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So einfach und elegant lässt sich das Ständemehr fairer machen

Nach der Konzernverantwortungsinitiative steht das doppelte Mehr erneut in der Kritik. Zum Schutz von Minderheiten bleibt es wichtig, doch die Berechnung sollte geändert werden.

Publiziert in der «NZZ am Sonntag» vom 3. Januar 2021.

Die Konzernverantwortungsinitiative ist Ende November am Ständemehr gescheitert. Seit der Abstimmung werden wieder Stimmen laut, die dieses Institut reformieren oder gar abschaffen wollen. In einem Bundesstaat ist nebst dem Volksmehr ein zusätzliches leichtes Erschwernis für Verfassungsänderungen aber weiterhin opportun und gehört keinesfalls auf den «Müllhaufen der Geschichte». Doch auch die seit vielen Jahren von Politikerinnen und Politologen aufgeworfenen Vorschläge zur Anpassung des doppelten Mehrs überzeugen nicht: Einerseits laufen die Ideen letztlich darauf hinaus, dieses Mehrheitserfordernis mehr oder weniger stark abzuschwächen. Andererseits würde dieses Update des Föderalismus zwangsläufig an ebendiesem scheitern: Die kleineren Kantone werden kaum Hand bieten, sich selbst zu entmachten, bedarf die nötige Anpassung doch einer Verfassungsänderung – und damit des geltenden Ständemehrs.

Hundwil AI: Profiteur des Ständemehrs. (Foto: Falk Lademann)

Doch warum soll eigentlich den Kantonen eine binäre Standesstimme zugeschrieben werden, also der Wert 1 den zustimmenden Ständen und der Wert 0 den ablehnenden? Es wäre zweckdienlicher, die Standesstimme jedes Kantons proportional zu seinen Ja- und Nein-Stimmen aufzuteilen: Nimmt also zum Beispiel der Kanton Jura eine Verfassungsnovelle mit 70 Prozent Ja-Stimmen an, so wird ihm eine Standesstimme von 0,7 zugeschrieben. Der Kanton Schwyz hingegen, der mit 80 Prozent Nein-Anteil ablehnt, erhält den Wert 0,2. Die 26 proportionalen Standesstimmen werden schliesslich wie gehabt aufsummiert, die Summe muss die absolute Mehrheit erreichen, also weiterhin den Wert 11,5 übersteigen (die Hälfte von 23; sechs Kantone haben eine halbe Standesstimme). Die Konzerninitiative hätte so 11,1 befürwortende zu 11,9 ablehnende Standesstimmen erhalten (anstatt 8,5 zu 14,5) – sie wäre also auch nach dieser Methode gescheitert.

Eine Revolution wäre diese exaktere Berechnung des Ständemehrs nicht. Doch gerade dort, wo das bisherige doppelte Mehr nur knapp reüssierte oder scheiterte, wären breiter abgestützte Entscheide zu erwarten. Dies sei anhand jener zwei letzten Volksabstimmungen gezeigt, bei welchen das proportionale Ständemehr zu einem anderen Ergebnis geführt hätte. Zum einen wäre der Familienartikel am 3. März 2013 angenommen worden, nebst dem Volksmehr von 54 Prozent auch mit einem Ständemehr von 12,0 zu 11,0. Dies, weil die befürwortenden Kantone (wie Genf, Waadt und Jura) etwas stärker zustimmten, als ihn die refüsierenden ablehnten (so Appenzell Innerrhoden, Uri und Obwalden). Zum anderen wäre am 11. März 2012 ein umgekehrter Fall eingetreten: Die bis heute umstrittene Zweitwohnungsinitiative wäre abgelehnt worden. Denn während die ablehnenden Kantone (allen voran Wallis, Uri und Obwalden) das Ansinnen deutlich verwarfen, stimmten die befürwortenden Stände verhältnismässig lau zu. Das geltende Ständemehr von 13,5 zu 9,5 wäre in ein knappes Nein von 11,3 zu 11,7 gekippt.

Seit 1848 wären insgesamt vier nationale Abstimmungen anders herausgekommen – und vielleicht besser akzeptiert worden. Nebst den erwähnten beiden Fällen wären der Bildungsartikel 1973 und die erleichterte Einbürgerung 1994 angenommen worden.

Im Gegensatz zu den zahlreichen bisher diskutierten Reformideen handelt es sich um ein neutrales Konzept: Es ist weder konservativ noch progressiv und würde weder kleinere noch grössere Kantone zusätzlich begünstigen. Während das Ständemehr akkurater abgebildet würde, wäre die Parität der Kantone nicht angetastet. Fortan hätten es die Kantone und Regionen aber wieder stärker in der Hand, mit Kanterniederlagen (bei den Zweitwohnungen vor allem in den Bergregionen) oder mit einer deutlichen Zustimmung (beim Familienartikel etwa in der Romandie, im Tessin und in den urbanen Gebieten) nicht nur das Volksmehr, sondern auch das Ständemehr zu beeinflussen.

Gegen diese Reform könnte eingewendet werden, die Kantone würden so nicht mehr als eine Einheit betrachtet, die bisher «ungeteilte Standesstimme» werde verletzt. Dem ist entgegenzuhalten, dass die starke Homogenität, wie sie in etlichen Kantonen noch in den Anfängen des Bundesstaates vorherrschte, weitgehend verschwunden ist. Zudem erscheint es doch gerade opportun, auch den Minderheiten der Minderheiten – etwa Appenzeller Grünen oder rechtskonservativen Jurassiern – eine minoritäre Stimme zu geben. Heute werden diese beim Eruieren des Ständemehrs gemäss dem Prinzip «The winner takes it all» einfach weggerundet.

Ein Wechsel der Standesstimmen vom Majorz in den Proporz wäre eine relativ simple wie elegante Lösung. Das proportionale Ständemehr optimiert letztlich die beiden Maximen des Föderalismus – Gleichheit der Kantone – und des Demokratieprinzips – Gleichheit aller Stimmberechtigten – und gewänne damit an Legitimation zurück.

 

«Das Ständemehr verhindert die Begehren nicht, es verzögert sie nur»

Claudio Kuster ist unter anderem Stiftungsrat der Stiftung für direkte Demokratie. Er sagt, warum er am kritisierten Ständemehr festhält, dennoch eine Reform befürwortet und wieso es keinen Stadt-Land-Graben in der Schweiz gibt.

Interview: Andrea Tedeschi, publiziert in den «Schaffhauser Nachrichten» vom 5. Dezember 2020.

Die Konzernverantwortungsinitiative ist am Ständemehr gescheitert, obwohl das Volk der Vorlage mit knapper Mehrheit von 50,7 Prozent zugestimmt hat. Wiederholt wurde das Ständemehr aus dem Jahr 1848 deswegen kritisiert und infrage gestellt. Auch nach dem letzten Abstimmungssonntag.

Claudio Kuster.

Herr Kuster, steckt die Schweiz in einer politischen Krise?

Claudio Kuster: Nein, überhaupt nicht.

Das sehen aber Grüne und Jungsozialisten anders. Als das Volk am Sonntag Ja sagte zur Konzernverantwortungsinitiative (KVI), aber die Kantone Nein sagten, forderten sie Reformen oder eine Abschaffung des Ständemehrs.

Es wäre etwas Einmaliges gewesen, wenn die KVI durchgekommen wäre. Im Kern ging es um das Haftpflichtrecht, es war vor allem eine wirtschaftspolitische Vorlage. Dass eine eher weitgehende Initiative in diesem Bereich angenommen wird, hat es aber noch nie gegeben. Klar wurde die Abzockerinitiative im Jahr 2013 angenommen, aber im Vergleich dazu sind Löhne und Boni ein Nebenthema. Darum verstehe ich die Enttäuschung in gewissen Kreisen, ich bin es auch, und dass der Kontext nun debattiert wird. Das Thema sollte man trotzdem nicht überbewerten.

Sie gehörten selbst zum Schaffhauser Pro-Komitee der KVI. Sind Sie der bessere Verlierer?

In Schaffhausen haben Befürworter wie Gegner für ihre Position hart geworben und gekämpft. Dass das Resultat in Schaffhausen mit 52,8 Nein-Stimmen knapp ausfiel, kann einen nicht überraschen.

Das Resultat zeigt, dass sich die kleinen und eher ländlichen Kantone gegen die lateinische und urbanere Schweiz durchgesetzt haben. Das sorgt für Unmut.

Manchmal überstimmen die urbanen Regionen aber auch die Bergkantone wie zuletzt beim Jagdgesetz oder bei der Zweitwohnungsinitiative. Das sorgte ebenfalls für Verstimmung. Trotzdem würde ich nicht von einem Land-Stadt-Konflikt sprechen. Das halte ich für völlig übertrieben.

Kritiker aber sagen, dass die kleinen Kantone einen zu grossen Einfluss hätten. Haben sie unrecht?

Ja. In der aktuellen Debatte wird oft suggeriert, dass das Stimmgewicht der Appenzell-Innerrhoder 40-mal mehr zähle als jenes der Zürcher. Aber das ist falsch. Die kleinen Kantone können bloss eine Verfassungsänderung verhindern. Eine Mehrheit überstimmen können sie jedoch nicht. Unser Ständemehr wird gerne mit dem US-amerikanischen Wahlsystem verglichen. Im Gegensatz zur Schweiz kann die Minderheit in den USA die Mehrheit tatsächlich verdrängen. Hillary Clinton hat vor vier Jahren mehr Stimmen gemacht als Donald Trump. Aber Trump wurde US-Präsident. Das ist bei uns undenkbar.

Die KVI hat aber ein Volksmehr erreicht. Am Volksmehr scheiterte 2013 auch der Verfassungsartikel über die Familienpolitik. Setzt sich so gesehen nicht doch eine Minderheit durch?

Das stimmt insofern, dass mit dem Ständemehr die kleinen Kantone bevorzugt werden. Traditionell sind viele katholisch und eher konservativ. Aber seit Einführung des Ständemehrs 1848 sind es nur zehn Vorlagen, die ein Ständemehr blockiert hat. Ich behaupte, dass die meisten der Begehren nicht verhindert werden, sondern nur verzögert. Das Ständemehr blockiert Anliegen nicht, es verlangsamt sie bloss. Viele werden später umgesetzt.

Können Sie Beispiele nennen?

Die Vorlage zum Mieter- und Konsumentenschutz scheiterte 1955, kam aber bereits fünf Jahre später wieder an die Urne und diesmal durch. Kürzlich bekam die Schweiz ein neues Bürgerrechtsgesetz, das die Einbürgerung liberalisiert und vereinfacht hat. In Schaffhausen will man sogar den Bürgerrat abschaffen. Noch in den Neunzigern scheiterte eine Vorlage zur einfacheren Einbürgerung am Ständemehr. Und bei der KVI tritt immerhin der indirekte Gegenvorschlag in Kraft, international wird die Haftungsfrage ebenfalls gross diskutiert. Das Thema wird virulent bleiben. Dennoch muss man differenzieren.

Inwiefern?

Acht der zehn vom Ständemehr abgelehnten Vorlagen waren obligatorische Referenden. Die Mehrheit des Bundesrates, Ständerates und Nationalrates haben sich für sie ausgesprochen. Scheitert eine Vorlage, versuchen diese Kräfte bald, ihre Begehren über andere Wege wie Gesetzes- oder Verfassungsrevisionen durchzusetzen. Bei Volksinitiativen ist das viel schwieriger, es ist auch ein Riesenaufwand, da muss ich den Kritikern des Ständemehrs recht geben. Zum einen dauert es fünf bis sieben Jahre, bis eine Volksinitiative an die Urne kommt. Andererseits ist es in diesen Fällen viel schwieriger, das Thema nochmals aufzugreifen, weil im Parlament und im Bundesrat die befürwortenden Mehrheiten fehlen. In der Geschichte der Schweiz ist das aber immerhin nur zweimal vorgekommen.

Beim Jagdgesetz konnten die Umweltorganisationen ihre Mitglieder gegen das Jagdgesetz mobilisieren. Bei der KVI engagierten sich breite Kreise der Zivilgesellschaft dagegen. Hat das künftig Auswirkungen auf die Begehren?

Dass sich Bürger in Umweltfragen engagieren, ist nichts Neues. Grüne Kreise mobilisieren hier seit den 1980ern, denken Sie an die Anti-Atomkraft-Bewegung oder das Ja zur Moorschutz-Initiative. In den Neunzigern folgte die Alpenschutzinitiative und in den Nullerjahren die Gentech-Initiative. Mehrheitsfähig waren sie deshalb, weil die Natur zu bewahren letztlich ein konservatives und nicht per se progressives oder linkes Anliegen ist.

Aber muss die Schweiz künftig mehr mit Vorlagen wie der KVI rechnen?

Nein, ganz klar nicht. 130 Nicht-Regierungsorganisationen, Investoren, Frauenverbände und die Landeskirchen hinter eine Initiative zu scharen ist einmalig. Das schafft man alle zehn oder zwanzig Jahre. Zumal eine solch langfristige und professionelle Kampagne den Mitgliedern viel Zeit und Finanzen abverlangt. Dann muss es aber auch noch das richtige Thema zur richtigen Zeit sein.

Dennoch hat ein Ständemehr das Volksmehr in den letzten 50 Jahren überdurchschnittlich blockiert. Worauf führen Sie das zurück?

Es gab einfach mehr Abstimmungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen zum einen neue Themen in der Aussenpolitik oder Ökologie dazu. Auch hat man immer mehr Kompetenzen von den Kantonen an den Bund übertragen. Das hat jedes Mal eine Verfassungsänderung mit sich gebracht.

Also gibt es nicht unbedingt mehr Konflikte im Land?

Im Gegenteil. Die ursprünglichen Konflikte zwischen den konservativen und liberalen Kantonen haben seit dem Sonderbundkrieg stark abgenommen. Früher befürworteten oder verwarfen einzelne Kantone Vorlagen regelmässig mit 80 oder 90 Prozent. Heute liegt das Verhältnis eher bei 60 zu 40. Selbst wenn Kantone an der Urne verlieren, unterliegen sie nie ganz.

Sie halten also am aktuellen Ständemehr fest?

Ja. Den Leuten ist oft nicht bewusst, dass die Schweiz aus 26 «Staaten» besteht. Jetzt mit Corona wird das sichtbar, wenn etwa die Kantone Basel, Genf, Waadt oder seit gestern Graubünden einen harten Lockdown beschliessen. In einem Zentralstaat wie Frankreich wäre es undenkbar, solch weitgehende Massnahmen lokal in der Bretagne oder im Elsass zu erlassen. Gäbe es das Ständemehr nicht, könnten die fünf grössten Kantone den anderen 21 eine Verfassung aufzwingen, also Aargau, Bern, St. Gallen, Zürich und Waadt. Das geht nicht!

Dennoch schlagen Sie eine Reform mit der «stetigen Standesstimme» vor. Warum?

Weil es den Minderheiten in den Minderheiten entgegenkommt. Grüne Politikerinnen im Kanton Appenzell Innerrhoden oder rechtskonservative Jurassier werden heute ignoriert. Es gilt das Winner-takes-it-all-Prinzip. Bei 52,8 Nein-Stimmen in Schaffhausen wird die Standesstimme direkt auf null gesetzt. Ich plädiere deshalb dafür, dass die Standesstimme proportional zum Verhältnis der Ja- und Nein-Stimmen aufgeteilt wird. Dann hätte Schaffhausen bei der KVI eine Standesstimme 0,47. So würden auch die Befürworter im Kanton berücksichtigt, die Parität der Kantone aber gewährt. Jeder Kanton behielte seine Stimme.

Wäre die KVI oder der Familienartikel 2013 mit der «stetigen Standesstimme» durchgekommen?

Nein. Die KVI wäre knapp gescheitert, weil die Befürworter-Kantone zu wenig klar Ja gesagt haben, die ablehnenden Kantone aber zu stark Nein. Der Familienartikel dagegen wäre durchgekommen, weil die Kantone Genf, Waadt und Jura mit 70 bis 80 Prozent der Vorlage stark zugestimmt hatten.

So eine Reform ist faktisch chancenlos. Kleine Kantone geben ihre gewichtige Stimme nicht ab. Und eine Reform braucht ihrerseits ein Ständemehr.

Bei der ganzen Debatte geht vergessen, dass das Ständemehr nur ein Element des Föderalismus ist. Es gibt die Standesinitiative, das Kantonsreferendum, die Konferenzen und Konkordate und vor allem den Ständerat. Die Romands gegen die Deutschschweizer oder die Bergler gegen die Städter, das ist nicht so problematisch. Es sind die klassischen Konfliktlinien, auf die wir eher achten sollten und die den Konsens strapazieren: die Linken gegen die Rechten und die Liberalen gegen die Konservativen.

 

Der «Geburtsfehler» der Volksinitiative

Bis vor 30 Jahren war es bei Volksinitiativen mit direktem Gegenvorschlag nicht erlaubt, sowohl der Initiative als auch dem Gegenvorschlag zuzustimmen. Damit konnte das Parlament die Erfolgschancen von Initiativen willkürlich mindern. Dieser Mangel wurde erst 1987 behoben. Die Einführung des doppelten Ja hatte sichtbare Folgen.

Publiziert in der Luzerner Zeitung und im St. Galler Tagblatt am 4. April 2017.

Es war eine herbe Enttäuschung für die Interessenvertreter der Mieter: Nicht nur wurde ihre Volksinitiative, die staatliche Mietzinskontrollen einführen wollte, bei der Volksabstimmung 1977 mit 42 Prozent Ja-Stimmen abgelehnt. Auch der Gegenvorschlag des Parlaments, der etwas weniger weit ging und gleichzeitig zur Abstimmung kam, verfehlte mit 41 Prozent eine Mehrheit. Viele Stimmbürger hatten sowohl Initiative als auch Gegenvorschlag befürwortet. Doch beiden zuzustimmen, war nach dem damals geltenden Recht nicht möglich. So teilten sich ihre Stimmen in zwei Lager. Am Ende blieb die geltende Regelung in Kraft – obwohl sich 84 Prozent der Bürger für eine Änderung ausgesprochen hatten.

Der Grund für solche verzerrenden Resultate war ein «Geburtsfehler» der Volksinitiative. Die Freisinnigen hatten sich die Einführung der Initiative auf Teilrevision der Verfassung 1891 von den oppositionellen Katholisch-Konservativen und Sozialdemokraten abtrotzen lassen. Bei der gesetzlichen Umsetzung des neuen Volksrechts wollten sie dieses aber entschärfen. In National- und Ständerat war man sich damals weitgehend einig, dass es dem Parlament möglich sein soll, einer Initiative einen direkten Gegenvorschlag gegenüberzustellen. Offen war indes das Verfahren. Da es logisch ausgeschlossen ist, dass sowohl Volksinitiative als auch Gegenvorschlag in Kraft treten, schlug der Bundesrat eine Eventualabstimmung vor: Zunächst sollte das Volk entscheiden, ob es eine Initiative oder den Gegenvorschlag bevorzuge, danach sollte in einer zweiten Abstimmung die siegreiche Variante dem Status Quo gegenübergestellt werden.

Statistik doppeltes Ja

Ja-Anteile von Volksinitiativen. Die durchgezogene schwarze Linie zeigt den Trend bei Initiativen mit Gegenvorschlägen, die gestrichelte Linie jenen bei Initiativen ohne Gegenvorschläge.

Im Nationalrat sah man diese Lösung aber als zu kompliziert an. Stattdessen sprach sich die grosse Kammer dafür aus, dass über eine Initiative und einen allfälligen Gegenvorschlag gleichzeitig abgestimmt werden sollte. Um zu verhindern, dass beide Varianten eine Mehrheit erlangen, sollten die Stimmbürger aber nur zu einer von beiden Ja sagen dürfen.

Nein-Inserat

Zu kompliziert: Mit diesem Argument warb ein Komitee 1987 gegen das doppelte Ja und für das bisherige, verzerrende Verfahren. Unter den Unterzeichnern findet sich auch ein gewisser Christoph Blocher.

Die freisinnige Nationalratsmehrheit rechtfertigte diese Lösung vor allem mit praktischen Gründen. In Wahrheit dürften allerdings Machtüberlegungen im Vordergrund gestanden haben. Denn wenn man nur einer von zwei Vorschlägen zustimmen konnte, war es für das Parlament offensichtlich ein leichtes, einer Volksinitiative mit einem Gegenvorschlag Stimmen wegzunehmen. Und genau das passierte in der Folge auch immer wieder. Von 1891 bis 1987 wurden insgesamt 102 Initiativen eingereicht. Einem Viertel davon stellte die Bundesversammlung einen Gegenvorschlag gegenüber. «Das Parlament nutzte Gegenvorschläge oft, um Initiativen zu torpedieren», sagt Andreas Kley, Staatsrechtsprofessor an der Universität Zürich.

Mit einem Gegenvorschlag konfrontiert, zogen die Initianten in etwa der Hälfte der Fälle ihre Initiative zurück. In den anderen Fällen scheiterte das Begehren meistens. Immerhin zwei Initiativen (jene für ein Spielbankenverbot und jene für eine Preisüberwachung) vermochten sich gegen einen Gegenvorschlag durchzusetzen. Gegenvorschläge hatten in 7 von 14 Fällen Erfolg, in den restlichen wurden sowohl Initiative als auch Gegenvorschlag abgelehnt, wobei in fünf Fällen beide zusammen mehr als 50 Prozent Zustimmung erhielten und somit eine Mehrheit der Stimmenden für eine Änderung der Verfassung votierte. Wenn die Initiative zurückgezogen wurde, wurde der Gegenvorschlag meistens (in 10 von 12 Fällen) angenommen.

Das Verbot des doppelten Ja war laut Kley ein doppelter Verstoss gegen die Bundesverfassung: «Die Bestimmung verletzte einerseits das Gleichbehandlungsgebot, andererseits auch die Abstimmungsfreiheit.»

Das Verfahren verzerrte aber nicht nur den Willen der Stimmbürger, sondern verwirrte sie auch. Laut einem Bericht des Bundesrats von 1981 lag die Zahl der ungültigen Stimmen bei Abstimmungen mit Gegenvorschlag bis zu zwölfmal höher als bei Abstimmungen ohne Gegenvorschlag.

Trotz dieser offensichtlichen Mängel tat sich das Parlament mit einer Änderung des Verfahrens schwer. Nachdem die Verzerrung des Abstimmungsresultats durch das Verbot des doppelten Ja in den 1970er Jahren in mehreren Abstimmungen offensichtlich geworden war, schlug der Bundesrat schliesslich 1984 vor, bei Gegenvorschlägen künftig das doppelte Ja zuzulassen, wobei in den Fällen, wo sowohl Volksinitiative als auch Gegenvorschläge eine Mehrheit erreichen, die Stichfrage entscheiden soll.

Feinschliff 2003
Das 1987 eingeführte Verfahren mit Stichfrage hatte einen kleinen, aber potenziell fatalen Mangel: Wenn sowohl Initiative als auch Gegenvorschlag angenommen wurde, konnten trotzdem beide scheitern, dann nämlich, wenn bei der Stichfrage Volks- und Ständemehr zu unterschiedlichen Resultaten führten. Ein solcher Fall trat zwar nie auf, hätte die Willensäusserung der Stimmbürger aber ad absurdum geführt. Deshalb beschloss das Parlament 2002 eine elegantere Lösung: Wenn bei der Stichfrage Volks- und Ständemehr unterschiedliche Ergebnisse zeigen, gewinnt jene Seite, bei der das Mehr prozentual stärker ist. Erreicht beispielsweise eine Initiative bei der Stichprobe das Volksmehr mit 55 Prozent der Stimmen, der Gegenvorschlag aber das Ständemehr mit 12 zu 11 Standesstimmen (d.h. 52.2 Prozent der Standesstimmen), gilt die Initiative als angenommen. Diese Änderung wurde vom Souverän im Rahmen der Abstimmung über die Reform der Volksrechte 2003 gutgeheissen und gilt seither.

Es waren vor allem die Wirtschaftsverbände und die (allerdings nicht geschlossenen) bürgerlichen Parteien, die sich gegen das doppelte Ja wehrten. Sie argumentierten, dass sich das geltende Verfahren bewährt habe und eine Änderung zu kompliziert sei. Der Ständerat folgte zunächst dieser Position. Doch der Druck für eine Änderung wurde immer stärker; unter anderem wandten sich auch 27 Staatsrechtler mit einer öffentlichen Stellungnahme an die kleine Kammer. Am 5. April 1987 sagte das Volk mit 63 Prozent Ja zum doppelten Ja.

Seither ist die «Waffe» des direkten Gegenvorschlags nicht mehr ganz so scharf. Das scheint auch das Parlament gemerkt zu haben, das heute seltener auf dieses Instrument zurückgreift. Nur noch jeder zehnten Volksinitiative wird ein Gegenvorschlag gegenübergestellt. Zudem liegen die addierten durchschnittlichen Ja-Anteile von Initiativen, denen ein Gegenvorschlag gegenübergestellt wurde, seit 1987 deutlich höher als davor (siehe Grafik). Und die kombinierten Ja-Anteile von Initiative und Gegenvorschlag liegen im Schnitt 10 Prozentpunkte höher. Die Stimmbürger machen von den neuen Möglichkeiten also auch tatsächlich Gebrauch.

 

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Bundesrätliche «Executive Non-Order» – der echte MEI-Verfassungsbruch

Auf den gestrigen 9. Februar hin hätte der Bundesrat eine vorübergehende Ausführungsverordnung zur Masseneinwanderungs-Initiative erlassen müssen. Dies hat er jedoch unterlassen. Was gegen Präsident Trump wohl Folgen hätte, kann im Schweizer Rechtsstaat nicht direkt angefochten werden.

«Ist die Ausführungsgesetzgebung zu Artikel 121a drei Jahre nach dessen Annahme durch Volk und Stände noch nicht in Kraft getreten, so erlässt der Bundesrat auf diesen Zeitpunkt hin die Ausführungsbestimmungen vorübergehend auf dem Verordnungsweg.» (Übergangsbestimmung Art. 197 Ziff. 11 Abs. 2 BV)

«[A]uf diesen Zeitpunkt hin» – also genau auf den 9. Februar 2017 – hat der Bundesrat offensichtlich keine vorübergehende Verordnung erlassen. Zumindest findet keine solche, wer die heutige Rechtssammlung des Bundes durchkämmt und nach einer Verordnung des Bundesrats «gegen die Masseneinwanderung» Ausschau hält. Zwar ist die Teilrevision des Ausländergesetzes zur Umsetzung zur, zumindest vorübergehenden, Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative (MEI) bekanntlich in der letzten Dezemberesseion von den eidgenössischen Räten verabschiedet worden. Jene Novelle ist jedoch bis heute gerade nicht in Kraft getreten. Die Übergangsbestimmung der MEI – heute integraler Bestandteil der Schweizer Bundesverfassung – spricht indes ganz klar von «nicht in Kraft getreten», und nicht etwa, wie diverse Medien suggerieren, von «noch nicht erlassen»/«verabschiedet» oder ähnlichem.

Das Umsetzungsgesetz wird aber wahrscheinlich erst auf den 1. Januar 2018 in Kraft treten, also fast ein Jahr verspätet. Denn bis am 7. April läuft noch die 100-tägige Referendumsfrist. Vielleicht aber auch gar nie, denn gegen das neue Ausländergesetz haben nicht weniger als vier verschiedene (wenngleich sehr kleine) Gruppierungen kürzlich das Referendum ergriffen. Just für solche legislatorischen Verzögerungen, die einer direkten Demokratie inhärent sind, hat die MEI vorgesorgt und der Regierung die eingangs zitierte vorübergehende Verordnungsgebungspflicht auferlegt. Solche verlangten übrigens vor der MEI auch schon andere Volksinitiativen, die Initiative «gegen die Abzockerei» beispielsweise sogar innert bloss einem, nicht erst nach drei Jahren (siehe zu solchen Übergangsregelungen Gefährliches Zeitspiel).

Der Bundesrat, und hier ist der tatsächliche Verfassungsbruch zu verorten, foutiert sich um einen klaren, verfassungsmässigen Verordnungsgebungsauftrag. Wenn wir davon ausgehen, dass er aus Gründen der Gewaltenteilung (die Gesetzgebung obliegt primär der Bundesversammlung) inhaltlich wohl auf die ohnehin laxe Umsetzungsvariante des Bundesparlaments einschwenken würde, so ergäben sich auch überhaupt keine völkerrechtlichen Probleme. Die vorübergehende Verordnung könnte er völlig autonom erlassen, ohne jegliche EU-Konsultationen. Solche wären, analog zum EU-kompatiblen Umsetzungsgesetz des Parlaments, gar nicht nötig.

Kein Anfechtungsmittel gegen bundesrätliche «Executive Non-Order»

Während auf der anderen Seite des Atlantiks die dortige Exekutive mit übereilten Dekreten um sich wirft, spielt hierzulande die Regierung quasi das gleiche Spiel aber mit umgekehrten Vorzeichen: Nicht einmal jene «Executive Orders» erlässt der Bundesrat, die ihm qua Bundesverfassung und damit legitimiert von der Mehrheit von Volk und Ständen auferlegt werden. Trotz dreijähriger Vorlaufzeit.

Während in den USA aber immerhin die Anzeichen bestehen, dass die dritte Gewalt die verfassungswidrigen Präsidialdekrete nicht unbesehen hinnehmen wird, sind die Checks and Balances in der Schweiz in diesem Falle ziemlich zahnlos. Denn gemäss unserer Bundesverfassung können Akte des Bundesrates grundsätzlich nicht direkt angefochten werden (Art. 189 Abs. 4 BV). Und damit wohl auch der Nicht-Erlass eines solchen Aktes nicht.

Wenn der Schweizer Aussenminister Didier Burkhalter also bereits öffentlich Kritik übt am kürzlichen US-Dekret über den Einreisestopp, so mag diese vielleicht inhaltlich opportun sein. Institutionell entbehrt sein Unmut aber nicht einer gewissen Ironie: Während die US-Regierung in den nächsten Jahren mutmasslich des Öfteren vom Supreme Court (oder bereits von einer unteren Instanz) zurückgepfiffen werden wird (der Einreisestopp wurde bereits nach wenigen Tagen aufgehoben), so kann Bundesrat Burkhalter zusammen mit einer Bundesratsmehrheit ohne jegliche Kontrolle Verordnungen erlassen. Oder sich um die Pflicht zur Verordnungsgebung drücken. Weder Bundesgericht noch Bundesparlament können ihn daran hindern.

Staatsrechtler Zaccaria Giacometti, namhafter Kritiker des bundesrätlichen Vollmachtenregimes zur Zeit des Zweiten Weltkriegs, bemerkte in einer Vorlesung einmal sarkastisch, dass in Bern neben anderen Sehenswürdigkeiten auch die Bundesverfassung gezeigt werde; die Besucher bekämen dort allerdings nur ein Loch zu sehen. Dass im Verfassungsexemplar im Bundesratszimmer die MEI-Übergangsbestimmung einem Lochfrass anheimgefallen ist, ist kaum anzunehmen. Im Gegenteil, die Verpflichtung zur Verordnungsgebung ist der Regierung sehr wohl bewusst, ja geradezu ein Dorn im Auge. Denn in der letzte Woche vorgelegten Vernehmlassungsvorlage für einen direkten Gegenentwurf zur «Rasa»-Volksinitiative will der Bundesrat diese ungeliebte Übergangsbestimmung gleich komplett aufheben lassen.

«Often, leaders use direct democracy for reasons of self-interest»

Political scientist David Altman expects the rise of direct democracy around the world to continue. He warns, however, that referendums can be damaging when initiated top-down instead of bottom-up.

David Altman, in 2016, more countries have made use of direct democracy than ever before (siehe Hauptartikel). What are the reasons for this rise?

David Altman.

David Altman.

David Altman:[*] One reason is that if politicians give citizens the possibility to vote on matters directly, it’s extremely difficult to go back. Many countries have introduced instruments of direct democracy in recent years, for example the Netherlands. It’s almost impossible to take away a right from the citizens once they have it. Another reason is that, from the point of view of the politicians, it can be very appealing to resort to instruments of direct democracy.

Why?

In most cases, a referendum is initiated not by citizens – as is the case most of the times in Switzerland – , but top-down, which means it’s either a mandatory referendum or a plebiscite called by the government or by the legislature. Often, leaders use direct democracy for reasons of self-interest: They want to mobilise people to strengthen their power base.

So you would say that direct democracy is not always a good thing?

No. Like many things, direct democracy is not per se good or bad – it all depends on how the process is designed. Switzerland is, in my opinion, a positive example. Switzerland is the country that holds by far the most direct democratic votes on the national level of all countries. At the same time, it is also the most consensual political system of all European countries. It might seem paradox that the majoritarian idea is weakest in a country with such a frequent use of the majoritarian instrument of direct democracy, but it’s not: if a law can be put before the people, political actors need to negotiate, discuss and find a solution with the broadest possible support. By the way, exactly the same pattern is observable in Latin America: Uruguay is the country with the most frequent use of direct democracy, and it’s also the country with the most consensual political system.

And what are examples of bad use of direct democracy?

Let’s take the example of Brexit: David Cameron used the plebiscite to resolve a power struggle inside his own party. I don’t think this is a sensible way to use direct democracy. Or take Hungary, where Viktor Orban has used a plebiscite to mobilise his supporters. Such moves can be damaging for the democratic culture in a country.

What do you think of quotas that require a certain turnout for a vote to count?

I think that’s really bad idea. Such quotas open the door for demobilisation campaigns, with which politicians are trying to prevent citizens from voting. This contradicts the republican idea that citizens should participate in a democracy and use their rights.

Do you think that direct democracy will continue to spread around the world or are politicians getting tired of it after recent decisions such as the Brexit vote or the one in Italy?

I am convinced that the rise of direct democracy will continue. As I said, it’s almost impossible to take away rights of the citizens once you given them. Of course plebiscites and other forms of direct democracy can be risky for politicians, but their risk is not for the referendum to take place, but for them to lose it. So they will think more carefully about how to design the bills that they present to the people. But they will not refrain from using direct democracy.

 

Siehe auch Hauptartikel Direkte Demokratie liegt im Trend

 


[*] David Altman is Professor of Political Science at the Universidad Católica in Chile and author of the book «Direct Democracy Worldwide».

«Man kann bei der Auslegung nicht den bissigen Hund zu einer schmeichelnden Katze machen»

Rechtsprofessor Bernhard Ehrenzeller sieht die Zuwanderungsinitiative durch den Inländervorrang light nicht umgesetzt. Seine Kollegin Astrid Epiney widerspricht: Die Initiative selbst gebiete eine Umsetzung im Rahmen des Freizügigkeitsabkommens.

Publiziert in der «Luzerner Zeitung» und im «St. Galler Tagblatt» am 8. November 2016.

Mit Kontingenten und Höchstzahlen soll der Bund die Zuwanderung steuern, verlangte die Masseneinwanderungsinitiative. Nun arbeitet das Parlament an einem Inländervorrang light. Ist der Verfassungsauftrag damit erfüllt?

Bernhard Ehrenzeller. (Foto: )

Bernhard Ehrenzeller. (Foto: parlament.gv.at)

Bernhard Ehrenzeller:[*] Nein, er ist offensichtlich nicht erfüllt. Wer lesen kann, sieht, dass in diesem Verfassungsartikel nicht nur ein allgemeines Bekenntnis zur eigenständigen Steuerung der Zuwanderung steht. Er verlangt Begrenzungsmassnahmen, namentlich Kontingente, Höchstzahlen und einen wirksamen Inländervorrang. Man kann nicht sagen, dass die vorliegende Umsetzungsvorlage diesem Auftrag entspricht.

Astrid Epiney:[‡] Das sehe ich anders. Die Übergangsbestimmungen schreiben vor, dass der Bundesrat internationale Abkommen neu zu verhandeln hat, so dass sie im Einklang stehen mit der neuen Verfassungsbestimmung. Der Bundesrat hat das redlich versucht, aber zum Verhandeln gehören immer zwei, und die EU wollte eben nicht über das Freizügigkeitsabkommen verhandeln. Artikel 121a schreibt nicht vor, dass die Schweiz das Abkommen kündigen muss. Daher ist er so auszulegen, dass die Umsetzung im Rahmen der geltenden völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz erfolgen muss.

Es steht aber auch nirgendwo in der Verfassung, dass man das Abkommen nicht kündigen soll.

Epiney: Das darf man natürlich. Aber bislang gibt es, glaube ich, nur wenige, die dies anstreben.

Ehrenzeller: Klar ist, dass eine Kündigung des Freizügigkeitsabkommens weitreichende rechtliche und politische Konsequenzen für unser Verhältnis zur EU hätte. Ein Zwang zu einem solchen Schritt lässt sich nicht aus dem Verfassungstext ableiten.

Christoph Blocher hat angekündigt, eine Initiative zur Kündigung des Personenfreizügigkeitsabkommens zu lancieren, sollte das Parlament die Zuwanderungsinitiative nicht wortgetreu umsetzen. Würden im Fall einer Kündigung auch die Bilateralen I automatisch dahinfallen?

Epiney: Ja, jedes der Abkommen enthält eine sogenannte «Guillotine-Klausel», die das vorsieht. Die Vertragsparteien könnten aber natürlich einvernehmlich beschliessen, den einen oder anderen Vertrag gleichwohl weiterzuführen.

Als Stimmbürger fragt man sich doch, weshalb eine Mehrheit am 8. Februar 2014 den Entscheid für Höchstzahlen und Kontingente gefällt hat, wenn sich das Parlament nun einfach nicht daran hält.

Astrid Epiney. (Foto: )

Astrid Epiney. (Foto: UZH)

Epiney: Es wäre nicht das erste Mal, dass das Parlament eine Volksinitiative nicht so umsetzt, wie sich dies möglicherweise auf den ersten Blick aufgedrängt hat. Das ist so im System angelegt: Das Initiativrecht ist nur sehr wenigen materiellen Schranken unterworfen, so dass auch Initiativen lanciert werden können, die mit anderen Verfassungsbestimmungen oder völkerrechtlichen Verpflichtungen in Konflikt stehen. Bei der Auslegung solcher Verfassungsnormen ist dann auch dem Gesamtzusammenhang Rechnung zu tragen, und der Wortlaut einer Bestimmung ist nicht das einzige Auslegungskriterium. Im Falle umsetzungsbedürftiger Verfassungsbestimmungen obliegt es dem Parlament, diese Auslegung letztverbindlich vorzunehmen. Die allgemeinen Auslegungsgrundsätze können dazu führen, dass der Wortlaut relativiert wird, wie das zum Beispiel bei der Alpeninitiative oder auch der Ausschaffungsinitiative der Fall war. Und es kommt vor, dass Verfassungsbestimmungen toter Buchstabe bleiben. Die Mutterschaftsversicherung stand 50 Jahre lang in der Verfassung, ohne dass sie umgesetzt wurde.

Ehrenzeller: Die erwähnten Beispiele sind nicht mit der heutigen Situation vergleichbar. Die Mutterschaftsversicherung wurde in der Tat 50 Jahre lang nicht realisiert – aber nicht, weil das Parlament das nicht versucht hätte. Es gab mehrere Anläufe, die jedoch am Referendum scheiterten. Bei der Alpeninitiative gab es das praktische Problem, dass man nicht innert zehn Jahren den ganzen Güterverkehr auf die Schiene verlagern konnte. Es braucht dafür zunächst die nötige Infrastruktur. Das Parlament hat doch Einiges zur Umsetzung unternommen, auch wenn das Ziel der Initiative nicht ganz erreicht wurde. Bei der Masseneinwanderungsinitiative haben wir es hingegen mit einer weitgehenden Nichtumsetzung der Verfassung zu tun.

Was müsste denn das Parlament tun, um dem Verfassungsauftrag gerecht zu werden?

Ehrenzeller: Das Problem ist, dass wir zwei Normen haben, die nicht miteinander kombinierbar sind: Einerseits das Freizügigkeitsabkommen, das die Schweiz bindet, und andererseits einen Verfassungsartikel, der quer steht zur Personenfreizügigkeit. Nun hat der Nationalrat einen politischen Grundsatzentscheid gefällt, indem er der Einhaltung des Abkommens den Vorrang einräumt und damit einen Widerspruch zum ebenso verbindlichen Verfassungsartikel schafft. Die Frage ist nun: Wie beseitigt man diesen rechtlichen Widerspruch, von dem auch der Bundesrat ausgeht? Wenn man das Freizügigkeitsabkommen in der vorgegebenen Frist nicht ändern kann, bleibt nur die Option, in irgendeiner Weise die Verfassung anzupassen.

Das will der Bundesrat ja auch tun: Er hat entschieden, einen direkten Gegenvorschlag zur Rasa-Initiative vorzulegen. Könnte der Widerspruch damit aufgelöst werden?

Ehrenzeller: Ich begrüsse natürlich den Entscheid des Bundesrates. Noch wissen wir aber nichts über den Inhalt dieses Gegenvorschlags. Aus meiner Sicht sollte der Artikel 121a angesichts der absehbaren politischen Kontroversen nicht angetastet werden. Wenn man da zu schrauben beginnt, dann löst dies eine erneute Einwanderungsdiskussion aus, und es wird nie eine Einigung geben. Mein Vorschlag ist deshalb, den Artikel so stehen zu lassen und nur die Übergangsbestimmungen anzupassen. Man könnte beispielsweise die Übergangsfrist streichen und gleichzeitig den Verhandlungsauftrag an den Bundesrat bestehen lassen.

Ist dieser Ausweg nicht etwas gar billig? Der Widerspruch zwischen Initiative und gesetzlicher Umsetzung bliebe ja bestehen. Das Problem würde einfach hinausgeschoben.

Ehrenzeller: Es ist nun einmal so, dass wir einen Verfassungsartikel haben, der eine harte Begrenzung der Zuwanderung zum Ziel hat. Gleichzeitig bekennt sich die Schweiz dazu, die eingegangenen völkerrechtlichen Verträge einzuhalten. Der Auftrag, diese Verträge anzupassen, würde bei der Streichung der Frist weiter bestehen. Doch im Moment ist die Vertragsänderung offenbar nicht möglich. Das anzuerkennen ist nicht billig, das ist realistisch. Es war kurzsichtig von den Initianten, eine Drei-Jahres-Frist in die Initiative zu schreiben.

Epiney: Das würde bedeuten: Die Umsetzungspflicht von Artikel 121a steht unter dem Vorbehalt, dass man eine Einigung mit der EU erlangt.

Ehrenzeller: Ja, soweit Freizügigkeitsabkommen bestehen. Das ist das Spannungsverhältnis zwischen Verfassung und Völkerrecht. Im Moment versucht das Parlament, die Initiative so weit umzusetzen, wie es mit dem Freizügigkeitsabkommen vereinbar ist. Da werden Spielräume ausgelotet. Aber wir wissen doch nicht, wann eine diplomatische Gelegenheit kommt, weiterzugehen und das Freizügigkeitsabkommen in irgendeiner Form zu ändern. Ausgeschlossen ist dies nicht. Wir müssen aber wohl abwarten, bis die Verhandlungen über den Austritt Grossbritanniens aus der EU abgeschlossen sind.

Sie, Frau Epiney, sind der Ansicht, dass es dazu keine Verfassungsänderung braucht.

Epiney: Genau, und zwar, weil die neue Verfassungsbestimmung wie gesagt die Kündigung des Freizügigkeitsabkommens nicht verlangt. Da der Versuch der Neuverhandlung gescheitert ist, kann die Pflicht zur Umsetzung nur so weit gehen, wie sie mit dem Abkommen vereinbar ist. Dies ändert nichts daran, dass es politisch klug sein mag, einen Gegenvorschlag zur Rasa-Initiative zu überlegen. Aber ob sich damit das Grundproblem lösen lässt, ist offen.

Generell: Wie gross ist der Spielraum des Parlaments bei der Umsetzung von Volksinitiativen?

Ehrenzeller: Es gibt anerkannte juristische Auslegungsgrundsätze. Man darf auch einen Verfassungsartikel nie isoliert lesen, sondern muss ihn immer im Kontext anderer Bestimmungen verstehen. Zum Beispiel hat das Parlament bei der Verwahrungs- oder der Ausschaffungsinitiative das Gesetz deutlich verschärft, gleichzeitig jedoch den Grundsatz der Verhältnismässigkeit berücksichtigt. Aber man kann auf dem Weg der Auslegung eines Verfassungstextes den bissigen Hund nicht zu einer schmeichelnden Katze machen.

Epiney: Ich bin grundsätzlich einverstanden. Was ich schade finde, ist, dass der Blick auf die wichtigen Fragen oft verstellt wird durch die ständige Berufung auf den Volkswillen. Der Volkswille als solcher ist bei der Interpretation einer Verfassungsbestimmung irrelevant, auch wenn die Diskussionen im Vorfeld der Annahme einer Initiative durchaus im Rahmen der Heranziehung der Entstehungsgeschichte berücksichtigt werden können. Der Hinweis auf den Volkswillen impliziert im Übrigen, dass man allen anderen Meinungen die Legitimität abspricht. Das ist gefährlich.

Das Bundesgericht hat in einem Urteil vor einem Jahr bereits angekündigt, dass es dem Personenfreizügigkeitsabkommen den Vorrang geben würde vor der gesetzlichen Umsetzung der Zuwanderungsinitiative. Welche Bedeutung hat dieses Urteil?

Epiney: Das Urteil hat eine grosse Bedeutung. In der Praxis bedeutet es, dass eine Umsetzung der Zuwanderungsinitiative, die nicht mit dem Freizügigkeitsabkommen vereinbar ist, nicht angewandt werden könnte – es sei denn, das Abkommen würde gekündigt.

Wenn das so ist, können wir uns die ganze Umsetzungsdiskussion doch sowieso sparen: Das Bundesgericht wird ohnehin nichts akzeptieren, was dem Freizügigkeitsabkommen widerspricht.

Ehrenzeller: So würde ich das nicht sagen. Aus meiner Sicht war diese Aussage des Bundesgerichts unnötig und unklug. Das Bundesgericht stellte damit das Freizügigkeitsabkommen praktisch auf die gleiche Stufe wie die Verfassung. Es hat dem Parlament quasi präventiv vorgegeben, was es als gesetzgebende Behörde bei der Umsetzung der Initiative tun darf und was nicht. Damit hat es seine Rolle als Gericht überschritten. Verallgemeinert hätte die Aussage des Bundesgerichts im Übrigen stark einschränkende Auswirkungen auf das Initiativrecht.

In den vergangenen Jahren wurden wiederholt Initiativen eingereicht und teilweise angenommen, die in Konflikt zu internationalen Verträgen stehen. Sollte man nicht eine Lösung finden, um solche Widersprüche zu verhindern?

Epiney: Zunächst muss man sagen, dass das Zusammenspiel zwischen Landesrecht und Völkerrecht jahrzehntelang gut funktioniert hat. Spannungen gab es immer, aber dank einer gewissen Disziplinierung der initiativfähigen Gruppierungen kam es nie zu grösseren Problemen. In der jüngeren Vergangenheit ist allerdings eine Verlotterung der Sitten beim Gebrauch des Initiativrechts festzustellen. Ich wäre dafür, dass man das Initiativrecht auf die Form der allgemeinen Anregung beschränkt. Damit könnte das Parlament die Ziele der Initianten flexibler umsetzen. Auf absehbare Zeit sehe ich aber keine konsensfähige Lösung.

Könnte man nicht einfach Landesrecht generell vor Völkerrecht stellen, wie das die SVP mit einer Initiative will?

Ehrenzeller: Es wäre verheerend, den Vorrang des Landesrechts absolut festzuschreiben. Damit würde die Schweiz jede Vertragsglaubwürdigkeit verlieren. Ebenso wäre es unklug, einen absoluten Vorrang des Völkerrechts festzuschreiben. Jedes Land bewahrt sich im Umgang mit internationalem Recht gewisse Spielräume, um notfalls eine Abwägung vornehmen zu können. Es muss den politischen Behörden bei triftigen Gründen möglich sein zu sagen: «Diese Verfassungsbestimmung ist uns so wichtig, dass wir ihr Priorität einräumen vor der Vertragsverpflichtung.» Dann muss man aber auch bereit sein, die Konsequenzen der Vertragsverletzung zu tragen.

 


[*] Bernhard Ehrenzeller ist Professor für öffentliches Recht an der Universität St. Gallen. Er beschäftigt sich schwergewichtig mit Verfassungsfragen, unter anderem hat er massgeblich am St. Galler Kommentar zur Bundesverfassung mitgewirkt.

[‡] Astrid Epiney ist Professorin für Europarecht, Völkerrecht und öffentliches Recht an der Universität Freiburg, wo sie zudem als Rektorin amtiert. Sie forscht vor allem zum Verhältnis zwischen nationalem und internationalem, insbesondere europäischem Recht.

125 Jahre Volksinitiative – taugt das Unterschriftenquorum noch als Relevanztest?

Heute feiert das eidgenössische Volksinitiativrecht 125-jähriges Jubiläum. Festfreude kommt gleichwohl keine auf: Wir würden über zu viele Initiativen abstimmen. Und erst noch über die «falschen».

«Aus einer historischen und langfristigen Sicht muss es aufgrund der
Anlage
des Volksinitiativrechts immer wieder Bestrebungen geben, die
es ‹eindämmen›
oder gar abschaffen wollen. Diese Bemühungen sind
verständlich, aber sie richten
sich klar gegen die direkte Demokratie.»
Andreas Kley[1]

Bundesblatt, das die Einführung der Volksinitiative auf Teilrevision der Bundesverfassung kundtat (BBl 1891 IV 1).

Bundesblatt, das die Einführung der Volksinitiative auf Teilrevision der Bundesverfassung vom 5. Juli 1891 kundtat.

Heute «feiert» das Volksinitiativrecht sein 125-jähriges Jubiläum; mit Volksabstimmung vom 5. Juli 1891 wurde das Instrument, nachdem es sich ein halbes Jahrhundert zuvor in den ersten Regenerationskantonen zusehends etablierte[2], auch auf eidgenössischer Ebene eingeführt.[3] Wirklich gefeiert wird dieser «Antrag aus dem Volk an das Volk»[4], immerhin das Instrument als Ausfluss direkter Demokratie schlechthin, dieser Tage jedoch nicht.

Während 1991 der 100-jährige Geburtstag komplett vergessen ging,[5] so ist man heuer schlicht nicht in Festlaune.[6] Zu oft hat das ungebändigte Wesen die letzten Jahre auf die Torte gespuckt (und im Februar 2014 diese gar noch mit Wucht ins Gesicht der versammelten hiesigen Elite gedrückt). Gefeiert wird in Bundesbern demgegenüber lieber das Amtliche Bulletin der Bundesversammlung – als erhabenes Tagebuch der repräsentativen Demokratie gewissermassen die Antithese zur Volksinitiative –, das derzeit ebenfalls den 125. Geburtstag feiert.[7]

Grundsatzentscheide über Kühe, Velo, Take-Away

Die direktdemokratische Stimmung scheint also gedrückt in der «Musterdemokratie». Nicht nur ob «falschen» Volksentscheiden des uninformierten, emotionalen und wankelmütigen Souveräns, sondern bereits über die unüberblickbare «Flut» von Vorlagen.[8] Solche drehten sich bei kürzlichen Urnengängen um richtungsweisende Grundsatzentscheide wie Take-Away-Mehrwertsteuer, Milchkuh, Grundeinkommen, GLP-«8 Prozent»-Initiative. Und vielleicht bald in unseren Stimmkuverts: Hornkuh, Vollgeld, Stromeffizienz, Verhüllung, Ernährung, Bewegung. Und weil’s wichtig und gesund ist, gleich nochmals Ernähung und Velo. Zugegeben, adressieren diese Stichworte – allesamt hängige, gegebenenfalls darüber zu befindende Volksinitiativen – die drängendsten, relevanten Fragen der Nation? Es mögen prima vista Zweifel aufkommen, ob der Filter noch richtig justiert ist.

So zeigt sich alt Bundesrat Arnold Koller in seiner Autobiografie schon seit einiger Zeit besorgt: «Nach Auffassung des Bundesrates darf erwartet werden, dass, wer viereinhalb Millionen Stimmbürgerinnen und Stimmbürger an die Urne ruft, eine gewisse Repräsentanz seines Anliegens aufzeigt. In den vielen öffentlichen Vorträgen, die ich ihm Rahmen der Verfassungsreform [Ende 1990er-Jahre] hielt, brachte ich diese Mängel auf die Kurzformel: ‹Wir stimmen zu viel und nicht immer über das Wichtige ab!›»[9]

«Schwer auszusprechendes Fremdwort ‹Initiative›»

NZZ-Chefredaktor Eric Gujer hat kürzlich ins gleiche Klagelied eingestimmt: «Dass die direkte Demokratie an einer Überdosis an Initiativen krankt, ist schon oft beklagt worden. Doch es ist vermutlich weniger die schiere Zahl, die zu schaffen macht, sondern eher die Art der eingereichten Initiativen. Zunehmend versprechen deren Urheber Lösungen für Probleme, von deren Existenz die breite Öffentlichkeit noch gar nichts wusste.» Der Gipfel der Ignoranz sei erreicht, wenn eine (Grundeinkommen-)Initiative primär damit beworben werde, sie sei einer vertieften Diskussion wert.[10]

Dass das Volksinitiativrecht (alt) Bundesräte und liberale Leitblätter wenig begeistert, erstaunt kaum – dies war schon im Geburtsjahr 1891 nicht anderes. So schlug dem NZZ-Leser nach dem Urnengang auf der ersten Seite entgegen: «Grosse Schichten des Volks haben gar nicht gewusst, worum es sich handelt; sie haben weder das schwer auszusprechende Fremdwort ‹Initiative› verstanden noch die Sache selbst begriffen. […] Als ungefährliches Ding konnten sie es ja annehmen, aber dass man damit die Welt reformiren könne, das glaubt bei uns Niemand. Welch gefährliche Waffe sie damit in die Hand bekommen haben, das wissen nur die Führer der Ultramontanen und Sozialdemokraten.»[11]

500’000 Franken für Jux?

Sowohl der konservative Koller als auch der liberale Gujer vergessen hierbei jedoch dreierlei: Erstens fusst das Initiativrecht gerade auf der Idee, dass für einmal nicht Bundesräte und Chefredakteure, Parlamentarier und Lobbyisten, sondern eine stattliche Anzahl gemeiner Bürger ihre Reformanträge (nur Anträge!) in den politischen Prozess einspeisen können sollen. Derlei Desiderata mögen zwar manchmal läppisch bis absurd anmuten – wer hierfür indes 200’000 bis 500’000 Franken für die erfolgreiche Lancierung einer Initiative in die Hand nimmt, beweist bereits hinreichend, dass ihm dabei ernst ist.

Zweitens sollen gerade in einem multikulturellen, quadrilingualen, föderalen Bundesstaat durchaus auch Minderheiten ihr Minderheitsanliegen zumindest einmal zur Diskussion bringen dürfen. Eine Verfassungsänderung erzwingen werden sie dabei zwar regelmässig nicht. Ihr Unmut wird dabei jedoch institutionell kanalisiert, was einerseits gewalttätige Aufstände verhindert, andererseits aber das Anliegen auf die eine oder andere Art aufnimmt.[12] So zeitigen Volksinitiativen immerhin zu grob 50 Prozent indirekte Wirkungen, oftmals in Form eines Gegenvorschlags.[13]

Drittens schliesslich ist die These falsch, dass wir vermehrt für «Irrelevantes» an die Urne gerufen werden. Im Gegenteil: Die langjährige Statistik der durchschnittlichen Erfolgsquoten von Volksinitiativen (Ja-Stimmenanteil) pro Legislatur weist geradezu in eine andere Richtung:

Ja-Anteile VI je Legislatur

Die Empirie zeigt also keinerlei Anzeichen von «Initiativmüdigkeit». Aus Sicht des Souveräns – der einzig legitimen Instanz, diese Frage zu beurteilen – werden nicht zu viele Begehren an ihn herangetragen. Die durchschnittlichen Ja-Stimmenanteile sinken nicht etwa, was der Fall wäre, wenn öfters respektive einfacher reine Partikularinteressen an die Urne gelangen würden. Die mittlere Zustimmungsrate steigt über die Legislaturen hinweg sogar leicht an. Die Stimmberechtigten empfinden die ihnen vorgelegten Verfassungsänderungen also als zunehmend relevanter; in den letzten drei Legislaturen (2003 bis 2015) stiessen die «Anträge aus dem Volk» denn immerhin bei durchschnittlich knapp 40 Prozent der Stimmbürger auf Anklang.

Quorum von 2.6 Millionen wie «damals»

Bei der aktuellen Debatte um die «Initiativenflut» und die realitätsfremden Forderungen zur Erhöhung des Unterschriftenquorums – nach BDP-Präsident Martin Landolt sollen’s 250’000 sein, nach «Avenir Suisse» lieber gleich 400’000 – wird just dieser Aspekt komplett ignoriert. Welchen Anteil das Quorum im Verhältnis zu allen Stimmberechtigten anno 1848 auch immer ausmachte, ist für die heutige Debatte schlicht nicht relevant. Die Volksrechte-Kritiker gehen von der irrigen Prämisse aus, eine dannzumalige Quote (etwa 8 Prozent der Stimmberechtigten, was heute über 400’000 entspricht) aus einem fernen Jahrhundert sei die für ewig «richtige». Dabei übersehen sie interessanterweise, dass ein paar Jahre vor Gründung des Bundesstaats teilweise ein Unterschriftenquorum von 50 Prozent (!) vorherrschte. Wieso also nicht gleich zurück zu «damals» und 2.6 Millionen fordern?

Die Hürde ist dann optimal justiert, wenn sie die Spreu vom Weizen trennt, mithin nur solche Begehren in die parlamentarischen Mühlen einspeist, die – vor dem Volk, nicht vor der Parlament! – nicht von vornherein völlig chancenlos erscheinen.

Ebendiese Filterfunktion, dieser Relevanztest funktioniert derzeit so gut wie nie zuvor. Wer dennoch daran herumschräubeln will, rüttelt an den Grundfesten der direkten Demokratie. Selbst dies sei zwar erlaubt. Jedoch sollte der intendierte oder zumindest präferierte Umbau in eine parlamentarische Demokratie immerhin offen gelegt werden.

 


[1] Andreas Kley, Volksinitiativen: Das Parlament als Vermittler zwischen Volk, Regierung und Gerichten?, Parlament, Parlement, Parlamento 1/15, 36 ff., 41.

[2] Vgl. Alfred Kölz, Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte, Ihre Grundlinien vom Ende der Alten Eidgenossenschaft bis 1848, Bern 1992, 303 ff.

[3] BBl 1891 IV 1 ff. Genau genommen wurde hier das Volksinitiativrecht auf Teilrevision des Bundesverfassung eingeführt; die Initiative auf Totalrevision exisierte seit der Gründung des Bundesstaats 1848 (Art. 113 BV 1848), war und ist jedoch ziemlich bedeutungslos.

[4] Als Urheber dieses Diktums wird sowohl Fritz Fleiner, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, Tübingen 1923, S. 398, als auch als auch eine Formulierung im BGE 25 I 64 ff., 77, E. 5 vom 2. März 1899 erwähnt, vgl. Giovanni Biaggini, Fritz Fleiner (1867–1937), in: Peter Häberle/Michael Kilian/Heinrich Wolff, Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts, 111 ff., 120, Fn. 40.

[5] Hans-Urs Wili, Jux Populi? Vox Dei?, 100 Jahre eidgenössische Volksinitiative auf Partialrevision der Bundesverfassung, ZSR 1991, 485 ff., 487.

[6] Vgl. hierzu exemplarisch nur die Beiträge in Georg Kreis (Hrgs.), Reformbedürftige Volksinitiative, Verbesserungsvorschläge und Gegenargumente, Zürich 2016, insb. von Christine Egerszegi-Obrist, Astrid Epiney, Georg Kreis, Giusep Nay, Lukas Rühli und Daniel Thürer.

[7] Vgl. François Comment (Hrsg.), 125 Jahre Amtliches Bulletin der Bundesversammlung / Les 125 ans du Bulletin officiel de l’Assemblée fédérale / I 125 anni del Bollettino ufficiale dell’Assemblea federale, Bern 2016.

[8] Siehe zur «Initiativenflut» nur die Beiträge Auf der Suche nach der «Initiativenflut», «Von einer Initiativenflut zu sprechen, ist übertrieben» und Zu viel des Guten?.

[9] Arnold Koller, Aus der Werkstatt eines Bundesrates, Bern 2014, S. 137.

[10] Eric Gujer, Beschäftigungstherapie für Staatsbürger, NZZ, 30. April 2016.

[11] Die Abstimmung vom 5. Juli, NZZ, 7. Juli 1891, S. 1.

[12] Vgl. zur Protest- und Oppositionsfunktion sowie zur Integrationsfunktion nur Gabriela Rohner, Die Wirksamkeit von Volksinitiativen im Bund 1848-2010, Diss. Zürich 2012, 43 ff.

[13] Vgl. a. a. O., 233 ff.

Dicke Post von der Post

Der Gelbe Riese wirbt in seiner Kundenzeitschrift offensiv gegen die Initiative Pro Service public. Dieses Vorgehen sei rechtlich heikel, sagen Juristen.

Publiziert in der «Neuen Luzerner Zeitung» am 25. Mai 2016.

Post

«Rechtlich an der Grenze»: Berichterstattung zur Pro-Service-Public-Initiative im Kundenmagazin der Post. Bild: Die Post

«Die Schweiz funktioniert», verkündet die Schweizerische Post auf der Frontseite ihres Kundenmagazins, das Anfang Woche an knapp zwei Millionen Haushalte verschickt wurde. Was uns der Gelbe Riese damit sagen will: Das System der öffentlichen Grundversorgung hat sich hierzulande bewährt, weshalb es keine Änderungen braucht – insbesondere nicht jene, welche die Volksinitiative Pro Service public anstrebt. Das von Konsumentenzeitschriften lancierte Begehren will Unternehmen mit gesetzlichem Auftrag für die Grundversorgung (wie Post, SBB oder Swisscom) verpflichten, in diesem Bereich nicht nach Gewinn zu streben. Zudem sollen die Löhne auf das Niveau der Bundesverwaltung begrenzt werden.

Befürworter fehlen

Das Kundenmagazin der Post widmet der Initiative vier Seiten. Drei davon umfasst ein Interview mit den Co-Präsidenten des Nein-Komitees, Reto Lindegger vom Gemeindeverband und Thomas Egger von der Arbeitsgemeinschaft für die Berggebiete, die erklären, weshalb die Initiative abzulehnen sei. Dazu werden in einem Kasten die Leistungen von Post («Spitzenwerte in Sachen Qualität»), SBB («pünktlichste Bahn Europas») und Swisscom («höchste garantierte Internet­geschwindigkeit») gepriesen. Schliesslich werden auf einer Seite weitere Vertreter der Initiativgegner zitiert. Die Befürworter kommen nicht zu Wort. Einzig ein kleiner Kastentext weist auf die Ziele der Initiative hin, darunter steht ein Link zur Webseite des Initiativkomitees.

Zu Neutralität verpflichtet

Grundsätzlich ist es der Post untersagt, sich in Abstimmungskämpfe einzumischen. Als staatliches Unternehmen ist sie zur Neutralität verpflichtet, die auch für staatliche Behörden gilt. Allerdings gilt diese Pflicht laut Rechtsprechung des Bundesgerichts nicht absolut: Ist ein Unternehmen von einer Vorlage «in besonderer Weise betroffen», darf es – wie jedes private Unternehmen – seine Position kundtun. Selbst dann ist es jedoch zur «Zurückhaltung» verpflichtet und muss sich an die Grundsätze der Sachlichkeit, der Transparenz und der Verhältnismässigkeit halten. Diesbezüglich sei das Kundenmagazin der Post «rechtlich an der Grenze», sagt Regula Kägi-Diener auf Anfrage. Die Anwältin ist auf Staats- und Verwaltungsrecht spezialisiert. Zwar sei es das gute Recht der Post, sich zur Abstimmung zu äussern. In den Beiträgen werde aber «sehr viel Butter aufs Brot gestrichen». «Ausgewogen ist anders», findet Kägi-Diener. Ob sich die Post damit noch im juristisch zulässigen Bereich befinde, sei aber schwierig zu sagen.

Für Andreas Glaser, Professor für öffentliches Recht an der Universität Zürich, ist der Fall indes klar: «Hier wird die Abstimmungsfreiheit verletzt.» Im Interview würden Behauptungen gemacht, die nicht belegt seien, und die Argumente der Gegenseite kämen überhaupt nicht vor. «So etwas habe ich in dieser Einseitigkeit noch nie erlebt.» Die Befürworter der Initiative stimmen in die Kritik ein. «Es ist bedenklich, wenn ein Staatsbetrieb in eigener Sache mit unserem Kundengeld einen Abstimmungskampf so massiv beeinflusst», sagt Peter Salvisberg, Geschäftsleitungsmitglied der Konsumenteninfo AG, die unter anderem die Zeitschriften «K-Tipp» und «Saldo» herausgibt und hinter der Initiative steht.

Post erkennt kein Problem

Die Post sieht hingegen kein Problem. Die Firma beteilige sich nicht aktiv an der Abstimmungskampagne, betont Mediensprecherin Jacqueline Bühlmann gegenüber unserer Zeitung. «Sie ist von der Initiative jedoch direkt betroffen und informiert deshalb die Öffentlichkeit über die Folgen, die eine Annahme für sie als Unternehmen und den von ihr erbrachten Service public hätte.» Die Befürworter könnten, falls sie die Abstimmungsfreiheit verletzt sehen, eine Stimmrechtsbeschwerde einreichen. Das hatten vor zwei Jahren bereits die Befürworter der Einheitskasseninitiative getan. Sie monierten, dass gewisse Krankenkassen – die ebenfalls einen öffentlichen Auftrag haben – im Abstimmungskampf einseitig informiert hätten. Das Bundesgericht wies die Beschwerden ab. Zwar räumte es ein, dass einzelne Beiträge etwa in Kundenmagazinen zu einseitig gewesen seien. Allerdings reichte dies aus Sicht der Lausanner Richter nicht aus, das Abstimmungsresultat «wesentlich zu beeinflussen».

Grosse Verbreitung

Ob dies bei einem Magazin, das in sämtliche Schweizer Haushalte ohne «Stopp-Werbung»-Kleber versendet wurde, ebenfalls der Fall ist, ist allerdings umstritten. Jedenfalls ist laut Regula Kägi-Diener die Verbreitung einer Publikation mitentscheidend dafür, ob die Stimmbürger beeinflusst werden, und damit für das Urteil, ob die Abstimmungsfreiheit verletzt ist oder nicht. Andreas Glaser ist überzeugt, dass eine Stimmrechtsbeschwerde «beste Chancen» hätte.

Würde das Bundesgericht eine Verletzung der Abstimmungsfreiheit feststellen, könnte es die Post dafür rügen – und im Extremfall sogar die Abstimmung aufheben. Die Hürden für so eine Massnahme sind allerdings hoch. Ob die Befürworter Beschwerde einreichen, ist noch offen. «Wir schauen uns das in aller Ruhe an», sagt Peter Salvisberg.

Wieso sich die Demokratie schlecht als Argument gegen (oder für) die Durchsetzungsinitiative eignet

Vor der Abstimmung am 28. Februar sprechen die Gegner der Durchsetzungsinitiative vom drohenden Ende des Rechtsstaats und der Gefahr einer Diktatur. Die Warnungen vor dem «Volksabsolutismus» basieren allerdings auf einem seltsamen Verständnis von Demokratie.

Ebenfalls publiziert (leicht gekürzt) in der «Basler Zeitung» am 17.02.2016.

Landsgemeinde Appenzell 2012

Volksabstimmung an einer Appenzeller Landsgemeinde.
Bild: hdzimmermann

Eigentlich könnte man meinen, bei der Durchsetzungsinitiative, gehe es um Landesverweise für straffällige Ausländer. Wer den aktuellen Abstimmungskampf verfolgt, erhält indes den Eindruck, es stehe nicht weniger als die demokratische Grundordnung auf dem Spiel. Gegner und Befürworter geizen nicht mit grossen Worten. So wähnt SVP-Übervater Christoph Blocher die Schweiz «auf dem Weg zur Diktatur», die offenbar nur durch ein Ja am 28. Februar abgewendet werden kann. Die Gegner argumentieren genau umgekehrt: Es sei gerade der «Volksabsolutismus», der zur Diktatur und zum Niedergang der Schweiz führe. Wenn das Stimmvolk das Parlament und die Gerichte ausschalte, verstosse es gegen die «Grundregeln der Demokratie», warnte auch Bundesrätin Simonetta Sommaruga an der Medienkonferenz zum Auftakt des Abstimmungskampfs. Bei nüchterner Betrachtung kommen allerdings Zweifel an der These auf, die Durchsetzungsinitiative gefährde die Demokratie.

Vom Volk abhänigig

«Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus», heisst es im deutschen Grundgesetz. Das gilt – vielleicht noch in grösserem Masse – auch für die Schweiz.[1] Parlament, Regierung und Gerichte werden alle direkt oder indirekt durch die Stimmbürger gewählt. Das bedeutet, dass sie demokratisch legitimiert sind, aber auch, dass sie vom Volk abhängig sind. Das Volk verleiht ihnen Macht und schränkt diese gleichzeitig ein. Der Handlungsspielraum von Parlament, Regierung und Gerichten ist stets limitiert durch den Spielraum, der ihnen die Stimmbürger zuzugestehen bereit sind.

Nach Daniel Binswanger «beruht die Erfolgsgeschichte der Schweiz gerade darauf, dass die Volkssouveränität politischen ‹Checks and Balances› unterworfen ist». Das klassische Gewaltendreieck bestehend aus Parlament, Regierung und Gerichte fusst idealerweise tatsächlich auf der Idee, dass sich diese drei Institutionen gegenseitig kontrollieren und hemmen. Der Stimmbürgerschaft als Gesamtheit des Staatsvolks und somit als übergeordnetem Organ kommt der Funktion der «Checks and Balances» jedoch gerade keine Bedeutung zu. Im Gegenteil, erstere drei Institutionen verdanken ihre schiere Existenz gerade der vierten, durch welche sie (direkt wie die Bundesversammlung oder immerhin indirekt) legitimiert sind.[2] [3]

Die Frage der Definitionshoheit

Damit soll keineswegs gesagt werden, das Volk dürfe alles und habe immer recht. Das ist indes eine ganz andere Frage. Wie an anderer Stelle ausgeführt, ist niemand, auch nicht der Verfassungs- und Gesetzgeber, legitimiert, die grundlegenden Rechte und Freiheiten einer Person zu verletzen. Jemanden ohne Grund einzusperren oder ihn zu enteignen, ist falsch, egal ob der Entscheid dazu ein Parlament, eine Regierung, ein Gericht oder eine Mehrheit der Stimmbürger fällt. Die entscheidende Frage ist jedoch, wer diese Grundrechte und -freiheiten definiert und wer entscheidet, ob eine Verletzung vorliegt oder nicht.

Diese Frage stellt sich auch im Zusammenhang mit der Durchsetzungsinitiative. Wer bestimmt, ob die Ausschaffung eines kriminellen Ausländers eine ungerechtfertigte Verletzung oder eine unverhältnismässige Einschränkung seiner Grundrechte darstellt? Über Landesverweise entscheidet in der Schweiz die Judikative – die Richter müssen sich allerdings an den gesetzlichen Rahmen halten, der ihnen letztlich vom Volk vorgegeben wird. Und es steht der Mehrheit der Stimmbürger frei, diesen Rahmen anzupassen und den Entscheidungsspielraum der Gerichte in dieser Frage einzuschränken oder gar aufzuheben. Wie gerecht und wie zielführend diese Lösung ist, darüber kann man geteilter Meinung sein. Es handelt sich aber nicht um eine Aushebelung des Rechtsstaats oder um einen Verstoss gegen die Grundregeln der Demokratie, sondern um einen ganz gewöhnlichen Vorgang, indem das Volk von seinen (verfassungsmässigen) Kompetenzen als Verfassungs- und Gesetzgeber Gebrauch macht.

Aus dem gleichen Grund ist auch die Kritik, mit der Initiative werde das Parlament ausgeschaltet, irreführend. Ehrlicherweise müssten diese Kritiker umgehend die Abschaffung des fakultativen und obligatorischen Referendums fordern, da mit diesen Instrumenten immer wieder Entscheide des Parlaments umgestossen werden. Auch wäre die Volksinitiative, wie sie in sämtlichen Kantonen praktiziert wird, gemäss jener Argumentationdes Teufels, da sie die Gesetzesebene (teilweise gar die Verordnungsebene und Einzelbeschlüsse) betrifft. Es ist ja gerade Sinn und Zweck der direkten Demokratie, dass die Stimmbürger das Parlament korrigieren können, wenn sie mit dessen Entscheiden nicht einverstanden sind – auf welcher Normstufe diese auch immer angesiedelt sind.

Diktatur der Mehrheit oder der Minderheit?

Doch besteht damit nicht die Gefahr einer «Diktatur der Mehrheit», die Gefahr, dass eine Mehrheit des Volkes einzelne Personen oder Minderheiten diskriminiert, ihre Grundrechte verletzt? Definitiv. Aber besteht nicht auch die Gefahr, dass eine Minderheit des Volkes (beispielsweise das Parlament oder die Regierung) dasselbe tut?[4] Hier sind wir wieder bei der Definitionshoheit über die Menschenrechte.

Man kann natürlich der Ansicht sein, dass Menschenrechte am besten gewährleistet sind, wenn sie in der Hand einer kleinen Gruppe von Fachkundigen oder Richtern sind. Es gibt in der Geschichte allerdings genug Beispiele von gravierenden Menschenrechtsverletzungen, von Folterungen bis Völkermorden, für die kleine Gruppen aus der Elite der Gesellschaft verantwortlich waren. Demgegenüber haben die Stimmberechtigten in der Schweiz in der Vergangenheit sehr oft ein feines Sensorium für individuelle Rechte und Freiheiten gezeigt. Zuweilen haben sie sogar Regierung und Parlament zurückgepfiffen, wenn diese sich über die Verfassung hinwegsetzten. Nicht ohne Grund bezeichnete der Staatsrechtler Zaccaria Giacometti in einer Rede 1954 die Demokratie als «Hüterin der Menschenrechte».

Man kann daher optimistisch sein, dass die Demokratie in der Schweiz unabhängig vom Abstimmungsresultat am 28. Februar weiterbestehen wird. Die Warnungen vor einer drohenden Diktatur mögen ein wirkungsvolles Mobilisierungsinstrument im Abstimmungskampf sein. Der Realität werden sie jedoch nicht gerecht.

 


[1] Erstaunlicherweise ist die Volkssouveränität respektive die direkte Demokratie nicht wörtlich in der Bundesverfassung verankert; sie ergibt sich jedoch implizit daraus. Einige Kantonsverfassungen halten aber einleitend die demokratische Grundordnung mit der Wendung fest: «Die Staatsgewalt beruht auf dem Volk.» (So etwa Art. 1 Abs. 3 KV-ZH, Art. 1 Abs. 2 KV-BE, Art. 2 KV-SH.)

[2] Mit den Kantonen existiert aber durchaus ein paritätischer Gegenspieler zum Volkssouverän: Nur wenn gleichzeitig eine Mehrheit der föderalen Einheiten eine beantragte Verfassungsänderung gutheisst, kann diese in Kraft treten.

[3] Im Übrigen wirkt die These Binswangers auch deshalb seltsam, weil neben Kalifornien noch viele weitere Bundesstaaten in den USA das Instrument der Volksinitiativen kennen, ohne dass sie daran zugrundegegangen wären.

[4] Immerhin setzt sich das Bundesparlament regelmässig über die Verfassung hinweg (siehe Eine Nebensächlichkeit namens Bundesverfassung) und nunmehr bemerkt selbst Binswanger, dass «es auch die Landesregierung mit der Verfassungskultur nicht mehr sehr genau [nimmt]».

Initiativenflut? Vorstossflut!

Allenthalben wird die angebliche Flut von Volksinitiativen kritisiert und Einschränkungen gefordert. Anstatt die Hürden zu erhöhen, könnten Politiker aber auch einfach mit gutem Beispiel vorangehen – und sich mit Vorstössen etwas zurückhalten.

Anzahl Vorstösse BVers je Legislatur

Die «Vorstossflut» (Angaben ohne Standesinitiativen).

Unsere Politiker sind wahrlich nicht zu beneiden: Ständig müssten sie sich mit Volksinitiativen befassen, die von Stimmbürgern eingereicht werden, beklagte vor einiger Zeit Jean-Daniel Gerber in der NZZ: «Solche Initiativen beanspruchen die wertvolle Zeit des Bundesrats, der Verwaltung und des Parlaments», erklärte der ehemalige Direktor des Staatssekretariats für Wirtschaft. «Dies geht auf Kosten der wahren Probleme des Landes.»

Gerber ist nicht der einzige, der sich über die angebliche «Initiativenflut» ereifert und Einschränkungen fordert, etwa in Form einer Erhöhung der Unterschriftenhürde oder anderer limitierender Massnahmen. Und die ehemalige Bundeskanzlerin Annemarie Huber-Hotz forderte vergangenes Jahr ein Verbot für Bundesratsparteien, Initiativen zu lancieren.

Die Zahlen geben indes keine Hinweise auf eine «Inititiativenflut»: Die Zahl der lancierten Volksinitiativen ist seit den 1970er Jahren in etwa konstant. Was hingegen stark ansteigt, ist die Zahl der Vorstösse, die im Parlament eingereicht werden. In der zu Ende gehenden 49. Legislatur brachten National- und Ständeräte nicht weniger als 8400 Mal ein Anliegen in Form einer Motion, eines Postulats, einer Parlamentarischen Initiative oder eines Frage-Vorstosses (Interpellation, Anfrage oder Fragestunde) zu Papier. Das ist ein neuer Rekord (siehe Grafik). In der 45. Legislatur (1995 bis 1999) waren noch weniger als halb so viele Vorstösse eingegangen. Wenn also jemand die «wertvolle Zeit» der Politiker verschwendet, dann sind es in erster Linie die Politiker selbst.

Vorstösse BVers nach Jahr und Art 1995-2014

Schlüsselt man die Zahlen nach Art der Vorstösse auf, zeigt sich, dass sich insbesondere Interpellationen und Fragen in der Fragestunde in den letzten Jahren stark gehäuft haben (siehe Grafik) – Vorstossformen also, die vorab den Bundesrat betreffen. Dahingegen ist die Zahl der Parlamentarischen Initiativen verhältnismässig schwach gestiegen, die Zahl der Motionen ist seit dem Höchststand 2009 sogar zurückgegangen.

Relativierend kann zudem gesagt werden, dass das Geschäftsreglement mit selbstregulierenden Massnahmen dafür sorgt, dass sich das Parlament nicht selbst überfordert: Wird ein Vorstoss nicht innert zwei Jahren nach Einreichung im Rat behandelt, wird er automatisch abgeschrieben. Bundesrat und Verwaltung werden dadurch jedoch nicht entlastet: Die Regierung muss trotzdem jeden Vorstoss innert drei Monaten beantworten.