Monthly Archives: March 2012

Wählerwillen abbilden – aber richtig!

Weil es die SVP versäumte, Listenverbindungen zu schmieden, gingen ihr bei den letzten Nationalratswahlen 8 Sitze durch die Lappen [PDF]. Ein Schelm, wer angesichts dieser Bilanz hinter der Motion von SVP-Nationalrat Sebastian Frehner zur Abschaffung von Listenverbindungen wahltaktische Überlegungen vermutet!

Dabei spricht durchaus vieles für die Idee. Listenverbindungen verfälschen Wahlresultate, sind kompliziert, undurchsichtig, unlogisch und ungerecht. Ihre Abschaffung wäre ein Schritt in die richtige Richtung – aber eben nur ein erster Schritt.

Der Grund für die Existenz von Listenverbindungen liegt im Wahlsystem. Die meisten Wahlkreise bei nationalen Wahlen sind schlicht viel zu klein. Dadurch werden kleine Parteien benachteiligt. In Zug beispielsweise (3 Nationalratssitze) braucht eine Partei theoretisch 25 Prozent Stimmenanteil, um einen Sitz auf sicher zu haben, in Schaffhausen (2 Sitze) gar 33,3 Prozent. Klar, dass eine kleinere Partei niemals einen solchen Anteil erreichen wird. Klar auch, dass viele Wähler die Partei gar nicht erst wählen werden: Sie wollen ihre Stimme schliesslich nicht an eine Partei verschwenden, die ohnehin chancenlos ist.

Listenverbindungen sollen die Nachteile zu kleiner Wahlkreise etwas vermindern. Dank ihnen ist eine Stimme nicht automatisch verloren, wenn eine Partei allein keinen Sitz erreicht – die Stimme geht in diesem Fall an eine grössere Partei in der Listenverbindung.

Die Lösung ist allerdings wenig befriedigend. Sie führt zu teilweise sehr unlogischen Wahlresultaten. Frehner hebt im Tages-Anzeiger vom Dienstag (Artikel nicht online verfügbar) das Beispiel Basel-Stadt hervor: Der CVP-Kandidat Markus Lehmann wurde gewählt, obschon er nicht einmal halb so viele Stimmen holte wie die abgewählte Anita Lachenmeier (Grüne). Möglich machte dies eine breite Listenverbindung von CVP, GLP, BDP und EVP.

Für das Problem der kleinen Wahlkreise gäbe es eine einfache Lösung, die Listenverbindungen überflüssig machen würde: Das System des «Doppelten Pukelsheims». Einfach gesagt würden bei diesem System zunächst die Stimmenanteile aller Parteien über die ganze Schweiz hinweg zusammengezählt und proportional in Sitze umgerechnet. Erst anschliessend würde ermittelt, in welchen Kantonen die Parteien die Sitze erhalten.

Zürich führte dieses System 2006 als erster Kanton ein. Vorausgegangen war eine Rüge des Bundesgerichts: Dieses befand, dass (mit dem bisherigen System) Wahlkreise mit weniger als 10 Sitzen gegen Artikel 34 der Bundesverfassung vertossen, weil sie kleine Parteien zu stark benachteiligen und den Wählerwillen verfälschen. Diesen Grundsatz wiederholte das Bundesgericht danach in weiteren Urteilen, zuletzt anfangs dieser Woche im Bezug auf die Wahlen im Kanton Schwyz. Es empfahl dem Kanton die Einführung des Pukelsheim-Systems.

So kommt das Pukelsheim-System in immer mehr Kantonen zur Anwendung. Doch in kaum einem Kanton führt die Grösse der Wahlkreise zu derart grossen Verzerrungen, wie sie auf nationaler Ebene auftreten: 19 von 26 Wahlkreise haben weniger als 10 Sitze, 6 von ihnen sogar nur einen einzigen. Wäre das Bundesgericht dafür zuständig, müsste es die Nationalratswahlen umgehend als verfassungswidrig bezeichnen. Doch weil die Schweiz keine Verfassungsgerichtsbarkeit kennt, leistet sie sich diesen eklatanten Verstoss gegen das eigene Grundgesetz.

Erschwerend kommt hinzu, dass die einzige Institution, die das Wahlsystem in Einklang mit der Verfassung bringen könnte – das Parlament –, wenig Interesse daran hat. Denn eine Wahlrechtsreform würde die Vorteile, die das gegenwärtige System für die grossen Parteien bringt, aufheben. Gerade diese Parteien stemmen sich deshalb mehrheitlich gegen die Einführung des Pukelsheim-Systems.[1] Der ehemalige SVP-Nationalrat Ulrich Schlüer sieht in dem System gar «ein theoretisches Konstrukt, um die SVP zu schwächen.»

Dabei würden mit dem Pukelsheim-System auch die Listenverbindungen verschwinden, an denen sich die SVP zu Recht stört. Würden – wie von der Motion Frehners gefordert – nur die Listenverbindungen abgeschafft, würde zwar die damit verbundene Verzerrung des Wählerwillens aufgehoben, dafür eine andere umso mehr verstärkt. Wenn die Listenverbindungen schon abgeschafft werden sollen, müsste man auch den zweiten Schritt machen und die Verzerrungen durch die kleinen Wahlkreise aufheben. Als positiver Nebeneffekt würde die Schweiz damit ein Wahlsystem erhalten, das mit ihrer eigenen Verfassung in Einklang steht.


[1] Siehe dazu auch hier.

Weise Worte

Politiker sind die Berufsgruppe, denen die Europäer mit Abstand am wenigsten Vertrauen entgegenbringen. Dies hat eine Umfrage von Reader’s Digest ergeben. Nur gerade 8 Prozent der Befragten gaben an, Politikern zu vertrauen. Kein Vergleich zu den Feuerwehrmännern, die mit 93 Prozent obenaus schwingen.

Angesichts solch miserabler Werte ist es höchste Zeit, sich wieder einmal die unbestreitbaren Vorzüge von Politikern in Erinnerung zu rufen.

Ist Reflexion nur im Dunkeln möglich?

Ein peinlicher Vorfall hat am Donnerstag die Diskussion über das System der Handabstimmung im Ständerat befeuert. Nach der Abstimmung über eine Motion der SVP zur Entwicklungshilfe, die 22 zu 22 ausgegangen und mit dem Stichentscheid des Präsidenten angenommen worden war, stellte man durch Zufall fest, dass das Resultat unmöglich stimmen konnte, weil nur 43 Ratsmitglieder (ohne den Präsidenten) anwesend waren. Die Abstimmung wird nun morgen Montag wiederholt.

Dass der Lapsus nur wegen eines Einwands eines Ratsmitglieds überhaupt bemerkt wurde, lässt vermuten, dass die Dunkelziffer solcher Fehler relativ hoch ist. Dieser Meinung ist auch This Jenny (SVP, GL), der eine Parlamentarische Initiative zur Einrichtung einer elektronischen Abstimmungsanlage eingereicht hat. Angesichts der Tragweite der Entscheide sei die Fehleranfälligkeit der Handabstimmung nicht mehr tragbar, sagte er gegenüber der NZZ (Artikel nicht online verfügbar).

Nicht nur wegen der Häufigkeit von Fehlern stellt sich die Frage, ob die manuelle Auszählung im Ständerat heute noch sinnvoll ist. Im Nationalrat werden die Stimmen seit 1994 elektronisch erfasst. Das hat sich – von seltenen Ausnahmen abgesehen – bewährt. Der Wähler kann so feststellen, welche Politiker in seinem Sinne stimmen, und daraus Rückschlüsse für die nächsten Wahlen ziehen. Im Ständerat ist dies in aller Regel nicht möglich. Was der einzelne Ständerat stimmt, können seine Wähler nirgends überprüfen – es sei denn sie nehmen selbst den Weg nach Bern auf sich und schauen ihm im wahrsten Sinne des Wortes auf die Finger.

Zur Verteidigung dieser Intransparenz pflegen Ständeräte auf die besondere Rolle der kleinen Kammer als «chambre de réflexion» hinzuweisen. Die Handabstimmung diene dazu, die Parlamentarier «dem Druck ihrer Parteien zu entziehen», wie sich Ständeratspräsident Hans Altherr (FDP, AR) ausdrückt.

Diese Argumentation ist befremdlich. Zunächst einmal ist es naiv anzunehmen, dass Ständeräte der Kontrolle durch ihre Parteien vollständig entzogen wären. Ihre Parteikollegen können zwar nicht im Internet nachschauen, wie die Ständeräte abgestimmt haben. Sie können sich aber einfach im Rat umschauen, um zu sehen, ob alle der Parteilinie entsprechend die Hand hochhalten.

Hinzu kommt, dass es viele Ständeräte kein Geheimnis daraus machen, dass sie gelegentlich von der Parteidoktrin abweichen. Parlamentarier wie This Jenny pflegen ihren Ruf als Freigeister sogar aktiv und durchaus medienwirksam. Dass sie diesen Ruf ablegen und zu braven Parteisoldaten werden würden, wenn sie elektronisch abstimmen müssten, ist nicht zu erwarten.

Vor allem aber ist es ein Trugschluss zu glauben, dass der Ständerat seine Rolle als «chambre de réflexion» nur deshalb spielen könne, weil das Abstimmungsverhalten im Dunkeln bleibt. Dass die Ständeräte unabhängiger politisieren als ihre Kollegen im Nationalrat, liegt nicht an der Abstimmungsmethode. Entscheidend ist vielmehr das Wahlsystem: Die Nationalräte werden im Proporzverfahren gewählt. Sie verdanken ihren Sitz zu einem wesentlichen Teil dem Erfolg ihrer Partei – und stimmen deshalb eher im Sinne der Partei- bzw. Fraktionsleitung.

Ständeratswahlen sind dagegen Majorzwahlen. Gewählt werden nicht Parteien, sondern Personen. In der Regel hat jeder Ständerat mindestens die Hälfte der Wähler in seinem Kanton hinter sich. Das macht ihn unabhängiger vom Willen der Parteioberen.

An dieser Situation wird sich auch nichts ändern, wenn die Abstimmungen in der kleinen Kammer transparent sind. Zur Reflexion ist keine Dunkelkammer nötig.

Warum YB auch dieses Jahr nicht Meister wird

Es soll ja Menschen geben, die glauben, dass Fussballmeisterschaften durch individuelle Klasse, Taktik oder Teamgeist entschieden werden. Die Realität sieht natürlich anders aus, wie eine kurze wissenschaftliche Analyse beweist: Entscheidend sind nicht etwa sportliche Faktoren, sondern das politische System. Oder um es mit den Worten Bill Clintons zu sagen: It’s the polity, stupid![1]

Wenn man historische Resultate von Fussballmeisterschaften betrachtet, fällt auf, dass in manchen Ländern fast ausschliesslich Vereine aus der Hauptstadt gewinnen. In anderen leiden die Clubs aus dem politischen Zentrum dagegen an chronischer Erfolglosigkeit. Eine mögliche Erklärung ist, dass die politischen Systeme in den verschiedenen Staaten dem Zentrum unterschiedlich grosse Macht einräumen. In föderalistischen Staaten geniessen die unteren staatlichen Ebenen eine relativ grosse Autonomie. In zentralistischen Staaten konzentriert sich die politische Macht dagegen stärker auf das Zentrum. Dieses nimmt dadurch meist auch wirtschaftlich und kulturell eine dominierende Rolle ein.

Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Verein aus der Hauptstadt die Meisterschaft gewinnt

Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Verein aus der Hauptstadt die Meisterschaft gewinnt, für föderalistische und nicht-föderalistische Länder (Zum Vergrössern auf die Grafik klicken).

Überträgt sich diese Dominanz auch auf den Sport? Haben Fussballvereine aus der Hauptstadt in zentralistischen Staaten bessere Chancen auf die Meisterschaft als in föderalistischen?

Betrachten wir die europäischen Ligen, fällt die Antwort eindeutig aus: Zwischen 1994 und 2010 gewannen die Hauptstadtclubs in föderalistischen Staaten weniger als jede zehnte Meisterschaft. Ganz anders in zentralistischen Staaten: Dort stammte der Sieger in über 40 Prozent der Fälle aus der Hauptstadt.[2] Und dabei wurden Länder wie Serbien oder Kroatien, wo der Anteil noch höher liegt, wegen fehlenden Daten nicht einmal mitgezählt.

Auf der Ebene der einzelnen Staaten bestätigt sich das Ergebnis: In drei Ländern konnte die Hauptstadt im Untersuchungszeitraum keine einzige Meisterschaft feiern: Deutschland, Belgien und die Schweiz – alles föderalistische Staaten. Am anderen Ende der Skala steht das zentralistische Estland, wo in jeder der 17 untersuchten Saisons ein Verein aus Tallinn gewann.

Anhänger von YB und Hertha sind also gut beraten, bei der nächsten verpassten Meisterschaft ihre Mannschaft nicht gleich zur Hölle zu wünschen – sie kann schliesslich nichts für das politische System, durch das sie systematisch benachteiligt wird.

Anzahl Meisterschaften von Vereinen aus der Hauptstadt zwischen 1994 und 2010 in 29 Staaten (rot: föderalistisch; blau: nicht föderalistisch).


[1] Dass Politik und Fussball eng zusammenhängen, ist keine neue Erkenntnis. So wissen wir beispielsweise bereits, dass sozialdemokratisch regierte Länder bei Weltmeisterschaften die besten Chancen haben und dass eine Revolution in einem Land einen positiven Einflluss auf die Leistung der Fussballnationalmannschaft hat.

[2] Untersucht wurden 29 europäische Staaten im Zeitraum zwischen 1994 und 2010. Einige Staaten konnten nicht einbezogen werden, entweder weil nicht für den ganzen Zeitraum Daten verfügbar waren oder weil die Liga nicht mit den Staatsgrenzen übereinstimmt (Grossbritannien). Die Daten zum politischen System stammen vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern. Die Listen der Meisterschaftsgewinner stammen von der RSSSF. Vereine aus Vororten der Hauptstadt (z.B. Olympiakos, Anderlecht oder Brøndby IF) wurden nicht der Hauptstadt zugerechnet Die ganze Datentabelle zum Nachrechnen findet sich hier.