Ein zweites Referendum könnte Klarheit über den Austritt Grossbritanniens aus der EU bringen. Die praktische Umsetzung ist allerdings knifflig.
An diesem Dienstag kommt es zum Showdown in London: Das Abkommen über den EU-Austritt des Landes, das Premierministerin Theresa May mit Brüssel ausgehandelt hat, wird dem Unterhaus zur Abstimmung vorgelegt (nachdem die Regierungschefin eine erste Abstimmung im Dezember in Erwartung einer Niederlage abgesagt hatte). Die Chancen auf eine Annahme des Deals sind auch diesmal nicht gerade rosig.
Sollten die Commons Nein sagen, droht die britische Politik (noch weiter) im Chaos zu versinken. Angesichts dieser Aussichten erhält eine Idee Rückenwind, die bereits seit der Brexit-Abstimmung 2016 im Gespräch ist: ein zweites Referendum. So wie es aussieht, scheint keine der Optionen, die auf dem Tisch liegen – May’s Deal, No-Deal Brexit, No Brexit – eine Mehrheit des Parlaments zu überzeugen. Warum also nicht den Ball zurück ans Volk spielen?

Das britische Unterhaus tut sich schwer damit, eine Lösung für den Brexit zu finden. Sollte es den Ball zurück ans Volk spielen? Bild: UK Parliament (Flickr)
Verschiedene Bewegungen haben genau das im Sinn. Interessanterweise fordern jene, die vor der Abstimmung von 2016 Referenden generell als Teufelszeug brandmarkten, nun mitunter am lautesten ein weiteres Referendum. Offensichtlich spielen hier politische Überlegungen eine wichtige Rolle.
Staatspolitisch gibt es sowohl Argumente für wie auch gegen eine neue Volksabstimmung. Auf der einen Seite kann man argumentieren, dass nun Klarheit über die konkreten Optionen für einen Austritt sowie die entsprechenden Vor- und Nachteile herrscht, und die Bürger nun en connaissance de cause entscheiden könnten. Auch spricht einiges dafür, wichtige internationale Verträge dem Stimmvolk vorzulegen – und der Austrittsvertrag gehört ohne Zweifel in diese Kategorie. Auf der anderen Seite hat niemand den Bürgern im Vorfeld der Brexit-Abstimmung 2016 versprochen, dass sie sich später nochmals äussern könnten. Man könnte also argumentieren, dass das Volk sich im Bewusstsein aller Unsicherheiten und Risiken für den Austritt aus der EU entschieden habe – und der Entscheid nun zu akzeptieren sei (auch wenn es sich rechtlich um ein unverbindliches Plebiszit handelte).
Keine Methode ohne Schwäche
Abgesehen davon stellt sich eine andere Frage: Wie sollte ein allfälliges zweites Referendum überhaupt durchgeführt werden? Welche Frage soll den Bürgern gestellt werden? Dieser Punkt wurde bisher noch kaum angesprochen. Dabei ist er durchaus entscheidend, wie sich zeigen wird.
Grundsätzlich sind folgende Varianten denkbar:
Auf den ersten Blick die einfachste Möglichkeit wäre eine simple Ja/Nein-Abstimmung. Bloss: Zu was soll man konkret Ja oder Nein sagen können? Nochmals über die Grundsatzfrage (Brexit Ja oder Nein?) abzustimmen, macht wenig Sinn, weil im Fall eines erneuten Ja unklar bliebe, welche Form von Brexit das Stimmvolk bevorzugt. Eine Abstimmung über das konkrete Abkommen, das auf dem Tisch liegt, würde möglicherweise ebenfalls kein befriedigendes Resultat liefern. Denn sowohl «Remainers» als auch Anhänger eines «hard Brexit» lehnen den Deal ab. Bei einem Nein wäre somit nicht klar, was die Bürger stattdessen wollen.
Sinnvoller wäre es, den Stimmbürgern zwei Fragen vorzulegen: In einer ersten können sie sich zwischen dem Austritt und dem Verbleib in der EU entscheiden. In einer zweiten über den Deal Mays (oder der dannzumal amtierenden Regierung) befinden. Würde eine Mehrheit sich bei der ersten Frage gegen den Brexit aussprechen, wäre die zweite Frage irrelevant. Andernfalls würden bei der zweiten Frage alle Stimmen zählen (also auch jene der Brexit-Gegner).
Das Problem bei dieser Variante wäre, dass sie manche Stimmbürger in ein taktisches Dilemma stürzen könnte. Nehmen wir als Beispiel einen überzeugten Brexit-Befürworter, der am liebsten einen möglichst klaren Bruch mit der EU hätte. Mays weiche Variante findet er hingegen schlecht – so schlecht, dass er ihr den Verbleib in der EU vorziehen würde. Rechnet dieser Bürger nun damit, dass Mays Deal sich beim Stichentscheid durchsetzen würde, müsste er bei der ersten Frage eigentlich contre coeur für den Verbleib in der EU stimmen. (Wer glaubt, eine solche Präferenzordnung gebe es in der Praxis nicht, irrt. Der Brexit-Vordenker Daniel Hannan etwa sähe den Verbleib in der EU lieber als das vorliegende Abkommen.)[1]
Alternativ könnten die Bürger zunächst über das ausgehandelte Abkommen befragt werden und (im Falle eines Neins) über die Grundsatzfrage des Austritts. Das Problem des taktischen Abstimmens würde dieser Wechsel der Reihenfolge indes nicht aus der Welt schaffen.
Eine weitere Variante wäre jene mit Stichfrage. Diese kommt in der Schweiz bei Abstimmungen über Initiativen mit direkten Gegenvorschlägen zur Anwendung. Im vorliegenden Fall würden die Stimmbürger zunächst parallel über das ausgehandelte Austrittsabkommen und über einen harten bzw. ungeregelten Brexit befragt, wobei sie jede der beiden Fragen entweder mit Ja oder Nein beantworten könnten. Für den Fall, dass beide eine Mehrheit finden, könnte ausserdem bei der Stichfrage angekreuzt werden, welcher der beiden Austrittsvarianten den Vorzug gegeben werden soll. Sollte keine von beiden bei der Ja/Nein-Frage eine Mehrheit erreichen, wäre dies als Votum für den Verbleib in der EU zu interpretieren.
Taktisches Wählen bleibt aber auch hier möglich. So könnten Befürworter eines harten Brexit, die aber in der Stichfrage einen Sieg von May’s Deal erwarten, geneigt sein, letzteren in der ersten Frage abzulehnen, selbst wenn sie ihn dem Verbleib in der EU vorziehen (sie würden damit aber auch das Risiko eingehen, dass am Ende keine der beiden Optionen eine Mehrheit erreicht).
Schliesslich wäre eine Frage mit drei Antwortmöglichkeiten (Mays Deal, Verbleib in der EU oder No Deal bzw. neue Verhandlungen mit Brüssel[2]) möglich. Der Teufel steckt aber auch hier im Detail: Lässt man jeden Bürger nur eine Option auf seinen Stimmzettel schreiben bzw. ankreuzen, müsste das relative Mehr zur Anwendung kommen. Dieses Verfahren verzerrt das Resultat schon bei Wahlen – und bei Abstimmungen erst recht.
Sinnvollerweise müssten die Bürger die drei Optionen nach Präferenzen ordnen können. Ein Bürger könnte also beispielsweise neben No Deal eine 1 schreiben, neben den ausgehandelten Deal eine 2 und neben Remain eine 3. Ausgezählt würde nach dem Verfahren der Single Transferable Vote bzw. Alternative Vote: Zunächst werden die ersten Präferenzen addiert; wenn keine Variante eine Mehrheit findet, wird die unpopulärste Option eliminiert und die Stimmen der Wähler mit dieser als erster Präferenz gemäss deren zweiter Präferenz den anderen beiden Optionen zugeteilt; die Option, die dann auf eine Mehrheit kommt, gewinnt. Freilich sind taktische Überlegungen auch hier nicht ausgeschlossen, jedoch hätten sie im Vergleich zur Variante mit zwei Fragen einen kleineren Einfluss.
Die beliebteste Option verliert
Ein anderes Problem bleibt jedoch: Es ist möglich, dass in einem solchen Verfahren eine Option, die beide anderen Optionen in der direkten Gegenüberstellung schlagen würde, bereits in der ersten Runde rausfällt. Nehmen wir folgende fiktiven Präferenzordnungen:
Anteil der Stimmberechtigten |
1. Präferenz |
2. Präferenz |
3. Präferenz |
30 % |
No Deal |
Mays Deal |
Kein Brexit |
5 % |
No Deal |
Kein Brexit |
Mays Deal |
15 % |
Mays Deal |
Kein Brexit |
No Deal |
10 % |
Mays Deal |
No Deal |
Kein Brexit |
35 % |
Kein Brexit |
Mays Deal |
No Deal |
5 % |
Kein Brexit |
No Deal |
Mays Deal |
Betrachtet man die erste Präferenz, würde «No Deal» auf 35 Prozent der Stimmen kommen, Mays Deal auf 25 und «Kein Brexit» auf 40. Mays Deal würde also eliminiert, die Stimmen dieser Wähler würden zu drei Fünfteln dem Verbleib in der EU und zu zwei Fünfteln «No Deal» zugewiesen. «Kein Brexit» käme so auf 55 Prozent und würde als Sieger aus der Abstimmung hervorgehen.
Die Anhänger von Mays Deal könnten nun allerdings argumentieren, dass ihre Präferenz eigentlich die beliebteste wäre – und sie hätten recht! Stellt man nämlich Mays Deal dem Verbleib in der EU gegenüber, siegt erstere Option mit 55 zu 45 Prozent. Stellt man ihn «No Deal» gegenüber, gewinnt er mit 60 zu 40 Prozent. Im direkten Duell gewinnt Mays Deal gegen alle anderen Varianten[3] – und geht in einer Abstimmung mit drei Varianten doch hoffnungslos unter. Der Grund liegt darin, dass in diesem Beispiel zwar viele Bürger Mays Deal als hinnehmbaren Kompromiss sehen, aber nur wenige als oberste Priorität.
Nun könnte man dieses Problem lösen, indem man zunächst paarweise abstimmen lässt, und erst wenn es keinen eindeutigen Sieger gibt, STV anwendet. Dieses Verfahren würde aber das taktische Abstimmen wieder zurück ins Spiel bringen. Denn nun könnten einige Anhänger des Verbleibs in der EU (bzw. eines hard Brexit) contre coeur «No Deal» (bzw. «Kein Brexit») als zweite Präferenz auf ihren Zettel schreiben. Damit würde die direkte Ausmarchung keinen Sieger ergeben (Condorcet Paradoxon) und STV müsste entscheiden, wo ceteris paribus Mays Deal wiederum als erste Option ausschiede.[4]
Wie könnte das Dilemma aufgelöst werden? Die Antwort ist einfach: gar nicht. Den Beweis dazu lieferte der Ökonom Kenneth Arrow mit seinem Unmöglichkeitssatz. Er zeigte auf, dass es keine Methode gibt, die die Präferenzen bzw. die Nutzenfunktionen von Individuen zu einer gesamtgesellschaftlichen Nutzenfunktion aggregieren kann und dabei fünf einfache logische Grundbedingungen einhält.[5]
Auf ein zweites Brexit-Referendum übertragen heisst das, dass es keine Fragestellung gibt, die mit 100-prozentiger Sicherheit das Resultat liefert, das den gesamtgesellschaftlichen Nutzen maximiert, oder nur schon jenes, das von einer Mehrheit gegenüber den anderen Optionen bevorzugt würde, wie wir gesehen haben.
Das bedeutet natürlich nicht, dass ein zweites Referendum bzw. Referenden im Allgemeinen unnütz wären – tatsächlich schlägt sich die repräsentative Demokratie gegenwärtig ja mit den genau gleichen Dilemmata herum. Bloss ist es, sobald mehr als zwei Optionen im Spiel sind, ziemlich anspruchsvoll, in Volksabstimmungen den «Willen des Volkes» «richtig» zu ermitteln. Es geht somit oft nicht darum, das perfekte Verfahren zu finden, sondern eher, das am wenigsten schlechte.
Weiterführende Artikel:
[1] Das Beispiel zeigt ein grundsätzliches Problem derartiger Präferenzordnungen. Bestehen solche, ist es möglich, dass von drei Optionen keine als eindeutige Gewinnerin resultiert – das so genannte Condorcet-Paradoxon. Der Politikwissenschafter Simon Kaye kam in einem kürzlich publizierten Beitrag zum Schluss, dass ein solches Condorcet-Paradoxon beim Brexit vorliegen könnte.
[2] Der Einfachheit halber bezeichnen wir die letzte Version im Folgenden als «No Deal».
[3] Technisch gesprochen handelt es sich um einen Condorcet-Gewinner.
[4] Keine Lösung wäre auch die Durchführung einer so genannten Borda-Wahl. Bei diesem Modell können die Wähler Punkte vergeben (2 Punkte an die erste Präferenz, 1 an die zweite Präferenz), die dann addiert werden. Auch hier gibt es aber Anreize für taktisches Wählen.
[5] George Szpiro (2011): Die verflixte Mathematik der Demokratie, Kapitel 11.
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