Category Archives: Verfassung

150 Jahre Semper-Stadthaus Winterthur: Auf dem Weg zur modernen Demokratie

Das Semper-Stadthaus Winterthur ist nicht nur architektonisches Kunstwerk, sondern war auch Wirkstätte der Demokratischen Bewegung Zürichs. Stadtpräsident Michael Künzle bezeichnet es gar als «Denkmal und Aufforderung zugleich, sich immer wieder für Volksrechte stark zu machen». An der kürzlichen Jubiläumsfeier «150 Jahre Stadthaus Winterthur» hat Historiker Josef Lang an die Ecole de Winterthour und ihren Kampf für die progressive Bundesverfassung 1874 erinnert. (Red.)

Festrede von Josef Lang[*], gehalten an der Feier «150 Jahre Stadthaus Winterthur» vom 22. September 2021.

Stadthaus Winterthur. (Foto: Ikiwaner)

 

«Regenwetter und behagliche Temperaturen im neuen Saal ermutigten zum Ausdauern.» So leitete der Landbote die Berichterstattung über die allererste Gemeindeversammlung in diesem Gebäude ein. Ausdauer war nötig: Die Versammlung vom Sonntag, den 30. Oktober 1870, startete vormittags um halb Zehn und dauerte bis in den Abend hinein. Behaglich war auch die damalige politische Temperatur in Winterthur. Im Herbst 1870 herrschte eine kurze Ruhe nach dem kantonalen und vor dem nationalen Verfassungs-Sturm. Die Demokraten fühlten sich in der Gemeinde und im Kanton sicher im Sattel. Und über ihre wichtigste Errungenschaft, die Volksrechte, wurde damals in vielen Kantonen und Vereinigungen intensiv diskutiert.

Selbst beim Hauptthema der «von 350 – 400 Mann zahlreich besuchten» Gemeindeversammlung, nämlich «Deckung des Defizits», herrschte laut dem zitierten Landboten für «die Stadtverwaltung das schönste Wetter». Nur einer hatte etwas zu kritisieren. Ich zitiere aus dem Landboten vom 1. November: «Herr Koller sucht die Versammlung zu überzeugen, dass die Stadtverwaltung endlich einmal so aufrichtig sei, was er, Herr Koller, schon längst prophezeit habe, nämlich, dass das viele Bauen und Geldausgeben eine teure Sache sei.»

So hatte die Gemeinde drei Monate zuvor eine Million Franken für die Bahn nach Waldshut mit einer Fortsetzung nach Basel beschlossen. Vielleicht hat der demokratische Stadtpräsident Johann Jakob Sulzer bei seinem Rücktritt im Februar 1873 an das Koller-Votum anlässlich der ersten Versammlung im neuen Stadthaus gedacht. Sulzer konnte die Nationalbahn-Risiken nicht mehr verantworten. Der vom Landboten etwas abschätzig «Herr Koller» Genannte hatte den Vornamen Konrad Traugott und war Redaktor der eschernahen Winterthurer Zeitung.

Friedrich Albert Lange, Salomon Bleuler und Gottlieb Ziegler: Vordenker der Winterthurer Demokraten

An der ersten Gemeindeversammlung in diesem Saal sprachen auch die drei – seit der gemeinsamen Matura 1847 – eng verbundenen Vordenker der Winterthurer Demokraten: Der Philosoph und Landbote-Redaktor Friedrich Albert Lange, Sohn des konservativen Uni-Professors für Theologie, der ehemalige Pfarrer und Landbote-Besitzer Salomon Bleuler sowie dessen ebenfalls theologisch gebildete Schwager und damalige Regierungspräsident Gottlieb Ziegler. Bleuler unterstützte eine Motion von Niedergelassenen im Zusammenhang mit dem Bürgernutzen. Die Gleichberechtigung der Zugezogenen mit den Ortsbürgern wurde zu einem Schlüsselthema im Ringen um die Totalrevision der Bundesverfassung.

Damit wären wir beim Hauptthema: Der von der Geschichtsschreibung arg unterschätzte Beitrag der Winterthurer Demokraten und ihrer beiden Machtzentren – der Landbote-Redaktion und des Semper-Stadthauses – für die neue Bundesverfassung von 1874. Diese sollte bis 1906, als Finnland das Frauenstimmrecht einführte, die fortschrittlichste und modernste Europas bleiben.

Die Bundesparlamentarier aus Winterthur hatten quantitativ eine starke und qualitativ eine hervorragende Präsenz in der ganzen Revisions-Debatte. Ab 1869 stellten die Winterthurer Demokraten einen Ständerat: den Stadtpräsidenten Sulzer, der selber den Stadtschreiber Theodor Ziegler in der Kleinen Kammer abgelöst hatte. Der andere Ziegler, der Regierungsrat, rückte 1871 in den Nationalrat nach, den er im historischen Jahr 1874 präsidieren sollte. Zusätzlich gehörten seit 1869 Salomon Bleuler und Friedrich Scheuchzer der grossen Kammer an.

Ecole de Winterthour fordert Abschaffung des Ständemehrs, des Ständerats und Volkswahl des Bundesrats

Auf nationaler Ebene, wo die Säkularisierung, Demokratisierung und Zentralisierung des Bundesstaates die Hauptfragen waren, hatten die Zürcher Demokraten zwei Hauptgegner: das wirtschaftsliberale Escher-Zentrum und den katholischen Konservativismus. Die Ecole de Winterthour, wie die Romands die Ziegler, Bleuler, Scheuchzer, Sulzer, Lange würdigten, war inhaltlich viel umfassender, radikaler und moderner, als sie gemeinhin dargestellt wird. Das zeigte sich besonders deutlich drei Wochen nach der Einweihung dieses Stadthauses. Am Ustertag vom 22. November 1870 legte Salomon Bleuler das Programm der Zürcher Demokraten für die Totalrevision der Bundesverfassung vor. Die erste Forderung lautete:

«Bundes-Referendum und Initiative mit Abschaffung des Ständemehrs; Abschaffung des Ständerats und Wahl des Bundesrats durch das Volk.» Dass die Winterthurer Demokraten die Einführung der Volksrechte auch auf Bundesebene anstrebten, kann nicht überraschen. Eher überraschen dürfte die Forderung nach Abschaffung des Ständemehrs und noch mehr des Ständerats. Beim neuen fakultativen Referendumsrecht für Gesetzesänderungen und Bundesbeschlüsse erreichten sie dann auch den Verzicht auf das Ständemehr – allerdings denkbar knapp. Nach einem Patt von 52:52 Stimmen hatte sich der Nationalratspräsident, ein radikaler Berner Demokrat, im Sinne der Demokraten und Deutschschweizer Freisinnigen entschieden.

Was steckte hinter der Ablehnung von Ständemehr und Ständerat durch die Winterthurer Demokraten? Erstens das Ziel, dem Volkswillen möglichst keine Schranken zu setzen. Zweitens die Nation gegenüber den Kantonen zu stärken. Und drittens stand die Ecole de Winterthour in der Tradition der Französischen Revolution, die auf dem mündigen Individuum baute und vorgegebene, tradierte Körperschaften ablehnte.

Nationalräte Bleuler und Ziegler spielen Schlüsselrolle beim Ringen um neue Bundesverfassung

Am 26. Januar 1872 sagte Gottlieb Ziegler-Bleuler im Nationalrat gegen das Ständemehr: «Es ist aber zu bemerken, dass der moderne Staat auf ganz anderen Grundlagen beruht als der alte Schweizerbund, und er sich von den historischen Traditionen desselben gelöst hat. Nicht auf diese können wir abstellen, sondern auf die Kraft, die in jedem einzelnen ruht.» Im Sinne dieses Radikalismus, der die Moderne über die Tradition stellt, forderte der Ustertag von 1870 weiter:

  • Demokratisierung auch der Kantone und Gemeinden durch die Gleichstellung der Niedergelassenen aus anderen Kantonen, damals bereits die Hälfte der Schweizer Bevölkerung;
  • Gleichberechtigung der Juden, Glaubens-, Kultus- und Lehrfreiheit, konfessionsfreies Schulwesen, Schaffung von Zivilehe und Zivilstandsämtern;
  • Humanisierung durch Abschaffung der Todes- und der Kettenstrafe;
  • Nationalisierung durch Übernahme des Wehrwesens oder Erteilung der Eisenbahnkonzessionen durch den Bund;
  • Sozialer Ausgleich und soziale Schutzmassnahmen.

Die gut vorbereiteten Bleuler und Ziegler spielten darauf im Nationalrat und in der Öffentlichkeit beim harten Ringen um die Bundesverfassung eine Schlüsselrolle. Bleuler mit zusätzlich starker Präsenz in der Zivilgesellschaft, sein Schwager als innerparlamentarischer Vordenker. Zu Bleulers Schwerpunkten gehörten die soziale Fragen, u.a. die Unentgeltlichkeit der Primarschule und der Schutz der Arbeitenden. Sein engster Mitdenker und Mitkämpfer Friedrich Albert Lange hatte 1865 das Buch «Die Arbeiterfrage» veröffentlicht. In einem parlamentarischen Wortgefecht mit dem Basler Liberalkonservativen Johann Jakob Stehlin, der sich auf die Privatautonomie der Vertragspartner berief, konterte der Winterthurer Bleuler: Die Interessen der Arbeiter werden nicht gewahrt, «wenn man den Arbeitgebern gestattete, sie zu übertriebener Arbeit von 82 bis 84 Stunden in der Woche anzuhalten, unter dem Vorwande, sie seien vollständig frei, die ihnen gestellten Bedingungen anzunehmen oder zu verwerfen».

Volkstag Solothurn 1873: grösste politische Kundgebung der Schweizer Geschichte

Bleulers Hauptbeitrag zur Bundesverfassung von 1874 lag aber im Ausserparlamentarischen – vor allem nach dem Absturz der ersten Vorlage am 12. Mai 1872 wegen einer föderalistischen Nein-Allianz von Deutschschweizer Konservativen und welschen Radicaux. Die kulturkämpferischen Radikalen, die Nordostschweizer Demokraten und die demokratisch-sozialen Grütlianer gründeten nach dem erwähnten Rückschlag einen gesamtschweizerischen Volksverein. Bleuler, der in allen drei Strömungen eine tonangebende Stimme war, gehörte auch zu den Köpfen der neuen freisinnigen Sammelbewegung. Seine basisorientierte Begründung hat nichts an Aktualität eingebüsst: «weil man die politische Aktion von unten herauf stützen und organisieren» wolle, «und weil man sich sagte, dass ein ehrlicher, offener Meinungsaustausch auf dem Boden des Volksvereins auch eher zu einer Verständigung mit der welschen Schweiz führe, als wenn alles das nur im Bundeshaus ausgekocht und diskutiert werde».

Am 11. April 1873 konnte Bleuler seinem in Berlin weilenden Freund Lange mitteilen: «Der Gedanke des Volksvereins hat überall gezündet. […] Wir schwimmen im Strom.» Für den gesamtschweizerischen Volkstag in Solothurn zugunsten einer weniger zentralistischen, dafür laizistischeren Bundesverfassung sagte er eine «Menschenmenge von 25‘000 bis 30‘000 Personen» voraus. So viele wurden es dann auch am 15. Juni 1873 – in der grössten politischen Kundgebung der Schweizer Geschichte bis zur Berner Klimademo vom 28. September 2019.

Gottlieb Ziegler-Bleuler verkörpert wie nur noch der Solothurner Staatsrechtler Simon Kaiser den wichtigsten Fortschritt, den die Bundesverfassung von 1874 ausmachte: die Kombination von demokratischen Volksrechten und sozialer Wohlfahrt mit einer individualistischen Begründung von Nation und Staat. Gottlieb Ziegler war es gewesen, der 1859 als Grossrat die Gleichberechtigung der Zürcher Juden vorgeschlagen und 1861 durchgesetzt hatte – ausgehend von einem Staatsverständnis, in dem das mündige Individuum, das «freie Menschentum» in den Worten Gottfried Sempers, nicht irgendwelchen – hier konfessionellen – Traditionen unterordnet wird. Im Nationalrat erklärte Ziegler-Bleuler 1872, warum das Referendum der Landsgemeinde überlegen ist: «Der Bürger kann sich für die Abstimmungsfrage ruhig und in aller Stille vorbereiten. […] Das ist die Form, wo das Gold der Fabrikherren und vielleicht auch die Kutte sich ihrer nicht bemächtigen können.»

Festtaumel in Winterthur ob Zustimmung zur progressivsten Verfassung der Welt

In der Abstimmungskampagne für die neue Bundesverfassung wies der Landbote neben all den Errungenschaften auf zwei Defizite hin: das Fehlen des Initiativrechts und des «Schweizerbürgerrechts», das den «gordischen Knoten […] des Gegensatzes von Territorial- und Heimatprinzip durchhauen» hätte. Vorbild für das allgemeine «Schweizerbürgerrecht» war die Helvetische Republik von 1798 bis 1803. Die umstrittene Helvetik erfuhr in den Tagen vor der Einweihung dieses Stadthauses eine positive Würdigung durch eine sechsteilige Artikelserie im Landboten.

Trotz der erwähnten Vorbehalte fiel Winterthur nach der Annahme der Bundesverfassung am 19. April 1874 bei einer Rekordbeteiligung von 82 % in einen ausgelassenen und ausdauernden Festtaumel. National hatten 63 %, kantonal 95 % für die damals progressivste Verfassung der Welt gestimmt. Bleuler hielt vor 6000 begeisterten Menschen eine Ansprache, und zwar, wie er es ausdrückte: «pro domo, deutsch: Rede vor dem Stadthaus». Später schrieb Bleuler seinem Freund Lange, der inzwischen in Berlin lebte: «Du magst Dir vorstellen, wie es in Winterthur an den zwei Tagen herging. Kanonen, Feuerwerk, Tambouren, Musik, Fahnen – Schwindel aller Art, jedoch keine Greuel.» Unterzeichnet wurde die neue Bundesverfassung natürlich von einem Winterthurer: von Nationalratspräsident Gottlieb Ziegler-Bleuler.

Nachtrag zur Eisenbahnfrage: Erfolge an Urne, Hybris auf Schiene?

Ich schliesse mit einem Nachtrag: Im zitierten euphorischen Brief an Friedrich Albert Lange vom 28. April 1874 ging Salomon Bleuler nebenbei auf die Eisenbahnfrage ein. «Ich bin der Ansicht, dass die Nationalbahn zum Leben kommt, sofern es gelingt, das Obligationen-Kapital zu beschaffen. […] Die Haltung» Sulzers – des im Vorjahr wegen der Eisenbahnfrage zurückgetretenen Stadtpräsidenten – «verstehe ich nicht mehr». Führten die Erfolge der Winterthurer Demokraten an der Urne zu einer Hybris auf der Schiene? Die Antwort auf diese Frage ist eine andere Geschichte.

 


[*] Dr. Josef Lang ist Historiker und alt Nationalrat sowie Autor von Demokratie in der Schweiz. Geschichte und Gegenwart (Verlag Hier und Jetzt, Baden/Zürich 2020).

So einfach und elegant lässt sich das Ständemehr fairer machen

Nach der Konzernverantwortungsinitiative steht das doppelte Mehr erneut in der Kritik. Zum Schutz von Minderheiten bleibt es wichtig, doch die Berechnung sollte geändert werden.

Publiziert in der «NZZ am Sonntag» vom 3. Januar 2021.

Die Konzernverantwortungsinitiative ist Ende November am Ständemehr gescheitert. Seit der Abstimmung werden wieder Stimmen laut, die dieses Institut reformieren oder gar abschaffen wollen. In einem Bundesstaat ist nebst dem Volksmehr ein zusätzliches leichtes Erschwernis für Verfassungsänderungen aber weiterhin opportun und gehört keinesfalls auf den «Müllhaufen der Geschichte». Doch auch die seit vielen Jahren von Politikerinnen und Politologen aufgeworfenen Vorschläge zur Anpassung des doppelten Mehrs überzeugen nicht: Einerseits laufen die Ideen letztlich darauf hinaus, dieses Mehrheitserfordernis mehr oder weniger stark abzuschwächen. Andererseits würde dieses Update des Föderalismus zwangsläufig an ebendiesem scheitern: Die kleineren Kantone werden kaum Hand bieten, sich selbst zu entmachten, bedarf die nötige Anpassung doch einer Verfassungsänderung – und damit des geltenden Ständemehrs.

Hundwil AI: Profiteur des Ständemehrs. (Foto: Falk Lademann)

Doch warum soll eigentlich den Kantonen eine binäre Standesstimme zugeschrieben werden, also der Wert 1 den zustimmenden Ständen und der Wert 0 den ablehnenden? Es wäre zweckdienlicher, die Standesstimme jedes Kantons proportional zu seinen Ja- und Nein-Stimmen aufzuteilen: Nimmt also zum Beispiel der Kanton Jura eine Verfassungsnovelle mit 70 Prozent Ja-Stimmen an, so wird ihm eine Standesstimme von 0,7 zugeschrieben. Der Kanton Schwyz hingegen, der mit 80 Prozent Nein-Anteil ablehnt, erhält den Wert 0,2. Die 26 proportionalen Standesstimmen werden schliesslich wie gehabt aufsummiert, die Summe muss die absolute Mehrheit erreichen, also weiterhin den Wert 11,5 übersteigen (die Hälfte von 23; sechs Kantone haben eine halbe Standesstimme). Die Konzerninitiative hätte so 11,1 befürwortende zu 11,9 ablehnende Standesstimmen erhalten (anstatt 8,5 zu 14,5) – sie wäre also auch nach dieser Methode gescheitert.

Eine Revolution wäre diese exaktere Berechnung des Ständemehrs nicht. Doch gerade dort, wo das bisherige doppelte Mehr nur knapp reüssierte oder scheiterte, wären breiter abgestützte Entscheide zu erwarten. Dies sei anhand jener zwei letzten Volksabstimmungen gezeigt, bei welchen das proportionale Ständemehr zu einem anderen Ergebnis geführt hätte. Zum einen wäre der Familienartikel am 3. März 2013 angenommen worden, nebst dem Volksmehr von 54 Prozent auch mit einem Ständemehr von 12,0 zu 11,0. Dies, weil die befürwortenden Kantone (wie Genf, Waadt und Jura) etwas stärker zustimmten, als ihn die refüsierenden ablehnten (so Appenzell Innerrhoden, Uri und Obwalden). Zum anderen wäre am 11. März 2012 ein umgekehrter Fall eingetreten: Die bis heute umstrittene Zweitwohnungsinitiative wäre abgelehnt worden. Denn während die ablehnenden Kantone (allen voran Wallis, Uri und Obwalden) das Ansinnen deutlich verwarfen, stimmten die befürwortenden Stände verhältnismässig lau zu. Das geltende Ständemehr von 13,5 zu 9,5 wäre in ein knappes Nein von 11,3 zu 11,7 gekippt.

Seit 1848 wären insgesamt vier nationale Abstimmungen anders herausgekommen – und vielleicht besser akzeptiert worden. Nebst den erwähnten beiden Fällen wären der Bildungsartikel 1973 und die erleichterte Einbürgerung 1994 angenommen worden.

Im Gegensatz zu den zahlreichen bisher diskutierten Reformideen handelt es sich um ein neutrales Konzept: Es ist weder konservativ noch progressiv und würde weder kleinere noch grössere Kantone zusätzlich begünstigen. Während das Ständemehr akkurater abgebildet würde, wäre die Parität der Kantone nicht angetastet. Fortan hätten es die Kantone und Regionen aber wieder stärker in der Hand, mit Kanterniederlagen (bei den Zweitwohnungen vor allem in den Bergregionen) oder mit einer deutlichen Zustimmung (beim Familienartikel etwa in der Romandie, im Tessin und in den urbanen Gebieten) nicht nur das Volksmehr, sondern auch das Ständemehr zu beeinflussen.

Gegen diese Reform könnte eingewendet werden, die Kantone würden so nicht mehr als eine Einheit betrachtet, die bisher «ungeteilte Standesstimme» werde verletzt. Dem ist entgegenzuhalten, dass die starke Homogenität, wie sie in etlichen Kantonen noch in den Anfängen des Bundesstaates vorherrschte, weitgehend verschwunden ist. Zudem erscheint es doch gerade opportun, auch den Minderheiten der Minderheiten – etwa Appenzeller Grünen oder rechtskonservativen Jurassiern – eine minoritäre Stimme zu geben. Heute werden diese beim Eruieren des Ständemehrs gemäss dem Prinzip «The winner takes it all» einfach weggerundet.

Ein Wechsel der Standesstimmen vom Majorz in den Proporz wäre eine relativ simple wie elegante Lösung. Das proportionale Ständemehr optimiert letztlich die beiden Maximen des Föderalismus – Gleichheit der Kantone – und des Demokratieprinzips – Gleichheit aller Stimmberechtigten – und gewänne damit an Legitimation zurück.

 

«Das Ständemehr verhindert die Begehren nicht, es verzögert sie nur»

Claudio Kuster ist unter anderem Stiftungsrat der Stiftung für direkte Demokratie. Er sagt, warum er am kritisierten Ständemehr festhält, dennoch eine Reform befürwortet und wieso es keinen Stadt-Land-Graben in der Schweiz gibt.

Interview: Andrea Tedeschi, publiziert in den «Schaffhauser Nachrichten» vom 5. Dezember 2020.

Die Konzernverantwortungsinitiative ist am Ständemehr gescheitert, obwohl das Volk der Vorlage mit knapper Mehrheit von 50,7 Prozent zugestimmt hat. Wiederholt wurde das Ständemehr aus dem Jahr 1848 deswegen kritisiert und infrage gestellt. Auch nach dem letzten Abstimmungssonntag.

Claudio Kuster.

Herr Kuster, steckt die Schweiz in einer politischen Krise?

Claudio Kuster: Nein, überhaupt nicht.

Das sehen aber Grüne und Jungsozialisten anders. Als das Volk am Sonntag Ja sagte zur Konzernverantwortungsinitiative (KVI), aber die Kantone Nein sagten, forderten sie Reformen oder eine Abschaffung des Ständemehrs.

Es wäre etwas Einmaliges gewesen, wenn die KVI durchgekommen wäre. Im Kern ging es um das Haftpflichtrecht, es war vor allem eine wirtschaftspolitische Vorlage. Dass eine eher weitgehende Initiative in diesem Bereich angenommen wird, hat es aber noch nie gegeben. Klar wurde die Abzockerinitiative im Jahr 2013 angenommen, aber im Vergleich dazu sind Löhne und Boni ein Nebenthema. Darum verstehe ich die Enttäuschung in gewissen Kreisen, ich bin es auch, und dass der Kontext nun debattiert wird. Das Thema sollte man trotzdem nicht überbewerten.

Sie gehörten selbst zum Schaffhauser Pro-Komitee der KVI. Sind Sie der bessere Verlierer?

In Schaffhausen haben Befürworter wie Gegner für ihre Position hart geworben und gekämpft. Dass das Resultat in Schaffhausen mit 52,8 Nein-Stimmen knapp ausfiel, kann einen nicht überraschen.

Das Resultat zeigt, dass sich die kleinen und eher ländlichen Kantone gegen die lateinische und urbanere Schweiz durchgesetzt haben. Das sorgt für Unmut.

Manchmal überstimmen die urbanen Regionen aber auch die Bergkantone wie zuletzt beim Jagdgesetz oder bei der Zweitwohnungsinitiative. Das sorgte ebenfalls für Verstimmung. Trotzdem würde ich nicht von einem Land-Stadt-Konflikt sprechen. Das halte ich für völlig übertrieben.

Kritiker aber sagen, dass die kleinen Kantone einen zu grossen Einfluss hätten. Haben sie unrecht?

Ja. In der aktuellen Debatte wird oft suggeriert, dass das Stimmgewicht der Appenzell-Innerrhoder 40-mal mehr zähle als jenes der Zürcher. Aber das ist falsch. Die kleinen Kantone können bloss eine Verfassungsänderung verhindern. Eine Mehrheit überstimmen können sie jedoch nicht. Unser Ständemehr wird gerne mit dem US-amerikanischen Wahlsystem verglichen. Im Gegensatz zur Schweiz kann die Minderheit in den USA die Mehrheit tatsächlich verdrängen. Hillary Clinton hat vor vier Jahren mehr Stimmen gemacht als Donald Trump. Aber Trump wurde US-Präsident. Das ist bei uns undenkbar.

Die KVI hat aber ein Volksmehr erreicht. Am Volksmehr scheiterte 2013 auch der Verfassungsartikel über die Familienpolitik. Setzt sich so gesehen nicht doch eine Minderheit durch?

Das stimmt insofern, dass mit dem Ständemehr die kleinen Kantone bevorzugt werden. Traditionell sind viele katholisch und eher konservativ. Aber seit Einführung des Ständemehrs 1848 sind es nur zehn Vorlagen, die ein Ständemehr blockiert hat. Ich behaupte, dass die meisten der Begehren nicht verhindert werden, sondern nur verzögert. Das Ständemehr blockiert Anliegen nicht, es verlangsamt sie bloss. Viele werden später umgesetzt.

Können Sie Beispiele nennen?

Die Vorlage zum Mieter- und Konsumentenschutz scheiterte 1955, kam aber bereits fünf Jahre später wieder an die Urne und diesmal durch. Kürzlich bekam die Schweiz ein neues Bürgerrechtsgesetz, das die Einbürgerung liberalisiert und vereinfacht hat. In Schaffhausen will man sogar den Bürgerrat abschaffen. Noch in den Neunzigern scheiterte eine Vorlage zur einfacheren Einbürgerung am Ständemehr. Und bei der KVI tritt immerhin der indirekte Gegenvorschlag in Kraft, international wird die Haftungsfrage ebenfalls gross diskutiert. Das Thema wird virulent bleiben. Dennoch muss man differenzieren.

Inwiefern?

Acht der zehn vom Ständemehr abgelehnten Vorlagen waren obligatorische Referenden. Die Mehrheit des Bundesrates, Ständerates und Nationalrates haben sich für sie ausgesprochen. Scheitert eine Vorlage, versuchen diese Kräfte bald, ihre Begehren über andere Wege wie Gesetzes- oder Verfassungsrevisionen durchzusetzen. Bei Volksinitiativen ist das viel schwieriger, es ist auch ein Riesenaufwand, da muss ich den Kritikern des Ständemehrs recht geben. Zum einen dauert es fünf bis sieben Jahre, bis eine Volksinitiative an die Urne kommt. Andererseits ist es in diesen Fällen viel schwieriger, das Thema nochmals aufzugreifen, weil im Parlament und im Bundesrat die befürwortenden Mehrheiten fehlen. In der Geschichte der Schweiz ist das aber immerhin nur zweimal vorgekommen.

Beim Jagdgesetz konnten die Umweltorganisationen ihre Mitglieder gegen das Jagdgesetz mobilisieren. Bei der KVI engagierten sich breite Kreise der Zivilgesellschaft dagegen. Hat das künftig Auswirkungen auf die Begehren?

Dass sich Bürger in Umweltfragen engagieren, ist nichts Neues. Grüne Kreise mobilisieren hier seit den 1980ern, denken Sie an die Anti-Atomkraft-Bewegung oder das Ja zur Moorschutz-Initiative. In den Neunzigern folgte die Alpenschutzinitiative und in den Nullerjahren die Gentech-Initiative. Mehrheitsfähig waren sie deshalb, weil die Natur zu bewahren letztlich ein konservatives und nicht per se progressives oder linkes Anliegen ist.

Aber muss die Schweiz künftig mehr mit Vorlagen wie der KVI rechnen?

Nein, ganz klar nicht. 130 Nicht-Regierungsorganisationen, Investoren, Frauenverbände und die Landeskirchen hinter eine Initiative zu scharen ist einmalig. Das schafft man alle zehn oder zwanzig Jahre. Zumal eine solch langfristige und professionelle Kampagne den Mitgliedern viel Zeit und Finanzen abverlangt. Dann muss es aber auch noch das richtige Thema zur richtigen Zeit sein.

Dennoch hat ein Ständemehr das Volksmehr in den letzten 50 Jahren überdurchschnittlich blockiert. Worauf führen Sie das zurück?

Es gab einfach mehr Abstimmungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen zum einen neue Themen in der Aussenpolitik oder Ökologie dazu. Auch hat man immer mehr Kompetenzen von den Kantonen an den Bund übertragen. Das hat jedes Mal eine Verfassungsänderung mit sich gebracht.

Also gibt es nicht unbedingt mehr Konflikte im Land?

Im Gegenteil. Die ursprünglichen Konflikte zwischen den konservativen und liberalen Kantonen haben seit dem Sonderbundkrieg stark abgenommen. Früher befürworteten oder verwarfen einzelne Kantone Vorlagen regelmässig mit 80 oder 90 Prozent. Heute liegt das Verhältnis eher bei 60 zu 40. Selbst wenn Kantone an der Urne verlieren, unterliegen sie nie ganz.

Sie halten also am aktuellen Ständemehr fest?

Ja. Den Leuten ist oft nicht bewusst, dass die Schweiz aus 26 «Staaten» besteht. Jetzt mit Corona wird das sichtbar, wenn etwa die Kantone Basel, Genf, Waadt oder seit gestern Graubünden einen harten Lockdown beschliessen. In einem Zentralstaat wie Frankreich wäre es undenkbar, solch weitgehende Massnahmen lokal in der Bretagne oder im Elsass zu erlassen. Gäbe es das Ständemehr nicht, könnten die fünf grössten Kantone den anderen 21 eine Verfassung aufzwingen, also Aargau, Bern, St. Gallen, Zürich und Waadt. Das geht nicht!

Dennoch schlagen Sie eine Reform mit der «stetigen Standesstimme» vor. Warum?

Weil es den Minderheiten in den Minderheiten entgegenkommt. Grüne Politikerinnen im Kanton Appenzell Innerrhoden oder rechtskonservative Jurassier werden heute ignoriert. Es gilt das Winner-takes-it-all-Prinzip. Bei 52,8 Nein-Stimmen in Schaffhausen wird die Standesstimme direkt auf null gesetzt. Ich plädiere deshalb dafür, dass die Standesstimme proportional zum Verhältnis der Ja- und Nein-Stimmen aufgeteilt wird. Dann hätte Schaffhausen bei der KVI eine Standesstimme 0,47. So würden auch die Befürworter im Kanton berücksichtigt, die Parität der Kantone aber gewährt. Jeder Kanton behielte seine Stimme.

Wäre die KVI oder der Familienartikel 2013 mit der «stetigen Standesstimme» durchgekommen?

Nein. Die KVI wäre knapp gescheitert, weil die Befürworter-Kantone zu wenig klar Ja gesagt haben, die ablehnenden Kantone aber zu stark Nein. Der Familienartikel dagegen wäre durchgekommen, weil die Kantone Genf, Waadt und Jura mit 70 bis 80 Prozent der Vorlage stark zugestimmt hatten.

So eine Reform ist faktisch chancenlos. Kleine Kantone geben ihre gewichtige Stimme nicht ab. Und eine Reform braucht ihrerseits ein Ständemehr.

Bei der ganzen Debatte geht vergessen, dass das Ständemehr nur ein Element des Föderalismus ist. Es gibt die Standesinitiative, das Kantonsreferendum, die Konferenzen und Konkordate und vor allem den Ständerat. Die Romands gegen die Deutschschweizer oder die Bergler gegen die Städter, das ist nicht so problematisch. Es sind die klassischen Konfliktlinien, auf die wir eher achten sollten und die den Konsens strapazieren: die Linken gegen die Rechten und die Liberalen gegen die Konservativen.

 

La démocratie doit également être promue en Suisse

Votes ajournés, parlements paralysés : La crise de Corona met actuellement en évidence les défaillances de la démocratie suisse. Un nouvel article constitutionnel sur la promotion de la démocratie dans la Confédération et les cantons vise à remédier à ces lacunes.

Par Daniel Graf et Claudio Kuster[*] (Text auf Deutsch)

Le Conseil national au point mort. (Photo: Béatrice Devènes)

Actuellement, la crise du Coronavirus met incontestablement en évidence les faiblesses de notre système politique : le travail des parlementaires a dû être interrompu, les délais de votation et les assemblées municipales ont été annulés et la collecte de signatures pour les initiatives et les référendums suspendue. Parce que la Suisse a dormi pendant le processus de la numérisation de la démocratie jusqu’à aujourd’hui, les opérations de la démocratie ont dû être presque complètement mises en arrêt.

Au cours des deux dernières décennies, le Conseil fédéral a uniquement promu la votation électronique (et moyennant beaucoup d’argent), alors que toutes les innombrables autres idées et tous les autres projets en cours ont été mis en veilleuse. C’est pourquoi aujourd’hui, avec la critique croissante sur la votation électronique, nous sommes confrontés à un véritable gâchis de la politique démocratique.

Un mandat dans la constitution

À ce jour, la Suisse est une démocratie de boîtes aux lettres : rien ne fonctionne sans papier, stylo ni timbres. En revanche, d’innombrables personnes utilisent aujourd’hui les canaux numériques pour s’informer, travailler, suivre des formations continues, discuter et participer à la vie politique. Ce fossé entre la vie numérique quotidienne, d’une part, et les processus démocratiques analogiques, d’autre part, ne doit pas continuer à se creuser, mais doit être comblé.

Pour combler cette lacune et rattraper les omissions, nous proposons d’intégrer un nouvel article sur la démocratie dans la Constitution fédérale. À l’avenir, la Confédération et les cantons devront investir dans le maintien et le développement de la démocratie :

 

La Constitution fédérale est complétée comme suit :

Art. 5b               Promotion de la démocratie (nouveau)

La Confédération et les cantons promeuvent la démocratie et la développent en continu.

 

Les dispositions transitoires de la Constitution fédérale sont complétées comme suit :

Art. 197 n° 12 (nouveau)

12. Disposition transitoire à l’Art. 5b

La Confédération et les cantons font rapport tous les deux ans sur la promotion et le développement de la démocratie.

Ce nouvel article constitutionnel s’adresse à la fois à la Confédération et aux cantons; les deux niveaux gouvernementaux sont chargés de promouvoir la démocratie, d’une part, et de la développer, d’autre part. En Suisse, le plus grand nombre possible de personnes devraient participer activement à la démocratie. À cette fin, de nouvelles possibilités de participation doivent être examinées et les obstacles existants y relatifs réduits. En outre, la Confédération et les cantons sont tenus de rendre compte de leurs efforts de promotion de la démocratie en soumettant des rapports tous les deux ans.

Promouvoir la numérisation, abaisser les barrières

La démocratie doit être apprise. Il est étonnant de constater que la Constitution fédérale contient déjà un article qui charge la Confédération de «promouvoir la démocratie» (art. 54 al. 2 Cst) – mais uniquement à l’étranger ! Paradoxalement, la promotion de la démocratie en Suisse même n’est pas sujet de discussion ; ni la Confédération ni les cantons ne se sentent dans l’obligation d’accomplir cette tâche. Mais, comme nous venons de le constater, ces mesures sont assurément nécessaires également en Suisse. Les habitants de la Suisse ne doivent pas seulement être conscients des possibilités de codétermination démocratique, mais doivent aussi pouvoir les utiliser en faveur de leurs propres préoccupations. Ceci concerne en particulier l’éducation politique des jeunes. Les écoles sont le lieu le plus important pour transmettre des connaissances sur notre démocratie qui est unique au monde.

Dans le contexte du nouvel article de la constitution, la numérisation de la démocratie est une préoccupation majeure. Il ne s’agit pas uniquement de faire une copie numérique des processus existants tels que la signature d’initiatives populaires et de référendums sur Internet et sur smartphones. La numérisation permet également de rendre les processus politiques plus transparents et de réduire les obstacles à la participation – l’une des raisons en est qu’il n’existe plus de rupture médiatique dans la formation de l’opinion sur les chaînes numériques et l’exercice des droits politiques. En outre, l’accès des citoyens à l’information, aux réseaux politiques et à la participation doit être facilité, par exemple grâce à de nouvelles formes de participation telles que la budgétisation participative et autres applications de technologie civique.

Laboratoires cantonaux de la démocratie

La Suisse est un État fédéral et dispose d’une structure fédérale. Outre l’éducation, les impôts et la sécurité, ce sont précisément les droits démocratiques qui confèrent aux cantons une grande liberté (art. 3, 39 al. 1, 47 et 51 Cst). Les cantons ont été les laboratoires de la démocratie en Suisse pendant plus de deux siècles et ont toujours donné des orientations importantes pour le développement du système politique. Par exemple, de petits cantons comme celui de Schaffhouse ont introduit une identité électronique d’État (E-ID) il y a plusieurs années, alors que le débat correspondant au niveau national est toujours en cours. L’article sur la démocratie encourage le concours de la démocratie fédérale. Il serait souhaitable que davantage de projets pilotes soient lancés au niveau cantonal, par exemple pour la collecte électronique. Comme au niveau national, aucun canton n’a encore adopté une constitution qui mandate le maintien et le développement de la démocratie.

La numérisation des parlements est bien plus qu’un simple vote électronique. (Photo: Béatrice Devènes)

À plus long terme, en plus de la collecte électronique (E-Collecting), il serait également souhaitable de pouvoir voter sur nos smartphones – au moins pour les Suisses de l’étranger et les personnes handicapées. Toutefois, les avantages et les risques de la démocratie directe doivent toujours être soigneusement pesés. Dans le cas du vote électronique, il est capital de donner la priorité absolue à la sécurité. Pour l’instant, il n’existe aucun système répondant à ces exigences de haute sécurité.

Sortir de la zone de confort suisse

La poursuite du développement de la démocratie ne se limite pas à des formes numériques de participation. Il est probable qu’un autre point d’intérêt soit la question de savoir comment mieux impliquer les jeunes dans les processus démocratiques : Parlements de jeunes, initiatives de jeunes, éducation politique et droit de vote à 16 ans en sont ici que quelques-uns des mots-clés. Les instruments démocratiques devraient alors être gradués plus finement : Il existe un immense fossé participatif entre la simple pétition et l’initiative populaire pour la révision constitutionnelle, en particulier au niveau national. L’inclusion de cercles plus larges tels que la population étrangère installée au niveau local est également digne d’être discutée, tout comme les assemblées délibératives. Le principe relatif au secteur public et à la transparence du financement des politiques doit être appliqué de manière globale.

L’article constitutionnel présenté ne se limite pas à la démocratie directe qui doit être promue. Les citoyens devraient – selon la conception locale de la démocratie en tant que pouvoir direct du peuple – en principe pouvoir participer aussi directement et immédiatement que possible. Mais inversement, le principe de la représentation et du parlementarisme ne doit en aucun cas être remis en cause. Le mandat porte donc également sur la poursuite du développement de la démocratie représentative, dont in fine, la démocratie directe ne peut se passer. L’Assemblée fédérale, les parlements cantonaux et les commissions devraient donc également – comme indiqué dans l’introduction – repenser et actualiser leurs processus.

L’article sur la démocratie vise à indiquer une voie de sortie de la zone de confort helvétique actuelle. Et ce, contre le sentiment général dans notre pays que notre démocratie est bonne telle qu’elle est et que nous n’avons rien à faire pour qu’elle continue à exister. Le confinement partiel vient de démontrer d’une manière impressionnante que ne rien faire n’est pas une solution, mais un facteur à risques.

 


[*] Daniel Graf (PublicBeta) est un activiste du Net et de la démocratie, co-fondateur de la plateforme en ligne WeCollect et co-auteur du livre «Agenda für eine digitale Demokratie – Chancen, Gefahren, Szenarien» (2018, NZZ Libro).

Das Parlament erwacht aus der Schockstarre

Nachdem sich National- und Ständerat zu Beginn der Corona-Pandemie selbst aus dem Spiel genommen haben, nehmen sie mit der ausserordentlichen Session ihre Tätigkeit wieder auf. Gut so – denn gerade in Krisenzeiten ist die Kontroll- und Aufsichtsfunktion des Parlaments unerlässlich.

Die Vollmachtenregime in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehörten zu den düstersten Zeiten der schweizerischen Demokratie. Der Bundesrat schränkte mit weitreichenden Verordnungen die Freiheitsrechte der Bürger stark ein, setzte die Volksrechte vorübergehend ausser Kraft, gängelte die Presse und hob die Wirtschaftsfreiheit zu grossen Teilen auf.

Die Türen der Ratssäle sind geschlossen. Die Räte tagen stattdessen in der Bernexpo. Bild: Parlamentsdienste

Dass die Regierung einer demokratischen Republik eine quasi-diktatorische Praxis einführt, ist beunruhigend genug. Fast noch irritierender ist aber, dass sie die Ermächtigung dazu vom Parlament erhielt und dieses keine Anstalten machte, die Regierung bei ihren Exzessen im Zaun zu halten. National- und Ständerat übertrugen dem Bundesrat 1914 und 1939 unbeschränkte Vollmachten und gaben damit ihre eigene Funktion bereitwillig auf. Mehr noch: Sie vergassen auch ihre kardinale Aufgabe, die Regierung zu beaufsichtigen und zu kontrollieren. Schubladisierung von Volksinitiativen? Verbote von Firmengründungen? Weitgehende Zensur der Medien und Überwachung der Kommunikation? Das Parlament schluckte alles, Widerspruch gab es kaum.

Natürlich ist die gegenwärtige Corona-Krise nur sehr beschränkt mit einer kriegerischen Bedrohungslage vergleichbar. Doch auch nun legiferiert der Bundesrat mit seinen Notrechtsverordnungen sehr weit ins Leben der Bevölkerung und in die Volkswirtschaft hinein. Die Verfassungskonformität ist bei gewissen Massnahmen nicht über jeden Zweifel erhaben. Nichtsdestotrotz liess das Parlament der Regierung zu Beginn freie Hand und hielt sich zurück. Die Ratsbüros brachen die Frühjahrssession ab, ohne dass National- und Ständerat darüber hätten befinden können.[1]

Mehr noch: Auch die parlamentarischen Kommissionen wurden unnötigerweise weitgehend heruntergefahren und damit ein wesentlicher Teil der Aufsichtsfunktion der Legislative ausgesetzt. Während die Sitzungen des siebenköpfigen Bundesrats wie gewohnt abgehalten wurden, betrachtete man jene der nicht viel grösseren Kommissionen als nicht zu verantwortendes Risiko.

Erst nach einigen Wochen kamen die Kommissionen wieder zusammen. Und begnügten sich zunächst damit, vorsichtige Empfehlungen an den Bundesrat zu richtigen, da und dort wurden immerhin Motionen eingereicht.

Diese Woche sind nun National- und Ständerat zur ausserordentlichen Session zusammengekommen und tagen damit erstmals seit Ausrufung der «ausserordentlichen Lage» wieder. Es ist absehbar, dass sie die Weisungen des Bundesrats teilweise anpassen und präzisieren. Auf der Traktandenliste stehen etwa eine Verlängerung der Rückzahlungsfrist für die vom Bund verbürgten Kredite oder Mieterlasse. Die Lobbyisten haben offensichtlich in der Krise nicht geschlafen.

Das Parlament kann aber auch die vom Bundesrat verfügten Einschränkungen unter die Lupe nehmen und gegebenenfalls anpassen. Die teilweise kafkaesk anmutenden Differenzierungen, welche Geschäfte nun ab wann was verkaufen dürfen, haben einschneidende Konsequenzen für die KMU.

Auch muss die Bundesversammlung ihre Aufsichtsfunktion wahrnehmen. Dazu gehört etwa, den Kurs des Bundesrats und der Verwaltung zu hinterfragen und allfällige Fehler klar zu benennen. Die zum Teil widersprüchliche Kommunikation etwa oder das Fehlen elementarer medizinischer Ausrüstung wie Ethanol, Schmerzmittel oder Schutzmasken wirft nicht eben ein gutes Licht auf das Krisenmanagement von Bundesrat und Verwaltung. Doch auch im Fall, dass die Regierung alles richtig gemacht hat, ist es unerlässlich, dass das Parlament seine Arbeit wieder auf- und seine Funktion wahrnimmt. Nur schon, dass das Notrecht für den Bundesrat nicht zum Gewohnheitsrecht wird, wie geschehen in früheren, dunkleren Zeiten.

Zu unterstreichen ist indes, dass damals auch das Parlament selber eine problematische Rolle spielte, indem es Gesetze für dringlich erklärte und sie damit dem fakultativen Referendum entzogen. Es brauchte 1949 die Annahme der Volksinitiative «für die Rückkehr zur direkten Demokratie», damit seither immerhin dringliche Bundesbeschlüsse, die länger als ein Jahr dauern, dem nachträglichen Referendum unterstellt werden.

Krisenzeit, so sagt man, ist die Zeit der Exekutive. Aber genau wegen der ausgebauten Macht der Regierung ist ein alertes und kritisches Parlament umso wichtiger. Gerade in diesen Zeiten ist es unerlässlich, dass es seine Aufgaben wahrnimmt – wenn auch mit Schutzmasken und zwei Meter Abstand.

 


[1] Siehe dazu das Kurzgutachten von Felix Uhlmann und Martin Wilhelm.

Die Demokratie gehört auch in der Schweiz gefördert

Verschobene Abstimmungen, lahmgelegte Parlamente: Die Corona-Krise zeigt derzeit die Versäumnisse der Schweizer Demokratie auf. Ein neuer Verfassungsartikel zur Förderung der Demokratie in Bund und Kantonen soll diese Mängel beheben.

Von Daniel Graf und Claudio Kuster[*]

Der Nationalrat im Lockdown. (Foto: Béatrice Devènes)

Die Corona-Krise legt derzeit die Schwächen unseres politischen Systems schonungslos offen: Der Parlamentsbetrieb musste eingestellt, Abstimmungstermine und Gemeindeversammlungen abgesagt und die Unterschriftensammlung für Initiativen und Referenden ausgesetzt werden. Weil die Schweiz die Digitalisierung der Demokratie bisher schlicht verschlafen hat, musste der Demokratie-Betrieb fast komplett heruntergefahren werden.

Der Bundesrat hat die letzten zwei Jahrzehnte einzig und allein (und mit viel Geld) E-Voting vorangetrieben, während alle anderen Ideen und Projekte auf die lange Bank geschoben worden sind. Deshalb stehen wir heute, mit der wachsenden Kritik an E-Voting, vor einem demokratiepolitischen Scherbenhaufen.

Ein Auftrag in der Verfassung

Die Schweiz ist heute eine Briefkasten-Demokratie: Ohne Papier, Stift und Briefmarke geht es nicht. Demgegenüber nutzen heute viele Menschen digitale Kanäle, um sich zu informieren, zu arbeiten und sich weiterzubilden, zu diskutieren und sich politisch zu beteiligen. Diese Schere zwischen dem digitalen Alltag einerseits und den analogen demokratischen Prozessen andererseits, darf nicht weiter wachsen, sondern muss geschlossen werden.

Um diese Lücke zu schliessen und die Versäumnisse nachzuholen, schlagen wir einen neuen Demokratie-Artikel in der Bundesverfassung vor. Bund und Kantone sollen zukünftig in die Pflege und die Weiterentwicklung der Demokratie investieren:

Die Bundesverfassung wird wie folgt ergänzt:

Art. 5b               Förderung der Demokratie

Bund und Kantone fördern die Demokratie und entwickeln sie weiter.

 

Die Übergangsbestimmungen der Bundesverfassung werden wie folgt ergänzt:

Art. 197 Ziff. 12 (neu)

12. Übergangsbestimmung zu Art. 5b

Bund und Kantone erstatten zweijährlich Bericht über die Förderung und Weiterentwicklung der Demokratie.

Dieser neue Verfassungsartikel adressiert sowohl den Bund als auch die Kantone; beide Staatsebenen werden beauftragt, die Demokratie einerseits zu fördern und andererseits weiterzuentwickeln. In der Schweiz sollen sich möglichst viele Menschen aktiv an der Demokratie beteiligen. Hierzu sollen insbesondere auch neue Partizipationsmöglichkeiten geprüft und bestehende Hürden gesenkt werden. Der Bund und die Kantone werden überdies beauftragt, Rechenschaft über ihre Bestrebungen zur Demokratieförderung abzulegen, indem sie hierzu zweijährlich Bericht erstatten.

Digitalisierung fördern, Hürden senken

Demokratie will gelernt sein. Erstaunlicherweise enthält die Bundesverfassung bereits einen Artikel, der den Bund mit der «Förderung der Demokratie» beauftragt (Art. 54 Abs. 2 BV) – jedoch nur im Ausland! Die Demokratieförderung in der Schweiz selbst ist paradoxerweise kein Thema; weder Bund noch Kantone fühlen sich dieser Aufgabe verpflichtet. Wie gezeigt, ist diese Pflege aber durchaus auch in der Schweiz notwendig. Die Einwohnerinnen und Einwohner in der Schweiz sollen nicht nur die Möglichkeiten der demokratischen Mitbestimmung kennen, sondern diese auch für ihre Anliegen nutzen können. Dies betrifft insbesondere die politische Bildung von jungen Menschen. Die Schulen sind der wichtigste Ort, um Wissen über unsere weltweit einzigartige Demokratie weiterzugeben.

Im Rahmen des neuen Verfassungsartikels ist die Digitalisierung der Demokratie ein wichtiges Anliegen. Dabei geht es nicht nur um eine digitale Kopie von bestehenden Prozessen wie beispielsweise das Unterschreiben von Volksinitiativen und Referenden im Internet und auf dem Smartphone. Die Digitalisierung ermöglicht überdies, die politischen Prozesse transparenter zu gestalten und die Hürden für die Partizipation zu senken. Dies unter anderem dadurch, dass es bei der Meinungsbildung auf digitalen Kanälen und der Ausübung der politischen Rechte keinen Medienbruch mehr gibt. Darüber hinaus soll es für Bürgerinnen und Bürger einfacher werden, sich zu informieren, politisch zu vernetzen und zu engagieren – etwa durch neue Mitwirkungsformen wie partizipative Budgets und andere Civic-Tech-Anwendungen.

Kantonale Demokratie-Laboratorien

Die Schweiz ist ein Bundesstaat und föderalistisch ausgestaltet. Nebst Bildung, Steuern und Sicherheit sind just die demokratischen Rechte ein Gebiet, das den Kantonen erhebliche Freiräume bietet (Art. 3, 39 Abs. 1, 47 und 51 BV). Die Kantone sind seit über zwei Jahrhunderten die Demokratie-Laboratorien der Schweiz und liefern seit jeher wichtige Impulse für die Weiterentwicklung des politischen Systems. So haben beispielsweise kleine Kantone wie Schaffhausen eine staatliche elektronische Identität (E-ID) bereits vor einigen Jahren eingeführt, während die entsprechende Debatte auf nationaler Ebene noch läuft. Mit dem Demokratie-Artikel wird der föderale Demokratie-Wettbewerb gefördert. Es wäre wünschenswert, dass auf kantonaler Ebene noch mehr Pilotprojekte wie beispielsweise für E-Collecting angestossen werden. Wie auf nationaler Ebene gibt es bisher in keinem Kanton eine Verfassung, die den Auftrag gibt, die Demokratie zu pflegen und weiterzuentwickeln.

Digitalisierung der Parlamente ist mehr als elektronisch abstimmen. (Foto: Béatrice Devènes)

Längerfristig ist es nebst E-Collecting durchaus wünschenswert, dass wir etwa auf dem Smartphone auch abstimmen und wählen könnten – zumindest für Auslandschweizer/innen und Menschen mit Behinderungen. Doch es gilt dabei immer Nutzen und Risiken für die direkte Demokratie sorgfältig abzuwägen. Im Fall von E-Voting ist es wichtig, der Sicherheit die höchste Priorität einzuräumen. Im Moment gibt es keine Systeme, die diesen hohen Sicherheitsanforderungen genügen.

Raus aus der helvetischen Komfortzone

Die Weiterentwicklung der Demokratie umfasst keineswegs nur digitale Formen der Partizipation. Ein weiterer Schwerpunkt dürfte die Frage sein, wie jüngere Menschen besser in die demokratischen Prozesse einbezogen werden können: Jugendparlamente, Jugendvorstösse, die politische Bildung und das Stimmrechtsalter 16 sind hier einige Stichworte. Sodann sollte das demokratische Instrumentarium feiner abgestuft werden: Zwischen der simplen Petition und der Volksinitiative auf Verfassungsrevision klafft – gerade auf nationaler Ebene – eine riesige partizipative Lücke. Auch der Miteinbezug breiterer Kreise wie der niedergelassenen ausländischen Bevölkerung auf lokaler Ebene ist diskussionswürdig, ebenso wie deliberative Versammlungen. Das Öffentlichkeitsprinzip und eine transparente Politikfinanzierung sollten umfassend gelten.

Der vorgestellte Verfassungsartikel beschränkt sich nicht auf die direkte Demokratie, die zu fördern sei. Die Bürgerinnen und Bürger sollen sich zwar – entsprechend dem hiesigen Demokratie-Verständnis als direkte Volksherrschaft – grundsätzlich möglichst direkt und unmittelbar einbringen können. Umgekehrt soll aber keineswegs das Repräsentationsprinzip und der Parlamentarismus infrage gestellt werden. Der Auftrag adressiert also auch die Weiterentwicklung der repräsentativen Demokratie, ohne die letztlich eine Direktdemokratie gar nicht auskommt. Auch die Bundesversammlung, Kantonsparlamente und Kommissionen sollen also – wie einleitend festgestellt – ihre Prozesse überdenken und aktualisieren.

Mit dem Demokratie-Artikel soll ein Weg aus der aktuellen helvetischen Komfortzone aufgezeigt werden. Damit ist das hierzulande verbreitete Gefühl gemeint, dass unsere Demokratie gut sei, wie sie ist und wir nichts für den Fortbestand tun müssten. Der Shutdown hat eindrücklich aufgezeigt, dass Nichts-Tun keine Lösung, sondern ein Risikofaktor ist.

 

Siehe auch: Die Demokratie soll digital werden (Schaffhauser Nachrichten, 4. Mai 2020)

 


[*] Daniel Graf (PublicBeta) ist Netz- und Demokratieaktivist, u.a. Mitbegründer der Online-Plattform WeCollect und Co-Autor des Buchs «Agenda für eine digitale Demokratie – Chancen, Gefahren, Szenarien» (2018, NZZ Libro).

Fusion wider Willen: Wenn Gemeinden zwangsverheiratet werden

Ein Überblick über die Möglichkeit und Wirklichkeit von Zwangsfusionen von Gemeinden in den Schweizer Kantonen. Und wie solche begründet werden.

Ein Gastbeitrag von Sandro Lüscher[1]

1. Einleitung

Das schweizerische Gemeindewesen befindet sich in einem tiefgreifenden Wandlungsprozess. Alte Gemeindestrukturen werden durch neue Formen interkommunaler Zusammenarbeit und territoriale Umstrukturierungen abgelöst. Seit der Jahrtausendwende hat ein veritables Fusionsfieber eingesetzt. Jährlich werden dutzende territoriale Reformprojekte aufgegleist, von denen die grosse Mehrheit schliesslich auch die Abstimmungshürde nimmt. Der Gemeindebestand nahm seither um etwa 700 Gemeinden auf 2’212 ab.[2]

In der Regel verlaufen die Fusionen und Eingemeindungen einvernehmlich und im Interesse aller beteiligten Parteien. Trotzdem kommt es gelegentlich vor, dass einzelne Gemeinden gegen ihren Willen zur Fusion gedrängt werden. Darauf kann ein intensiver Rechtsstreit entbrechen, der bisweilen bis ans Bundesgericht als letztinstanzliche Entscheidungsbehörde weitergezogen wird.

Dieser Beitrag soll einerseits einen Überblick über die Rechtsgrundlagen und damit die Möglichkeiten für Zwangsfusionen in den Schweizer Kantonen bieten. Andererseits sollen anhand bisheriger Streitfälle die Argumente sowie bundesgerichtlichen Erwägungen für und wider Zwangsfusionen erörtert werden. Durch diese Gesamtschau kann ein Beitrag zu einem besseren Verständnis von Zwangsfusionen als «schwerstmöglicher Eingriff in den Schutzbereich der Gemeindeautonomie»[3] geleistet werden

2. Die kantonalen Rechtsgrundlagen für Zwangsfusionen

Im Unterschied zu anderen Staaten sind die öffentlichen Strukturen der Schweiz ausgeprägt dezentral organisiert. Die öffentlichen Verwaltungsaufgaben werden zu einem wesentlichen Teil von den Gemeinden als unabhängige demokratische Gebietskörperschaften und als Vollzugsorgane von Bund und Kantonen in subsidiärer Allzuständigkeit erledigt.[4] Nur wenn sie mangels Ressourcen dazu ausserstande sind oder wenn die Bereitstellung bestimmter öffentlicher Güter auf einer höheren Staatsebene effizienter vollbracht werden kann, findet eine vertikale Kompetenzverschiebung «nach oben» statt.

Dieses Subsidiaritätsprinzip findet seinen Niederschlag auch in der Kompetenzregelung für Gemeindereformen: Sie fallen in die Zuständigkeit der Kantone. Es gibt weder eine gesetzliche oder verfassungsmässige Grundlage, die dem Bund die aktive Einmischung in kommunale Fusionsprozesse erlauben würde, noch eine bundesrechtliche Bestandesgarantie zugunsten der Gemeinden. Die Bundesverfassung hält einzig fest: «Die Gemeindeautonomie ist nach Massgabe des kantonalen Rechts gewährleistet.»[5] Jeder Kanton hat daher sein eigenes Fusionsregime und seine eigene Praxis im Umgang mit «fusionsrenitenten» Gemeinden. Im Folgenden werden die 26 kantonalen Fusionsregimes in drei unterschiedliche Regime-Typen aufgeteilt.

Die drei Fusionstypen im Überblick.

 

2.1. Protektiver Typus: Bestandesgarantie

Dem ersten protektiven Typus werden jene 17 Kantone (AG, AI, AR, BL, BS, GE, NE, NW, OW, SG, SH, SO, SZ, UR, VD, ZG, ZH) zugerechnet, bei denen die Gemeindeautonomie durch eine in der Kantonsverfassung verankerte Bestandesgarantie geschützt wird.[6] Zwangsfusionen sind hier nicht erlaubt. Eine Möglichkeit, dies zu erreichen, ist die namentliche Aufzählung aller Gemeinden in der Kantonsverfassung (AI, AR, BS, OW, ZG)[7].

Der Kanton St. Gallen kennt zwar eine Verfassungsgrundlage für Zwangsfusionen.[8] Das konkretisierende Gemeindevereinigungsgesetz verzichtet aber auf diese Möglichkeit, womit auch in St. Gallen der Gemeindebestand gesetzlich geschützt ist.[9]

2.2. Regulativer Typus: Zwangsfusionen theoretisch möglich

Den zweiten regulativen Typus bilden die sechs Kantone (BE, FR, GL, GR, JU, LU), in denen eine Zwangsfusion zwar rechtlich möglich ist, bisher jedoch nie angewandt wurde.

Ein Zusammenschluss von Gemeinden gegen ihren Willen bedürfte immerhin einiger Voraussetzungen. So werden hier, eher vage, «überwiegende kommunale, regionale oder kantonale Interessen» (BE, FR)[10] oder dort das Erfordernis «einer wirksamen und wirtschaftlichen Aufgabenerfüllung» (LU)[11] verlangt. In Graubünden kann eine Gemeinde fusioniert werden, die infolge ihrer geringen Anzahl Einwohner oder unzureichender personeller oder finanzieller Ressourcen dauernd ausserstande ist, den gesetzlichen Anforderungen zu genügen und ihre Aufgaben zu erfüllen. Desgleichen droht Gemeinden, wenn ihr Mitwirken für die Abgrenzung oder Aufgabenerfüllung einer neuen Gemeinde unentbehrlich ist (eine Mehrheit der anderen betroffenen Gemeinden muss dem Zusammenschluss aber zugestimmt haben).[12] Man möchte hiermit verhindern, dass bei Zusammenschlüssen von Talschaften das Veto einer Gemeinde die ganze Fusion verhindert.[13] Auch im Jura wären Zwangsfusionen nur in Ausnahmefällen möglich, so etwa, wenn die Gemeinde aufgrund ihrer prekären finanziellen Lage nicht mehr in der Lage ist, ihren Verpflichtungen nachzukommen oder wenn ihre Organe in der Vergangenheit regelmässig unvollständig gebildet wurden.[14]

Das Organ, das die Zwangsfusion verfügen würde, ist regelmässig das kantonale Parlament.[15] In Luzern unterliegt dieser Beschluss dem fakultativen Referendum, womit das kantonale Stimmvolk über Zwangsfusionen befindet.[16]

2.2.1. Spezialfall Glarus

Seit dem 1. Januar 2011 sieht zwar auch die Verfassung der Kantons Glarus eine Bestandesgarantie für die nunmehr bloss drei Gemeinden vor.[17] Doch die Umstände, unter denen am 7. Mai 2006 die Glarner Landsgemeinde einer Massenfusion zustimmte, vermögen die zahlreichen Bedenken prozeduraler sowie verfassungsrechtlicher Art nicht gänzlich auszuräumen.[18] Denn bei der Zwangsfusion der 25 bestehenden Ortsgemeinden zu drei Einheitsgemeinden handelte es sich nicht um ein ordentliches Traktandum, sondern um einen Abänderungsantrag, der den ursprünglichen Antrag seitens des Landrats und der Regierung zur Schaffung eines zehn Gemeinden umfassenden Verbunds modifizierte. Es ist zum einen fraglich, ob das anwesende Stimmvolk in der Lage war, sich zu diesem spontan in der Versammlung eingebrachten Abänderungsantrag eine differenzierte Meinung zu bilden und über allfällige Konsequenzen zu räsonieren, die mit dem Fusionsentscheid verbunden sind.[19] Zum anderen wurden die Gemeinden weder angehört noch ging dem Entscheid eine Beschlussfassung der Gemeinden voraus, wie die Verfassung damals explizit verlangte.[20]

2.3. Restriktiver Typus: Zwangsfusionen effektiv angeordnet

Den dritten restriktiven Typus bilden schliesslich die drei Kantone (TG, TI, VS), in denen Zwangsfusionen nicht nur rechtlich möglich sind, sondern bereits effektiv angeordnet wurden.[21]

2.3.1. Thurgau

Per 1. Januar 1990 trat im Kanton Thurgau eine neue Verfassung in Kraft, mit der die seit der Helvetik bestehende Gemeindeordnung mit Orts- und Munizipalgemeinden komplett reformiert werden sollte. Aus den vormaligen 179 Orts- und Munizipalgemeinden sollten 80 leistungsfähige politische Gemeinden werden,[22] wofür eine Frist von zehn Jahren vorgesehen war.[23] Im Zuge dieser umfassenden Neugestaltung der Gemeindelandschaft wurden einzelne Gemeinden auch gegen ihren Willen fusioniert.[24]

Seit dieser Reformphase in den 1990er Jahren hat sich am Thurgauer Gemeindewesen wenig verändert. Zwangsfusionen bleiben aber möglich: Der Grossen Rat das Recht, «aus triftigen Gründen Änderungen in Bestand oder Gebiet politischer Gemeinden zu beschliessen, sofern mindestens die Hälfte der betroffenen Gemeinden zustimmt.»[25]

2.3.2. Wallis

Um die Jahrtausendwende sollten sich im Rahmen eines Fusionsprojekts im Walliser Bezirk Goms fünf Klein- und Kleinstgemeinden zu einer Einheitsgemeinde zusammenschliessen (Binn, Ausserbinn, Ernen, Mühlebach und Steinhaus). In einer konsultativen Vorabstimmung äusserten sich vier der fünf Gemeinden zustimmend zum Fusionsvorhaben. Die ablehnende Gemeinde Binn wurde darauf von der Planung ausgenommen. Zwei Jahre später lehnte die Gemeinde Ausserbinn das Fusionsprojekt in einer Volksabstimmung überraschenderweise deutlich ab.[26]

Der Grosse Rat leistete der eher dürftig begründeten Empfehlung des Staatsrats, der Fusion der vier Gemeinden (einschliesslich Ausserbinn) zuzustimmen, sodann Folge und besiegelte damit die Zwangsfusion von Ausserbinn. Rechtlich stützte man sich auf Art. 71 Abs. 2 Kantonsverfassung, wonach der Staatsrat unter gewissen Bedingungen Gemeinden zwingen kann, zusammenzuarbeiten oder sich zu öffentlich-rechtlichen Verbänden zusammenzuschliessen.[27] Gegen den Entscheid wurde beim Bundesgericht erfolglos ein Rekurs eingelegt.[28]

2.3.3. Tessin

Während die erwähnten Gemeindefusionen im Thurgau und Wallis Ausnahmecharakter hatten, haben Zwangsfusionen im Tessin bereits eine längere Tradition. Sie sind Teil oder Wirkung einer rigorosen Fusionsstrategie, welche die tessinische Regierung im Rahmen des kantonalen Richtplans schon seit Längerem verfolgt. Zählte der Südkanton im Jahr 1994 noch 247 Gemeinden, so waren es im April 2017 gerade noch deren 115. Bis ins Jahr 2020 sieht die ambitiöse Strategie gar nur noch 23 Einheitsgemeinden vor.[29] Besonders strukturschwache, abgelegene Talschaften sollten räumlich-infrastrukturell und wirtschaftlich besser erschlossen und in grössere, leistungsfähigere Gemeindeverbände integriert werden.

Doch die in den meisten Fällen von der kantonalen Regierung angeregten Fusionen treffen immer wieder auf Widerstand, gerade in peripheren Regionen, in deren Abgeschiedenheit sich im Verlaufe der Zeit ein starkes Eigenbewusstsein herausgebildet hat und wo das Bedürfnis nach politischer Autonomie vielleicht grösser ist als in zentrumsnahen Ortschaften. So wurden im Tessin bereits sieben Gemeinden gegen ihren Willen fusioniert.[30] Rechtsgrundlage bildet das Fusionsgesetz von 2003, welches vorsieht, dass der Grosse Rat unter Berücksichtigung des Gemeininteressens eine Region gegebenenfalls entgegen den Präferenzen einzelner Gemeinden eine Fusion verfügen kann. Obschon die für Fusionsfragen zuständigen Ämter um die Findung einvernehmlicher Lösungen bemüht sind und renitente Gemeinden vorgängig mit attraktiven Anreizstrukturen zu zähmen versuchen, verfährt das Tessin am resolutesten mit widerspenstigen Kommunen und schreckt bei ausbleibendem Erfolg auch vor Zwangsfusionen nicht zurück.

3. Argumente für Zwangsfusionen

Grundsätzlich sind die Gründe für Zwangsfusionen weitgehend identisch mit jenen regulärer Fusionen. Im Folgenden werden die wichtigsten drei resümiert.

3.1 Gewährleistung der Wirtschaftsentwicklung

Ein zentrales Argument für die (zwangsweise) Fusionierung von Gemeinden bilden Überlegungen wirtschaftsstruktureller und finanzpolitischer Art. Eine Gemeinde, die auf dem Autonomierecht pocht, muss einen wesentlichen Teil der öffentlichen Aufgaben in Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit erfüllen können.[31] Dies ist jedoch gerade in bevölkerungsarmen und entlegenen Gemeinden mit schlechten Entwicklungsaussichten wie etwa Ausserbinn VS (41 Einwohner) oder Vergeletto TI (65) nicht der Fall.

Bedingt durch die tiefen Steuereinkünfte können wesentliche öffentliche Dienstleistungen nicht oder nur unzureichend bereitgestellt werden. Solche Kleinstgemeinden befinden sich oftmals in finanzieller Abhängigkeit vom Kanton. Ausserbinn etwa bezog über einen Drittel seiner Einkünfte aus dem kantonalen Finanzausgleich.[32] Doch auch ein intakter Gemeindehaushalt schützt nicht zwingend vor einer Fusion. So fand im Rahmen eines Beschwerdegangs der Gemeinde Vergeletto beim Bundesgericht das Argument, finanziell auf den eigenen Beinen stehen zu können, bei den Richtern kein Gehör. Der Umstand, dass das gesamte Fusionsprojekt ohne die Gemeinde Vergeletto sinnlos gewesen wäre, wurde von den Richtern höher gewichtet als das Bedürfnis der Gemeinde nach Autonomie.[33] Diese auf das Gemeininteresse zielende Argumentation findet sich immer wieder bei Zwangsfusionen im Kanton Tessin.

3.2 Überwindung demokratischer Defizite

Oft werden demokratiepolitische Bedenken vorgebracht. Strukturschwache Kleinstgemeinden laufen mangels finanzieller Ressourcen, Verwaltungspersonal und Aspiranten für politische Ämter Gefahr, die lokale Demokratie zu unterhöhlen. Durch den Zusammenschluss mehrerer Gemeinden kann aus Sicht der Befürworter eine tragfähigere Grundlage für kommunales Handeln geschaffen werden: Nutzung von Skaleneffekten, Verbreiterung und Effizienzsteigerung des öffentlichen Angebots, Professionalisierung der Gemeindeverwaltung, Entschärfung des latenten Problems fehlenden politischen Wettbewerbs um Gemeindeämter, usw.

Ausserdem bestehen zwischen den involvierten Gemeinden oftmals Zweckverbände, die aus demokratischer Sicht nicht unproblematisch sind.[34] Durch die Fusion wird jene interkommunale Zusammenarbeit obsolet.

3.3 Selbstbehauptung im Wettbewerbsföderalismus

Daneben spielt auch die Erhaltung der Standortattraktivität eine wichtige Rolle bei Erwägungen von Zwangsfusionen. Die Kantone und Gemeinden stehen in einem wettbewerbsartigen Konkurrenzverhältnis zueinander. Von der öffentlichen Hand wird ein breit gefächertes Angebot zu günstigen Preisen erwartet (günstiges Bauland, gute öffentliche Schulen, intakte Infrastruktur, Arbeitsplätze, familienergänzende Strukturen usw.).

Diese Dynamik setzt insbesondere die Kantone unter Zugzwang, da von untätigen, strukturkonservativen und von Ausgleichszahlungen abhängigen Gemeinden die Gefahr ausgeht, dass sie die gesamte regionale Entwicklung hemmen. Zaudernde Fusionskandidaten respektive die Gemeindebevölkerung wird hierzu oftmals mit reizvollen Angeboten geködert. Die Gemeinde Ausserbinn versuchte man mit der Reduktion des Steuerfusses von 1.5 auf 1.3 doch noch in Fusionsstimmung zu bringen, jedoch ohne Erfolg.[35]

4. Argumente gegen Zwangsfusionen

Ungeachtet des stets individuellen Kontexts von Zwangsfusionen gibt auch einige wiederkehrende Contra-Argumentationsmuster.

4.1 Verletzung der Gemeindeautonomie und Demokratie

Einer Zwangsfusion geht notwendigerweise ein negativer Volksentscheid voraus. Die Missachtung des demokratischen Mehrheitswillens ist nicht nur ein herber Eingriff in das kommunale Selbstbestimmungsrecht, sondern stellt auch eine Verletzung der politischen Rechte der Stimmenden dar. Wenn ein Volksentscheid seine Rechtsverbindlichkeit verliert, dann wird dadurch das Vertrauen der Bürger in die lokale Demokratie unterminiert.

Dieser per se gewichtige Einwand findet indes bei Diskussionen rund um Zwangsfusionen kaum Resonanz, da nur dort zwangsfusioniert wird, wo die Rechtslage solche explizit gegen den Willen der betroffenen Gemeinden zulässt.

4.2 Verletzung justiziabler Verfahrensrechte

Trotzdem sind Gemeinden nicht komplett schutzlos übergeordneten Fusionsbestrebungen ausgeliefert. Diverse Kantone, in denen Zwangsfusionen möglich sind, sehen bestimmte Verfahrens- und Mitwirkungsrechte zugunsten der betroffenen Gemeinden vor. Diese Rechte sind überdies in der für die Schweiz im Juni 2005 in Kraft getretenen, teilweise unmittelbar anwendbaren Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung verbrieft.

Rechtlich bedeutsam wurde die Charta erstmals bei einer Verfassungsinitiative im Kanton Tessin, die den Zusammenschluss der Agglomerationsgemeinden um Locarno und um Bellinzona forderte. Der Grosse Rat erklärte die Initiative für ungültig, da sie alle Kantonsbewohner (also auch die nicht betroffenen) über das politische Schicksal dieser beiden Bezirke hätte entscheiden lassen, gegebenenfalls auch gegen deren Willen.[36] Die Initianten rekurrierten hiergegen vor dem Bundesgericht, das jedoch die Ungültigkeit bestätigte und zudem auf die Charta verwies,[37] die in Artikel 5 vorschriebt, dass «[b]ei jeder Änderung kommunaler Gebietsgrenzen die betroffenen Gebietskörperschaften vorher anzuhören [sind], gegebenenfalls in Form einer Volksabstimmung». Der fehlende oder ungenügende Einbezug betroffener Gemeinden und ihren Bevölkerungen kann folglich sehr wohl erfolgreich gerügt werden.

4.3 Entsolidarisierung, Entfremdung und politischer Kontrollverlust

Nebst diesen eher formellen Einwänden gibt es noch eine Reihe von Sorgen und Ängsten der Bevölkerung über den Fortbestand ihrer Gemeinschaft, die zwar kein justiziables Gewicht haben, erfahrungsgemäss dennoch oft den Kern des Widerstands bilden. Befürchtet wird der Verlust der kommunalen Identität oder der Zerfall des gemeinschaftlichen Gefüges und der inneren Solidarität infolge verstärkter Bevölkerungsbewegungen.

Gerade für «abgeschlossene Gemeinschaften» in der Peripherie kommen derartigen Überlegungen eine nicht zu vernachlässigende Bedeutung zu. Vorgebracht wird auch, dass aus dem Zusammenschluss eine Verringerung der politischen Einflussmöglichkeiten resultiert und dadurch die politische Kontrolle über das eigene Gemeindegebiet verloren geht.

5. Fazit

Seit den 1990er hat in der Schweiz ein veritables «Gemeindesterben» eingesetzt, der Gemeindebestand hat seither um über einen Viertel abgenommen. Doch einzelne Gemeinden bieten diesem Fusionstrend die Stirn und pochen auf ihre politische Eigenständigkeit. Oft tun sie dies erfolgreich, doch in einzelnen, wenigen Fällen greifen die kantonalen Behörden rigoros durch und zwingen Gemeinden zu Zusammenschlüssen. Dabei handelt es sich um schwerwiegende Eingriffe von grosser politischer Tragweite.

Aus staatspolitischer Sicht ist Zurückhaltung angezeigt, was die Verordnung solcher Zwangsmassnahmen anbetrifft. Denn Gemeinschaftsbildung setzt einen gemeinen Willen voraus, so wie auch eine Trauung die explizite Zustimmung von Braut und Bräutigam voraussetzt. Zum anderen beweisen nicht weniger als 22 Kantone, die bislang auf Zwangsfusionen verzichteten und stattdessen auf einen konsensuellen Lösungsweg sowie gezielte Anreizstrukturen setzen, dass es auch ohne geht.

 

Mitarbeit: Claudio Kuster

 


[1] Sandro Lüscher ist Politologe und Neuzeithistoriker, er arbeitet als Assistent und Doktorand am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich. Dieser Beitrag ist eine gekürzte Fassung seiner Arbeit im Rahmen des Seminars «Grösse und Demokratie: Territoriale Reformen und demokratische Legitimität».

[2] Stand 1. Januar 2019.

[3] Meyer, Kilian (2011): Gemeindeautonomie im Wandel. Eine Studie zu Art. 50 Abs. 1 BV unter Berücksichtigung der Europäischen Charta der Gemeindeautonomie (Dissertation). Norderstedt: Books on Demand GmbH: 389.

[4] Meyer, Kilian (2015): Verhältnis von Bund und Kantonen, Abschnitt 3 zu Gemeinden. In: Waldmann, Bernhard, Belser, Eva Maria und Epiney, Astrid (Hrsg.) Bundesverfassung. Basel: Helbing Lichtenhahn Verlag, 949-968: 952.

[5] Art. 50 Abs. 1 BV.

[6] Meyer 2011: 17.

[7] Art. 15 Abs. 1 KV/AI; Art. 2 KV/AR; § 57 Abs. 1 KV/BS; Art. 2 Abs. 1 KV/OW; § 24 Abs. 1 KV/ZG.

[8] Art. 99 Abs. 2 lit. b KV/SG.

[9] Von Rohr, Muriel (2018): Gemeindefusionen – Rechtliche Aspekte und bisherige Erfahrungen. Zürich: 20, 51 ff.

[10] Art. 108 Abs. 3 KV/BE; Art. 135 Abs. 4 KV/FR.

[11] § 74 Abs. 3 KV/LU.

[12] Art. 72 Abs. 1 Gemeindegesetz/GR.

[13] Von Rohr 2018: 23.

[14] Art. 112 Abs. 3 KV/JU, Art. 69b Loi sur les communes/JU.

[15] Bspw. Art. 108 Abs. 3 KV/BE; § 74 Abs. 3 KV/LU; Art. 112 Abs. 3 KV/JU; Art. 72 Abs. 1 Gemeindegesetz/GR. Vgl. Von Rohr 2018: 58.

[16] § 74 Abs. 3 KV/LU.

[17] Art. 118 Abs. 1 KV/GL.

[18] Meyer 2011: 354 f. und Schaub, Martin (2007): Verfassungsrechtliche Aspekte der Glarner Gemeindefusion. Aktuelle juristische Praxis AJP 10, 1299-1307.

[19] Vgl. Schaub 2007.

[20] Art. 118 Abs. 1 und 2 KV/GL in der Fassung bis zum 31. Dezember 2010: «1 Änderungen im Bestand der Gemeinden oder deren Grenzen müssen von den betroffenen Gemeinden beschlossen und vom Landrat genehmigt werden. 2 Kommt eine Einigung nicht zustande, kann die Landsgemeinde auf Antrag einer der betroffenen Gemeinden oder des Landrates eine solche Änderung beschliessen.»

[21] Jankovsky, Peter für Neue Zürcher Zeitung (2011): Nach der Zwangsfusion bleibt die Bitterkeit.

[22] Meyer 2011: 365.

[23] Vgl. § 98 Abs. 2 KV/TG: «Die Bildung der politischen Gemeinden hat innert zehn Jahren nach Inkrafttreten dieser Verfassung zu erfolgen. Danach bezeichnet das Gesetz die politischen Gemeinden, deren Bestand diese Verfassung gewährleistet.»

[24] Vgl. Steiner, Reto für Neue Zürcher Zeitung (2003): Gemeindezusammenschlüsse können Erwartungen nicht immer erfüllen; Duvillard, Laureline für swissinfo.ch (2010): Nicht alle Gemeinden haben «Fusionitis».

[25] § 58 Abs. 4 KV/TG.

[26] Die Zustimmung sank um über 30 Prozentpunkte auf 42.4 Prozent. Man muss jedoch anfügen, dass die Gemeinde nur 39 stimmfähige Bürger hat (Stand 2002), von denen immerhin 33 am Urnengang teilnahmen. Für weitere Informationen siehe Staatsrat des Kantons Wallis (2004): Botschaft zum Beschlussentwurf betreffend den Zusammenschluss der Munizipalgemeinden Ausserbinn, Ernen, Mühlebach und Steinhaus: 5-9.

[27] Die drei Voraussetzungen sind unter dem Art. 135 KV des kantonalen Gemeindegesetzes statuiert. Dort heisst es, dass eine Gemeinde zwangsfusioniert werden kann, a) wenn ein negativer Entscheid zu einem Fusionsprojekt ihren finanziellen Weiterbestand gefährdet; b) wenn eine einzige Gemeinde das Hindernis zu einer Fusion darstellt, währenddem die angrenzenden Gemeinden bereits ihre Zustimmung zu einer bedeutenden Fusion gegeben haben; c) wenn eine Gemeinde nicht mehr in der Lage ist, das Funktionieren der Institutionen zu gewährleisten, namentlich dann, wenn sie die freigewordenen Ämter aufgrund der beschränkten Einwohnerzahl nicht wiederbesetzen kann. In casu relevant war der Punkt b).

[28] BGE 131 I 91.

[29] Jankovsky, Peter für Neue Zürcher Zeitung (2014): Tessiner Regierung will den Kanton neu entwerfen.

[30] Dazu gehören Sala Capriasca zu Capriasca, Aquila zu Blenio, Bignasco zu Cevio, Muggio zu Breggia, San Nazzaro zu Gambarogno sowie Vergeletto und Onsernone zu Onsernone (dies war schweizweit der erste Fall einer doppelten Zwangsfusion). Vgl. Jankovsky, Peter für Neue Zürcher Zeitung (2013): Neue Unruhe in Tessiner Gemeinde; Lob, Gerhard (2015): Bundesgericht segnet doppelte Zwangsfusion ab. Schweizer Gemeinde 6, 13-15.

[31] Meyer 2011: 367 f.

[32] Vgl. BGE 131 I 91.

[33] Lob 2015.

[34] Meyer 2011: 369.

[35] Steuerfusssenkungen sind bei Fusionen durchaus üblich. In der Regel übernehmen die Fusionsgemeinden den zuvor tiefsten Steuerfuss unter den beteiligten Gemeinden (Steiner, Reto, Reist, Pascal und Kettiger, Daniel (2010): Gemeindestrukturreform im Kanton Uri. Analyse der Urner Gemeinden und mögliche Handlungsoptionen: 54).

[36] Tribune de Genève (2016): Pas de vote cantonal sur des fusions de communes.

[37] BGE 142 I 216.

Behördliche Interventionen zu Abstimmungen: Kein Maulkorb für die «föderalen Lautsprecher»

Die Behörden greifen zunehmend in Abstimmungskämpfe ein – und nutzen dabei rechtliche Schlupflöcher. Das ist demokratiepolitisch heikel, denn oft genug wird die Meinungsbildung der Stimmbürger damit eher verzerrt als erleichtert.

Von Lukas Leuzinger und Claudio Kuster

Die Westschweizer Finanzdirektoren haben die KMU für sich entdeckt. In den vergangenen Wochen haben die Vertreter der Kantone Genf, Waadt, Wallis, Freiburg und Jura verschiedenen Betrieben in der Romandie kollektive Besuche abgestattet. Dabei ging es nicht darum, mehr über die Kaffeeröstung oder die Herstellung von Elektronikkomponenten zu lernen, sondern vor allem um das Paket aus Steuerreform und AHV-Zuschuss, über das am 19. Mai abgestimmt wird. Wo immer sie auftraten, betonten die Regierungsvertreter die Bedeutung der Vorlage.

Dass sie dazu Pressekonferenzen abhalten müssen, liegt an zwei kürzlichen Urteilen des Bundesgerichts. Die Lausanner Richter haben im Nachgang der Volksabstimmungen über das Geldspielgesetz und die Vollgeld-Initiative gerügt, dass sich jeweils Fachdirektorenkonferenzen zu den Vorlagen in einer Medienmitteilung äusserten. Es liege grundsätzlich in der alleinigen Kompetenz der Kantonsregierungen als die Kantone repräsentierende Behörden, sich im Namen ihres betroffenen Kantons in einen eidgenössischen Abstimmungskampf einzuschalten. Nur wenn die Kantone durchgehend oder zumindest in ihrer Mehrheit von einer Vorlage stark betroffen seien, erscheine es zulässig, wenn sich die Konferenz der Kantonsregierungen (KdK) im Vorfeld einer bundesweiten Abstimmung öffentlich äussert und eine Abstimmungsempfehlung abgibt. Denn die KdK trete im Namen der Gesamtheit oder Mehrheit der Kantone auf.

Interventionen von «blossen» Fachdirektorenkonferenzen wie derjenigen der Finanzdirektoren demgegenüber, deren Meinungsbildung und Vertretung nach Aussen wenig transparent seien, müssen von solchen Interventionen ausgeschlossen bleiben.[1] «Ganz wie ihr wollt!», scheinen die Finanzdirektoren den Bundesrichtern nun sagen zu wollen, «dann packen wir unsere Aussagen eben von einer Pressemitteilung in eine Pressekonferenz um».

Zulässige Intervention der Kantone: Medienkonferenz der KdK. (Foto: @AHVSteuerJA)

 

Garantie der Abstimmungsfreiheit

Warum aber spielt das überhaupt eine Rolle? Dazu muss man sich Artikel 34 der Bundesverfassung in Erinnerung rufen, welcher die Abstimmungsfreiheit garantiert. Die Stimmbürger sollen bei Abstimmungen und Wahlen möglichst unverfälscht ihren Willen bilden und kundtun können. Behörden und ihre Informationstätigkeit im Vorfeld von Urnengängen spielen bei der Gewährleistung der Abstimmungsfreiheit eine bedeutende Rolle. Zum einen muss der Bundesrat bei eidgenössischen Abstimmungen sicherstellen, dass die Stimmbürger die nötigen Informationen erhalten, um einen informierten Entscheid zu treffen. Daher legt die Regierung Stimmunterlagen eine Broschüre mit Abstimmungserläuterungen bei, den Wahlzetteln eine Wahlanleitung.

Abgesehen von dieser minimalen Beratungsfunktion gingen die Rechtsprechung und -lehre bis in die 1990er Jahre von einem grundsätzlichen Interventionsverbot aus. Behördliches Tätigwerden im Abstimmungskampf wurde als prinzipielle Gefahr betrachtet, welche die Offenheit des Meinungsbildungsprozesses einseitig beeinträchtigen könnte. Behörden durften daher ihre privilegierte Stellung nicht dazu nutzen, den Abstimmungskampf zugunsten der eigenen Position zu beeinflussen. Man war sich einig, dass Behörden grundsätzlich nicht am Abstimmungskampf teilnehmen sollen. Nach dem damaligen Verständnis einer «innenpolitischen Neutralität» von Behörden sollten Staat und Gesellschaft streng getrennt sein.[2] Ausnahmsweise waren Interventionen erlaubt, wenn triftige Gründe vorlagen. So etwa, wenn ein privater Akteur irreführende Propaganda betreibt, sodass der Bundesrat (beziehungsweise die zuständige Behörde auf kantonaler oder kommunaler Ebene) die Falschaussage richtigstellen muss. Oder wenn plötzlich neue und wesentliche Tatsachen auftauchten, die für die Stimmberechtigten entscheidrelevant sein konnten. Ansonsten war die Regierung gehalten, sich zurückzuhalten und neutral zu agieren.[3]

Seit der Jahrtausendwende – nicht zuletzt nach den Abstimmungen zum EWR und zur Totalrevision der Bundesverfassung, bei denen die Bundesbehörden in noch nie dagewesener Intensität für ihre Vorlagen warben – hat hat eine sukzessive Abkehr vom Interventionsverbot stattgefunden. Nicht mehr das Ob, sondern das Wie wurden entscheidend. Behördliche Informationen im Abstimmungskampf werden nunmehr akzeptiert, wenn sie den Grundsätzen der Sachlichkeit, der Vollständigkeit, der Transparenz und der Verhältnismässigkeit entsprechen. Die Behörden müssen sich somit eines nüchternen Tons bedienen und auf Polemik und starke Übertreibungen verzichten. Wichtige Elemente einer Vorlage dürfen sie nicht unterdrücken. Versteckte Einflussnahme ist unzulässig, insbesondere die finanzielle Unterstützung der einen oder anderen Seite unzulässig. Die Intensität der Intervention darf schliesslich nicht unverhältnismässig sein; die Art und Weise soll sich daran orientieren, was die gesellschaftlichen und politischen Akteure in der Lage sind, aufzubringen.

Problematisch ist der Fall, wenn sich einzelne Mitglieder der Regierung in der Öffentlichkeit äussern. Mitunter versuchen Exekutivmitglieder hierdurch, ihre pointierten Aussagen nicht als Intervention einer Behörde, sondern als private Verlautbarung darzustellen – auch wenn der Zeitungsleser oder Fernsehzuschauer sie als Stellungnahme der Gesamtbehörde wahrnimmt. In der jüngeren Vergangenheit haben Bundesräte vermehrt von dieser zweifelhaften Möglichkeit Gebrauch gemacht. So betonte Alain Berset vor der Abstimmung über die Rentenreform 2020 bei jeder Gelegenheit die Bedeutung der Vorlage und rief die Bürger sogar noch auf Twitter dazu auf, abstimmen zu gehen.

Zweifelhafte demokratische Legitimität

Wieder nach einem unterschiedlichen Massstab zu beurteilen sind Stellungnahmen von Behörden zu Abstimmungen einer anderen Staatsebene. Der Bundesrat dürfte sich beispielsweise nicht zu Abstimmungen in einzelnen Kantonen oder Gemeinden äussern, ebensowenig wie die Kantonsregierung zu kommunalen Wahlen (es sei denn, die dortigen Behörden würden in eklatanter Weise gegen die Abstimmungsfreiheit verstossen, was aufsichtsrechtliche Massnahmen erforderte).

Nicht per se unzulässig und relativ häufig sind demgegenüber Interventionen von Behörden zu Abstimmungen eines übergeordneten Staatswesens. Vor allem Abstimmungsempfehlungen von Kantonsregierungen zu eidgenössischen Vorlagen haben sich in den letzten Jahren vermehrter Beliebtheit erfreut. Eine Erhebung für die 25 eidgenössischen Abstimmungsvorlagen im Zeitraum von November 2013 bis Februar 2016 zeigt, dass die Regierungen der Kantone Waadt und Freiburg je 8 Mal eine Parolen fassten, Schaffhausen 10 Mal und Aargau mit 13 Parolen gar bei mehr als der Hälfte aller Vorlagen. Die Innerschweizer Regierungen halten derweil nicht viel von solcherlei föderaler Einmischung: Luzern, Obwalden, Schwyz, Uri und Zug haben keine einzige Abstimmungsempfehlung publiziert.[4]

Trotz der in der Praxis eindrücklichen Anzahl Parolen war es den Kantonen bis vor kurzem eigentlich nur in Ausnahmefällen gestattet, vor eidgenössischen Abstimmungen Stellung zu beziehen. Schliesslich haben die Kantone mit dem Vernehmlassungsverfahren, den Instrumenten der Standesinitiative und des Kantonsreferendums sowie über Parlamentarier und eigene Lobbyisten im Bundeshaus bereits ausreichend Kanäle, über die sie sich bei Vorlagen auf Bundesebene einbringen können. Überdies stellt sich die Frage nach der demokratischen Legitimität, vertreten doch die Kantonsregierungen den gesamten Kanton, also auch jene Bürger, die eine andere Position haben (und die möglicherweise sogar in der Mehrheit sind).

Das Bundesgericht erachtete daher solche Interventionen eines Kantons lange nur dann als zulässig, wenn er am Ausgang der Abstimmung ein unmittelbares und besonderes Interesse hatte, das jenes der übrigen Kantone deutlich überstieg. Deshalb hielten die Richter etwa eine Intervention des Kantons Zürich im Vorfeld der Abstimmung über das revidierte Nachrichtendienstgesetz 2016 für zulässig, da sie Zürich als von der Thematik in besonderem Masse betroffen erachteten. Die Stellungnahme der Ostschweizer Justiz- und Polizeidirektorenkonferenz hingegen war laut Bundesgericht nicht zulässig, da die Ostschweizer Kantone nicht überdurchschnittlich von der Revision betroffen waren.[5]

Mit den zwei Eingangs erwähnten Urteilen (zum Geldspielgesetz und Vollgeld-Initiative) ist das Bundesgericht Ende 2018 indes von dieser Linie abgerückt, ja hat ob der kantonalen Parolen-Flut geradezu kapituliert: Zu gross wurde der Spagat zwischen Sein und Sollen, zwischen der verlangten «besonderen Betroffenheit» und der effektiven, zusehends extensiven Behördenpraxis. Nwu sind also die Kantone bereits dann zur Stellungnahme befugt, wenn eine Bundesvorlage die Kantonsebene in irgendeiner Form berührt, was doch regelmässig der Fall sein wird, sind die Kantone doch oftmals zumindest mit Vollzugsaufgaben betraut. Dabei haben die Kantone immerhin, wie der Bundesrat, bei ihren Äusserungen die erwähnten Grundsätze der Vollständigkeit, der Sachlichkeit, der Transparenz und der Verhältnismässigkeit einzuhalten.

Die Mär vom Maulkorb

Die Rechtsprechung des Bundesgerichts mag zuweilen widersprüchlich erscheinen. Eine Liberalisierung auf der einen Seite geht oftmals mit Einschränkungen auf der anderen Seite einher. Die differenzierte, sich wandelnde und konkretisierende und teilweise dennoch unklare Rechtslage erklärt auch, warum die Behördenvertreter immer wieder versuchen Wege zu finden, um die Einschränkungen bezüglich ihrer Stellungnahmen zu umgehen.

Klar wird aus dieser Übersicht indes, dass das Bundesgericht seine Rechtsprechung in den letzten 20 Jahren, und speziell in der jüngeren Vergangenheit liberalisiert hat. Die Klage von Kantonsvertretern, die Lausanner Richter würden ihnen einen «Maulkorb» umlegen, hat mit der Realität wenig zu tun. Das zeigt sich allein daran, dass die Aktivität der kantonalen Behörden in eidgenössischen Abstimmungskämpfen kürzlich deutlich zugenommen hat. Die Zahl der Interventionen ist seit der Jahrtausendwende deutlich angestiegen.[6] Der richterliche Maulkorb wäre also, wenn es ihn denn gäbe, extrem ineffizient.

Ob die Unmenge von behördlicher Abstimmungspropaganda der Abstimmungsfreiheit der Bürger dienlich ist, ist dabei sehr fraglich. Zumal von den 87 untersuchten regierungsrätlichen Abstimmungsempfehlungen 2013–2016 alle 87 Parolen den Abstimmungsempfehlungen der Bundesbehörden (Bundesversammlung und Bundesrat) entsprachen – die exekutiven Empfehlungen fungieren also weniger als Ausfluss kantonaler Diversität denn als plumpe «föderale Lautsprecher».

 


[1] BGE 145 I 1 (Geldspielgesetz) und Urteil 1C_216/2018 des Bundesgerichts vom 10. Dezember 2018, zur Publikation vorgesehen (Vollgeld-Initiative).

[2] Andrea Töndury (2011): Intervention oder Teilnahme? Möglichkeiten und Grenzen staatlicher Kommunikation im Vorfeld von Volksabstimmungen, ZBl 2011, S. 341 ff., 342 f.; Yvo Hangartner und Andreas Kley (2000): Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Rz. 2593.

[3] Das war früher mitunter auch ein Argument dafür, dass der Bundesrat für seine Stellungnahme im Abstimmungsbüchlein mehr Platz in Anspruch nahm, als er Initiativ- und Referendumskomitees zugestand. Inzwischen wurde diesbezüglich eine gewisse Balance hergestellt.

[4] Lorenz Langer (2017): Kantonale Interventionen bei eidgenössischen Abstimmungskämpfen, ZBl 2017, S. 183 ff.

[5] BGE 143 I 78 (Nachrichtendienstgesetz).

[6] Rahel Freiburghaus (2018): «Föderalismus im Abstimmungskampf?» Neue föderale Einflusskanäle am Beispiel kantonaler Interventionen bei eidgenössischen Volksabstimmungen, Masterarbeit an der Universität Bern.

Wie die USA in eine Diktatur verwandelt werden könnten (nein, es geht nicht um Trump)

Die US-amerikanische Verfassung enthält ein Schlupfloch, um die Demokratie abzuschaffen – das behauptete der brillante Logiker Kurt Gödel. Das Problem: Bis heute ist nicht klar, worauf er sich genau bezog.

Der österreichische Mathematiker Kurt Gödel wurde vor allem durch seinen Unvollständigkeitssatz von 1931 bekannt. In Politik war der geniale, aber exzentrische Logiker (der starb, weil er aus Angst vor Vergiftungen aufhörte zu essen) weniger bewandert. Und doch hinterliess er auch hier seine Spuren.

1925_kurt_gödel

Kurt Gödel auf einer Aufnahme von 1925. (Foto: Wikipedia)

Gödel hatte nach dem Anschluss Österreichs ans nationalsozialistische Deutschland 1938 seine Professur in Wien verloren und war zwei Jahre später in die USA ausgewandert. Dort arbeitete er an der Princeton University und freundete sich mit Albert Einstein an. Einstein war es auch, der Gödel 1947 zusammen mit dem Ökonomen Oskar Morgenstern bei seinem Vorhaben, die US-amerikanische Staatsbürgerschaft zu erhalten, unterstützte. Diese scheiterte allerdings beinahe.

Gödel bereitete sich gewissenhaft auf die Einbürgerungsprüfung vor und studierte die Verfassung eingehend. Während des Gesprächs wurde Gödel nach seiner Nationalität gefragt. Als Gödel angab, dass er Österreicher sei, sagte der Richter beiläufig, dass in Amerika zum Glück keine Diktatur wie in Österreich entstehen könnte. Gödel widersprach und behauptete, dass es in der Verfassung der USA einen logischen Widerspruch gebe, der die Umwandlung des Staates in eine Diktatur erlaube.

Der Richter unterbrach die Ausführungen des Mathematikers allerdings schnell – was möglicherweise dessen Einbürgerung rettete, aber für die verfassungsrechtliche Debatte einen Verlust darstellt. Denn: Was genau das Schlupfloch ist, das Gödel entdeckt zu haben glaubte, ist nicht bekannt. Weder von ihm noch von Einstein oder Morgenstern sind Angaben dazu überliefert.

Spirale nach unten

Gödels Entdeckung ist deshalb zum Gegenstand von Spekulationen geworden. Die häufigste Vermutung ist, dass sich der Widerspruch auf Artikel 5 der amerikanischen Verfassung bezieht.[1] Darin ist das Verfahren zur Revision der Verfassung beschrieben. Damit eine Änderung in Kraft tritt, müssen ihr je zwei Drittel des Repräsentantenhauses und des Senats sowie drei Viertel der Gliedstaaten zustimmen.

Diese Bedingungen gelten natürlich auch für Änderungen von Artikel 5 selber. Somit könnten die Hürden für eine Verfassungsänderung gesenkt werden. Beispielsweise könnte festgelegt werden, dass eine einfache Mehrheit im Parlament genügt. Diese Mehrheit könnte anschliessend noch weitergehen und in die Verfassung schreiben, dass es keine Wahlen mehr gibt oder dass der Präsident die Verfassung per Dekret ändern kann. Von diesem Zeitpunkt an könnte der Präsident die Verfassung nach Belieben ändern und würde somit über diktatorische Macht verfügen. Selbst vermeintlich unantastbare Verfassungsgarantien sind vor dem Schlupfloch nicht sicher. So garantiert die US-Verfassung den Gliedstaaten, dass sie alle Recht auf gleiche Repräsentation im Senat hätten, dass also keine Verfassungsänderung beschlossen werden könnte, die das Prinzip der gleichen Repräsentation verletzt. Wenn man aber Artikel 5 ändern kann, kann man auch diesen Schutzmechanismus für die Gliedstaaten streichen.

Ein kurzer Weg

Nun existiert Gödels Schlupfloch nicht nur in der amerikanischen Verfassung, sondern eigentlich in jeder Verfassung, die geändert werden kann und deren Regeln zur Änderung auf sich selber anwendbar sind. Das trifft auf so ziemlich alle Verfassungen der Welt zu.[2] Eine Ausnahme bildet das deutsche Grundgesetz, das eine sogenannte «Ewigkeitsklausel» enthält. Diese legt fest, dass jede Änderung der Artikel 1 bis 20 (welche die Grundrechte und die Grundstruktur des Staates als parlamentarische Demokratie enthalten) ungültig ist. Theoretisch könnte die «Ewigkeitsklausel» ihrerseits geändert werden, was gemäss juristischer Lehre allerdings nicht zulässig wäre.

Angesichts der grundsätzlichen Abänderbarkeit aller Verfassungen erscheint Gödels These ziemlich trivial. Und sie erinnert uns daran, dass der Weg in die Diktatur juristisch gesehen kurz ist. Versperrt wird er nur von standfesten Politikern und Richtern – und von besonnenen Bürgern.

Aber wer weiss – vielleicht hatte Gödel auch ein ganz anderes Schlupfloch im Blick. Es wäre jedenfalls nicht das erste Mal, dass der geniale Logiker nicht verstanden wurde. Als er 1930 an einer Mathematikertagung in Königsberg seinen Unvollständigkeitssatz erstmals präsentierte, war die Reaktion – keine. Seine Fachkollegen brauchten Monate, um die Bedeutung des revolutionären Beweises zu erfassen.

 


[1] Vgl. Enrique Guerra-Pujol (2013): «Gödel’s Loophole», in: Capital University Law Review 41, S. 637-673.

[2] Einige Verfassungen der Schweizer Kantone im 19. Jahrhundert enthielten immerhin gewisse Fristen, während derer sie nicht geändert werden konnten.

Wie Gerrymandering die Demokratie aushöhlt

Ist das parteipolitisch motivierte Zuschneiden von Wahlkreisen unfair? Ja, aber damit beginnen die Probleme erst.

Gerrymander

Die Einteilung der Wahlkreise kann entscheidenden Einfluss auf das Wahlergebnis haben, wie das Spiel «Gerrymander» anschaulich zeigt. Bild: Good Egg Games

Bei den Parlamentswahlen im US-Bundesstaat Wisconsin 2012 erhielten die Republikaner 48.6 Prozent der Stimmen – das reichte, um 60.6 Prozent der Sitze zu gewinnen. Der Grund für die Diskrepanz heisst Gerrymandering, also die gezielte Einteilung der Wahlkreise zum Vorteil einer bestimmten Partei oder Gruppe.[1]

Gegenwärtig beschäftigt sich der oberste Gerichtshof der USA mit den Wahlkreisen in Wisconsin. Die Beschwerdeführer argumentieren, die parteipolitisch motivierte Einteilung von Wahlkreisen durch die Republikaner stehe im Widerspruch zur Verfassung. Mit dem Urteil wird im Juni gerechnet.

Aufgrund der politischen Ausrichtung der neun Richter (fünf stehen den Republikanern, vier den Demokraten nahe) wird es die Klage nicht leicht haben. Allerdings ist zu bedenken, dass die Republikaner nicht die einzigen sind, die Gerrymandering betreiben (auch wenn sie die Manipulationen seit 2010 mit dem Projekt «Redmap» auf eine neue Spitze getrieben haben). Tatsächlich hat sich der Supreme Court kürzlich einem weiteren Fall von Gerrymandering angenommen, bei dem die Demokraten profitierten.

Die demokratischen Beschwerdeführer aus Wisconsin hoffen darauf, dass einer der konservativen Richter kippen könnte: Beim letzten Urteil zu Gerrymandering urteilte das Gericht mit fünf zu vier Stimmen gegen die Verfassungswidrigkeit der Praxis. Einer der fünf Richter, Anthony Kennedy, schrieb allerdings in einer separaten Stellungnahme, dass es möglich wäre, Gerrymandering als verfassungswidrig zu stoppen – allerdings brauche das Gericht dazu eine objektive Methode, wie die durch die Manipulationen verursachten Verzerrungen gemessen werden könnten.

Die Kläger in Wisconsin glauben, nun ein solches Mass gefunden zu haben: den Efficiency Gap. Der Efficiency Gap misst vereinfacht gesagt, wie viele Stimmen jeder Partei bei einer Wahl «verschwendet» wurden, also nicht zu einem Sitzgewinn beitrugen,[2] und berechnet die Differenz. Der Efficiency Gap für die Parlamentswahlen in Wisconsin 2012 erreichte 13 Prozent, bei den darauffolgenden Wahlen 10 Prozent. Das sind aussergewöhnlich hohe Werte. Sollte der Supreme Court in diesem Fall Gerrymandering nicht rügen, dürfte gegen die Wahlkreismanipulationen bis auf weiteres kein Kraut gewachsen sein.

Weniger Wettbewerb

In der amerikanischen Öffentlichkeit herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass Gerrymandering Wahlresultate verfälscht und daher möglichst vermieden werden sollte. Doch der Schaden, den Gerrymandering verursacht, geht darüber hinaus.

Der «Trick» von erfolgreichem Gerrymandering besteht darin, dass möglichst viele Stimmen der gegnerischen Partei verschwendet werden – dass sich ihre Stimmen also auf möglichst wenige Wahlkreise konzentrieren, wo sie überdeutlich gewinnt, während sie alle anderen Wahlkreise verliert. Deswegen führt Gerrymandering fast zwangsläufig zu weniger demokratischem Wettbewerb. Bei den letzten Wahlen für das Repräsentantenhaus 2016 verloren nur gerade 3 Prozent der Abgeordneten, die zur Wiederwahl antraten, ihren Sitz, und nur 12 der 435 Sitze wechselten die Parteifarbe. Immer mehr Parlamentarier sitzen auf «safe seats» und brauchen nur sicherzustellen, dass sie der eigenen Basis gefallen, ohne Mitte-Wähler überzeugen zu müssen.

Aufgrund dieses Umstands machen einige Experten Gerrymandering mitverantwortlich für die zunehmende Polarisierung der amerikanischen Politik. Weil die Parteien in «ihren» Wahlkreisen weniger Konkurrenz zu befürchten haben, müssen Kandidaten vor allem in der eigenen roten oder blauen Blase ankommen, um im parteiinternen Wettbewerb zu bestehen.

Wie stark dieser Effekt tatsächlich ist, ist umstritten. In einer Untersuchung kamen die Politikwissenschafter Nolan McCarty, Keith T. Poole und Howard Rosenthal zum Schluss, dass Gerrymandering höchstens 10 bis 15 Prozent des Anstiegs der Polarisierung seit 1970 erklären könne. Fest steht aber, dass Gerrymandering keine Hilfe ist, um das Auseinanderdriften der amerikanischen Politik und Gesellschaft zu bremsen.

Unabhängige Kommissionen als Lösung?

Die Gegner von Gerrymandering plädieren dafür, die Einteilung der Wahlkreise aus den Händen der Politiker zu nehmen und unabhängigen Kommissionen zu übertragen. Die Erfahrungen der vier Bundesstaaten, die diesen Schritt bereits getan haben, zeigen, dass das Problem damit tatsächlich eingedämmt werden kann. Allerdings sind auch diese parteiunabhängigen Kommissionen vor politischer Einflussnahme nicht gefeit. Hinzu kommt ein grundsätzlicheres Problem: die Tendenz, dass sich Amerikaner bei der Wahl ihres Wohnorts zunehmend «sortieren», d.h. vermehrt dorthin ziehen, wo Leute mit ähnlichem Hintergrund und ähnlichen Meinungen leben. Unter diesen Umständen Wahlkreise zu ziehen, bei denen der Sieger nicht schon im Vornherein feststeht, ist auch für parteiunabhängige Kommissionen eine Herausforderung.

Um das Problem des Gerrymandering endgültig aus der Welt zu schaffen, würde nur die Abschaffung oder zumindest die Anpassung des Mehrheitswahlsystems helfen, um die Sitze fairer zu verteilen. Daran haben die beiden grossen Parteien indes überhaupt kein Interesse.

 

Weiterführende Links:

  • Das Magazin «FiveThirtyEight» hat dem Phänomen des Gerrymandering eine spannende Podcast-Serie gewidmet.
  • Ein spielerischer Ansatz, um das Problem zu veranschaulichen, ist die App «Gerrymander».
  • John Oliver hat sich dem Thema in «Last Week Tonight» auf seine Art angenommen.

 


[1] Im vorliegenden Beitrag geht es um «partisan gerrymandering». Zuweilen wirken sich Wahlkreisgrenzen aber auch nachteilig auf andere Gruppen aus, etwa Minderheiten. «Racial gerrymandering» wurde vom obersten Gerichtshof der USA bereits als verfassungswidrig bezeichnet.

[2] Als «verschwendet» gelten sowohl Stimmen in Wahlkreisen, in denen eine Partei keinen Sitz holte, als auch jene Stimmen, die in einem Wahlkreis über das hinausgehen, was für einen Sitzgewinn mindestens nötig gewesen wäre (bei zwei Kandidaten 50 Prozent plus eine Stimme). Mehr Informationen zur Methodik finden sich hier.