Monthly Archives: December 2013

Wieso ist Basel geteilt und Zürich geeint?

Die Benachteiligung der Landschaft gegenüber der Stadt führte vor über 180 Jahren zur Aufteilung Basels. Ähnliche Konflikte gab es auch in anderen Kantonen. Wieso gibt es dennoch keinen Kanton Zürich-Landschaft?

Ein Plakat wirbt für ein Ja zum «Good Friday Agreement». Bild: Wikipedia

Eskalation der Gewalt: Truppen der Basler Regierung rücken 1831 in Liestal ein. Bild: Webseite des Kantons Basel-Landschaft

In Basel-Stadt und Basel-Landschaft sind gegenwärtig zwei Volksinitiativen hängig, die die zwei Kantone zu einem einzigen zusammenschliessen möchten. Es ist bereits der dritte Versuch, die beiden Basel wieder zu vereinen. Einen ersten hatte in den 1940er Jahren das Bundesparlament vereitelt: Nachdem die Stimmbürger beider Kantone der Wiedervereinigung zugestimmt hatten, verweigerten National- und Ständerat den entsprechenden Verfassungsänderungen die Gewährleistung.[1] Bei einem zweiten Versuch gaben die eidgenössischen Räte zwar ihren Segen, doch die ausgearbeitete Verfassung des neuen Kantons erlitt bei der Abstimmung 1969 im Baselbiet Schiffbruch.

So blieben die beiden Basel zwei getrennte Kantone, und sie sind es bis heute, mehr als 180 Jahre nachdem sich die Landschaft von der Stadt losgelöst hatte.

Die Trennung war die Folge der systematischen Benachteiligung des ländlichen Kantonsteils gegenüber der Stadt. So stellte die Stadt im Grossen Rat 90 von 154 Mitgliedern, obwohl sie deutlich weniger Einwohner hatte als die Landschaft. Ein Bürger der Stadt hatte dadurch ein mehr als doppelt so hohes Stimmgewicht wie ein Bürger vom Land.

1830 erhob sich erstmals Widerstand gegen diese Ungleichbehandlung. Die städtische Elite hatte für die Anliegen des ehemaligen Untertanengebiets allerdings wenig Verständnis. In einer eilig ausgearbeiteten Verfassungsänderung kam sie der Landbevölkerung zwar etwas entgegen und korrigierte das Sitzverhältnis im Grossen Rat auf 79 zu 75 zugunsten der ländlichen Gemeinden. Diese waren damit aber immer noch untervertreten. Als die Baselbieter daraufhin eine eigene provisorische Regierung bildeten, reagierte die Stadt wenig feinfühlig mit militärischer Intervention. Der Konflikt eskalierte rasch und führte 1832 zur Abspaltung des Baselbiets.

Die Trennung Basels ist in der Schweizer Geschichte ein aussergewöhnliches Ereignis. Weniger aussergewöhnlich waren hingegen die Umstände, die dazu geführt hatten. Zu dieser Zeit wurden in mehreren Kantonen die ländlichen Gebiete von ihren Hauptorten benachteiligt, und es gab häufig Widerstand dagegen, so etwa in Zürich und in Bern. Wie ist es also zu erklären, dass Basel heute in zwei Kantone geteilt ist, während Zürich nach wie vor eine Einheit bildet? Mehr noch: Wieso befürwortet heute ein guter Teil der Bevölkerung im Baselbiet einen eigenen Kanton, während im Tösstal oder im Berner Oberland derartige Ideen keine Anhängerschaft haben?

Zur Erklärung dieses Phänomens bietet die Wissenschaft das Konzept der Pfadabhängigkeit an. Dieses besagt, dass in einem kritischen Moment («critical juncture») eine bestimmte Entscheidung oder ein bestimmtes Ereignis den Lauf der Geschichte massgeblich bestimmen kann, selbst wenn sie beziehungsweise es an sich nicht bedeutsam ist. Das führt dazu, dass aus vergleichbaren Konstellationen völlig unterschiedliche Entwicklungen hervorgehen können. Diese werden durch selbstverstärkende Effekte stabilisiert und führen zu einem langfristigen Gleichgewicht.[2]

Friedliche Lösung: Ustertag 1830. Bild: Wikipedia

Friedliche Lösung: Ustertag 1830. Bild: Wikipedia

Was das in der Praxis bedeutet, veranschaulicht der Vergleich Basels mit der Situation in anderen Regionen der Schweiz. Wer (wie der Autor dieser Zeilen) im Zürcher Oberland aufgewachsen ist, begegnet während seiner Schulzeit zwangsläufig irgendwann dem Ustertag. Am 22. November 1830 – weniger als ein Monat nach dem ersten Aufbegehren des Baselbiets – versammelten sich auf dem Zimikerhügel in Uster rund 10’000 Bürger aus allen Teilen der Zürcher Landschaft, um gegen die Bevormundung durch die Hauptstadt zu protestieren. Die Forderungen waren – wie in Basel – vielfältig, wobei – wie in Basel – dem Wahlrecht eine Schlüsselrolle zukam. Kein Wunder, war doch die Ungleichheit im Parlament hier noch viel krasser als in Basel: Die Stadt hatte ein mehr als zehnmal höheres Stimmgewicht als die Landschaft.

Der Ustertag war der wohl grösste Aufstand seiner Art während der Regenerationszeit – und er hatte durchschlagenden Erfolg: Das Parlament beschloss nur wenige Tage später, sich aufzulösen und den Weg für Neuwahlen frei zu machen. In diesen standen den ländlichen Gemeinden nun zwei Drittel der Sitze zu. Anschliessend wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und bereits im März 1831 vom Volk angenommen.

Durch ihre rasche Reaktion verhinderten Regierung und Parlament in Zürich die Eskalation des Konflikts zwischen Stadt und Land. Ganz anders in Basel: Dort löste die Regierung mit ihrem militärischen Eingreifen die Eskalation erst aus.

Trotz sehr ähnlichen Ausgangslagen schlugen Basel und Zürich ganz unterschiedliche historische Entwicklungen ein. Während der Stadt-Land-Konflikt im politischen Alltag in Zürich kaum noch relevant ist, besteht er in Basel bis heute fort.

Die Vergangenheit wiegt schwer auf der Gegenwart. Das zeigt die Debatte um die Basler Wiedervereinigung, die in den kommenden Monaten noch oft die Gemüter erhitzen dürfte, einmal mehr exemplarisch.


[1] Die Ablehnung geschah wohl weniger aus rechtlichen denn aus politischen Überlegungen. Dies kommt bei Gewährleistungsentscheiden nicht selten vor.

[2] Kriesi, Hanspeter (2007): Vergleichende Politikwissenschaft. Teil I.

Auf der Suche nach der «Initiativenflut»

Alle Welt beklagt sich derzeit über die «Initiativenflut». Fakten sind dabei offensichtlich zweitrangig.

Von Lukas Leuzinger und Claudio Kuster

«Comment is free, but facts are sacred.»
C.P. Scott

Dieser Tage wird viel über die angebliche «Initiativenflut» diskutiert. Nachdem das Thema in den Medien wiederholt aufgegriffen worden war (siehe dazu die Replik Direkte Demokratie von Parlaments Gnaden? auf die Kritik von Jean-Daniel Gerber), beginnt sich nun auch die Politik dafür zu interessieren. Der Obwaldner CSP-Nationalrat Karl Vogler hat ein Postulat eingereicht, mit welchem er vom Bundesrat wissen will, wie man dem Problem habhaft werden könnte.

Bevor man allerdings über Lösungen für ein angebliches Problem sprechen kann, wäre es sinnvoll, sich zuerst die Fakten vor Augen zu führen. Vogler argumentiert vor allem mit der hohen Zahl von Initiativen, die in nächster Zeit zur Abstimmung stehen, die im Parlament diskutiert werden, die beim Bundesrat hängig sind oder für die Unterschriften gesammelt werden. Insgesamt sind es 34 Volksbegehren.

Diese Zahl ist in der Tat beachtlich. Sie wird allerdings durch den historischen Vergleich deutlich relativiert, wie eine Auswertung sämtlicher seit 1979 lancierter Volksinitiativen zeigt.[1]

Lancierte eidg. Volksinitiativen pro Jahr (1979 – 2013)

 

Zwischen 1979 und 2013 wurden demnach nicht weniger als 285 Initiativen lanciert. Über die meisten davon stimmte das Volk jedoch nie ab: Ziemlich genau ein Drittel (34.5 Prozent) aller zwischen 1979 und 2009[2] lancierten Initiativen scheiterte bereits in der Sammelphase. Und von jenen, die diese Hürde bewältigten, wurden noch einmal 31.1 Prozent zurückgezogen.[3] Somit verbleiben lediglich 45.6 Prozent der Begehren, die später effektiv vors Volk gelangten. Die verbleibenden 5.3 Prozent der lancierten Initiativen wurden zwar ebenfalls zurückgezogen, gelangten indes in der Gestalt eines direkten Gegenentwurfs an die Urne.

Im Zusammenhang mit der  allgemein beklagten «Initiativenflut» ist noch etwas anderes interessant: Die Zahl der Initiativen, über die abgestimmt wurde ist zwischen 1979 und 2009 praktisch nicht angestiegen, wie die Grafiken zeigen. Die Gesamtzahl der lancierten Begehren ist zwar 2010 und 2011 durchaus stark angestiegen. Im Wahljahr 2011 gab es gar einen neuen Rekord von 23 lancierten Initiativen. Es gab aber zugleich einen Rekord an nicht zustande gekommenen Initiativen, nämlich deren 11. Und von den weiteren 10 Begehren aus jenem Jahr, die derzeit noch hängig sind, dürfte erfahrungsgemäss wiederum ein guter Teil zurückgezogen werden.

lancierte und abgestimmte VI pro jahr

 

Weil die Medien jedoch über jede lancierte Initiative ausführlich berichten, könnte dies den Eindruck einer «Initiativenflut» gefördert haben – obwohl wir unter dem Strich nicht über mehr Initiativen abstimmen. Seit 2012 nahm der Schwall an lancierten Initiativen bereits wieder merklich ab, 2013 werden es noch deren 9 sein – das entspricht dem langjährigen Durchschnitt.

Wer sich über die angebliche «Initiativenflut» beklagt und mit der Zahl der in der Pipeline stehenden Begehren argumentiert, hat den entscheidenden Punkt verpasst. Von den 34 Volksinitiativen, die momentan in der Pipeline warten, werden längst nicht alle vors Volk kommen. Für politische Propaganda eignet sich die Zahl natürlich trotzdem.

 

Rohdaten zum Download


[1] Grundlage sind die Daten von Swissvotes, manuell ergänzt mit neueren Daten des Bundes. Vor dem 1. Juli 1978 wurden Volksinitiativen nicht systematisch dokumentiert, wie die Bundeskanzlei auf Anfrage schreibt: «Die Volksinitiativen konnten nur seit dem Inkrafttreten des Bundesgesetzes über die politischen Rechte am 1. Juli 1978 (dieses Gesetz führte damals die 18-Monate-Frist ein) systematisch dokumentiert werden. Vorher war die Bundeskanzlei über die Lancierung einer Volksinitiative nicht informiert.» Siehe auch Corina Casanova (2011): Wenn das Volk die Initiative ergreift, in: Kurze Geschichten zur Demokratie: «Die genaue Zahl der gestarteten Initiativen lässt sich nicht mehr eruieren. Denn vor 1978 war es nicht zwingend nötig, eine Initiative bei der Bundeskanzlei zur Vorprüfung anzumelden.»

[2] Der Zeitraum seit 2010 wurde nicht mit einbezogen, weil die noch hängigen Initiativen aus den letzten vier Jahren das Ergebnis verfälschen würden.

[3] Dabei werden hier auch zwei Begehren dazugezählt, welche für ungültig erklärt wurden.

«Es wird vermehrt versucht, radikale Anliegen mit Volksinitiativen zu verwirklichen»

Andrea Töndury.

Andrea Töndury.

Nach dem Ja das Berner Stimmvolks zur Einbürgerungsinitiative müssen National- und Ständerat grünes Licht geben. Der Staatsrechtler Andrea Töndury glaubt, dass die Initiative mit der Bundesverfassung vereinbar ist. Er stellt aber eine Häufung von Konflikten zwischen kantonalem und Bundesrecht fest.

Publiziert im «Bund» vom 11. Dezember 2013.

Die Berner Stimmbürger haben am 24. November die Einbürgerungsinitiative der Jungen SVP angenommen. Wieso muss sich nun auch noch das Bundesparlament damit beschäftigen?

Keine Kantonsverfassung darf zum Bundesrecht in Widerspruch stehen. Die Bundesverfassung schreibt deshalb vor, dass National- und Ständerat jede Verfassungsänderung auf kantonaler Ebene gewährleisten müssen. Das Ziel ist, dass wir in der Schweiz einen einheitlichen Rechtsraum haben.

Welcher Teil der Initiative könnte denn nicht bundesrechtskonform sein?

Ein konkretes Problem könnte die Bestimmung sein, dass nicht eingebürgert wird, wer Sozialhilfe bezieht. Wenn man das streng wörtlich auslegt, könnte beispielsweise einer behinderten Person, die auf Sozialhilfe angewiesen ist, die Einbürgerung verweigert werden. Das würde im Widerspruch stehen zum Diskriminierungsverbot in der Bundesverfassung.

Heisst das, das Parlament müsste die Gewährleistung verweigern?

Nein, ich glaube nicht, dass das nötig ist. Die eidgenössischen Räte versuchen beim Gewährleistungsverfahren immer, eine bundesrechtskonforme Auslegung zu finden. Wichtig ist, dass die Einzelfallgerechtigkeit berücksichtigt wird. Man darf zwar strenge Einbürgerungsvoraussetzungen verankern, auch in einer Kantonsverfassung. Diese Voraussetzungen müssen aber fair sein, sie müssen erreichbar sein – auch für Behinderte oder Personen, die unverschuldet in eine Notlage geraten sind. Nach meiner Meinung ist es möglich, den neuen Artikel so zu verstehen. Teilt das Parlament diese Einschätzung, muss es die Verfassungsänderung gewährleisten.

Wieso braucht es den Segen des Parlaments überhaupt? Es ist doch stossend, wenn man als Initianten 15’000 Unterschriften sammelt, eine Mehrheit der Bevölkerung überzeugt, und am Ende von Bundesbern zurückgepfiffen wird.

Es ist ja nicht so, dass die Initianten aus allen Wolken fallen würden. Volksinitiativen laufen in den Kantonen verschiedene Prüfungsverfahren durch. Im Fall der Einbürgerungsinitiative machte der Regierungsrat bereits vor der Abstimmung deutlich, dass einige der Bestimmungen der Initiative ein Problem darstellen könnten. Man kann sich also nicht auf den Standpunkt stellen, dass eine Nicht-Gewährleistung eine Überraschung wäre.

Bei anderen kantonalen Initiativen stellt sich ebenfalls die Frage der Vereinbarkeit mit der Bundesverfassung. Erst im September haben die Tessiner Stimmberechtigten ein Burka-Verbot in die Verfassung geschrieben.

In diesem Fall sehe ich grosse Probleme für die Gewährleistung. Genaugenommen handelt es sich nicht um ein Burka-Verbot. Die Initianten wollten das neutral formulieren und forderten deshalb ein allgemeines Vermummungsverbot in der Öffentlichkeit. Das führt zu einem Dilemma: Entweder man legt die Initiative wörtlich aus, dann darf sich gar niemand mehr verhüllen, nicht einmal als Samichlaus – das wäre ein unverhältnismässiger Eingriff in die persönliche Freiheit. Oder man wendet das Verbot nur auf Burka-Trägerinnen an – das wäre eine Einschränkung der religiösen Freiheit. Ich glaube nicht, dass sich dieser Teil der Initiative bundesrechtskonform umsetzen lässt.

Vor wenigen Monaten hatte der Nationalrat einem Artikel in der neuen Schwyzer Verfassung die Gewährleistung verweigert. Das Problem war dort das Wahlsystem, das kleine Parteien zu stark benachteiligte. Täuscht der Eindruck oder häufen sich die Konflikte zwischen kantonalem Recht und Bundesrecht?

Nach der Gründung des Bundesstaats 1848 gab es regelmässig Nicht-Gewährleistungen. Damals war das ein Instrument, um die bundesstaatliche Einheit sicherzustellen. Seit dem Ersten Weltkrieg ist es aber nur selten vorgekommen, dass eine kantonale Verfassungsbestimmung nicht gewährleistet wurde. Die Häufung in jüngster Zeit ist neu.

Wie erklären sie sich diese Entwicklung?

Die Entwicklung scheint mir die gleiche wie auf Bundesebene. Es wird vermehrt versucht, radikale Anliegen über das Mittel der Volksinitiative zu verwirklichen. Im Vergleich zu früher haben solche Volksinitiativen vermehrt auch Erfolg.

Nehmen die Initianten bewusst in Kauf, dass ihre Initiative allenfalls nicht so gewährleistet werden kann?

Möglicherweise ja. Ich kann mir auch vorstellen, dass einige Initianten hoffen, politisch Kapital daraus zu schlagen, dass sie vom «Vogt in Bern» daran gehindert wurden, ihr Anliegen zu verwirklichen.

Sind bei Gewährleistungen einzig juristische Fragen entscheidend oder spielen auch politische Überlegungen eine Rolle?

Grundsätzlich handelt es sich um ein rechtliches Verfahren. Aber wenn ein Parlament entscheidet, ist klar, dass politische Erwägungen hineinspielen. Ein gutes Beispiel ist der Wiedervereinigungsartikel in der Verfassung des neuen Kantons Jura. Darin formulierten die Jurassier das Ziel, sich mit dem Berner Jura zusammenzuschliessen. Rein juristisch betrachtet war daran nichts zu beanstanden. Aber angesichts der Spannungen, die damals herrschten, wäre es falsch gewesen, die Frage nur aus der juristischen Perspektive zu betrachten. Man musste auch die politischen Auswirkungen berücksichtigen. Genau das tat das Parlament und gewährleistete den Wiedervereinigungsartikel nicht.

Werden politische Erwägungen auch bei der Gewährleistung der Einbürgerungsinitiative eine Rolle spielen?

Die politische Komponente wird sicherlich einfliessen. Ich denke aber, dass die Initiative gute Chancen hat, gewährleistet zu werden. Es ist auch denkbar, dass das Parlament einen Vorbehalt anbringt, dass die Initiative bundesrechtskonform umgesetzt werden muss. Dieser hätte rechtlich keine direkte Bedeutung, sondern wäre ein politischer «Wink mit dem Zaunpfahl».

Willkürlich gekappte Sammelfristen

Nach diversen knappen oder gar gescheiterten Unterschriftensammlungen im letzten Jahr, hat nun der Bundesrat seine Gesetzesrevision über die politischen Rechte vorgelegt. Leider ohne das virulente Problem «Bescheinigung der Unterschriften» beheben zu wollen.

Gewerbeverband-Direktor Hans-Ulrich Bigler: «Es ist inakzeptabel, dass diverse Gemeinden ihrer staatspolitisch verankerten Pflicht mangelhaft nachgekommen sind.» (Gewerbezeitung, 12.10.2012)

Sie stiessen unisono ins gleiche Horn: Der Gewerbeverband und die JUSO, die AUNS und «Netzwerk Impfentscheid». Nationalrat Andi Gross ortete «eine grosse Schwäche in unserer gegenwärtigen Organisationsform des Gesetzesreferendums» und Christophe Darbellay bangte um das Zustandekommen seiner CVP-Volksinitiativen: «In einzelnen Gemeinden warten Hunderte von Unterschriften seit Wochen auf dem Abstellgleis.» Und der ehemalige Vizekanzler Oswald Sigg wetterte gar von «Schlamperei», ja «fahrlässigem Betrug».

Vor Jahresfrist bemängelte eine breite Koalition von diversen Referendums- und Initiativkomitees, ihre Unterschriften lägen zur Bescheinigung zu lange auf den Gemeindekanzleien. Deshalb seien einige Volksbegehren – wie jene gegen die Abgeltungssteuerabkommen – nicht zustande gekommen, obschon eigentlich genügend Unterschriften gesammelt worden seien. Die AUNS veröffentlichte darauf eine Liste mit Hunderten von säumigen Gemeinden und rekurrierte vor Bundesgericht.

«Verschärfung durch die Hintertüre»

Die Staatspolitische Kommission des Nationalrats nahm den Ball der Empörung flugs auf und deponierte eine Motion, welche den Gemeinden eine fixe Frist zur Bescheinigung und Rücksendung der Unterschriften auferlegen wollte. Da sich der Bundesrat sowieso gerade über eine Minirevision des Bundesgesetzes über die politischen Rechte beugte, nahm er das Ansinnen dankend auf. Seine Verbesserungsvorschläge gingen im Frühling in die Vernehmlassung.

Soeben wurden die Reaktionen ausgewertet und diese fielen, wenig erstaunlich, vernichtend aus. Denn der Bundesrat hat tatsächlich ein höchst untaugliches, starres Konzept vorgelegt, welches die Volksrechte unnötig beschnitten hätte; die «NZZ» sprach von «Verschärfung durch die Hintertüre». Nun krebst die Regierung zurück, belässt jedoch das Problem leicht beleidigt einfach ungelöst. Dies, obschon es durchaus praktikable Bescheinigungsverfahren gäbe, die sich in den Kantonen bewährt haben (siehe Die 25 kantonalen Verfahren zur Bescheinigung von Unterschriften).

Verfassungswidrige Fristenregelung

Heikel ist die bundesrätliche Passivität aber auch deshalb, weil bereits die Verfassungsmässigkeit des aktuellen Verfahrens in Frage gestellt ist. Art. 136 Abs. 2 der Bundesverfassung postuliert sowohl das Ergreifen wie auch das Unterstützen der Instrumente Volksinitiative und Referendum. Dabei soll für die effektive Willenskundgebung von Stimmberechtigten als relevanter Akt zur Unterstützung ihr Unterzeichnen im eigentlichen und engsten Sinne die einzige Qualifikation darstellen:

Art. 136     Politische Rechte
[…]
2 Sie [die Stimmberechtigten] können […] Volksinitiativen und Referenden in Bundesangelegenheiten ergreifen und unterzeichnen.

Wenn also ein Stimmberechtigter seine Unterstützung durch seine Unterschrift erklärt, so muss dies genügen, sofern er eindeutig identifizierbar ist und die Willensäusserung innerhalb der bekannten Sammelfrist erfolgt:

Art. 139     Volksinitiative auf Teilrevision der Bundesverfassung
1 100’000 Stimmberechtigte können innert 18 Monaten seit der amtlichen Veröffentlichung ihrer Initiative eine Teilrevision der Bundesverfassung verlangen. […]

Art. 141     Fakultatives Referendum
1 Verlangen es 50’000 Stimmberechtigte […] innerhalb von 100 Tagen seit der amtlichen Veröffentlichung des Erlasses, so werden dem Volk zur Abstimmung vorgelegt: […]

Das Verlangen der Volksabstimmung kann dabei offensichtlich «innert» beziehungsweise «innerhalb» jenes Zeitraums artikuliert werden. Es ist nicht nachvollziehbar, wieso die (gerade beim Referendum) auf den Tag genau definierte, verfassungsmässige Frist durch zusätzliche prozedurale Vorgaben im Gesetz de facto um mehrere Tage bis Wochen verkürzt werden darf. Selbstverständlich darf an die rechtzeitig, also innerhalb der kompletten Sammelfrist getätigte Unterschrift durchaus zusätzlich – jedoch unabhängig von jener Frist! – ein weiteres Erfordernis gestellt werden. So eben zum Beispiel eine Bescheinigung, dass die Unterschrift von einer stimmberechtigten Person rührt, ergo gültig ist. Doch das heutige Verfahren vereitelt es Unterzeichnungswilligen, ihre Kundgebung auch tatsächlich innerhalb der kompletten Frist abzugeben.

Gemeinden als Zünglein an der Waage

Es gilt zu unterstreichen, dass die relevanten Akteure (im Falle des Referendums) die 50’000 Stimmberechtigten sind. Diese müssen entscheidend sein, um innerhalb der 100 Tage ein Verlangen zum Ausdruck bringen zu können. Nicht jedoch sollten die Gemeindekanzleien massgeblich dafür sein, ob ein Volksbegehren zustande kommt oder nicht. Doch in der Praxis kann einzelnen Gemeindeschreibern diese Rolle durchaus zuteil kommen. So kritisierte Daniel Trappitsch (Referendum Tierseuchengesetz) zu Recht: «Die Gemeinden dürfen bei der Frage des Zustandekommens von Initiativen und Referenden nicht das Zünglein an der Waage spielen.»

Schliesslich lässt sich auch das gewährleistete Stimm- und Wahlrecht heranziehen: Gemäss konstanter und langjähriger Rechtsprechung des Bundesgerichts garantiert dieses, «dass kein Abstimmungs- oder Wahlergebnis anerkannt wird, das nicht den freien Willen der Stimmbürger zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck bringt.» Nun betrifft diese Grundrechtsgarantie zwar primär das Ergebnis einer Volksabstimmung. Diese Bedingungen sollen jedoch für das vorgelagerte Verfahren analog gelten, welches direkt oder mittelbar vor jener (etwaigen) Volksabstimmung liegt. Das Prozedere zur Bescheinigung muss also ebenfalls dem Willen der unterzeichnenden Stimmbürger unverfälscht Beachtung zollen.

Unterschreiben um «fünf vor zwölf» ermöglichen

Das Rechtsgleichheitsgebot unterstützt diese Garantie, indem allen Unterzeichnenden die gleiche Auswirkung ihrer Partizipation zugestanden werden soll. Wenn die eine Person am ersten Tag der Referendumsfrist unterschreibt und die andere am letzten, so haben beide ihre politischen Rechte gemäss Verfassung ausgeübt. Doch dank dem geltenden Verfahren wird die Unterschrift des ersten Unterzeichnenden zählen, jene der zweiten Person hingegen kaum. Es ist stossend, dass die in der Demokratie so wichtige Erfolgswertgleichheit hier nicht erfüllt ist. Wer am Abstimmungssonntag um «fünf vor zwölf» noch wählen geht, kann dies tun – seine Stimme zählt. Gleiches sollte für das Referendumsrecht gelten.

Der Begleitbericht zur Vernehmlassung behauptete: «Das Gesetz erlaubt ihr [der Bundeskanzlei] nicht, diese [nach Ablauf der Frist eingereichten] Unterschriften für gültig zu erachten, denn dies liefe auf eine Verlängerung der verfassungsmässigen Referendumsfrist hinaus.» Dem ist freilich nicht so, denn es müssten ja nur jene Unterschriftenlisten berücksichtigt werden, welche noch rechtzeitig innerhalb der Sammelfrist bei den zuständigen Gemeinden eingetroffen sind. Dabei ergäbe sich keine Fristverlängerung.

Das verfassungsmässig geschützte Unterzeichnen einerseits und das durchaus legitime, ja gar ebenfalls gebotene Verfahren danach (Bescheinigung durch die Gemeinden; Zählen durch die Bundeskanzlei) haben, was die temporalen Hürden angeht, nichts miteinander zu tun. Schliesslich kommt auch niemand auf die Idee, dass die Überprüfung und Zählung der Unterschriftenlisten durch die Bundeskanzlei innerhalb der 100 Tage zu erfolgen hat. Gleiches soll daher für die ungleich aufwendigere Bescheinigungs-Übung gelten.

Das geltende Verfahren zur Bescheinigung von Unterschriften für Referenden und Volksinitiativen widerspricht der Verfassung – nur schon aus diesem Aspekt drängt sich eine Revision geradezu auf. Zumal mitunter die Kantone Neuenburg, Bern, Waadt oder Tessin beweisen, dass es verschiedene konfliktfreie Prozedere gibt.