven Typus bilden schliesslich die drei Kantone (TG, TI, VS), in denen Zwangsfusionen nicht nur rechtlich möglich sind, sondern bereits effektiv angeordnet wurden.[21]

2.3.1. Thurgau

Per 1. Januar 1990 trat im Kanton Thurgau eine neue Verfassung in Kraft, mit der die seit der Helvetik bestehende Gemeindeordnung mit Orts- und Munizipalgemeinden komplett reformiert werden sollte. Aus den vormaligen 179 Orts- und Munizipalgemeinden sollten 80 leistungsfähige politische Gemeinden werden,[22] wofür eine Frist von zehn Jahren vorgesehen war.[23] Im Zuge dieser umfassenden Neugestaltung der Gemeindelandschaft wurden einzelne Gemeinden auch gegen ihren Willen fusioniert.[24]

Seit dieser Reformphase in den 1990er Jahren hat sich am Thurgauer Gemeindewesen wenig verändert. Zwangsfusionen bleiben aber möglich: Der Grossen Rat das Recht, «aus triftigen Gründen Änderungen in Bestand oder Gebiet politischer Gemeinden zu beschliessen, sofern mindestens die Hälfte der betroffenen Gemeinden zustimmt.»[25]

2.3.2. Wallis

Um die Jahrtausendwende sollten sich im Rahmen eines Fusionsprojekts im Walliser Bezirk Goms fünf Klein- und Kleinstgemeinden zu einer Einheitsgemeinde zusammenschliessen (Binn, Ausserbinn, Ernen, Mühlebach und Steinhaus). In einer konsultativen Vorabstimmung äusserten sich vier der fünf Gemeinden zustimmend zum Fusionsvorhaben. Die ablehnende Gemeinde Binn wurde darauf von der Planung ausgenommen. Zwei Jahre später lehnte die Gemeinde Ausserbinn das Fusionsprojekt in einer Volksabstimmung überraschenderweise deutlich ab.[26]

Der Grosse Rat leistete der eher dürftig begründeten Empfehlung des Staatsrats, der Fusion der vier Gemeinden (einschliesslich Ausserbinn) zuzustimmen, sodann Folge und besiegelte damit die Zwangsfusion von Ausserbinn. Rechtlich stützte man sich auf Art. 71 Abs. 2 Kantonsverfassung, wonach der Staatsrat unter gewissen Bedingungen Gemeinden zwingen kann, zusammenzuarbeiten oder sich zu öffentlich-rechtlichen Verbänden zusammenzuschliessen.[27] Gegen den Entscheid wurde beim Bundesgericht erfolglos ein Rekurs eingelegt.[28]

2.3.3. Tessin

Während die erwähnten Gemeindefusionen im Thurgau und Wallis Ausnahmecharakter hatten, haben Zwangsfusionen im Tessin bereits eine längere Tradition. Sie sind Teil oder Wirkung einer rigorosen Fusionsstrategie, welche die tessinische Regierung im Rahmen des kantonalen Richtplans schon seit Längerem verfolgt. Zählte der Südkanton im Jahr 1994 noch 247 Gemeinden, so waren es im April 2017 gerade noch deren 115. Bis ins Jahr 2020 sieht die ambitiöse Strategie gar nur noch 23 Einheitsgemeinden vor.[29] Besonders strukturschwache, abgelegene Talschaften sollten räumlich-infrastrukturell und wirtschaftlich besser erschlossen und in grössere, leistungsfähigere Gemeindeverbände integriert werden.

Doch die in den meisten Fällen von der kantonalen Regierung angeregten Fusionen treffen immer wieder auf Widerstand, gerade in peripheren Regionen, in deren Abgeschiedenheit sich im Verlaufe der Zeit ein starkes Eigenbewusstsein herausgebildet hat und wo das Bedürfnis nach politischer Autonomie vielleicht grösser ist als in zentrumsnahen Ortschaften. So wurden im Tessin bereits sieben Gemeinden gegen ihren Willen fusioniert.[30] Rechtsgrundlage bildet das Fusionsgesetz von 2003, welches vorsieht, dass der Grosse Rat unter Berücksichtigung des Gemeininteressens eine Region gegebenenfalls entgegen den Präferenzen einzelner Gemeinden eine Fusion verfügen kann. Obschon die für Fusionsfragen zuständigen Ämter um die Findung einvernehmlicher Lösungen bemüht sind und renitente Gemeinden vorgängig mit attraktiven Anreizstrukturen zu zähmen versuchen, verfährt das Tessin am resolutesten mit widerspenstigen Kommunen und schreckt bei ausbleibendem Erfolg auch vor Zwangsfusionen nicht zurück.

3. Argumente für Zwangsfusionen

Grundsätzlich sind die Gründe für Zwangsfusionen weitgehend identisch mit jenen regulärer Fusionen. Im Folgenden werden die wichtigsten drei resümiert.

3.1 Gewährleistung der Wirtschaftsentwicklung

Ein zentrales Argument für die (zwangsweise) Fusionierung von Gemeinden bilden Überlegungen wirtschaftsstruktureller und finanzpolitischer Art. Eine Gemeinde, die auf dem Autonomierecht pocht, muss einen wesentlichen Teil der öffentlichen Aufgaben in Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit erfüllen können.[31] Dies ist jedoch gerade in bevölkerungsarmen und entlegenen Gemeinden mit schlechten Entwicklungsaussichten wie etwa Ausserbinn VS (41 Einwohner) oder Vergeletto TI (65) nicht der Fall.

Bedingt durch die tiefen Steuereinkünfte können wesentliche öffentliche Dienstleistungen nicht oder nur unzureichend bereitgestellt werden. Solche Kleinstgemeinden befinden sich oftmals in finanzieller Abhängigkeit vom Kanton. Ausserbinn etwa bezog über einen Drittel seiner Einkünfte aus dem kantonalen Finanzausgleich.[32] Doch auch ein intakter Gemeindehaushalt schützt nicht zwingend vor einer Fusion. So fand im Rahmen eines Beschwerdegangs der Gemeinde Vergeletto beim Bundesgericht das Argument, finanziell auf den eigenen Beinen stehen zu können, bei den Richtern kein Gehör. Der Umstand, dass das gesamte Fusionsprojekt ohne die Gemeinde Vergeletto sinnlos gewesen wäre, wurde von den Richtern höher gewichtet als das Bedürfnis der Gemeinde nach Autonomie.[33] Diese auf das Gemeininteresse zielende Argumentation findet sich immer wieder bei Zwangsfusionen im Kanton Tessin.

3.2 Überwindung demokratischer Defizite

Oft werden demokratiepolitische Bedenken vorgebracht. Strukturschwache Kleinstgemeinden laufen mangels finanzieller Ressourcen, Verwaltungspersonal und Aspiranten für politische Ämter Gefahr, die lokale Demokratie zu unterhöhlen. Durch den Zusammenschluss mehrerer Gemeinden kann aus Sicht der Befürworter eine tragfähigere Grundlage für kommunales Handeln geschaffen werden: Nutzung von Skaleneffekten, Verbreiterung und Effizienzsteigerung des öffentlichen Angebots, Professionalisierung der Gemeindeverwaltung, Entschärfung des latenten Problems fehlenden politischen Wettbewerbs um Gemeindeämter, usw.

Ausserdem bestehen zwischen den involvierten Gemeinden oftmals Zweckverbände, die aus demokratischer Sicht nicht unproblematisch sind.[34] Durch die Fusion wird jene interkommunale Zusammenarbeit obsolet.

3.3 Selbstbehauptung im Wettbewerbsföderalismus

Daneben spielt auch die Erhaltung der Standortattraktivität eine wichtige Rolle bei Erwägungen von Zwangsfusionen. Die Kantone und Gemeinden stehen in einem wettbewerbsartigen Konkurrenzverhältnis zueinander. Von der öffentlichen Hand wird ein breit gefächertes Angebot zu günstigen Preisen erwartet (günstiges Bauland, gute öffentliche Schulen, intakte Infrastruktur, Arbeitsplätze, familienergänzende Strukturen usw.).

Diese Dynamik setzt insbesondere die Kantone unter Zugzwang, da von untätigen, strukturkonservativen und von Ausgleichszahlungen abhängigen Gemeinden die Gefahr ausgeht, dass sie die gesamte regionale Entwicklung hemmen. Zaudernde Fusionskandidaten respektive die Gemeindebevölkerung wird hierzu oftmals mit reizvollen Angeboten geködert. Die Gemeinde Ausserbinn versuchte man mit der Reduktion des Steuerfusses von 1.5 auf 1.3 doch noch in Fusionsstimmung zu bringen, jedoch ohne Erfolg.[35]

4. Argumente gegen Zwangsfusionen

Ungeachtet des stets individuellen Kontexts von Zwangsfusionen gibt auch einige wiederkehrende Contra-Argumentationsmuster.

4.1 Verletzung der Gemeindeautonomie und Demokratie

Einer Zwangsfusion geht notwendigerweise ein negativer Volksentscheid voraus. Die Missachtung des demokratischen Mehrheitswillens ist nicht nur ein herber Eingriff in das kommunale Selbstbestimmungsrecht, sondern stellt auch eine Verletzung der politischen Rechte der Stimmenden dar. Wenn ein Volksentscheid seine Rechtsverbindlichkeit verliert, dann wird dadurch das Vertrauen der Bürger in die lokale Demokratie unterminiert.

Dieser per se gewichtige Einwand findet indes bei Diskussionen rund um Zwangsfusionen kaum Resonanz, da nur dort zwangsfusioniert wird, wo die Rechtslage solche explizit gegen den Willen der betroffenen Gemeinden zulässt.

4.2 Verletzung justiziabler Verfahrensrechte

Trotzdem sind Gemeinden nicht komplett schutzlos übergeordneten Fusionsbestrebungen ausgeliefert. Diverse Kantone, in denen Zwangsfusionen möglich sind, sehen bestimmte Verfahrens- und Mitwirkungsrechte zugunsten der betroffenen Gemeinden vor. Diese Rechte sind überdies in der für die Schweiz im Juni 2005 in Kraft getretenen, teilweise unmittelbar anwendbaren Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung verbrieft.

Rechtlich bedeutsam wurde die Charta erstmals bei einer Verfassungsinitiative im Kanton Tessin, die den Zusammenschluss der Agglomerationsgemeinden um Locarno und um Bellinzona forderte. Der Grosse Rat erklärte die Initiative für ungültig, da sie alle Kantonsbewohner (also auch die nicht betroffenen) über das politische Schicksal dieser beiden Bezirke hätte entscheiden lassen, gegebenenfalls auch gegen deren Willen.[36] Die Initianten rekurrierten hiergegen vor dem Bundesgericht, das jedoch die Ungültigkeit bestätigte und zudem auf die Charta verwies,[37] die in Artikel 5 vorschriebt, dass «[b]ei jeder Änderung kommunaler Gebietsgrenzen die betroffenen Gebietskörperschaften vorher anzuhören [sind], gegebenenfalls in Form einer Volksabstimmung». Der fehlende oder ungenügende Einbezug betroffener Gemeinden und ihren Bevölkerungen kann folglich sehr wohl erfolgreich gerügt werden.

4.3 Entsolidarisierung, Entfremdung und politischer Kontrollverlust

Nebst diesen eher formellen Einwänden gibt es noch eine Reihe von Sorgen und Ängsten der Bevölkerung über den Fortbestand ihrer Gemeinschaft, die zwar kein justiziables Gewicht haben, erfahrungsgemäss dennoch oft den Kern des Widerstands bilden. Befürchtet wird der Verlust der kommunalen Identität oder der Zerfall des gemeinschaftlichen Gefüges und der inneren Solidarität infolge verstärkter Bevölkerungsbewegungen.

Gerade für «abgeschlossene Gemeinschaften» in der Peripherie kommen derartigen Überlegungen eine nicht zu vernachlässigende Bedeutung zu. Vorgebracht wird auch, dass aus dem Zusammenschluss eine Verringerung der politischen Einflussmöglichkeiten resultiert und dadurch die politische Kontrolle über das eigene Gemeindegebiet verloren geht.

5. Fazit

Seit den 1990er hat in der Schweiz ein veritables «Gemeindesterben» eingesetzt, der Gemeindebestand hat seither um über einen Viertel abgenommen. Doch einzelne Gemeinden bieten diesem Fusionstrend die Stirn und pochen auf ihre politische Eigenständigkeit. Oft tun sie dies erfolgreich, doch in einzelnen, wenigen Fällen greifen die kantonalen Behörden rigoros durch und zwingen Gemeinden zu Zusammenschlüssen. Dabei handelt es sich um schwerwiegende Eingriffe von grosser politischer Tragweite.

Aus staatspolitischer Sicht ist Zurückhaltung angezeigt, was die Verordnung solcher Zwangsmassnahmen anbetrifft. Denn Gemeinschaftsbildung setzt einen gemeinen Willen voraus, so wie auch eine Trauung die explizite Zustimmung von Braut und Bräutigam voraussetzt. Zum anderen beweisen nicht weniger als 22 Kantone, die bislang auf Zwangsfusionen verzichteten und stattdessen auf einen konsensuellen Lösungsweg sowie gezielte Anreizstrukturen setzen, dass es auch ohne geht.

 

Mitarbeit: Claudio Kuster

 


[1] Sandro Lüscher ist Politologe und Neuzeithistoriker, er arbeitet als Assistent und Doktorand am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich. Dieser Beitrag ist eine gekürzte Fassung seiner Arbeit im Rahmen des Seminars «Grösse und Demokratie: Territoriale Reformen und demokratische Legitimität».

[2] Stand 1. Januar 2019.

[3] Meyer, Kilian (2011): Gemeindeautonomie im Wandel. Eine Studie zu Art. 50 Abs. 1 BV unter Berücksichtigung der Europäischen Charta der Gemeindeautonomie (Dissertation). Norderstedt: Books on Demand GmbH: 389.

[4] Meyer, Kilian (2015): Verhältnis von Bund und Kantonen, Abschnitt 3 zu Gemeinden. In: Waldmann, Bernhard, Belser, Eva Maria und Epiney, Astrid (Hrsg.) Bundesverfassung. Basel: Helbing Lichtenhahn Verlag, 949-968: 952.

[5] Art. 50 Abs. 1 BV.

[6] Meyer 2011: 17.

[7] Art. 15 Abs. 1 KV/AI; Art. 2 KV/AR; § 57 Abs. 1 KV/BS; Art. 2 Abs. 1 KV/OW; § 24 Abs. 1 KV/ZG.

[8] Art. 99 Abs. 2 lit. b KV/SG.

[9] Von Rohr, Muriel (2018): Gemeindefusionen – Rechtliche Aspekte und bisherige Erfahrungen. Zürich: 20, 51 ff.

[10] Art. 108 Abs. 3 KV/BE; Art. 135 Abs. 4 KV/FR.

[11] § 74 Abs. 3 KV/LU.

[12] Art. 72 Abs. 1 Gemeindegesetz/GR.

[13] Von Rohr 2018: 23.

[14] Art. 112 Abs. 3 KV/JU, Art. 69b Loi sur les communes/JU.

[15] Bspw. Art. 108 Abs. 3 KV/BE; § 74 Abs. 3 KV/LU; Art. 112 Abs. 3 KV/JU; Art. 72 Abs. 1 Gemeindegesetz/GR. Vgl. Von Rohr 2018: 58.

[16] § 74 Abs. 3 KV/LU.

[17] Art. 118 Abs. 1 KV/GL.

[18] Meyer 2011: 354 f. und Schaub, Martin (2007): Verfassungsrechtliche Aspekte der Glarner Gemeindefusion. Aktuelle juristische Praxis AJP 10, 1299-1307.

[19] Vgl. Schaub 2007.

[20] Art. 118 Abs. 1 und 2 KV/GL in der Fassung bis zum 31. Dezember 2010: «1 Änderungen im Bestand der Gemeinden oder deren Grenzen müssen von den betroffenen Gemeinden beschlossen und vom Landrat genehmigt werden. 2 Kommt eine Einigung nicht zustande, kann die Landsgemeinde auf Antrag einer der betroffenen Gemeinden oder des Landrates eine solche Änderung beschliessen.»

[21] Jankovsky, Peter für Neue Zürcher Zeitung (2011): Nach der Zwangsfusion bleibt die Bitterkeit.

[22] Meyer 2011: 365.

[23] Vgl. § 98 Abs. 2 KV/TG: «Die Bildung der politischen Gemeinden hat innert zehn Jahren nach Inkrafttreten dieser Verfassung zu erfolgen. Danach bezeichnet das Gesetz die politischen Gemeinden, deren Bestand diese Verfassung gewährleistet.»

[24] Vgl. Steiner, Reto für Neue Zürcher Zeitung (2003): Gemeindezusammenschlüsse können Erwartungen nicht immer erfüllen; Duvillard, Laureline für swissinfo.ch (2010): Nicht alle Gemeinden haben «Fusionitis».

[25] § 58 Abs. 4 KV/TG.

[26] Die Zustimmung sank um über 30 Prozentpunkte auf 42.4 Prozent. Man muss jedoch anfügen, dass die Gemeinde nur 39 stimmfähige Bürger hat (Stand 2002), von denen immerhin 33 am Urnengang teilnahmen. Für weitere Informationen siehe Staatsrat des Kantons Wallis (2004): Botschaft zum Beschlussentwurf betreffend den Zusammenschluss der Munizipalgemeinden Ausserbinn, Ernen, Mühlebach und Steinhaus: 5-9.

[27] Die drei Voraussetzungen sind unter dem Art. 135 KV des kantonalen Gemeindegesetzes statuiert. Dort heisst es, dass eine Gemeinde zwangsfusioniert werden kann, a) wenn ein negativer Entscheid zu einem Fusionsprojekt ihren finanziellen Weiterbestand gefährdet; b) wenn eine einzige Gemeinde das Hindernis zu einer Fusion darstellt, währenddem die angrenzenden Gemeinden bereits ihre Zustimmung zu einer bedeutenden Fusion gegeben haben; c) wenn eine Gemeinde nicht mehr in der Lage ist, das Funktionieren der Institutionen zu gewährleisten, namentlich dann, wenn sie die freigewordenen Ämter aufgrund der beschränkten Einwohnerzahl nicht wiederbesetzen kann. In casu relevant war der Punkt b).

[28] BGE 131 I 91.

[29] Jankovsky, Peter für Neue Zürcher Zeitung (2014): Tessiner Regierung will den Kanton neu entwerfen.

[30] Dazu gehören Sala Capriasca zu Capriasca, Aquila zu Blenio, Bignasco zu Cevio, Muggio zu Breggia, San Nazzaro zu Gambarogno sowie Vergeletto und Onsernone zu Onsernone (dies war schweizweit der erste Fall einer doppelten Zwangsfusion). Vgl. Jankovsky, Peter für Neue Zürcher Zeitung (2013): Neue Unruhe in Tessiner Gemeinde; Lob, Gerhard (2015): Bundesgericht segnet doppelte Zwangsfusion ab. Schweizer Gemeinde 6, 13-15.

[31] Meyer 2011: 367 f.

[32] Vgl. BGE 131 I 91.

[33] Lob 2015.

[34] Meyer 2011: 369.

[35] Steuerfusssenkungen sind bei Fusionen durchaus üblich. In der Regel übernehmen die Fusionsgemeinden den zuvor tiefsten Steuerfuss unter den beteiligten Gemeinden (Steiner, Reto, Reist, Pascal und Kettiger, Daniel (2010): Gemeindestrukturreform im Kanton Uri. Analyse der Urner Gemeinden und mögliche Handlungsoptionen: 54).

[36] Tribune de Genève (2016): Pas de vote cantonal sur des fusions de communes.

[37] BGE 142 I 216.

Landsgemeinde für Nicht-Landleute

Die Glarner Landsgemeinde ist bekannt als traditionsreiche Urform der Demokratie. Ihre Geschichte, ihre aktuelle Verfassung, die Vorzüge und Nachteile dieser Demokratieform bringt nun Lukas Leuzingers Buch «Ds Wort isch frii» einer breiteren Leserschaft näher.

«Ds Wort isch frii» (176 Seiten, Fr. 36.–) ist 2018 bei NZZ Libro erschienen.

Gäbe es den perfekten Autoren für ein Portrait über die Glarner Landsgemeinde in Buchform, er müsste Glarner Wurzeln haben, aber dennoch den unabhängigen Blick von aussen wahren können. Er müsste Politikwissenschaft studiert haben, der sich als auf Demokratiefragen spezialisierter Journalist einen gut verständlichen Schreibstil angeeignet hat. – Lukas Leuzinger (südlich des Linthkanals ausgesprochen als «Lüüziger»), Chefredaktor dieses Blogs, ist ein solcher Autor.[*]

Leuzinger hat während grob eines Jahres in und um Glarus recherchiert und sich der Urinstitution Landsgemeinde Glarus angenommen. Dieses traditionsreiche und dennoch auf der «roten Liste» der gefährdeten Demokratieformen fungierende Kuriosum ist schliesslich nur noch in zwei Kantonen anzutreffen, nebst Glarus noch in Appenzell Innerrhoden. Höchste Zeit, dass der Glarner Landsgemeinde eine Veröffentlichung gewidmet wird, die sich insbesondere an ein breiteres Publikum richtet und damit eine echte Lücke schliesst.

Wie bereits dem Untertitel zu entnehmen, gliedert sich das Buch in die drei Teile Geschichte, Gegenwart und Zukunft. Um auf die Entstehung dieser Institution zurückblicken zu können, muss im umfangreichsten ersten Teil (Die Geschichte der Landsgemeinde) ziemlich weit zurückgeblättert werden, ins Jahr 1387 nämlich, in welchem die Glarner Landsgemeinde erstmals dokumentiert ist. Damals wurde nicht über ein Radroutengesetz oder die Finanzierung des Hochwasserschutzes «gemehrt und gemindert» (wie an der diesjährigen Landsgemeinde), sondern über Leben und Tod gerichtet (Blutgerichtsbarkeit), über Krieg und Frieden befunden.

Landsgemeinde als Antithese zur Demokratiekrise

Leuzinger ist sichtlich gelegen, nicht nur die Eckpfeiler der über 600-jährigen Geschichte der Landsgemeinde zu rekapitulieren, sondern die Institution, den Kanton Glarus, sein Volk und auch die Eidgenossenschaft in den jeweiligen geschichtlichen Kontext zu setzen, um ebendieses Demokratiemodell mit ihren Vorzügen und Nachteilen einordnen und nachvollziehen zu können. Wer hätte so gedacht, dass es in Glarus bis ins 19. Jahrhundert beispielsweise gleich mehrere parallele Landsgemeinden gab? Im Kontext der Glaubensspaltung, die andernort gar zu Krieg und Kantonstrennungen führte, ist nachvollziehbar, dass es in Glarus eine protestantische und eine katholische Landsgemeinde gab. – Der Autor hätte den historischen Teil durchaus noch ausbauen und insbesondere dem interessierten Leser ein paar weitere umstrittene Landsgemeinde-Traktanden oder Wahlen näher bringen dürfen.

Im zweiten Teil (Die Landsgemeinde heute: Demokratisches Vorbild oder undemokratisches Kuriosum?) schaut Leuzinger zunächst weit über den «Zigerschlitz» hinaus, indem er auf die gegenwärtige weltweite «Krise der Demokratie» eingeht und die Landsgemeinde quasi als Antithese gegenüberstellt. Schliesslich – Wie die Landsgemeinde funktioniert – wird auf die eigentlichen Befugnisse und Verfahren der Portraitierten eingegangen. Leuzinger hält wenig vom Traditionalismus und Pomp rund um die jahrhundertealte Institution. Er hebt demgegenüber besonderes zwei funktionale Aspekte hervor: Das Rederecht und das Antragsrecht.

Wer sein Anliegen sachlich, kurz und klar vorbringt, kann mit einer Rede den Ausschlag für ein Ja oder Nein geben. Die Unvorhersehbarkeit macht den Reiz der Landsgemeinde aus. Natürlich haben Glarner ebenso wie Stimmbürger in anderen Kantonen mehr oder weniger gefestigte Ansichten und werden durch Parteiparolen oder eigene Vorurteile beeinflusst. Der Unterschied zum Urnensystem besteht darin, dass die Landsgemeinde einen zusätzlichen Kanal für die Meinungsbildung darstellt. Das Besondere an diesem Kanal ist, dass er im Vergleich zu anderen sehr ausgeglichen ist: Jeder hat die gleiche Möglichkeit, zu seinen Mitbürgern zu reden und sie von seiner Meinung zu überzeugen. Gleichzeitig ist jeder den Argumenten – jenen der Befürworter ebenso wie jenen der Gegner – in gleichem Masse ausgesetzt.

Das Juwel der Glarner Demokratie ist jedoch das Antragsrecht. Einerseits kann jeder Stimmberechtigte mittels Memorialsantrag – eine Art Volksinitiative, für die bloss eine einzige Unterschrift vonnöten ist – sein individuelles Begehren auf die Traktandenliste setzen. Andererseits können die Teilnehmer sogar noch an der Landsgemeinde selbst spontane Änderungsanträge einbringen. Resultat dieses unmittelbaren Mitwirkungsrechts war beispielsweise die extreme (und rechtswidrige) Gemeindezwangsfusion vor zwölf Jahren, als von den damaligen 25 Gemeinden zur Überraschung aller plötzlich nur noch deren 3 übrig geblieben sind. Mittels Antragsrecht wurden indes zumeist fortschrittliche Lösungen eingebracht und durchgesetzt, so ein Fabrikgesetz 1864 zum Schutz der Arbeiter und Kinder, die Einführung des Frauen- und später des Jugendlichenstimmrechts (ab 16 Jahren).

Das eigentlich Spezielle an der Landsgemeinde ist aber nicht die direkte Demokratie, sondern die tiefe Schwelle zur Mitbestimmung: Jeder einzelne Bürger kann per Antragsrechts Gesetzes- und sogar Verfassungsänderungen vorschlagen, und statt an der Versammlung nur Ja oder Nein zu sagen, kann jeder Teilnehmer Änderungsvorschläge zu traktandierten Vorlagen einbringen. Bezüglich des Zugangs der Bürger zum politischen Prozess ist das Antragsrecht an der Glarner Landsgemeinde sehr radikal. Trotzdem werden die Behörden nicht mit Anträgen überflutet, und die Antragsteller können ihre Anliegen meist vernünftig begründen. Das zeigt: Wenn man den Bürgern Verantwortung überträgt, verhalten sie sich verantwortungsvoll. Betrachtet man sie als störendes Element, werden sie sich auch so verhalten.

Makel der Vorzeigeinstitution

Leuzinger verhehlt aber auch die Nachteile dieser Demokratieform keineswegs, indem er das mangelnde Stimmgeheimnis, die Zählmethode (es wird selbst bei knappen Ergebnissen nicht gezählt, sondern geschätzt) sowie die gegenüber der Urnenwahl erschwerte Zugänglichkeit der Versammlungsdemokratie vorhält. Die Vorzeigeinstitution Glarus’ vermöge nämlich lediglich 20 bis 30 Prozent der Stimmberechtigten an den Zaunplatz zu locken (die Stimmbeteiligung muss unterdessen sogar noch auf durchschnittlich grobe zehn Prozent herunterkorrigiert werden!).

Auszug aus der Fotoreihe in «Ds Wort isch frii».

 

In einem kurzen dritten Teil schliesslich widmet sich Leuzinger der Zukunft der Landsgemeinde. Darin wird beleuchtet, inwiefern sich die Landsgemeinde heute Reformen unterziehen könnte, um einige der genannten Nachteile zu beheben und damit als Institution langfristig vital zu bleiben. Im Vordergrund steht dabei das Hilfsmittel der elektronischen Auszählung. Wie aber bereits so oft in der Vergangenheit, dürfte es auch dieses Landsgemeinde-Update sehr schwer haben. – Das sehr flüssig und spannend geschriebene Buch wird durch eine Fotoreihe und neun Testimonials («Stimmen zur Landsgemeinde») von Glarner Politikern und Bürgerinnen abgerundet.

 


[*] Der Rezensent hat eine frühe Fassung des hier vorgestellten Buchs gegengelesen.

Was die Demokratie von der Landsgemeinde lernen kann

Die weitgehenden Mitspracherechte an der Landsgemeinde können anderen Demokratien als Inspiration dienen. Zugleich steht auch die Landsgemeindedemokratie selbst vor der Frage, wie sie weiterentwickelt werden soll.

Von Lukas Leuzinger[1]

Cover Ds Wort isch frii

Das Buch «Ds Wort isch frii», auf dem dieser Beitrag basiert, ist bei NZZ Libro erschienen.

Gemessen an der Grösse der Kantone, stossen Abstimmungen in Glarus und Appenzell Innerrhoden auf überproportional grosses Interesse in der restlichen Schweiz und erst recht im Ausland. Der Grund liegt im Verfahren: Die Landsgemeinden am letzten April-Sonntag (Appenzell) und ersten Mai-Sonntag (Glarus) ziehen jedes Jahr zahlreiche Besucher und Beobachter von ausserhalb in ihren Bann. Und wenn die Glarner über ein Burkaverbot abstimmen, steigert sich der Rummel nochmals, sodass nationale und internationale Medien der Versammlung seitenfüllende Reportagen und Experteneinschätzungen widmen.

Die Landsgemeinde als Urform der Demokratie, als jahrhundertealte Institution (in Glarus fand die erste belegte Landsgemeinde 1387 statt), als schöne Tradition: das macht wohl einen wichtigen Teil der Faszination für dieses Modell aus. Allerdings: Die Landsgemeinde auf ihr Alter, auf ihren urtümlichen Charakter zu reduzieren, wird ihrer Bedeutung nicht gerecht. Die Glarner und Appenzeller haben die Landsgemeinde nicht deshalb bis heute beibehalten, weil sie Freude an der Tradition haben. Sondern weil sie die Möglichkeit zur direktdemokratischen Mitsprache schätzen.

Keine Flut von Anträgen

Die Landsgemeinde steht für eine eigenständige Auffassung der Demokratie, mit spezifischen Eigenschaften, mit Nachteilen, aber auch Vorteilen. Die direkte Begegnung unter den Stimmbürgern bringt eine einzigartige politische Kultur hervor. Sobald der Glarner Landammann mit den Worten «Ds Wort isch frii» (Das Wort ist frei) die Diskussion zu einem Sachgeschäft eröffnet, kann jeder Versammlungsteilnehmer ans Rednerpult treten und zu seinen Mitbürgern sprechen. Ein einziger Bürger kann mit einem Memorialsantrag ein Anliegen auf die politische Bühne bringen. In Glarus kann zudem jeder und jede zu allen Geschäften, die behandelt werden, Änderungsanträge stellen. Die ausgebauten Antragsrechte machen den Kern der Landsgemeindedemokratie aus – und sie können anderen Demokratien als Inspiration dienen.

Das Antragsrecht an der Landsgemeinde ist im internationalen Vergleich eigentlich ausgesprochen radikal.[2] Trotzdem werden die Behörden nicht mit Anträgen überflutet, und die Antragssteller können ihre Anliegen meist vernünftig begründen. Das zeigt: Wenn man den Bürgern Verantwortung überträgt, verhalten sie sich verantwortungsvoll. Betrachtet man sie als störendes Element, werden sie sich auch so verhalten.

Man muss nicht gleich so weit gehen wie in Glarus, wo jeder Bürger eine Volksabstimmung auslösen kann. Doch die meisten Demokratien gewähren ihren Bürgern gar keine Mitwirkungsmöglichkeit ausserhalb von Wahlen. Dass sie wenigstens zusammen mit einer gewissen Anzahl Mitbürger ein Thema auf die politische Agenda bringen können, wäre in vielen Ländern bereits eine markante Stärkung der direkten Mitbestimmung. Auch der Einbezug im Gesetzgebungsprozess wäre eine Möglichkeit, die Mitsprache der Bürger zu verbessern.

Das zweite zentrale Element der Landsgemeinde ist die offene Diskussion. Die freie Meinungsbildung ist ein Kernelement, ohne das keine Demokratie auskommt. Entsprechend essenziell ist eine offene und faire Diskussion im Vorfeld von Entscheidungen, seien es Wahlen, Volksabstimmungen oder auch Abstimmungen in einem Parlament. Natürlich ist es kaum praktikabel, alle Stimmbürger eines Landes oder nur schon eines grösseren Kantons an einer Landsgemeinde zusammenzubringen. Demokratische Diskussionskultur kann man aber auch ausserhalb des Landsgemeinderings pflegen. Ein Ansatz dazu ist das Modell der deliberativen Demokratie, das in jüngerer Zeit in der Wissenschaft und darüber hinaus intensiv diskutiert wurde. Dieses Modell betont die Bedeutung der öffentlichen Debatte. Im Zentrum steht die Idee, dass in einer Demokratie nicht dann die besten Entscheide gefällt werden, wenn sich derjenige mit der lautesten Stimme durchsetzt, sondern wenn Bürger auf Augenhöhe über Vorschläge diskutieren können und durch Abwägen und Überzeugen zu einer Lösung gelangen, mit der möglichst viele einverstanden sind. Vor allem auf lokaler Ebene gab es in den letzten Jahren zahlreiche Projekte, um diese Idee in die Praxis umzusetzen. Es braucht aber weitere Anstrengungen, den Einbezug der Stimmbürger und eine möglichst breite Diskussion zu ermöglichen.

Kein mythisches Ideal

Die Landsgemeinde kann somit als Inspirationsquelle für andere Demokratien dienen. Sie ist aber keine Blaupause, die sich eins zu eins auf andere Kantone oder Staaten übertragen liesse. Ebenfalls eignet sie sich nicht als mythisches Ideal einer perfekten Demokratie. Tatsächlich bringt die Landsgemeinde bedeutende Nachteile mit sich. Zum einen kann die politischen Rechte nur ausüben, wer sich zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort einfindet. Wer krank ist oder arbeiten muss, bleibt ausgeschlossen. Zum anderen erfolgt die Stimmabgabe nach wie vor per Handaufheben. Damit wird das Prinzip der geheimen Stimmabgabe verletzt. Zudem werden die Stimmen nicht gezählt, sondern nur geschätzt, was mit einiger Unsicherheit verbunden ist und die Gefahr mit sich bringt, dass ein Vorschlag obsiegt, der keine Mehrheit der Stimmenden hinter sich hatte.

Die Landsgemeindedemokratie steht wie jede Demokratieform vor der Frage, wie sie weiterentwickelt werden kann und soll, um in Zukunft die Ansprüche ihrer Mitglieder zu erfüllen. Man kann auch mit Fug und Recht die Ansicht vertreten, dass die Mitspracherechte mit einer Abschaffung der Landsgemeinde besser erfüllt werden könnten.

Derzeit ist die Landsgemeinde sowohl in Appenzell Innerrhoden als auch in Glarus praktisch unumstritten. Das bedeutet nicht, dass Anpassungen am politischen System tabu wären. Tatsächlich hat sich die Landsgemeinde in der Vergangenheit immer wieder der Zeit angepasst und weiterentwickelt. So wurde in Glarus Anfang des 20. Jahrhunderts die Amtszeit des Landammanns begrenzt, später wurde ein Lautsprecher im Ring installiert, die Regierungs- und Ständeratswahlen wurden von der Landsgemeinde an die Urne verlegt, und 1972 durften die Frauen erstmals an der Versammlung teilnehmen.

Interessant ist, dass alle diese Veränderungen im Vorfeld mit dem Argument bekämpft wurden, damit werde die Landsgemeinde verschwinden. Das gilt auch für den jüngsten Reformvorschlag: der Einsatz von elektronischen Hilfsmitteln. Die Regierung hatte diese Möglichkeit durch eine Arbeitsgruppe abklären lassen. 2016 beschloss der Landrat jedoch auf Antrag des Regierungsrats, die Idee nicht weiterzuverfolgen. Technische Hilfen, so die Befürchtung, würden das «Wesen der Landsgemeinde» verändern. Insbesondere würde der Landammann faktisch seine Entscheidkompetenz verlieren, warnte der Regierungsrat in einem Bericht. Es gehe auch um Vertrauen: «Ohne Vertrauen (…), dass der Landammann die ihm zukommende Entscheidungsgewalt mit Umsicht und im Sinne des Volkes ausübt, hat wohl auch die Landsgemeinde keine Zukunft.»

Schmaler Grat

Zweifelsohne ist der Einsatz technischer Hilfsmittel im Landsgemeindering nicht ohne Nachteile und Risiken. Ob solche Hilfsmittel zum jetzigen Zeitpunkt sinnvoll sind, sei an dieser Stelle offengelassen. Sicher ist, dass der Grat zwischen Bewahrung der Tradition und Gefährdung der Landsgemeinde schmal ist. Der Entscheid des Landammanns wird zwar von den Stimmbürgern an der Glarner Landsgemeinde grundsätzlich akzeptiert. Dennoch kommt es vor, dass knappe Entscheide im Nachgang für Diskussionen sorgen. In Ausserrhoden gab es diese Diskussionen nach dem Entscheid über die Einführung des Frauenstimmrechts 1989, als viele Bürger die Mehrheitsverhältnisse anders sahen als der Landammann, der eine Mehrheit für das Frauenstimmrecht ermittelte. Der umstrittene Entscheid war sicher nicht allein verantwortlich dafür, dass die Ausserrhoder 1997 die Landsgemeinde beerdigten – mit Sicherheit lässt sich aber sagen, dass er das Vertrauen in die Institution nicht beförderte.

Ein unbedingtes Festhalten an der Landsgemeinde in ihrer vermeintlich «ursprünglichen» Form kann somit der Absicht, die Institution zu erhalten, zuwiderlaufen. Gerade die Anhänger der Landsgemeinde sind also gut beraten, Anpassungen offen und vorurteilsfrei zu prüfen. Verfügt die Versammlung über die nötige Substanz und Verankerung in der Bevölkerung, sind übertriebene Sorgen über ihre Gefährdung durch institutionelle Anpassungen nicht gerechtfertigt. In diesem Zusammenhang erscheint das Votum des Freisinnigen Martin Baumgartner in der Debatte im Landrat über die Urnenwahl des Regierungsrats 1970 aktueller denn je. Er hielt den Gegnern des Antrags, welche darin den Tod der Landsgemeinde sahen, entgegen: «Wer von vornherein behauptet, dass die Landsgemeinde keine Änderungen ertrage, legt ihr kein gutes Zeugnis ab.»

 

Veranstaltungshinweise

Am 23. März 2018 stellt Lukas Leuzinger sein Buch «Ds Wort isch frii» im Rahmen einer Ausstellung über die Landsgemeinde in Braunwald vor.

Die Buchvernissage findet am 19. April 2018 in Glarus statt. Mehr Informationen unter Veranstaltungen.

 


[1] Der Beitrag basiert auf dem Buch «Ds Wort isch frii», das sich mit der Glarner Landsgemeinde befasst.

[2] Natürlich gilt dasselbe für Antragsrechte an Gemeindeversammlungen, wobei dort die Grössenverhältnisse andere sind.

Wird an der Landsgemeinde bald elektronisch abgestimmt?

Von alters her wird an der Landsgemeinde in Glarus per Handaufheben abgestimmt, die Stimmen werden nur geschätzt – so auch an der diesjährigen Versamlung am kommenden Sonntag. Dabei soll es bleiben, findet das Parlament. Es will keine technische Hilfe. Doch ein umtriebiger Unternehmer will sich damit nicht zufriedengeben.

Der Beitrag ist eine ausgebaute und aktualisierte Fassung eines Artikels, der am 4. April 2017 in der «Südostschweiz» erschienen ist.

1387 wurde in Glarus die erste belegte Landsgemeinde abgehalten. Damals legte die Versammlung einen Grundsatz fest, der bis heute gilt: nämlich, dass bei Abstimmungen die Mehrheit bestimmt und «der minder Theil» sich zu fügen hat. Doch wer entscheidet, welches die Mehrheit ist und welches die Minderheit? Diese Frage hat in der jüngeren Vergangenheit wiederholt für Diskussionen gesorgt.

KantonGL_Landsgemeinde_20130505-280

Seit über 600 Jahren stimmen die Glarner an der Landsgemeinde per Handaufheben ab.

Im Prinzip ist die Sache einfach: Wird an der Landsgemeinde abgestimmt, heben zunächst die Befürworter und danach die Gegner einer Vorlage ihre Stimmrechtsausweise in die Höhe. Der Landammann, der die Versammlung leitet, schätzt, welche Seite mehr Stimmen auf sich vereinigt. Ist er sich nicht sicher, kann er seine vier Regierungskollegen beiziehen. Am Ende entscheidet aber er alleine; sein Urteil ist nicht anfechtbar.

Fehleranfälliges Verfahren

Das Abschätzen von Mehrheiten birgt allerdings ein gewisses Risiko für Fehler. Bei knappen Resultaten ist es äusserst schwierig, die Mehrheit von blossem Auge zu erkennen. Seit Jahren kursieren daher in Glarus Vorschläge, wie man die Ergebnisse von Abstimmungen zuverlässiger ermitteln könnte. In Appenzell Innerrhoden, dem anderen der beiden verbliebenen Landsgemeinde-Kantone, werden die Stimmen bei knappen Abstimmungen ausgezählt, indem die Bürger den Ring durch verschiedene Ausgänge verlassen und dabei einzeln registriert werden. An der Glarner Landsgemeinde, die wesentlich grösser ist als jene in Appenzell, würde diese Lösung allerdings sehr viel Zeit in Anspruch nehmen. Den Vorschlag, bei knappen Ergebnissen eine Urnenabstimmung im Nachgang zur Versammlung durchzuführen, lehnte die Landsgemeinde 2009 mit deutlichem Mehr ab.

Die Diskussion fokussiert sich daher auf technische Hilfen an der Landsgemeinde. Bereits bei den Arbeiten zur Revision der Kantonsverfassung Ende der 1970er Jahre prüfte die zuständige Kommission, ob die Stimmen mittels eines elektronischen Systems gezählt werden könnten. Der Landrat wollte das Projekt damals nicht weiterverfolgen. Das Thema erschien später aber noch mehrmals auf der politischen Agenda. 2009 gab das Kantonsparlament einen Bericht darüber in Auftrag, welche Systeme in Frage kommen.

Der Bericht, den der emeritierte ETH-Professor Bernhard Plattner vergangenes Jahr vorlegte, identifizierte im Wesentlichen zwei Möglichkeiten: Entweder ein System, das die nach oben gestreckten Stimmrechtsausweise fotografisch erfasst und die Bilder auswertet, oder ein Verfahren mit drahtloser Kommunikation, bei dem jeder Bürger ein spezielles Gerät erhält, mit dem er seine Stimme abgeben kann, ähnlich wie es bei Generalversammlungen grosser Firmen eingesetzt wird. Letzteres System würde eine genauere Ermittlung des Ergebnisses zulassen, wäre aber auch mit mehr Aufwand verbunden, ausserdem bestünde die Gefahr von Manipulationen. Plattner spricht sich für das erste Modell aus, weil er es für besser kompatibel mit der Landsgemeinde hält.

Regierung und Landrat wollen allerdings nichts mehr von technischen Hilfen wissen. Das Parlament beschloss einstimmig, auf eine vertieftere Prüfung der Systeme zu verzichten. Neben den hohen Kosten zur Entwicklung eines elektronischen Systems wurde vor allem der spezielle Charakter der Landsgemeinde angeführt, der verloren ginge.

Unternehmer will elektronisches System einführen

Das vorerst letzte Wort in dieser Frage dürfte aber die Landsgemeinde haben. Ein einzelner Bürger, der Unternehmer Hansjörg Stucki, hat angekündigt, einen Memorialsantrag einzureichen, um den Einsatz elektronischer Systeme an der Landsgemeinde explizit zu ermöglichen. Ganz ohne Hintergedanken tut er das nicht: Stuckis Firma Nimbus bietet nämlich ein elektronisches System an, das seit 2003 bei Generalversammlungen zum Einsatz kommt und sich laut Stucki auch für die Landsgemeinde eignen würde.

Stucki ist sich bewusst, dass ein elektronisches System in einem öffentlichen Auswahlverfahren evaluiert werden müsste. Er verhehlt aber nicht, dass es ihn mit Stolz erfüllen würde, wenn sein System an der Landsgemeinde zum Einsatz käme. Er sei aber bereit, es dem Kanton «zu einem Freundschaftspreis» zur Verfügung zu stellen. Dass Glarus für die Entwicklung eines Abstimmungssystems einen siebenstelligen Betrag ausgeben müsste, wie das die Regierung schreibt, stimme jedenfalls nicht: «Es gibt bereits Systeme, die man einsetzen kann.» Stucki sagt, es gehe ihm vor allem darum, die Landsgemeinde zeitgemässer zu machen. «Technische Hilfsmittel würden die Landsgemeinde nicht schwächen, sondern stärken», ist er überzeugt.

Soziale Kontrolle

Ein weiterer Vorteil eines digitalen Systems wäre, dass im Gegensatz zum heutigen Verfahren das Stimmgeheimnis gewahrt wäre. Zwar erklärten in einer Umfrage der Universität Bern vergangenes Jahr nur gerade 4 Prozent der teilnehmenden Glarner Stimmberechtigten, dass sie die offene Abstimmung oft oder immer störe, bei 13 Prozent war dies selten der Fall. Der Politikwissenschaftler Hans-Peter Schaub, der an der Durchführung der Umfrage beteiligt war, findet dennoch, dass eine geheime Stimmabgabe Vorteile hätte. «Die offene Abstimmung ermöglicht eine soziale Kontrolle, die negative Auswirkungen haben kann.»

Schaub verweist ausserdem auf die Abschaffung der Landsgemeinde in Ob- und Nidwalden sowie Appenzell Ausserrhoden: «In allen drei Kantonen gehörten das Stimmgeheimnis und die genauere Ermittlung des Mehrs zu den Hauptargumenten für das Urnensystem.» Auch in Glarus könne die Stimmung schnell kippen, wenn es zwei oder drei umstrittene Entscheide bei emotionalen Themen gäbe.

Richtig knapp war das Ergebnis beim weitreichendsten Entscheid der jüngeren Vergangenheit: der Gemeindestrukturreform von 2006, als die Landsgemeinde auf einen Schlag aus 25 Gemeinden 3 machte. «In der Folge kamen prompt Stimmen auf, die den Fortbestand der Landsgemeinde in Frage stellten», sagt Schaub. Die Gemeindereform kam ein Jahr später an einer ausserordentlichen Landsgemeinde nochmals zur Abstimmung – und wurde klar angenommen. «Wenn es nochmals so knapp gewesen wäre wie beim ersten Mal, wäre die Landsgemeinde ernsthaft gefährdet gewesen», glaubt Schaub.

«Kleines Problem»

Stuckis Antrag werden keine grossen Chancen zugestanden. Zwar wäre es nicht das erste Mal, dass die Landsgemeinde einen Entscheid des Landrats kippt. Spricht man mit den Leuten, erhält man aber den Eindruck, dass die wenigsten das Abstimmungsverfahren als dringendes Problem wahrnehmen. Auch der grüne Landrat Mathias Zopfi hält das Abschätzen des Resultats durch den Landammann nur für ein «kleines Problem». «Die Landsgemeinde hat gewichtigere Probleme, beispielsweise, dass Kranke, Betagte oder Leute, die am Sonntag arbeiten müssen, nicht teilnehmen können», sagt Zopfi. Wenn man das Problem der Ergebnisermittlung löse, werde die Frage auftauchen, warum man nicht gleich auch diese Problematik im gleichen Zuge angehe. «Dann wird der Vorschlag kommen, dass man von zu Hause aus elektronisch abstimmen kann. Das wäre der Anfang vom Ende der Landsgemeinde.»

Wäre das Bestehen der Landsgemeinde durch die Einführung eines elektronischen Systems gefährdet? Oder eher durch das Festhalten am heutigen Verfahren? Darüber werden die Glarner Stimmberechtigten voraussichtlich in einem Jahr entscheiden – mittels Handaufheben, wie immer in den letzten 630 Jahren.

 

Weitere aktuelle Artikel zum Thema:

Burkas, Schwingfest, Wahlen: Vorschau auf die Glarner Landsgemeinde 2017 auf der Webseite zum Buch «Ds Wort isch frii» von Lukas Leuzinger.

Offene Diskussion als Vorteil der Landsgemeinde – aber nicht für alle

Eine wissenschaftliche Untersuchung liefert erstmals empirische Erkenntnisse über Teilnahme und Entscheidfindung an der Landsgemeinde. Dabei zeigt sich: Die Reden an der Versammlung spielen für die Meinungsbildung eine wichtige Rolle. Als gewichtiger Nachteil der Landsgemeinde erweist sich die eingeschränkte Teilnahmemöglichkeit für gewisse Stimmberechtigte.

Die Landsgemeinde – direktdemokratisches Ideal oder überholte Folklore-Veranstaltung? Über die Vorzüge und Schwächen der Versammlungsdemokratie werden immer wieder engagierte Debatten geführt, nicht erst seit der Abschaffung der Landsgemeinde in drei Kantonen (Nidwalden, Appenzell Ausserrhoden und Obwalden) in den 1990er Jahren. Während Befürworter der Landsgemeinde die ausgebauten direktdemokratischen Rechte sowie die unmittelbare Diskussion unter den Stimmbürgern betonen, kritisieren die Gegner, dass die Versammlungsdemokratie anfällig für Manipulationen und Demagogie sei, viele Stimmbürger nicht teilnehmen könnten und daher ihres Stimmrechts beraubt würden und ausserdem das Stimmgeheimnis durch die offene Handabstimmung verletzt werde.

Die Argumente, die für Abschaffung, Beibehaltung oder Reform der Landsgemeinde ins Feld geführt wurden und werden, gehen implizit oder explizit von bestimmten Annahmen aus. Inwieweit diese zutreffen, wurde bislang allerdings kaum empirisch untersucht. Eine Umfrage von Politikwissenschaftler der Universität Bern bringt nun Licht ins Dunkel. Die Forscher befragten vor und nach der diesjährigen Glarner Landsgemeinde insgesamt rund 1000 Personen. Jetzt liegt ihr Bericht dazu vor.

Natürlich ist bei Übertragungen der Resultate auf die Realität Vorsicht geboten. Einerseits, weil die Stichprobe bei einigen Fragen relativ klein und darüber hinaus nicht zufällig ist – wenig überraschend sind Politikinteressierte und Landsgemeindebesucher deutlich übervertreten. Andererseits, weil Effekte wie die soziale Erwünschtheit, die bei Umfragen häufig auftreten, die Aussagekraft der Ergebnisse einschränken.

Nichtsdestotrotz liefert die Umfrage wertvolle und teilweise durchaus überraschende Erkenntnisse über die Teilnahme und die Meinungsbildung an der Landsgemeinde.

Das gilt zum einen für die Frage, wer überhaupt an der Landsgemeinde teilnimmt. Die Untersuchung stellt fest, dass die Zusammensetzung der Versammlungsteilnehmer hinsichtlich Alter, Bildung und Einkommen relativ ausgeglichen ist, also die Gesamtheit der Stimmberechtigten ziemlich gut repräsentiert). Dies ist insofern erstaunlich, als bei Urnenabstimmung die Jungen im Allgemeinen signifikant seltener teilnehmen als Ältere. Hingegen scheint der Unterschied zwischen den Geschlechtern an der Landsgemeinde grösser zu sein als bei Urnenabstimmungen. Der Anteil der Männer, die angaben, an der Landsgemeinde teilgenommen zu haben, liegt rund 15 Prozentpunkte höher als jener der Frauen.

Ein Grund für die Differenz könnte darin liegen, dass Frauen häufiger wegen Betreuungspflichten nicht an der Landsgemeinde teilnehmen können. Überhaupt ist es laut der Umfrage keine Seltenheit, dass Stimmberechtigte ihr Stimmrecht nicht ausüben können, weil sie am Tag der Landsgemeinde verhindert sind. Der am häufigsten genannte Grund sind Reisen beziehungsweise Aufenthalte ausserhalb des Kantons. Aber auch Arbeit und Krankheit halten Leute von der Versammlung fern. Insgesamt gaben 40 Prozent der Befragten an, dass sie in den letzten fünf Jahren mindestens einmal nicht an der Landsgemeinde teilnehmen konnten. Dieser Kritikpunkt an der Landsgemeinde ist also durchaus empirisch begründet.

Grosse Meinungsumschwünge möglich

Die Befürworter der Landsgemeinde dürfen sich von der Studie aber ebenfalls bestätigt fühlen: Denn die Umfrage zeigt, dass die häufig als Vorteil genannte unmittelbare Diskussion an der Landsgemeinde eine wichtige Rolle spielt. Für rund 60 Prozent der Befragten sind die Landsgemeinde-Reden eine wichtige bis sehr wichtige Informationsquelle bei der Meinungsbildung. Die wichtigste Informationsquelle sind Gespräche mit Bekannten, gefolgt vom Landsgemeinde-Memorial (dem Pendant zum Abstimmungsbüchlein) und Zeitungsberichten, während Fernsehen und Radio kaum von Bedeutung sind. Bei den zwei genauer untersuchten Geschäften der Landsgemeinde 2016 (Personalgesetz und Informatikgesetz) gaben rund 60 Prozent der Befragten an, an der Landsgemeinde noch Argumente gehört zu haben, die ihnen vor der Versammlung nicht bekannt waren.

Die Bedeutung der Diskussion an der Landsgemeinde unterstreicht die Tatsache, dass ein Drittel der Befragten sich bei den beiden erwähnten Vorlagen erst an der Versammlung selber entschied, wie sie stimmten. 14 beziehungsweise 12 Prozent änderten sogar noch ihre Meinung, d.h. sie wechselten von der Ja- zur Nein-Seite oder umgekehrt. Stimmen diese Anteile mit der gesamten Stimmbevölkerung überein, bedeutet das, dass im Extremfall eine 60:40-Mehrheit für eine Vorlage während der Landsgemeinde zu einem komfortablen Sieg des Nein-Lagers werden kann. Die Diskussion vor Ort ist also im wahrsten Sinne des Wortes von entscheidender Bedeutung.

Offen für Reformen

Was die offene Handabstimmung betrifft, scheinen die Teilnehmer diese nicht als gravierenden Nachteil zu sehen. 83 Prozent der Befragten gaben an, dass es sie nie störe, wenn andere sehen können, wie sie abstimmen; 13 Prozent fühlen sich selten gestört, 4 Prozent immer. Der Anteil der Stimmbürger, die sich unter Druck gesetzt fühlen, ist noch kleiner. Allerdings sind diese Ergebnisse aufgrund des bereits erwähnten möglichen Einflusses sozialer Erwünschtheit mit Vorsicht zu geniessen.

lg-umfrage

Zustimmungsraten zu verschiedenen Reformmöglichkeiten.
(Grafik: Forschungsbericht der Universität Bern)

 

Obwohl die Befragten die offene Abstimmung nach eigenen Angaben nicht stört, stehen sie Reformen, welche eine geheime Stimmabgabe an der Versammlung ermöglichen würden, positiv gegenüber: 66 Prozent befürworten die Einführung eines elektronischen Systems, bei dem die Bürger mittels speziellen Geräten ihre Stimme abgeben könnten (siehe Grafik). Dies, obwohl der Landrat erst vor kurzem (auf Antrag des Regierungsrats) entschieden hatte, die Möglichkeit technischer Hilfsmittel nicht weiter zu prüfen.[1]

Allerdings bedeuten diese 66 Prozent nicht, dass ein elektronisches System gegenüber dem Status Quo bevorzugt würde. Tatsächlich erhält die Option, die Landsgemeinde in ihrer bisherigen Form beizubehalten, mit Abstand am meisten Zustimmung, nämlich 93 Prozent. Zwei Drittel bevorzugen diese Variante gegenüber allen anderen.

Auch wenn die Wissenschaftler zu bedenken geben, dass die Unterstützung in der Realität möglicherweise etwas tiefer liegt, scheint nach wie vor eine komfortable Mehrheit der Glarner der Ansicht zu sein, dass die Vorteile der Versammlungsdemokratie die Nachteile überwiegen.

 


[1] Andere Reformvorschläge, die in der Vergangenheit teilweise schon vorgebracht wurden (etwa die Idee, bei knappen Resultaten an der Landsgemeinde noch eine Urnenabstimmung durchzuführen) erhielten deutlich weniger Unterstützung.

Das demokratische Fossil lebt

In den 1990er Jahren galt die Versammlungsdemokratie als überholt, ein Kanton nach dem anderen schaffte die Landsgemeinde ab. Dabei hat sie auch Vorteile, wie ein neues Buch zeigt. Gleichwohl gibt es Reformbedarf.

Publiziert in der «Neuen Luzerner Zeitung» am 7. Mai 2016.

Morgen Sonntag ist es wieder so weit: Auf dem Landsgemeindeplatz in Glarus versammeln sich die Bürgerinnen und Bürger, um über die Angelegenheiten des Kantons zu beraten und abzustimmen. Vergangene Woche haben bereits die Appenzell-Innerrhoder ihre traditionelle Landsgemeinde abgehalten. Appenzell-Innerrhoden und Glarus sind die letzten Kantone, deren Bewohner über Sachfragen nicht an der Urne entscheiden und stattdessen einmal pro Jahr an der Landsgemeinde zusammenkommen, wie es schon seit Hunderten von Jahren Brauch ist.

Landsgemeinde auf dem Zaunplatz in Glarus, 5. Mai 2013. Foto: Kanton Glarus

 

Einst gab es die Landsgemeinde in acht Schweizer Kantonen. Doch ein Kanton nach dem anderen schaffte diese Form der Demokratie ab und ging zum Urnensystem über: Schwyz und Zug bereits vor der Gründung des Bundesstaats 1847, Uri folgte 1928. Zuletzt verabschiedeten sich in den 1990er Jahren gleich drei Kantone von der Landsgemeinde – Nidwalden (1996), Appenzell-Ausserrhoden (1997) und Obwalden (1998).

Systematischer Vergleich

Die Landsgemeinde wirkt damit wie ein demokratisches Fossil, das in den verbliebenen zwei Kantonen nur noch aus Traditionsbewusstsein beibehalten wird; ein überkommenes Relikt aus alter Zeit, das mit den Anforderungen an eine moderne Demokratie nicht mehr vereinbar ist. Aber ist das tatsächlich so?

Hans-Peter Schaub wollte es genau wissen: In einem neuen Buch, das dieser Tage erscheint, stellt der Politikwissenschaftler einen systematischen Vergleich an zwischen Kantonen mit Landsgemeinde und solchen, die an der Urne abstimmen. Im Zentrum steht dabei die grundsätzliche Frage, welches System demokratischer ist. Schaub untersuchte dazu eine Vielzahl unterschiedlicher Indikatoren, mit denen er beispielsweise mass, wie stark der Rechtsstaat, wie unabhängig die Justiz oder wie ausgebaut die direkte Demokratie in einem Kanton ist. Als Untersuchungsobjekte dienten die acht Kantone, die in ihrer Geschichte einmal die Landsgemeinde kannten oder in denen sie heute noch existiert. Da die Kantone alle ähnlich gross und ländlich geprägt sind, sind sie gut vergleichbar. Der Untersuchungszeitraum war 1979 bis 2009.

Überraschende Ähnlichkeit

Zu einem einheitlichen Ergebnis kommt Schaub nicht. «In einigen Bereichen schneidet das Urnensystem besser ab, in anderen dagegen die Landsgemeinde.» Beispielsweise ist in Kantonen mit Urnenabstimmungen das Stimmgeheimnis besser geschützt und die Beteiligung ist höher. Umgekehrt sind in den Landsgemeindekantonen die direktdemokratischen Rechte viel stärker ausgebaut – und werden auch häufiger genutzt.

Mehr als die Unterschiede überraschte Schaub aber, dass die beiden Systeme in vielen Bereichen sehr ähnliche Resultate hervorbrachten. «Beispielsweise wird oft kritisiert, durch die Landsgemeinde würden Minderheiten diskriminiert und individuelle Rechte eingeschränkt», sagt Schaub. «Beides ist nicht der Fall, jedenfalls nicht stärker als bei Urnenabstimmungen.»
Doch auch positive Vorstellungen von der Landsgemeinde wurden teilweise entkräftet, so etwa jene, die Versammlungsdemokratie mache die Leute zu «Citoyens», die sich auch ausserhalb des Landsgemeinde-Rings stärker engagierten. Schaubs Untersuchung zeigt, dass das nicht so ist; so sind Glarner und Innerrhoder etwa weder aktiver in Vereinen sind noch stärker an Politik interessiert als in anderen Kantonen. Das Fazit des Politikwissenschaftlers ist daher, dass keines der beiden Systeme per se demokratischer oder weniger demokratisch ist.

Einschüchterungsversuche

Wieso aber schafften Nidwalden, Obwalden und Appenzell-Ausserrhoden die Landsgemeinde ab? Eine eindeutige Antwort auf diese Frage kann Schaub nicht geben. Er vermutet, dass der Zeitgeist eine Rolle spielte: In den 1990er Jahren wurde die Landsgemeinde vielfach als überholt und nicht mehr zeitgemäss betrachtet. In den Diskussionen vor der Abschaffung war oft die Rede davon, dass das Urnensystem die «modernere» Form der Demokratie sei. Hinzu kamen in jedem der drei Kantone spezielle Umstände.

Auch der Nidwaldner Nationalrat Peter Keller verweist auf den «Geist der 1990er Jahre», der zum Ende der Landsgemeinde in seinem Kanton beigetragen habe. «Der Schweiz fehlte es in dieser Zeit an Selbstsicherheit.» Dem schwindenden Stolz auf die eigenen Traditionen fiel in den Augen des SVP-Politikers auch die Landsgemeinde zum Opfer. In Nidwalden kamen noch spezifische Gründe dazu, namentlich die Nichtwahl von Leo Odermatt in den Regierungsrat an der Landsgemeinde 1994. Odermatt, ein Vertreter der Partei Demokratisches Nidwalden (aus der später die Grünen wurden), unterlag seinem liberalen Kontrahenten um wenige hundert Stimmen. Im Nachgang der Abstimmung wurden Klagen über Einschüchterungsversuche auf Wähler laut. Das dürfte das Vertrauen vieler Nidwaldner in die Versammlungsdemokratie erschüttert haben.

Für Peter Keller war die Abschaffung eine «Tragödie». An der Landsgemeinde habe jeder Stimmberechtigte ans Rednerpult treten und zu seinen Mitbürgern sprechen können, erinnert er sich. «Das hat einem die Demokratie im wahrsten Sinne vor Augen geführt.»

Gewandelter Zeitgeist

Inzwischen scheint der Zeitgeist gekehrt zu haben. Jedenfalls ist die Abschaffung der Landsgemeinde weder in Glarus noch in Appenzell-Innerrhoden ein Thema. In Appenzell stand der Übergang zum Urnensystem einmal zur Diskussion, nachdem der Kanton 1991 vom Bundesgericht zur Einführung des Frauenstimmrechts gezwungen worden war. Die Stimmbürger sprachen sich aber klar für die Beibehaltung aus.

Carlo Schmid war fast dreissig Jahre Innerrhoder Landammann, bevor er 2013 zurücktrat; daneben sass der CVP-Politiker fast ebenso lange im Ständerat. Dass die Landsgemeinde in Innerrhoden weiter besteht, hat aus seiner Sicht «rationale und irrationale Gründe», wie er im Gespräch sagt. «Innerhalb von zwei Stunden erledigt man alle kantonalen Sachfragen und wählt die Regierung. Betriebswirtschaftlich ist es eine ziemlich effiziente Veranstaltung.» Daneben diene die Landsgemeinde aber auch der Identifikation, sie halte die Leute zusammen. Schmid erinnert sich daran, wie er als Landammann jeweils zusammen mit den anderen Mitgliedern der Standeskommission (Regierung) und der Gerichte auf die Tribüne stieg und sich dem versammelten Stimmvolk gegenübersah. «Das macht einem Eindruck.»

Hans-Peter Schaub: «Landsgemeinde oder Urne – was ist demokratischer? Urnen- und Versammlungsdemokratie in der Schweiz.» Nomos-Verlag, 2016.

Anpassungen nötig: Knackpunkt Stimmbeteiligung

Dass die Landsgemeinde in den beiden verbliebenen Kantonen unbestritten scheint, ist laut Hans-Peter Schaub allerdings keine Garantie, dass sie bestehen bleibt. «Auch in Nidwalden, Obwalden und Appenzell-Ausserrhoden hätte kaum jemand zehn Jahre vor den Landsgemeindeabschaffungen diese vorausgesehen.» Schaub glaubt deshalb, dass die Landsgemeinden sich reformieren müssen, um dauerhaft mehrheitsfähig zu bleiben. Handlungsbedarf sieht er vor allem bei zwei Punkten: dem fehlenden Stimmgeheimnis und der tiefen Beteiligung

Eine geheime Stimmabgabe wäre auch an der Landsgemeinde technisch möglich, und zwar mit einer elektronischen Abstimmungsanlage, wie sie zum Beispiel an den Generalversammlungen grosser Unternehmen eingesetzt werden. Damit könnte auch das Resultat genau eruiert werden, anstatt dass es wie heute geschätzt werden muss. Der Kanton Glarus prüft derzeit die Einführung eines elektronischen Systems.

Das Problem der tiefen Beteiligung ist schwieriger zu lösen. In Glarus ist die Benutzung des öffentlichen Verkehrs am Tag der Landsgemeinde gratis, trotzdem kommen jeweils nur etwa ein Viertel der Stimmberechtigten. Eine weitere Möglichkeit sind laut Schaub finanzielle Anreize, entweder in Form einer «Belohnung» der Landsgemeinde-Teilnehmer oder aber der «Bestrafung» der Nicht-Teilnehmer, das heisst die Einführung einer Stimmpflicht. Das grösste Hindernis für eine regere Teilnahme dürfte letztlich der Zeitaufwand sein. Stehen viele Geschäfte an, kann die Landsgemeinde schon einmal vier oder fünf Stunden in Anspruch nehmen. Die briefliche Stimmabgabe ist da wesentlich zeitsparender. Allerdings fällt damit auch die unmittelbare Diskussion vor Ort weg, die als wesentliche Qualität der Landsgemeinde gilt.

 

Relativ willkürlich

Der Kanton Obwalden ist traditionell eine CVP-Hochburg. Während Jahrzehnten besetzten die Christlichdemokraten durchgehend den einzigen Nationalratssitz des Kantons. Und vor den Eidgenössischen Wahlen 2007 sah es nicht danach aus, als ob sich daran etwas ändern würde. Dann aber betrat Luke Gasser die Politbühne des Innerschweizer Kantons: Der Filmemacher bewarb sich als unabhängiger Kandidat um den Obwaldner Nationalratssitz. Neben ihm traten Patrick Imfeld (CVP), Christoph von Rotz (SVP) und Beat von Wyl (SP) zur Wahl an.

Mit seiner Kandidatur veränderte Gasser die Ausgangslage für die Wahl entscheidend. Denn im Vorfeld der Wahl gab Gasser bekannt, dass er im Fall einer Wahl der CVP-Fraktion beitreten würde. Bei der Wahl am 21. Oktober dürfte er daher viele Stimmen von CVP-Wählern erhalten haben – sehr zum Leidwesen des offiziellen Kandidaten der Partei, Patrick Imfeld: Dieser erreichte 32.5 Prozent der Stimmen und lag damit wenige Stimmen hinter Christoph von Rotz, der die Wahl mit 32.9 Prozent gewann. Gasser kam auf 23 Prozent der Stimmen, Beat von Wyl auf 11.6 Prozent.

Der Wahlausgang sorgte für viel böses Blut in Obwalden: Die CVP warf Gasser vor, seine Kandidatur habe der Partei ihren Sitz gekostet. Ob der Vorwurf berechtigt war oder nicht, ist sekundär. Doch wie ist es möglich, dass ein Kandidat mit nicht einmal einem Drittel der Stimmen eine Majorzwahl gewinnt? Der Grund dafür liegt im speziellen Wahlsystem für die Nationalratswahlen: Jene Kantone, die nur einen Sitz in der grossen Kammer haben (Obwalden, Nidwalden, Uri, Glarus sowie die beiden Appenzell), besetzen diesen nach dem Majorzverfahren. Dabei gibt es allerdings keinen zweiten Wahlgang: Gewählt wird nach dem relativen Mehrheitssystem oder First-Past-The-Post-System, das in diesem Blog bereits mehrmals thematisiert worden ist, zuletzt im Zusammenhang mit dem Schwyzer Wahlrecht.

Die Kantone mit nur einem Nationalratssitz besetzen diesen bereits seit 1919 nach dem relativen Mehr. Bei den Beratungen zum Bundesgesetz über die politischen Rechte (BPR) 1976 schlug der Bundesrat vor, in diesen Kantonen nach dem absoluten Mehr zu wählen und damit zweite Wahlgänge zu ermöglichen. Die Einerwahlkreis-Kantone wollten aber an der relativen Mehrheitswahl festhalten und brachten den Vorschlag der Regierung zum Scheitern, wie die Bundeskanzlei auf Anfrage schreibt.

Die Einerwahlkreis-Kantone haben sich also bewusst entschlossen, an der relativen Mehrheitswahl festzuhalten, trotz der offensichtlichen Nachteile dieses Systems. Wie das Beispiel von Obwalden zeigt, kann das Wahlergebnis allein durch das Auftreten eines zusätzlichen Kandidaten vollkommen auf den Kopf gestellt werden. Die relative Mehrheitswahl verzerrt den Wählerwillen, weil ein Kandidat gewählt werden kann, obwohl ein anderer möglicherweise von einer Mehrheit der Bevölkerung bevorzugt worden wäre (und deshalb einen zweiten Wahlgang gewonnen hätte).[1]

Das Wahlergebnis in Obwalden ist kein Einzelfall: Es kommt häufig vor, dass bei Nationalratswahlen in Einerwahlkreisen ein Kandidat mit weniger als 50 Prozent der Stimmen gewinnt. Allein bei den letzten vier eidgenössischen Wahlen trat dieser Fall fünf Mal auf:  1999 wurde Arthur Löpfe (CVP) in Appenzell-Innerrhoden mit 46.3 Prozent gewählt, 2003 Gabi Huber (FDP) in Uri mit 36.6 Prozent sowie Marianne Kleiner (FDP) in Appenzell-Ausserrhoden mit 41.1 Prozent, 2007 Christoph von Rotz in Obwalden mit 32.9 Prozent und schliesslich im vergangenen Jahr Peter Keller (SVP) in Nidwalden mit 45.2 Prozent.

Es gibt kein vernünftiges Argument dafür, solche Resultate zuzulassen. (Es sei denn, man möchte unbedingt ein Zwei-Parteien-System schaffen, was allerdings der politischen Kultur in der Schweiz völlig widersprechen würde.) Das relative Mehrheitswahlsystem führt nicht selten zu einer vollkommen willkürlichen Sitzverteilung. Wenn ein Kanton schon nur einen Nationalrat stellt, sollte dieser wenigstens die Mehrheit der Stimmbürger vertreten. Es wäre technisch problemlos möglich, einige Wochen nach dem ersten Wahlgang eine Stichwahl durchzuführen. Und selbst wenn das das Problem sein sollte, könnte man immer noch auf das Alternative-Vote-System zurückgreifen, das den Bürgern erlaubt, eine Rangfolge der Kandidaten zu erstellen, und damit im Prinzip einen zweiten Wahlgang gleichzeitig mit dem ersten ermöglicht (deshalb auch «Instant Runoff Voting» genannt).

Besonders stossend ist, dass neben den Nationalratswahlen (in den meisten Kantonen gleichzeitig) auch noch Ständeratswahlen stattfinden, die wiederum nach dem in der Schweiz üblichen Majorzsystem mit zweitem Wahlgang durchgeführt werden. So wählen die Bürger in Obwalden einen Nationalrat und einen Ständerat, aber nach zwei gänzlich unterschiedlichen Verfahren. Das schafft zusätzliche Verwirrung, weil der Bürger bei der relativen Mehrheitswahl strategisch wählen muss, um seine Stimme nicht zu verschenken, bei der Mehrheitswahl mit zweitem Wahlgang jedoch nicht (bzw. in sehr viel geringerem Ausmass). Um auf das eingangs beschriebene Beispiel zurückzukommen: Wäre es bei dieser Wahl nicht um den Nationalrats-, sondern um den Ständeratssitz Obwaldens gegangen, hätten die CVP-Wähler Luke Gasser problemlos ihre Stimme geben können, ohne den offiziellen Kandidaten ihrer Partei zu schädigen. Denn in der Stichwahl hätten sie diesem immer noch zum Sieg verhelfen können.

Angesichts der schwerwiegenden Nachteile der relativen Mehrheitswahl drängt sich eine Anpassung der gesetzlichen Grundlagen der Nationalratswahlen auf. Eine Möglichkeit wäre der Wechsel zum Pukelsheim-System, durch den das relative Mehrheitswahlsystem obsolet würde. Allerdings hat der Ständerat diese Option erst vor Kurzem wieder einmal verworfen. Die einfachste Lösung wäre daher, durch eine Änderung des BPR die in der Schweiz gebräuchliche und in der Bevölkerung akzeptierte absolute Mehrheitswahl mit Stichwahl endlich auch bei Nationalratswahlen zu ermöglichen. Nach den Erfahrungen der letzten Jahre sollten eigentlich auch die Einerwahlkreis-Kantone dazu Hand bieten.


[1] Wissenschaftlich gesprochen: Die Condorcet-Bedingung ist nicht erfüllt.