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Amerika hat kein Problem mit brieflichem Wählen – sondern mit Wählen

Donald Trump hat einen Sündenbock für eine allfällige Niederlage im November ausgemacht: die briefliche Stimmabgabe. Doch die Mängel des US-Wahlsystems liegen anderswo.

Louis DeJoy ist nicht zu beneiden. Als Chef der US-amerikanischen Post muss er gewährleisten, dass alle Briefe pünktlich ankommen. Als Intimus von Präsident Donald Trump muss er zugleich erklären, dass ihm das womöglich nicht gelingt. Den lokalen Wahlbehörden teilte er bereits mit, dass Wahlkuverts nicht mehr automatisch prioritär behandelt würden.

Auf Gedränge beim Wählen haben dieses Jahr viele Amerikaner keine Lust. (Foto: Don Shall)

Bei den Wahlen am 3. November werden so viele US-Amerikaner ihre Stimme auf dem Postweg abgeben wie noch nie. 43 Gliedstaaten erlauben die briefliche Stimmabgabe allen Bürgern; in 9 davon werden die Wahlzettel für die briefliche Stimmabgabe automatisch allen (registrierten) Wählern zugesandt, in 34 muss zwar ein formeller Antrag gestellt, aber kein bestimmter Grund angegeben werden. Die restlichen 7 Staaten erlauben die briefliche Stimmabgabe nur unter bestimmten Bedingungen. Angesichts der Covid-19-Pandemie haben mehrere Staaten die Briefwahl erleichtert.

Zugleich ist die Briefwahl aber so umstritten wie noch nie. Trump argumentiert, dass sie Manipulationen Tür und Tor öffne, und prophezeite bereits die «ungenauesten und gefälschtesten Wahlen der Geschichte», sollte die briefliche Stimmabgabe allgemein erlaubt werden. Dass es bei der Briefwahl zu Problemen kommen kann, ist nicht von der Hand zu weisen. So kam es bei den Vorwahlen der Demokraten im Staat New York im Juni zum Chaos, nachdem die Wahlzettel zu spät verschickt worden waren und die Post die aufgegebenen Kuverts nur selektiv mit einem Poststempel versehen hatte. Es dauerte über einen Monat, bis das offizielle Resultat vorlag. Das stimmt wenig zuversichtlich für das ungleich grössere Unterfangen einer nationalen Wahl im November. Die Regeln und die Organisation der Wahlen sind in den USA stark dezentralisiert, und nicht überall dürften die Wahlbehörden der Gliedstaaten und Counties gleich gut vorbereitet sein auf die Masse der Briefstimmen.

Wochenlange Ungewissheit

Das Auszählen der Briefstimmen nimmt erfahrungsgemäss längere Zeit in Anspruch. In 14 Staaten darf damit erst am Wahltag begonnen werden. Mancherorts zählen Briefstimmen auch dann, wenn sie am Wahltag abgeschickt werden und erst Tage später beim Wahlbüro sind. Richard Hasen, Rechtsprofessor an der University of California in Irvine und Autor des Buches «Election Meltdown», befürchtet deshalb ein wochenlanges Ringen um die Auszählung im Nachgang der Wahlen.

Hinzu kommt: In der Vergangenheit wählten vor allem junge, urbane Bürger brieflich – eine Gruppe, die zu den Demokraten tendiert.[1] Bei einem knappen Wahlausgang ist das Szenario denkbar, dass die am Wahlabend ausgezählten Stimmen auf einen Sieg Trumps hindeuten, die in den Folgetagen hinzukommenden aber mehrheitlich an Joe Biden gehen. Vor diesem Hintergrund könnte Trumps Angriff auf die Briefwahl darauf zielen, eine allfällige Aufholjagd seines Kontrahenten als abgekartetes Spiel darzustellen und gegen das Schlussresultat rechtlich vorzugehen – oder gar die Auszählung frühzeitig zu stoppen.

Hohe Akzeptanz in der Schweiz

Vielleicht hilft ein Blick auf die Schweiz, um zu verstehen, warum sich die USA so schwertun mit der brieflichen Stimmabgabe. Hierzulande ist es bei nationalen Abstimmungen und Wahlen seit 1994 voraussetzungslos möglich, seine Stimme auf postalischem Weg abzugeben. Inzwischen ist die briefliche Stimmabgabe zum beliebtesten Stimmkanal geworden. Weit über 80 Prozent der Teilnehmenden bei Wahlen und Abstimmungen geben ihre Stimme brieflich ab.

Allerdings gab es auch in der Schweiz lange Diskussionen über Sinn und Sicherheit der Briefwahl. Nach der Gründung des Bundesstaats 1848 setzte sich zunächst die Wahl an der Urne gegen die Praxis der Wahl- bzw. Abstimmungsversammlungen durch. Nach zwei gescheiterten Versuchen 1936 und 1947 wurde 1967 die briefliche Stimmabgabe erstmals in Ausnahmefällen für Kranke, Gebrechliche und ortsabwesende Personen erlaubt.[2] Mit der Einführung des Bundesgesetzes über die politischen Rechte 1978 genügte für die briefliche Stimmabgabe ein einfacher Antrag, eine Begründung war nicht mehr nötig. Von da war es kein grosser Schritt mehr zur heutigen Regelung. National- und Ständerat machten 1990 mit der Annahme zweier Motionen den Weg dazu frei.

Die briefliche Stimmabgabe geniesst heute eine hohe Akzeptanz – auch wenn immer wieder Fälle von Manipulationen ans Licht kommen. So flog bei den Wahlen 2017 im Wallis ein SVP-Anhänger auf, der über 100 Wahlkuverts aus Briefkästen gefischt und die Zettel selber ausgefüllt hatte. Grössere Manipulationen dieser Art fliegen aber schnell auf. Potenziell grössere Verschiebungen sind durch Unregelmässigkeiten im Stimmbüro möglich, wie es sie bei den Grossratswahlen im Kanton Thurgau gab. Dieses Problem betrifft dann aber nicht primär den brieflichen Stimmkanal.

Eine Schwäche bei der brieflichen Abstimmung ist, dass das Stimmgeheimnis nicht garantiert werden kann. Es besteht die Möglichkeit, dass Bürger ihren Stimmzettel jemandem zeigen, bevor sie ihn abschicken, oder dass er gar von einer anderen Person ausgefüllt wird. Auch dieses Problem ist allerdings nicht auf diesen Stimmkanal beschränkt, denn auch wer an der Urne abstimmt, füllt seinen Stimmzettel in der Regel zu Hause aus. Hier besteht ein wesentlicher Unterschied zu den USA, wo man seine Stimme traditionell in einer Kabine im Wahllokal abgibt.[3]

Drei Millionen illegale Stimmen?

Was die Sicherheit betrifft, gibt es in den USA keine Hinweise auf grossflächige Manipulationen durch die Briefwahl. Eine Datenbank von News21 listet 491 Fälle von Fälschungen zwischen 2000 und 2012 auf, dies bei mehreren Milliarden abgegebenen Stimmen. Dafür, dass drei Millionen briefliche Stimmen illegal abgegeben werden können, wie dies Trump nach den Wahlen 2016 vermutete, gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Tatsächlich dürfte die Zahl der Wahlberechtigten, die an den Hürden zur Stimmabgabe scheitern – insbesondere wenn sie die Dokumente nicht haben, die für den Eintrag ins Wählerregister erforderlich sind –, ungleich höher sein als die Zahl jener, die nur schon versuchen, illegal eine Stimme abzugeben.

Das alles legt nahe, dass der Streit um die Briefwahl in den USA weniger mit der Briefwahl an sich zu tun hat als mit den Wahlen im Allgemeinen. Der Konflikt um den Wahlmodus ist eingebettet in eine grössere Debatte darüber, wer unter welchen Bedingungen wie wählen kann. Keine Demokratie verbringt mehr Zeit mit politischem und juristischem Seilziehen darüber, wie leicht oder schwer der Eintrag ins Wahlregister sein soll, wie die USA. In kaum einem Land betreiben Parteien einen ähnlichen Aufwand, Wahlkreise so zu ziehen, dass das Stimmengewicht der Wähler der jeweils anderen Partei möglichst gering ist. Und kein Land hat eine ähnlich lange und traurige Geschichte von Massnahmen, um Minderheiten von der Ausübung ihrer politischen Rechte abzuhalten. Von teils stümperhafter Organisation, fehlendem Personal, veralteter und unsicherer Infrastruktur ganz zu schweigen.

Ja, die USA steuern auf massive Probleme am 3. November zu. Mit der Briefwahl haben sie aber herzlich wenig zu tun.

 


[1] Unter Pandemie-Bedingungen könnte sich dieses Muster allerdings ändern: Ältere Wähler könnten stärker geneigt sein, den Gang an die Urne zu vermeiden.

[2] Die Informationen dieses Absatzes stammen aus: Andreas Glaser und Clio Zubler (2020): «Briefliche und elektronische Wahl – Problemfelder des Wahlverfahrens in der Schweiz», in: Andreas Glaser und Lorenz Langer (Hrsg.): Das Parlamentswahlrecht als rechtsstaatliche Grundlage der Demokratie, Zürich/St. Gallen, S. 147-174.

[3] Zumindest theoretisch besteht die Möglichkeit auch in einigen Schweizer Kantonen, wobei sie in der Praxis selten genutzt wird.

(S)Wis(s)consin – wo Schweizer Pioniergeist bis heute zu spüren ist

Zwischen den USA und der Schweiz gibt es manche Ähnlichkeiten im Staatsaufbau, etwa den ausgeprägten Föderalismus oder die direkte Demokratie auf Ebene der Gliedstaaten. Ein Augenschein im Parlament von Wisconsin zeigt aber auch einige Besonderheiten – und beständigen Pioniergeist.

Ein Gastbeitrag von Rahel Freiburghaus[*]

Für rund 1600 Dollar erwarben Richter Nicklaus Dürst und Goldschmied Fridolin Streiff am 17. Juli 1845 gut fünf Quadratkilometer Landflächen am «Little Sugar River» in der Gegend um die Grossen Seen im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten.[1] Dabei handelten die beiden Kundschafter im Auftrag der Glarner Kantonsregierung: Ihnen wurde der «ehrenvolle wie schwierige Auftrag zu Theil»[2], einen Ort der Niederlassung für die Hunger leidende, verarmte Glarner Bevölkerung zu suchen. Dürst und Streiff waren in ihrer Wahl keineswegs frei; vielmehr wurden sie von der Kantonsregierung genau instruiert, «in Bezug auf Klima, Boden und allgemeine Beschaffenheit der heimathlichen möglichst ähnlich[e]»[3] Landen auszuwählen. Schliesslich sollten die Auswanderungswilligen in der Neuen Welt so weit wie möglich ihrer angestammten Lebensweise – etwa Korn- und Gemüsebau oder Viehzucht – nachgehen können; die baum- und wiesengesäumte, sanfte Hügellandschaft sollte an die zurückgelassene, ferne Heimat erinnern.

Wisconsin State Capitol, Madison/Wisconsin (Vereinigte Staaten)
Baujahr 1917
Legislatives System bikameral
Sitze 99 (State Assembly) / 33 (Senate)
Wahlsystem First Past the Post in Einerwahlkreisen
Wahlkreise 99 (State Assembly), wobei für die Wahlen in den Senat je drei «Assembly districts» zu einem Senatswahlkreis zusammengefasst werden.
Legislaturperiode 2 Jahre (State Assembly) bzw. 4 Jahre (Senate)
Parteien 2

An der «geweihten» Stätte sollten im besagten Jahr schliesslich rund 150 Glarner die Gemeinde («village») New Glarus gründen. Bis heute besticht die einstige «Swiss Colony» (John Luchsinger, 1879)[4] beziehungsweise die «Schweizer Mustersiedlung in den USA» (Walter Bosshard, 1933)[5] mit gelebter folkloristischer Tradition. Unter dem Motto «America’s Little Switzerland»[6] lassen sich Fahnenschwinget, Alphörner und Chaletarchitektur kommerziell einträglich vermarkten. Aufgrund der starken Immigration aus der Schweiz wird Wisconsin auch «Swissconsin» genannt.

Klingende Schweizer Namen und drei Gewalten unter einer Kuppel

Ein Blick auf die Namen von Unterhausabgeordneten wie Barbara Dittrich (R – Oconomowoc), Greta Neubauer (D – Racine), David Steffen (R – Green Bay), Shannon Zimmerman (R – River Falls) oder auch jenen von J. Annette Ziegler, Richterin am Wisconsin Supreme Court, belegt: Auch gut 170 Jahre nach der Gründung der «Schweizerkolonie» und knapp 150 Jahre nach dem Einzug des ersten «Neuglarner» Repräsentanten[7] gehen im Wisconsin State Capitol in Madison, der Hauptstadt des Bundestaates Wisconsin, Abgeordnete sowie Richterpersonal ein und aus, deren Namen auf eine schweizerische Herkunft schliessen lassen. Architektonisch dem «grossen Bruder» – dem zwischen 1793 und 1823 erbauten Kapitol in Washington, D.C. – nachempfunden, beherbergt das Wisconsin State Capitol unter seiner 87 Meter hohen Kuppel[8] alle drei Gewalten des Bundesstaates.

Aussenansicht des Wisconsin State Capitol aufseiten W Main St & Martin Luther King Jr Blvd. (Foto: Eigene Aufnahme)

 

Die vier Staatsgewalten («Legislation», «Government», «Justice») sowie das Volk als Urheberin aller Staatsgewalt («Liberty») wurden vom amerikanischen Künstler Kenyon Cox (1856–1919) als separate Glasmosaikkacheln mit je rund 100’000 Glasfliesen in den vier Bögen der Rotunde eingelassen. Auf die mosaikgesäumte Rotunde laufen in Madison acht Strassen radial zu.

Im Ostflügel, 1. Stock, liegen die in venezianischem Renaissance-Stil gehaltenen, vom Dogen-Palast in Venedig inspirierten Räumlichkeiten des Gouverneurs, der die Exekutive verkörpert. Aktuell hält der Demokrat Tony Evers den Posten inne; er hat seine erste vierjährige Amtszeit anfangs 2019 angetreten.[9]

Rotunde: Blick auf die Kuppel (oben) und die Glasmosaikkachel «Government», die die ausführende Staatsgewalt repräsentiert. (Foto: Eigene Aufnahme)

 

Die beiden Plenarsäle der bikameralen Legislative befinden sich im West- bzw. Südflügel des 2. Stocks.[10]

Zur Behandlung von jährlich rund 1000 Fällen tritt der Wisconsin Supreme Court – die Judikative des Bundesstaates – im 2. Stock des Ostflügels zusammen. Die sieben Richterinnen und Richter werden in direkter Volkswahl auf eine Amtszeit von 10 Jahren gewählt. Wie in 13 weiteren Staaten geht das Richterpersonal des höchsten Gerichtes des Bundesstaates in nichtparteilichen Wahlen («nonpartisan election») hervor.[11]

Assembly Chamber – der Plenarsaal des 99-köpfigen Unterhauses. (Foto: Legis Wisconsin)

Während in den USA auf nationaler Ebene keine direktdemokratischen Instrumente vorsehen, bestehen in den Bundesstaaten vielfältige Beteiligungsformen. Wie 48 weitere Bundesstaaten sieht auch die Verfassung von Wisconsin die Möglichkeit eines Parlamentsreferendums vor (Dazu kommt das insgesamt in 18 Bundesstaaten bestehende Recht auf «Recall», d.h. auf Abberufung einer gewählten Amtsträgerin beziehungsweise eines gewählten Amtsträgers.[12])

US-amerikanische Normalität…

In vielerlei Hinsicht entspricht die institutionelle Ausgestaltung der Wisconsin State Legislature der US-amerikanischen Normalität. Augenfällig ist das in den Vereinigten Staaten auch auf subnationaler Ebene dominierende Zweikammersystem (zu den Gründen siehe Infobox): Wie 49 der insgesamt 50 Bundesstaaten verfügt auch Wisconsin über ein bikamerales legislatives System.[13] Mit 99 Sitzen liegt die Grösse des Unterhauses – der «Wisconsin State Assembly» – etwas unter dem Durchschnitt von rund 108 «Representatives» pro Bundesstaat. Gleiches gilt für den 33-köpfigen «Wisconsin Senate», dem Oberhaus, das bei durchschnittlich etwa 39 «Senators» pro Bundesstaat ebenfalls eher klein bemessen ist. Auch die jeweiligen Legislaturperioden entsprechen dem gängigen Muster: Die Abgeordneten des Unterhauses sind auf zwei; jene des Oberhauses auf vier Jahre gewählt.[14]

Senate Chamber – der Plenarsaal des 33-köpfigen Senats. (Foto: Legis Wisconsin)

Ebenfalls typisch für die Vereinigten Staaten sind das (perfekte) Zweiparteiensystem sowie die Wahlkreise beziehungsweise das Wahlsystem: Wisconsin miteingeschlossen, kommt in total 40 Bundesstaaten eine einfache Mehrheitswahl zum Tragen («plurality vote»). Jeder Distrikt entsendet genau eine Abgeordnete beziehungsweise einen Abgeordneten – nämlich diejenige Person, die am meisten Stimmen erhält. Dabei dürfen die Wählenden allesamt nur eine Stimme abgeben.[15] Um sich in diesem majoritären Kontext möglichst günstige Ausgangsbedingungen zu verschaffen, liegt – wie in den USA ebenfalls üblich – Wahlkreisgeometrie («gerrymandering» beziehungsweise politisch motiviertes «redistricting») nicht weit. Die Kompetenz, die Wahldistrikte festzulegen, ist in Wisconsin und 36 weiteren Bundesstaaten denn bei der Legislative selbst angesiedelt.[16] Immer wieder führt die so vorgenommene Wahlkreiseinteilung zu Kontroversen, die juristische Streitereien nach sich ziehen.[17]

…und beständiger Pioniergeist

Bikameralismus in den US-Bundesstaaten:
Institutionelle Machtteilung statt blindes Vertrauen in die Weisheit der Einzelnen
Die Gründe für den in den USA auch auf subnationaler Ebene dominierenden Bikameralismus sind sowohl in der geschichtlichen Entwicklung als auch in der staatsphilosophischen Tradition zu suchen. Bereits vor der Verabschiedung der Verfassung der Vereinigten Staaten dominierten in den Dreizehn Kolonien Zweikammersysteme, die dem British Parliament nachempfunden waren. Während das Oberhaus («The Council») die Interessen der Krone bzw. der Besitzenden sichern sollte, waren die einfachen Siedler im Unterhaus («The Assembly») repräsentiert. Nach dem Intermezzo der Konföderationsartikel («Articles of Confederation and Perpetual Union»; 1781–1789»), die für die Dreizehn Kolonien einen unikameralen Kongress vorsahen, setzte sich im Zuge der «Constitutional Convention» (1787) der für die US-Amerikanische Verfassung prägende «checks-and-balances»-Gedanke auch bei der Ausgestaltung der nationalen Legislative durch. Dieser Staatsphilosophie lag ein tiefes Misstrauen gegenüber dem ungebremsten Machtmissbrauch der Abgeordneten zugrunde: «In a single house there is no check but the inadequate one of the virtue and good sense of those who compose it»[20], wurde in den Verhandlungen über die US-Amerikanische Verfassung im Rahmen der «Constitutional Convention» geltend gemacht. Die Ansicht, dass die Macht innerhalb der Legislative institutionell – d.h. durch zwei unabhängige, sich gegenseitig kontrollierende Kammern – und nicht personengebunden – d.h. durch (blindes) Vertrauen in die Fähigkeit beziehungsweise Bereitschaft der einzelnen Abgeordneten, weitsichtige, nicht bloss eigennützige Entscheidungen zu treffen – sollte sich auch in den Bundesstaaten durchsetzen.[21]

Die Legislative von Wisconsin gleicht also in vielen Aspekten jenen anderer US-Gliedstaaten. Allerdings war der «Badger State» («Dachs-Staat»), der auch als «America’s Dairyland» («Amerikas Molkereiland») bekannt ist, in der Geschichte auch wiederholt ein staatspolitischer Vorreiter. Zwei Belange illustrieren den beständigen und im Staatsmotto «Forward» angelegten Pioniergeist Wisconsins.

So führte die Wisconsin State Assembly bereits im Jahre 1917 – als erstes Unterhaus weltweit! – ein elektrisches Abstimmungsgerät ein (auch: Wahlmaschine; «electric voting machine»). Es folgten Texas (1919) und Virginia (1923), womit eine Entwicklung ihren Lauf nahm, die erst 1996 (Wyoming) einen vorläufigen Abschluss finden sollte. 1939 musste das ursprüngliche System Wisconsins durch zwei Stimmtafeln ersetzt werden, ehe ab 1975 schliesslich eine computergestützte Lösung angewandt wurde. Das heutige Auszählungssystem wurde 1999 installiert; es bietet unter anderem in Echtzeit internetbasierten Zugriff auf das Stimmverhalten der Abgeordneten.[18]

Auch bei der Umsetzung des Frauenwahlrechts ging Wisconsin voran. Als erster Bundesstaat stimmte die Wisconsin State Legislature am 10. Juni 1919 dem «19th Amendment» der US-Amerikanischen Verfassung zu (so genannte Ratifizierung). Der besagte Zusatzartikel verbat es der Bundesregierung und den Bundesstaaten der Vereinigten Staaten explizit, US-Bürgerinnen und US-Bürgern das Wahlrecht aufgrund des biologischen Geschlechts («on account of sex») zu versagen. Obwohl die Opposition gegenüber dem Frauenwahlrecht gerade bei den Demokraten in den Südstaaten gross war, folgten in regelmässigen Abstand weitere Bundesstaaten dem wegweisenden Beispiel Wisconsins, so dass das für die Verfassungsänderung damals nötige Quorum von 36 ratifizierenden Bundesstaaten im August 1920 dank Tennessee erreicht wurde. So wurde die Präsidentschaftswahl von 1920 die erste Wahl, bei der Frauen in allen Gliedstaaten teilnahmeberechtigt waren.[19]

Und wer weiss, vielleicht haben diese Innovationen auch etwas mit dem Pioniergeist jener zu tun, welche in (S)Wis(s)consin die ersten schweizerischen Siedlungen in der Neuen Welt gegründet haben.

 

Dieser Gastbeitrag ist Teil der Serie «Parliamenthopping», in der Napoleon’s Nightmare Parlamente rund um die Welt porträtiert.

 


[*] Rahel Freiburghaus arbeitet seit Juni 2018 als Assistentin und Doktorandin am Lehrstuhl für Schweizer Politik von Prof. Adrian Vatter an der Universität Bern. In ihrem Dissertationsvorhaben befasst sie sich mit subnationaler Interessenvertretung in der Schweiz. Zuvor absolvierte sie ihr Masterstudium in Schweizer und vergleichender Politik und arbeitete von September 2014 bis Mai 2018 als Hilfsassistentin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern.

[1] Seit dem 29. Mai 1848 ist Wisconsin als 30. Bundesstaat Teil der Union.

[2] Hense-Jensen, Wilhelm und Ernest Bruncken (1902). Wisconsin’s Deutsch-Amerikaner bis zum Schluss des neunzehnten Jahrhunderts (Bd. 1). Milwaukee, WI: Verlage der Deutschen Gesellschaft. S. 43.

[3] Hense-Jensen/Bruncken, S. 43.

[4] Luchsinger, John (1892). The Planting of the Swiss Colony at New Glarus, WI. Madison, WI: State Historical Society of Wisconsin. Volltext: https://archive.org/details/plantingofswissc00luch/page/n2.

[5] Bosshard, Walter (1933). «New Glarus: die Schweizer Mustersiedlung in den U.S.A». Zürcher Illustrierte 9(26): 820–821.

[6] Die Losung «America’s Little Switzerland» findet sich auf dem offiziellen Tourismusauftritt von New Glarus: https://www.swisstown.com.

[7] Es handelte sich um den im Kanton Glarus geborenen John Luchsinger (1839–1922), der 1872 in die «Wisconsin State Assembly» gewählt wurde (vgl. https://www.swisshistoricalvillage.org/new-glarus-history-timeline).

[8] Inklusive der 4.7m hohen Statue namens «Wisconsin» des US-amerikanischen Bildhauers Daniel Chester French (1850–1931), die auf der Kuppel thront.

[9] Wisconsin Constitution, Article V. Executive.

[10] Wisconsin Constitution, Article IV. Legislative.

[11] Auch die Supreme Courts der Bundesstaaten Arkansas, Georgia, Idaho, Kentucky, Michigan, Minnesota, Mississippi, Montana, Nevada, North Dakota, Ohio, Oregon und Washington werden in «nonpartisan elections» bestellt. Eine Übersichtstabelle findet sich unter: https://ballotpedia.org/State_supreme_courts. Für Details zur Judikative vgl. Wisconsin Constitution, Article VII. Judiciary.

[12] Wisconsin Constitution, Article XII. Amendments (Section 2) bzw. Wisconsin Constitution, Article XIII. Miscellaneous Provisions (Section 12). Für eine Übersichtstabelle über die direktdemokratischen Instrumente in den 50 Bundesstaaten vgl. https://ballotpedia.org/Forms_of_direct_democracy_in_the_American_states.

[13] Einzig Nebraska verfügt über ein unikamerales Parlament (vgl. Nebraska Constitution, Art. III. Legislative authority (Section 1)).

[14] Sämtliche Zahlen zu den Sitzzahlen und den Amtsperioden in den 50 Bundesstaaten wurden der Zusammenstellung der «National Conference of State Legislatures» (NCSL) entnommen: http://www.ncsl.org/research/about-state-legislatures/number-of-legislators-and-length-of-terms.aspx.

[15] Erläuterungen und eine Übersicht über die in den 50 Bundesstaaten bei «state-level elections» zur Anwendung kommenden Wahlsysteme finden sich unter https://ballotpedia.org/Electoral_system.

[16] Wisconsin Constitution, Article IV. Legislative (Section 3).

[17] Für eine aktuelle Zusammenstellung über die hängigen Fälle vgl. https://ballotpedia.org/Redistricting_in_Wisconsin.

[18] NCSL (n.a.). «Roll Call Voting Machines and Practices». http://www.ncsl.org/documents/legismgt/ILP/96Tab5Pt3.pdf.

[19] National Park Service (2019). «Wisconsin and the 19th Amendment». https://www.nps.gov/articles/wisconsin-women-s-history.htm.

[20] Zitiert nach: Barnett, James D. (1915). «The Bicameral System in State Legislation». American Political Science Review 9(3): 449–466 (S. 455).

[21] Barnett (a. a. O.), passim bzw. Moschos, Demitrios M. und David L. Katsky (1965). «Unicameralism and Bicameralism: History and Tradition». Boston University Law Review 45(1): 250–270.

Wie Gerrymandering die Demokratie aushöhlt

Ist das parteipolitisch motivierte Zuschneiden von Wahlkreisen unfair? Ja, aber damit beginnen die Probleme erst.

Gerrymander

Die Einteilung der Wahlkreise kann entscheidenden Einfluss auf das Wahlergebnis haben, wie das Spiel «Gerrymander» anschaulich zeigt. Bild: Good Egg Games

Bei den Parlamentswahlen im US-Bundesstaat Wisconsin 2012 erhielten die Republikaner 48.6 Prozent der Stimmen – das reichte, um 60.6 Prozent der Sitze zu gewinnen. Der Grund für die Diskrepanz heisst Gerrymandering, also die gezielte Einteilung der Wahlkreise zum Vorteil einer bestimmten Partei oder Gruppe.[1]

Gegenwärtig beschäftigt sich der oberste Gerichtshof der USA mit den Wahlkreisen in Wisconsin. Die Beschwerdeführer argumentieren, die parteipolitisch motivierte Einteilung von Wahlkreisen durch die Republikaner stehe im Widerspruch zur Verfassung. Mit dem Urteil wird im Juni gerechnet.

Aufgrund der politischen Ausrichtung der neun Richter (fünf stehen den Republikanern, vier den Demokraten nahe) wird es die Klage nicht leicht haben. Allerdings ist zu bedenken, dass die Republikaner nicht die einzigen sind, die Gerrymandering betreiben (auch wenn sie die Manipulationen seit 2010 mit dem Projekt «Redmap» auf eine neue Spitze getrieben haben). Tatsächlich hat sich der Supreme Court kürzlich einem weiteren Fall von Gerrymandering angenommen, bei dem die Demokraten profitierten.

Die demokratischen Beschwerdeführer aus Wisconsin hoffen darauf, dass einer der konservativen Richter kippen könnte: Beim letzten Urteil zu Gerrymandering urteilte das Gericht mit fünf zu vier Stimmen gegen die Verfassungswidrigkeit der Praxis. Einer der fünf Richter, Anthony Kennedy, schrieb allerdings in einer separaten Stellungnahme, dass es möglich wäre, Gerrymandering als verfassungswidrig zu stoppen – allerdings brauche das Gericht dazu eine objektive Methode, wie die durch die Manipulationen verursachten Verzerrungen gemessen werden könnten.

Die Kläger in Wisconsin glauben, nun ein solches Mass gefunden zu haben: den Efficiency Gap. Der Efficiency Gap misst vereinfacht gesagt, wie viele Stimmen jeder Partei bei einer Wahl «verschwendet» wurden, also nicht zu einem Sitzgewinn beitrugen,[2] und berechnet die Differenz. Der Efficiency Gap für die Parlamentswahlen in Wisconsin 2012 erreichte 13 Prozent, bei den darauffolgenden Wahlen 10 Prozent. Das sind aussergewöhnlich hohe Werte. Sollte der Supreme Court in diesem Fall Gerrymandering nicht rügen, dürfte gegen die Wahlkreismanipulationen bis auf weiteres kein Kraut gewachsen sein.

Weniger Wettbewerb

In der amerikanischen Öffentlichkeit herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass Gerrymandering Wahlresultate verfälscht und daher möglichst vermieden werden sollte. Doch der Schaden, den Gerrymandering verursacht, geht darüber hinaus.

Der «Trick» von erfolgreichem Gerrymandering besteht darin, dass möglichst viele Stimmen der gegnerischen Partei verschwendet werden – dass sich ihre Stimmen also auf möglichst wenige Wahlkreise konzentrieren, wo sie überdeutlich gewinnt, während sie alle anderen Wahlkreise verliert. Deswegen führt Gerrymandering fast zwangsläufig zu weniger demokratischem Wettbewerb. Bei den letzten Wahlen für das Repräsentantenhaus 2016 verloren nur gerade 3 Prozent der Abgeordneten, die zur Wiederwahl antraten, ihren Sitz, und nur 12 der 435 Sitze wechselten die Parteifarbe. Immer mehr Parlamentarier sitzen auf «safe seats» und brauchen nur sicherzustellen, dass sie der eigenen Basis gefallen, ohne Mitte-Wähler überzeugen zu müssen.

Aufgrund dieses Umstands machen einige Experten Gerrymandering mitverantwortlich für die zunehmende Polarisierung der amerikanischen Politik. Weil die Parteien in «ihren» Wahlkreisen weniger Konkurrenz zu befürchten haben, müssen Kandidaten vor allem in der eigenen roten oder blauen Blase ankommen, um im parteiinternen Wettbewerb zu bestehen.

Wie stark dieser Effekt tatsächlich ist, ist umstritten. In einer Untersuchung kamen die Politikwissenschafter Nolan McCarty, Keith T. Poole und Howard Rosenthal zum Schluss, dass Gerrymandering höchstens 10 bis 15 Prozent des Anstiegs der Polarisierung seit 1970 erklären könne. Fest steht aber, dass Gerrymandering keine Hilfe ist, um das Auseinanderdriften der amerikanischen Politik und Gesellschaft zu bremsen.

Unabhängige Kommissionen als Lösung?

Die Gegner von Gerrymandering plädieren dafür, die Einteilung der Wahlkreise aus den Händen der Politiker zu nehmen und unabhängigen Kommissionen zu übertragen. Die Erfahrungen der vier Bundesstaaten, die diesen Schritt bereits getan haben, zeigen, dass das Problem damit tatsächlich eingedämmt werden kann. Allerdings sind auch diese parteiunabhängigen Kommissionen vor politischer Einflussnahme nicht gefeit. Hinzu kommt ein grundsätzlicheres Problem: die Tendenz, dass sich Amerikaner bei der Wahl ihres Wohnorts zunehmend «sortieren», d.h. vermehrt dorthin ziehen, wo Leute mit ähnlichem Hintergrund und ähnlichen Meinungen leben. Unter diesen Umständen Wahlkreise zu ziehen, bei denen der Sieger nicht schon im Vornherein feststeht, ist auch für parteiunabhängige Kommissionen eine Herausforderung.

Um das Problem des Gerrymandering endgültig aus der Welt zu schaffen, würde nur die Abschaffung oder zumindest die Anpassung des Mehrheitswahlsystems helfen, um die Sitze fairer zu verteilen. Daran haben die beiden grossen Parteien indes überhaupt kein Interesse.

 

Weiterführende Links:

  • Das Magazin «FiveThirtyEight» hat dem Phänomen des Gerrymandering eine spannende Podcast-Serie gewidmet.
  • Ein spielerischer Ansatz, um das Problem zu veranschaulichen, ist die App «Gerrymander».
  • John Oliver hat sich dem Thema in «Last Week Tonight» auf seine Art angenommen.

 


[1] Im vorliegenden Beitrag geht es um «partisan gerrymandering». Zuweilen wirken sich Wahlkreisgrenzen aber auch nachteilig auf andere Gruppen aus, etwa Minderheiten. «Racial gerrymandering» wurde vom obersten Gerichtshof der USA bereits als verfassungswidrig bezeichnet.

[2] Als «verschwendet» gelten sowohl Stimmen in Wahlkreisen, in denen eine Partei keinen Sitz holte, als auch jene Stimmen, die in einem Wahlkreis über das hinausgehen, was für einen Sitzgewinn mindestens nötig gewesen wäre (bei zwei Kandidaten 50 Prozent plus eine Stimme). Mehr Informationen zur Methodik finden sich hier.

US-Wahlen: Wie falsch lagen die Umfragen?

Nach dem überraschenden Sieg bei den Präsidentschaftswahlen erhalten Meinungsforscher und Statistiker einmal mehr ein schlechtes Zeugnis ausgestellt. Doch wie sehr täuschten sie sich wirklich?

Hillary Clinton war nicht die einzige Verliererin bei den gestrigen Präsidentschaftswahlen in den USA.[1] Mit dem Sieg von Donald Trump wurden auch die allermeisten Meinungsforscher und Prognostiker auf dem falschen Fuss erwischt. Fast alle nationalen Umfragen sahen die demokratische Kandidatin auf Kurs ins Weisse Haus. Statistiker sahen die Chancen Clintons ausnahmslos bei über 50 Prozent, einige gar bei 99 Prozent.

Die New York Times gab Donald Trump in ihrer Prognose eine 15-Prozent-Chance, die Wahlen zu gewinnen. In der Wahlnacht musste sie diese Schätzung bald revidieren. Bild: New York Times

Die New York Times gab Donald Trump in ihrer Prognose eine 15-Prozent-Chance, die Wahlen zu gewinnen. In der Wahlnacht musste sie diese Schätzung bald revidieren. (Grafik: New York Times)

Nun ist es keine Seltenheit, dass Umfragen und Prognosen über Wahlen und Abstimmungen danebenliegen. Das wissen wir in der Schweiz spätestens seit dem Ja zur Minarett-Initiative. Auch in Grossbritannien holten sich die Prognostiker in jüngster Vergangenheit keine Lorbeeren ab: Das Votum im Juni zum Austritt aus der EU stand im Kontrast zu den letzten Umfragen, welche die Remain-Seite leicht im Vorsprung gesehen hatten. Auch den klaren Sieg der Konservativen bei den Wahlen 2015 hatten die Umfragen nicht vorausgesehen (ebenso das letztlich klare Ja der Schotten zum Verbleib im Vereinigten Königreich 2014).

Allerdings gilt es in Bezug auf die USA zu differenzieren:

– Die nationalen Umfragen lagen nicht so weit daneben. Die letzten Umfragen sahen Clinton im Schnitt 3 bis 4 Prozentpunkte vor Trump. Die Tendenz stimmte hier sogar: Die Demokratin holte über das ganze Land gesehen mehr Stimmen als Trump. Die tatsächliche Differenz war mit 2.1 Prozentpunkten deutlich kleiner als von den Meinungsforschern dargestellt. Der «Fehler» liegt jedoch im Rahmen des langjährigen Durchschnitts der Abweichungen, welcher 2 Prozentpunkte beträgt.

– Allerdings sind bei Präsidentschaftswahlen in den USA nicht die nationalen Stimmenverhältnisse massgebend, sondern die Elektorenstimmen – die Wahlen werden in den einzelnen Bundesstaaten entschieden.[2] Und hier lagen die Umfragen teilweise weit daneben.

Diese Umfragen auf Bundesstaatsebene sind es auch, welche die Statistiker als Vorlagen für ihre Prognosen verwenden.[3] Die Interpretation der Daten ergab dabei beträchtliche Variationen. Nate Silver, der durch seine sehr genaue Voraussage des Wahlergebnisses vor vier Jahren Bekanntheit erlangt hatte, täuschte sich diesmal mit allen anderen. Mit einer errechneten Siegeschance von 71 Prozent lagen er uns sein Team bei Fivethirtyeight am unteren Ende der Optimismusskala in Bezug auf Hillary Clinton. Die New York Times sah die Wahrscheinlichkeit eines Clinton-Sieges bei 85 Prozent, Prognose-Märkte bei 89 Prozent, die Huffington Post und die Princeton University gar bei 98 beziehungsweise 99 Prozent. Tatsächlich musste sich Silver deswegen in den letzten Tagen von verschiedenen Seiten Kritik an seinem Prognose-Modell anhören. Es wurde ihm sogar vorgeworfen, er setze die Chancen Clintons absichtlich zu tief an, um das Rennen als spannend darzustellen und die Besucherzahlen auf seiner Webseite hochzuhalten.

Soziale Erwünschtheit? Online-Umfragen? Schweigende Mehrheit?

Wieso aber lagen die Umfragen falsch? Eine These ist, dass der Anteil der Trump-Wähler in den Umfragen unterschätzt werde, da sich viele von ihnen aufgrund sozialer Erwünschtheit nicht zu ihrer eigentlichen Präferenz bekennen würden. Dagegen spricht, dass die Umfragen bei den republikanischen Vorwahlen die Stimmenanteile von Trump relativ genau trafen, diese oft sogar überschätzten. Auch waren keine signifikanten Unterschiede zwischen Telefon-Umfragen und Internet-Umfragen zu sehen – letztere hätten aber, sollte die These stimmen, mehr Unterstützung für Trump zeigen müssen, denn in Internet-Umfragen haben die Leute in der Regel weniger Hemmungen, ihre wahre Meinung kundzutun.

Trump selber hatte im Wahlkampf verschiedentlich auf die «schweigende Mehrheit» verwiesen, die ihm zum Sieg verhelfen würde, aber in den Umfragen zu wenig berücksichtigt werde. Tatsächlich fand eine Umfrage unter jenen Wahlberechtigten, die sich nicht als «likely voters» bezeichneten, relativ grosse Sympathien für Trump. Natürlich wäre es falsch, in einer Umfrage Wahlberechtigte, die nicht zu Wählen beabsichtigen, für das Ergebnis zu berücksichtigen. Wenn aber Trump diese Wähler doch noch zu mobilisieren vermochte, wäre das eine mögliche Erklärung für die Abweichung von den Umfragen.

Auf jeden Fall ist die Mobilisierung einer der häufigsten Gründe, warum Umfragen vom tatsächlichen Wahlergebnis abweichen. Natürlich kann dieser Effekt in beide Richtungen spielen: Möglicherweise konnte Hillary Clinton trotz gross angelegter Mobilisierungsaktionen ihre Sympathisanten nicht in genügender Zahl an die Urnen bewegen. Nate Cohn von der New York Times räumte während der Wahlnacht ein, dass der Einfluss der Wahlbeteiligung die grosse Schwäche seines Modells sei.

Möglicherweise werden vertiefte Analysen noch andere Einflüsse offenlegen. Klar ist: Die Wahlen in den USA haben einmal mehr gezeigt, dass Umfragen lediglich einen Eindruck der Stärkeverhältnisse geben können und nicht mit dem Endergebnis gleichgesetzt werden sollten. Und dass eine Wahrscheinlichkeit von 70 oder 90 Prozent eben immer noch bedeutet, dass es zu 30 oder 10 Prozent anders herauskommt.

 


[1] Disclaimer: Der Autor hat 10 Euro auf Donald Trump gewettet und könnte daher in seiner Einschätzung beeinflusst sein.

[2] Zuletzt gewann George W. Bush im Jahr 2000 die Präsidentschaftswahlen, ohne die (relative) Mehrheit der Stimmen errungen zu haben. Die Aussicht, dass dies auch Barack Obama gelingen könnte, veranlasste Donald Trump 2012 zu scharfer Kritik am Wahlsystem, das ihm vier Jahre später zum Sieg verhelfen sollte.

[3] Auch die Prognosemärkte werden von den Umfragen beeinflusst – auch sie rechneten nicht mit Donald Trump.

Andreas Gross über die Demokratie in den USA

Eine Woche vor den Präsidentschaftswahlen sprach der alt Nationalrat und Politikwissenschaftler Andreas Gross am Napoleon’s Nightmare Roundtable über das politische System in den USA. Er sagt, die amerikanische Politik sei von Polarisierung und Parteienherrschaft geprägt. Der Wahlkampf habe aber gezeigt, dass der Widerstand gegen dieses System wachse. «Die amerikanische Demokratie ist sehr lebendig.»

Das ganze Gespräch zum Nachhören:

Teil 1

Teil 2

Napoleon’s Nightmare Roundtable am 31. Oktober: «Wie steht es um die Demokratie in den USA?»

Am 31. Oktober – eine Woche vor den US-Präsidentschaftswahlen – findet in Zürich das erste Napoleons’ Nightmare Roundtable statt. Gesprächsgast ist der langjährige SP-Nationalrat und Politikwissenschaftler Andreas Gross. Er spricht über seine Einschätzungen zur historischen Wahl in den Vereinigten Staaten und ihre Bedeutung für die Demokratie.

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Die USA erleben gerade einen der schrillsten und dreckigsten Wahlkämpfe ihrer Geschichte. Der Immobilienmogul und republikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump inszeniert sich als Kämpfer für die kleinen Leute. Ihm gegenüber steht mit der Demokratin Hillary Clinton eine klassische Vertreterin des Establishments. Kaum je waren die Kandidaten für das höchste politische Amt des Landes politisch derart weit voneinander entfernt. Was sagt uns das über den Zustand der US-amerikanischen Politik? Ist die Mediendemokratie endgültig ausser Kontrolle geraten? Oder ist der gegen alle Erwartungen laufende Wahlkampf Ausdruck eines Neuanfangs, einer Rebellion gegen die verkrustete Parteienherrschaft?

2296Andreas Gross, langjähriger SP-Nationalrat und Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, hat während vielen Jahren die Demokratie in verschiedenen Ländern beobachtet und zahlreiche Publikationen verfasst. Auch mit den USA hat er sich intensiv beschäftigt, zuletzt besuchte er das Land während der Vorwahlen und berichtete während sieben Wochen über den Wahlkampf. Im Gespräch schildert er seine Eindrücke und Einschätzungen zu den bevorstehenden Wahlen und zu den Aussichten für die älteste Demokratie der Welt.

Das Gespräch wird moderiert von Lukas Leuzinger, Journalist und Chefredaktor von «Napoleon’s Nightmare».

Jetzt in die Agenda eintragen: 31. Oktober 2016, 19.15 Uhr, Zentrum Karl der Grosse, Zürich.

Einladung zum Herunterladen und Verbreiten

Die Veranstaltung auf Facebook

Ein Hinweis zum Roundtable findet sich auch unter der Rubrik Veranstaltungen.

 

Eine Wahl zwischen zwei bitteren Pillen

Donald Trump und Hillary Clinton sind derart unpopulär, dass viele US-Amerikaner lieber für den Papierkorb stimmen als für einen der beiden. Aufgrund des Wahlsystems müssen die zwei grossen Parteien dennoch nicht um ihre Dominanz fürchten.

Der 8. November naht, und das Rennen um das Präsidentschaftsamt in den USA geht in die heisse Phase. Eine Frage beherrscht das Land: Hillary Clinton oder Donald Trump?

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«Wählt mich!»: Der libertäre Kandidat Gary Johnson wohl dennoch chancenloser Präsidentschaftskandidat. (Foto: Gage Skidmore)

Die Antwort eines beträchtlichen Teils der Amerikaner lautet allerdings: «Am liebsten keiner von beiden.» Sowohl Clinton als auch Trump sind bei den Wählern rekordverdächtig unbeliebt. Nur etwas mehr als 40 Prozent von ihnen sind Clinton positiv gesinnt, bei Trump sind es sogar weniger als ein Drittel. Viele Demokraten und Republikaner geben dem offiziellen Kandidaten ihrer Partei wohl nur die Stimme, weil sie ihn als das kleinere Übel betrachten. Begeisterung löst keiner von beiden aus.

Daher erstaunt es auch kaum, dass abseits des Scheinwerferlichts, welches den giftigen Zweikampf Clinton vs. Trump erleuchtet, andere Kandidaten Aufwind verspüren. Allen voran Gary Johnson, der Kandidat der Libertarian Party. In Meinungsumfragen erhält er derzeit die Stimmen von fast 10 Prozent der Wähler, teilweise sogar noch mehr. Jill Stein von den Grünen kommt derzeit auf 3 bis 4 Prozent. Zum Vergleich: Bei den Präsidentschaftswahlen 2012 holte Johnson als Drittplatzierter weniger als ein Prozent der Stimmen.

Jill Stein bei «Occupy Wall Street» (Foto: Paul Stein)

Jill Stein (Green Party) bei «Occupy Wall Street» (Foto: Paul Stein)

Johnson dürfte viele Stimmen von enttäuschten Republikanern bekommen, denen Trump mit seiner protektionistischen Wirtschaftspolitik zu weit links steht. Stein setzt vor allem auf Anhänger von Bernie Sanders, die sich nicht dazu durchringen können, die Mainstream-Kandidatin Clinton zu unterstützen.

Zwar schneiden Kandidaten von kleineren Parteien und Unabhängige am Wahltag erfahrungsgemäss schlechter ab als in den Umfragen. Trotzdem ist die Unterstützung, die Johnson und Stein erhalten, erstaunlich angesichts der Tatsache, dass ihre Wähler faktisch für den Papierkorb stimmen: Beide Kandidaten sind, sofern nicht noch etwas völlig Unvorhergesehenes passiert, ohne jede Chance. Das First-Past-the-Post-Wahlsystem in den USA macht es extrem unattraktiv, nicht für eine der beiden grossen Parteien zu stimmen. Trotzdem gibt es in der Geschichte eine ganze Reihe von Kandidaten kleinerer Parteien oder Unabhängigen, die überraschend gut abschnitten. Etwa der Bürgerrechts-Gegner George Wallace, der sich von den Demokraten losgesagt hatte und 1968 immerhin fünf Staaten gewann. Oder der Unternehmer Ross Perot, der 1992 fast 20 Prozent der Stimmen (aber keinen Bundesstaat) gewann und mutmasslich Bill Clinton zum Sieg verhalf.

Dass Johnson oder Stein dieses Jahr ähnliches gelingen wird, ist nicht zu erwarten. Die Politikwissenschaftlerin Julia Azari machte in einer Podcast-Sendung dafür auch die gestiegene Polarisierung in der amerikanischen Politik verantwortlich. Faktisch stimmt ein Linker, der Jill Stein seine Stimme gibt, ja nicht einmal für den Papierkorb, sondern – schlimmer! – für Donald Trump, dessen Chancen, gewählt zu werden, mit jeder Stimme steigt, die seine Kontrahentin Clinton nicht erhält. Dass das nicht nur eine theoretische Möglichkeit ist, beweist der Fall von Perot. Oder auch jener der Wahlen im Jahr 2000, als Ralph Nader, der für die Grüne Partei antrat, möglicherweise Al Gore um den Sieg brachte. (In den USA spricht man daher auch vom «Nader effect».) Die Ablehnung von Trump beziehungsweise Clinton dürfte bei den meisten Sympathisanten anderer Kandidaten am Ende doch grösser sein als das Bedürfnis, ihre wahre Präferenz auszudrücken. Die Hoffnung, dass ein faireres Wahlsystem sie bald aus diesem Dilemma befreit, ist gering. Auch wenn der nächste US-Präsident von der Mehrheit seiner Bürger abgelehnt wird.

Können Facebook und Google Wahlen beeinflussen?

Die neuen Medien beeinflussen mittels Algorithmen unser Verhalten. Das hat auch Auswirkungen auf die Politik – auch wenn Monopolkonzerne dies nicht wollen.

Herbst 2016: Die Stimmberechtigten in den USA sind aufgefordert, einen neuen Präsidenten zu wählen. Zur Auswahl stehen Hillary Clinton und Donald Trump. Google-CEO Eric Schmidt verfolgt den Wahlkampf mit besonderem Interesse; er will auf keinen Fall, dass Trump gewinnt. Also setzt er sich an seinen Computer und ändert den Algorithmus seiner Suchmaschine: Fortan finden Wähler, die in heiss umkämpften Staaten leben, wenn sie «Donald Trump» googlen, an oberster Stelle Links auf Artikel über die Lügen des Präsidentschaftsbewerbers oder über seine gescheiterten Geschäftsideen. Suchen sie nach «Hillary Clinton», sehen sie zuerst Artikel über ihre Erfolge als Aussenministerin. Dank des veränderten Codes vermag Clinton in den entscheidenden Staaten einige Stimmen mehr zu holen als Trump und zieht ins Weisse Haus ein.

Google TrumpGeht es nach Robert Epstein, ist ein solches Szenario ganz und gar nicht unrealistisch. Vor vier Jahren führte der Psychologe ein Experiment durch, in welchem er Versuchspersonen anwies, im Internet Informationen über Julia Gillard und Tony Abbott zu suchen, die damals in den australischen Parlamentswahlen gegeneinander antraten. Anschliessend wurden die Teilnehmer gefragt, wem sie ihre Stimme geben würden. Was sie nicht wussten: Die Suchmaschine, die ihnen zur Verfügung gestellt wurde, war manipuliert – ein Drittel der Probanden sah mehr positive Treffer über Gillard, ein Drittel mehr positive über Rudd, ein Drittel erhielt neutrale Ergebnisse. Die Wissenschaftler kamen zum Ergebnis, dass jene, die positivere Resultate für einen der Kandidaten bekamen, eine um 20 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit hatten, diesen Kandidaten zu unterstützen. 2014 wiederholten sie das Experiment mit Wählern in Indien. Das Ergebnis war ähnlich. Epstein kommt zum Schluss: «Google könnte die nächsten Präsidentschaftswahlen beeinflussen oder sogar entscheiden.»

Epsteins alarmistischer Ton lässt vergessen, dass er und sein Team keineswegs bewiesen haben, dass Google Wahlen in irgendeiner Form beeinflusst oder gar bewusst manipuliert. Sie haben lediglich gezeigt, dass Google dies könnte. (Es ist an sich auch nicht erstaunlich, dass Informationen, die Leute erhalten, deren Meinung beeinflussen.) Ob die Firma das tatsächlich tut, ist nicht bekannt, da der Suchalgorithmus geheim ist.

Unschön, aber legal

Eindeutig erwiesen ist der Einfluss auf Wahlen dagegen bei Facebook. In der Vergangenheit hat das soziale Netzwerk bei Urnengängen in verschiedenen Ländern einen Button aufgeschaltet, der die Leute auf das Ereignis aufmerksam machte. Eine wissenschaftliche Untersuchung bei den Kongresswahlen 2010 ergab, dass die Beteiligung unter jenen Wählern, die einen solchen Hinweis auf ihrem Facebook-Profil sahen, 0.39 Prozent höher lag als unter jenen, die nichts angezeigt bekamen. Der Effekt scheint nicht besonders gross, insgesamt gingen dadurch aber 340’000 zusätzliche Stimmen ein (vor allem, weil die User ihre Facebook-Freunde ebenfalls zum Wählen animierten), wie die Wissenschaftler schreiben.

Dass mehr Leute wählen gehen, wäre an sich kein Problem. Die Frage ist, wer zur Stimmabgabe animiert wird. Heute zeigt Facebook nach eigenen Angaben den Wahl-Button jeweils allen stimmberechtigten Nutzern in einem Land. Wollte Mark Zuckerberg aber einem Kandidaten einen Vorteil verschaffen, könnte er die Anzeige des Buttons auf die Anhänger dieses Politikers beschränken. Der Computerwissenschaftler Jonathan Zittrain nennt diese Möglichkeit «digital gerrymandering». Dieses ist, wie das klassische Gerrymandering, äusserst unschön, aber vollkommen legal.[1]

Die eigene Meinung wird bestätigt

Es braucht aber gar keine manipulativen Firmenchefs, damit Google, Facebook und andere Plattformen eine Wirkung auf die Politik ausüben. Die Algorithmen können das Denken und das Verhalten der Internetnutzer beeinflussen, ohne dass die Unternehmen dies beabsichtigen. So zeigt uns Facebook auf der persönlichen Timeline zuerst Inhalte, die solchen ähneln, die wir früher angeklickt oder geliked haben. Diese «Personalisierung» der Informationen ist – zumindest kurzfristig – im Sinne des Nutzers: Er sieht zuerst die Inhalte, die ihn erfahrungsgemäss am meisten interessieren. Doch ist diese «Filter bubble» langfristig wirklich sinnvoll und der daraus resultierende «Confirmation bias» gesellschaftlich wünschenswert?

Der Internetaktivist Eli Pariser zweifelt daran. Er stellte eines Tages fest, dass er auf seiner Facebook-Timeline fast nur noch Links und Status-Updates von Freunden sah, die wie er liberal gesinnt waren. Inhalte seiner konservativ eingestellten Freunde bekam er dagegen fast nie zu Gesicht. Wieso? Facebook hatte festgestellt, dass er häufiger auf Links seiner liberalen Freunde klickte und ihre Inhalte häufiger likete. Der Algorithmus schloss daraus, dass diese Inhalte für ihn relevanter sind – und zeigte ihm konsequenterweise nur noch Inhalte dieser Freunde.

Dabei wäre es doch besser, man würde auch mit anderen Meinungen konfrontiert werden, fand Pariser. Tatsächlich war es eines der Versprechen des Internets, dass es eine grössere Vielfalt von Meinungen zulässt und es den Leuten ermöglicht, ihren Horizont zu erweitern. Stattdessen, so die Kritik von Pariser, setzen ihnen Facebook und Google nur das vor, was sie schon kennen, und statt anderer Meinungen zu hören, bekommen sie nur ständig die eigene bestätigt. Das schade letztlich der Demokratie, kritisiert Pariser.

Tatsächlich gibt es Beobachter, die den Aufstieg von Donald Trump am äussersten rechten und Bernie Sanders am äussersten linken Rand des politischen Spektrums auf die Wirkung der neuen Medien zurückführen, in denen die Leute mit den immer gleichen Meinungen und Schlagwörtern überflutet werden und wo kaum eine Diskussion zwischen den unterschiedlichen Ansichten stattfindet.

Was kann man gegen dieses Problem tun? Pariser fordert strikte Regeln für Facebook, Google und andere Plattformen, die er «information fidiciaries» nennt. Genauso wie klassische Medien sollen sie sich zu gewissen ethischen Standards verpflichten, um eine unverfälschte Meinungsbildung zu gewährleisten.

Aber vielleicht würde es auch schon reichen, wenn die Algorithmen, die bestimmen, welche Inhalte wir im Internet sehen und welche nicht, transparent wären. Bisher halten Google und Facebook die entsprechenden Codes streng geheim. Wäre es nicht besser, wenn wir Einblick hätten darin – und idealerweise die Algorithmen selbst verändern könnten, wenn wir lieber mehr anderen Meinungen begegnen wollen?[2][3]

 


[1] Selbst wenn Facebook den Button allen Usern zeigt, kann das Wahlergebnis dadurch verzerrt werden. Denn auf Facebook sind hauptsächlich jüngere Leute aktiv. Das Gewicht der anderen, älteren Wähler wird also verringert. Man kann aber einwenden, dass das nur ein ansatzweiser «Ausgleich» dafür ist, dass sich Junge generell weniger beteiligen.

[2] Einige Anbieter ermöglichen dies zumindest ansatzweise schon heute. So wird man von Twitter beispielsweise gefragt, ob man die von Twitter als besonders interessant beurteilten Tweets zuerst sehen möchte oder nicht.

[3] Eine Übersicht über Online-Tools, um Verzerrungen durch «Filter bubbles» zu erkennen und/oder zu reduzieren, gibt es hier.

«Wir sind keine Demokratie!»

Das Wahlsystem für die US-Präsidentschaftswahlen ist fragwürdig genug. Die Vorwahlen setzen aber noch einen obendrauf.

Die Vorwahlen in den USA gehen in die heisse Phase. Am «Super Tuesday» entscheiden Republikaner in 13 und Demokraten in 11 Bundesstaaten darüber, wen sie ins Rennen um die Präsidentschaft schicken wollen. An diesem Tag dürfte auch die Vorentscheidung fallen, ob der Anti-Establishment-Kandidat Donald Trump noch von einem gemässigteren republikanischen Kandidaten eingeholt werden kann oder nicht.

Sollte es Trump tatsächlich schaffen, die republikanischen Vorwahlen zu gewinnen – Wettbüros beziffern die Chancen dafür auf über 70 Prozent –, hätte er dies massgeblich dem seltsamen Wahlsystem zu verdanken, welches in den USA zur Anwendung kommt.

Scharfe Kritik von Donald Trump

Das System der US-Präsidentschaftswahlen ist bereits unfair genug. Erstens wird im so genannten First-Past-The-Post-System gewählt, in welchem der Kandidat mit den meisten Stimmen gewinnt, auch wenn er keine absolute Mehrheit der Stimmenden hinter sich hat (sondern nur eine relative Mehrheit).[1] Zweitens werden die wenigen Vorteile, die dieses System bietet, dadurch vereitelt, da das Verfahren in den einzelnen Staaten separat zur Anwendung kommt. Das führt dazu, dass sogar ein Kandidat gewinnen kann, der nicht einmal eine relative Mehrheit der Stimmenden hinter sich hat – so geschehen bei den Wahlen 2000, als George W. Bush weniger Stimmen holte als sein Kontrahent Al Gore, aber trotzdem ins Weisse Haus einzog. Entscheidend ist die Zahl der Wahlmänner, nicht die landesweite Stimmenzahl.

Bei den letzten Wahlen 2012 wurde dieses System von einem gewissen Donald Trump scharf kritisiert:[2]

Nun könnte ebendieser Donald Trump selbst davon profitieren.

Denn bei den republikanischen Vorwahlen kommt ein ähnliches Wahlsystem[3] zur Anwendung – nur, dass es im Vergleich mit den Präsidentschaftswahlen noch einen zusätzlichen Nachteil aufweist. Denn während am 8. November in allen Bundesstaaten gleichzeitig gewählt wird, finden die Vorwahlen gestaffelt statt. Das hat zur Folge, dass die Parteigänger in den verschiedenen Staaten sehr unterschiedlichen Einfluss darauf haben, wer für ihre Partei zu den Wahlen antritt. Die Stimmen von Demokraten und Republikanern, die in Iowa oder New Hampshire wohnen, haben besonders grosses Gewicht, denn in diesen Staaten fallen die ersten Vorentscheidungen: Wer dort schlecht abschneidet, hat wenig Chancen auf die Nomination, wer gewinnt, erhält mächtig Rückenwind für die weiteren Vorwahlen. Dagegen ist der bevölkerungsreichste Staat Kalifornien in den Vorwahlen nahezu bedeutungslos, denn die Vorwahlen finden dort relativ spät statt. In aller Regel ist das Rennen bereits entschieden, wenn die Kalifornier ihre Stimme abgeben. Doch bereits gegenüber den Wählern in den «Super Tuesday»-Staaten zählt die Stimme eines Wählers in Iowa oder New Hampshire rund fünfmal mehr, wie die Ökonomen Brian Knight und Nathan Schiff schätzen.

Kein Wunder, gibt es unter den Staaten einen regelrechten Wettstreit darüber, wer als erstes wählen darf. Um auf jeden Fall der erste zu sein, hat New Hampshire sogar in einem Gesetz festgeschrieben, dass kein anderer Bundesstaat vor ihm Vorwahlen durchführen darf. Weil der Wettbewerb dazu führte, dass sich die Vorwahlen immer weiter nach vorne verschoben, führten die Parteien schliesslich zeitliche Limiten ein und fingen an, Staaten, die «zu früh» wählten, zu bestrafen, indem diese weniger Delegierte entsenden dürfen.

Kandidaten nehmen sich Stimmen weg

Die gestaffelten Vorwahlen verschärfen auch das Problem des First-Past-The-Post-Systems, dass die Zahl der Kandidaten einen erheblichen Einfluss auf das Ergebnis hat. Donald Trump kam bei den bisherigen Vorwahlen jeweils auf 24 bis 46 Prozent der Stimmen. Das reichte in drei von vier Fällen zum Sieg, weil sich die Kandidaten des Partei-Establishments gegenseitig Stimmen wegnahmen. In der republikanischen Parteizentrale hofft man inständig, dass sich möglichst bald ein Herausforderer von Trump herauskristallisiert (wahrscheinlich wird das Marco Rubio sein) und die anderen Kandidaten sich möglichst bald zurückziehen. Das Problem, dass das Auftauchen zusätzlicher Kandidaten das Ergebnis einer Wahl verzerrt, besteht zwar auch, wenn die Entscheidung an einem einzigen Termin fällt. Immerhin gäbe es dann aber die Möglichkeit, das Problem durch eine leichte Anpassung des Wahlsystems (etwa hin zum so genannten Single-Transferable-Vote-System) zu entschärfen.[4]

Ein weiteres Problem, das sich aus der Verzettelung der Wahltermine ergibt, ist, dass sich damit auch der Wahlkampf in die Länge zieht. Das macht diesen für die Kandidaten zu einer ziemlich teuren Angelegenheit – was aus Sicht der Parteien ungünstig ist, weil sich die eigenen Kandidaten bei den Vorwahlen vor allem gegenseitig zerfleischen und kaum Wähler ausserhalb der Partei überzeugt werden. Aber auch für den neutralen Zuschauer ist die monatelange Wahlschlacht nicht wirklich attraktiv zum Verfolgen.

Natürlich ist Donald Trumps möglicher Sieg bei den Vorwahlen, sollte er denn Tatsache werden, nicht allein dem Wahlsystem geschuldet. Es kommt ihm aber zumindest entgegen, dass sich seine Gegner bislang vor allem gegenseitig Stimmen abnehmen. Aber vielleicht hat Trumps Erfolg ja auch seine guten Seiten. Vielleicht erinnert sich der grossmaulige Milliardär als Präsident dereinst an seine Worte und macht sich daran, das dysfunktionale amerikanische Wahlsystem zu reformieren.

 


[1] Siehe zum Wahlverfahren First-past-the-Post bereits die Beiträge Wieso die Silly Party in Harpenden verlor, Relativ willkürlich, Lotterie um das Präsidentenamt und Majorz: Revival in Schwyz, Katerstimmung in Grossbritannien. Einzig Maine und Nebraska weichen von diesem System ab und verteilen ihre Elektoren etwas proportionaler unter den Kandidaten.

[2] Hintergrund der Kritik war, dass es zeitweise danach aussah, dass Barack Obama weniger Stimmen holen würde als Mitt Romney, aber trotzdem mehr Wahlmänner erhalten würde. Am Ende lag Obama aber auch bei den Stimmen vorne.

[3] Wobei in einigen republikanischen und sämtlichen demokratischen Vorwahlen ein etwas proportionaleres System zur Anwendung kommt.

[4] Früher wurde die Problematik ausserdem dadurch relativiert, dass die Delegiertenstimmen durch die Führungen der lokalen Sektionen bestimmt wurden. Bei der Wahl der Präsidentschaftskandidaten an den Parteikongressen konnten die Delegierten zu einem anderen Kandidaten wechseln und zuweilen wurden Kandidaten auch erst am Kongress selbst aus dem Hut gezaubert. Seither wurde das Auswahlverfahren aber – zu Recht – geöffnet, um solche Manöver in den Hinterzimmern der Parteizentrale zu unterbinden.

Präsident eines gespaltenen Landes

Barack Obama wollte die Polarisierung in der US-amerikanischen Politik überwinden. Am Ende musste er selbst nach deren Regeln spielen.

Am Dienstagabend hat US-Präsident Barack Obama die traditionelle «Rede zur Lage der Nation» vor dem Kongress gehalten. Wie üblich ging er darin auf die Leistungen seiner Administration (Gesundheitsreform, Atomvertrag mit dem Iran, Tötung von Osama Bin Laden etc.) und die Herausforderungen für die Zukunft (technologischer Wandel, Bildung, Terrorismus, Klimawandel etc.) ein.

Gegen Ende der Rede gab er sich jedoch auch selbstkritisch:

«It’s one of the few regrets of my presidency — that the rancor and suspicion between the parties has gotten worse instead of better. I have no doubt a president with the gifts of Lincoln or Roosevelt might have better bridged the divide.»

Die Enttäuschung Obamas war nicht gespielt. Tatsächlich stand am Anfang seiner politischen Karriere in Washington eine vielbeachtete Rede, in welcher er die tiefer werdenden Gräben in den USA beklagte. Am Parteitag der Demokraten im Juli 2004, ging Obama – damals ein weitgehend unbekannter Lokalpolitiker, der für den Senat kandidierte – auf die geläufige Einteilung von Bundesstaaten in (republikanisch dominierte) «red states» und (demokratisch dominierte) «blue states» ein. Er relativierte dieses Schwarz-Weiss-Denken:

«We worship an awesome God in the blue states, and we don’t like federal agents poking around our libraries in the red states. We coach little league in the blue states and, yes, we’ve got some gay friends in the red states. There are patriots who opposed the war in Iraq, and there are patriots who supported the war in Iraq. We are one people, all of us pledging allegiance to the stars and stripes, all of us defending the United States of America.»

Solche Worte waren ungewöhnlich, denn das Land befand sich mitten im Wahlkampf, und die Demokraten strebten gerade danach, Präsident George W. Bush aus dem Amt zu jagen und durch ihren Kandidaten John Kerry zu ersetzen. Und dann kam Obama und rief zum Zusammenhalt über die Parteigrenzen hinweg auf. Doch mit seinen Worten sprach er offenbar vielen Amerikanern aus der Seele, die genug hatten von den immer schrilleren Anfeindungen zwischen Republikanern und Demokraten.

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Obama letztlich gleichermassen Opfer und Profiteur des von ihm kritisierten Schwarz-Weiss-Rasters wurde, nachdem er 2008 zum Präsidenten gewählt wurde.

Unmittelbar nach seiner Wahl trieb er die Umsetzung seines wichtigsten Wahlversprechens, der Gesundheitsreform, voran. Er bezog bewusst republikanische Parlamentarier in die Ausarbeitung einer entsprechenden Gesetzesvorlage mit ein. Trotz seiner Zugeständnisse scheiterten allerdings sämtliche Bemühungen, auch Stimmen von Republikanern für das Projekt zu gewinnen – zu gross war der Druck aus der Partei sowie der Tea-Party-Bewegung, Obama keinesfalls auch nur das kleinste Erfolgserlebnis zuzugestehen. Letztlich hatte Obama nur deshalb Erfolg, weil seine Partei in beiden Parlamentskammern eine Mehrheit hatte und geschlossen genug stimmte, um das neue Gesetz ohne republikanische Unterstützung durchzubringen.

Damit war der Kurs für Obamas Präsidentschaft festgelegt: Fast alle Abstimmungen im Parlament verliefen verlässlich entlang der Parteigrenzen, und auch der Präsident verlegte sich stärker darauf, die eigene Partei zu mobilisieren, indem er seine Gegner kritisierte, anstatt zu versuchen, sie auf seine Seite zu bringen.

Parteien entfernen sich voneinander
Zu Beginn des Wahljahres 2016 ist die Politik in den USA so stark polarisiert wie nie zuvor. Nicht nur überbieten sich die republikanischen Präsidentschaftskandidaten mit immer radikaleren Positionen und wird die Favoritin bei den Demokraten, Hillary Clinton, mit Bernie Sanders von einem Kandidaten bedrängt, der selbst für europäische Verhältnisse weit links steht. Vor allem vertiefen sich die parteipolitischen Gräben in den beiden Parlamentskammern immer weiter (siehe Grafik).[1] Die Verschiebung scheint insbesondere auf Seiten der Republikaner dramatisch. Sie zeigt sich etwa am Beispiel von John McCain, der zu Beginn seiner Amtszeit als Senator dem rechten Flügel seiner Partei angehörte, heute aber links der Mitte steht, obschon sich seine Positionen im Verlauf der Zeit kaum veränderten.Polarisierung_USA

Diese Polarisierung erstaunt auf den ersten Blick, wenn man sich das politische System vor Augen hält. In den USA werden der Präsident und sämtliche Abgeordnete im Mehrheitsverfahren gewählt. In der Theorie führt dieses dazu, dass die Parteien zur Mitte hin tendieren. Denn wer jenen Wähler überzeugen kann, der genau in der Mitte steht – der berühmte «Medianwähler» – der hat die Mehrheit (zumindest in einem Zweiparteiensystem, wie es sich in den USA etabliert hat).

Mobilisierung ist entscheidend

Soweit die Theorie. In der Praxis sieht das ganze etwas anders aus.

Zum einen entscheidet der Medianwähler höchst selten eine Wahl. Denn in der Praxis geht nur ein Teil der Wähler an die Urne. Das bedeutet: Um zu gewinnen, muss man seine Anhänger möglichst zahlreich an die Urne bringen. Dazu eignet sich ein Programm, das jenem des Gegners gleicht wie ein Ei dem andern, nur bedingt.

Zum anderen gebieten die Regeln der Mediendemokratie, dass eine Partei ein klares Profil hat, möglichst geschlossen auftritt und Positionen vertritt, mit denen sie in der Öffentlichkeit gehört wird. Donald Trump macht deutlich, wie das Mediensystem heute (nicht nur in den USA) funktioniert: Mit einer provokativen Aussage, einem provokativen Tweet, einem Werbespot auf einem kleinen Lokalsender zieht er fast die gesamte öffentliche Aufmerksamkeit auf sich.

Schliesslich sorgt ein anderer Aspekt des politischen Systems dafür, dass die Polarisierung zunimmt – zumindest im Repräsentantenhaus. In den meisten Bundesstaaten legt das lokale Parlament die Wahlkreise fest. Wie wir wissen, lassen sich damit die Wahlen so beeinflussen, dass die eine oder andere Partei möglichst hohe Siegeschancen hat.

Gerrymandering hat aber noch einen anderen Effekt: Weil die Parteien in der Regel versuchen, möglichst viele Wähler der anderen Partei in einem Wahlkreis «unterzubringen», werden die Wahlen vielerorts zu unumstrittenen Angelegenheiten. Je weniger sich Kandidaten aber vor Konkurrenz fürchten müssen, desto weniger Anreiz haben sie, eine moderate Politik zu verfolgen, um Wechselwähler zu überzeugen.[2]

Gegen diese Tendenzen der Polarisierung konnte auch Barack Obama wenig ausrichten, wie er in seiner Rede zur Lage der Nation eingestand. Und die Schlussfolgerung zog:

«If we want a better politics, it’s not enough just to change a congressman or change a senator or even change a President. We have to change the system to reflect our better selves. I think we’ve got to end the practice of drawing our congressional districts so that politicians can pick their voters, and not the other way around.»

 


[1] Interessanterweise ist in der amerikanischen Bevölkerung keine, oder zumindest keine so starke Polarisierung zu beobachten wie in der Politik.

[2] In der Wissenschaft ist indes umstritten, wie stark dieser Effekt des Gerrymandering tatsächlich ist.