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Das Losverfahren brachte in der Schweizer Geschichte vor allem Aristokraten Glück

Verbessert das Losverfahren die Demokratie? Seine Fürsprecher verweisen gern auf die Alte Eidgenossenschaft. Aber gerade hier diente die Verlosung von Ämtern vor allem den Mächtigen.

Publiziert im Magazin «NZZ Geschichte» vom 9. Juli 2020.

Gott meinte es offensichtlich nicht gut mit Albrecht von Haller. Der Universalgelehrte sass seit bald dreissig Jahren im bernischen Grossen Rat. Es war längst Zeit für den nächsten Schritt in der Karriere des Patriziers. Wiederholt bewarb sich von Haller um einen Sitz im Kleinen Rat, in der Regierung, mehrmals kandidierte er für eine Landvogtei. Doch immer wieder traf das Glück beim Losentscheid einen Konkurrenten. Haller tröstete sich mit dem Gedanken, dass die politische Karriere offenbar nicht seine Bestimmung sei. Nachdem er 1772 beim Rennen um den Einzug in den Kleinen Rat ein weiteres Mal leer ausgegangen war, bezeichnete er das Los in einem Brief an seinen Freund, den Genfer Gelehrten Charles Bonnet, als «Stimme Gottes». Sie sei tiefsinniger als menschliche Entscheide.[1]

Wer die goldene Kugel zog, stieg in der Berner Machthierarchie auf. (Bild: Bernisches Historisches Museum)

 

Kaum jemand sieht im Los heute noch ein Verdikt Gottes. Und doch erlebt die Idee, politische Vertreter nicht per Wahl, sondern per Zufall zu bestimmen, wieder einen Aufschwung. Vorangetrieben wird sie von Wissenschaftern wie dem belgischen Historiker David Van Reybrouck. Das Los, so argumentiert er in seinem 2016 auf Deutsch erschienenen Buch «Gegen Wahlen», sei das wahrhaft demokratische Verfahren.

Ansätze, es in moderne Demokratien zu integrieren, gab es in der jüngeren Vergangenheit unter anderem in Irland, im US-Gliedstaat Oregon und im deutschsprachigen Teil Belgiens. In Sitten wurde kürzlich ein Pilotversuch durchgeführt, bei dem wie in Oregon eine ausgeloste Gruppe von Bürgern über eine Abstimmungsvorlage diskutierte und einen kurzen Bericht zuhanden ihrer Mitbürger verfasste. Weiter geht die Justizinitiative, welche die Auslosung von Bundesrichtern fordert. Das Begehren ist zustande gekommen, bald will der Bundesrat seine Botschaft dazu vorlegen. Noch nicht so weit ist die Volksinitiative Génération Nomination. Sie will, dass der Nationalrat künftig per Los besetzt wird. Die Initianten wollen zusätzliche Unterstützer und finanzielle Mittel sammeln, bevor sie mit der Unterschriftensammlung starten.

Die Eidgenossenschaft war ein Spätzünder

Verfechter des Losverfahrens betonen, es sei demokratischer als die Wahl, weil es das Prinzip der Gleichheit besser zur Geltung bringe. So schreiben die zwei Politikwissenschafter Nenad Stojanović und Alexander Geisler in der «Zeit», das Los sei «lange Zeit die demokratische Methode par excellence» gewesen. Sie und andere Befürworter des Modells verweisen auf den antiken Stadtstaat Athen, wo das Losverfahren zur Besetzung einiger (nicht aller) wichtiger Ämter zum Einsatz kam, sowie auf die norditalienischen Stadtstaaten wie Venedig oder Florenz, die im Mittelalter beim Besetzen von Ämtern auf den Zufall setzten. Und noch ein Vorbild wird genannt: die Eidgenossenschaft. Verschiedene Kantone und Gemeinden vergaben ab dem 17. Jahrhundert Ämter per Los. Ein genauerer Blick zeigt aber, dass sie damit keineswegs eine Demokratisierung anstrebten – im Gegenteil.

Im Vergleich zu anderen Gebieten findet das Los in der Schweiz relativ spät Aufnahme in die politischen Systeme. Während das Verfahren in Venedig bereits im 13. Jahrhundert eingeführt wurde, tauchen die ersten Beispiele in der Schweiz erst im 17. Jahrhundert auf. Die Schweiz ist für die Geschichte des Losverfahrens aber besonders interessant, weil es in sehr unterschiedlichen Staatsformen zur Anwendung kam: in den ländlichen Landsgemeindeorten ebenso wie in aristokratischen Städterepubliken und nach dem Ende der Alten Eidgenossenschaft auch in der Helvetischen Republik, wie ein 2017 von Wissenschaftern der Universität Lausanne herausgegebener Sammelband eindrücklich aufzeigt.[2]

Ruinöses Wettrüsten

Unter den Landsgemeindeorten war Glarus jener, der das Losverfahren als erster einführte und am längsten beibehielt. Vor der Einführung waren die wichtigen Ämter in offenen Wahlen an der Landsgemeinde besetzt worden. Dabei war allerdings der Stimmenkauf weit verbreitet. Um dem Missstand beizukommen, führten die Glarner 1623 zunächst Abgaben ein; wer in ein Amt gewählt wurde, musste einen gewissen Betrag an die Staatskasse oder direkt an die Stimmbürger entrichten. Das sollte den Anreiz mindern, Stimmen zu kaufen. Die Massnahme scheint aber nicht den gewünschten Effekt gehabt zu haben, ja sie verstärkte die Aristokratisierung noch. Jedenfalls beschloss 1640 die evangelische Landsgemeinde – Glarus war inzwischen konfessionell geteilt –, wichtige Amtsträger nicht mehr zu wählen, sondern auszulosen. Das Verfahren war zweistufig: Zunächst wurden per Handmehr acht Kandidaten ausgewählt (zwei aus dem hinteren, vier aus dem mittleren und zwei aus dem vorderen Landesteil). Unter diesen wurde danach gelost. Ein unmündiger Knabe gab jedem Bewerber eine schwarz eingefasste Kugel; sieben waren silbern, eine golden. Wer die goldene Kugel zog, bekam das Amt. Der katholische Teil von Glarus übernahm das Verfahren 1649.

Anders als man denken würde, lag das Losverfahren durchaus im Interesse der Eliten, wie der Historiker Aurèle Dupuis von der Universität Lausanne betont.[3] Denn die Wahlbestechung hatte mit der Zeit zu einem immer kostspieligeren Wettstreit um Ämter geführt, der ganze Familien zu ruinieren drohte. Durch das Los sollte der Anreiz für dieses ruinöse Wettrüsten gesenkt werden. Ausserdem erhofften sich insbesondere Angehörige von Familien, die zwar zur Elite, aber nicht zu den ganz mächtigen Geschlechtern zählten, eine ausgeglichenere Verteilung der Ämter.

Verdächtiger Zufall

Allerdings scheint auch beim Los nicht immer alles mit rechten Dingen zugegangen zu sein. Jedenfalls ist es auffällig, dass einige Herren das gleiche Amt mehrmals hintereinander erlangten. So gelang Johann Heinrich Zwicky das Kunststück, zwischen 1699 und 1719 fünfmal in Folge zum Landesstatthalter gelost zu werden (wodurch er jeweils zwei Jahre später Landammann werden konnte). Die Wahrscheinlichkeit, das in einem fairen Verfahren zu schaffen (gegen jeweils sieben Mitbewerber), liegt bei 1 zu 32 768. Die Vermutung liegt nahe, dass Zwicky seinem Glück auf die Sprünge zu helfen wusste, etwa mittels Absprachen mit anderen Kandidaten. Auf Unregelmässigkeiten lässt auch ein Beschluss der evangelischen Landsgemeinde von 1764 schliessen, in dem die Kandidaten ermahnt werden, sie sollten «keine Kugeln mehr wechseln, sondern jeder die ihn treffende Kugel behalten».[4] Statt der Wähler bestachen die Politiker nun also einfach ihre Mitbewerber.

Gleichwohl hielten die Glarner am Losverfahren fest. 1791 ging die evangelische Landsgemeinde sogar noch einen Schritt weiter: Sie führte für einige Ämter (Landschreiber, Läufer und Landvögte) das sogenannte Kübellos ein. Dieses verzichtete ganz auf eine vorgängige Wahl und loste die Ämter direkt unter allen Bürgern aus. Dafür wurden Zettel mit Namen aus einem Butterfass gezogen. Weil keinerlei Vorselektion stattfand, konnte es vorkommen, dass das Los Leute traf, die ein Amt nicht ausüben wollten oder konnten, zum Beispiel wenn ein Analphabet zum Landschreiber ernannt wurde. In vielen Fällen wurde es daher an den Meistbietenden versteigert, womit man wieder gleich weit war wie im 17. Jahrhundert: beim Ämterkauf.

Inspiriert von Glarus, übernahmen zwei weitere Landsgemeindeorte das Losverfahren, wenn auch nur für kurze Zeit: In Schwyz wurde es 1692 eingeführt und blieb formell bis 1706 in Kraft, wobei es in der Praxis schon vorher nicht mehr angewandt wurde. In Zug dauerte das Experiment noch kürzer, nämlich von 1697 bis 1699. In Glarus überlebte das Losverfahren derweil bis weit ins 19. Jahrhundert hinein. Erst als die Glarner im Zuge der Regenerationsbewegung 1837 eine neue Verfassung beschlossen, schafften sie die alten Strukturen der konfessionellen Trennung ab – und mit ihnen das Losverfahren.

Verengung der Herrschaftsschicht

Nicht nur in Landsgemeindeorten fand das Losverfahren Anwendung, sondern auch in städtischen Aristokratien wie Bern, Basel oder Schaffhausen. Und so unterschiedlich die politischen Systeme waren, so ähnlich waren die Gründe, die sie aufs Los brachten: Einerseits wollte man die verbreitete politische Korruption eindämmen, andererseits die Tendenz zur Machtkonzentration entschärfen. In Bern etwa wurde die herrschende Schicht ab dem 17. Jahrhundert immer schmaler: Zählten 1630 noch 139 Familien zum Patriziat, waren es 1701 nur noch 88.

Die zunehmende Abkapselung führte zu Spannungen, einerseits zwischen den regierenden Geschlechtern und dem Rest der Burgerschaft, andererseits aber auch innerhalb des Patriziats. Die Aufnahme in den Grossen Rat erfolgte durch Kooptation: Das Gremium bestimmte selber, wen es neu aufnehmen wollte. Dabei hatten die Mitglieder des Kleinen Rats und des Rats der Sechzehn ein Vorschlagsrecht; sie konnten so sicherstellen, dass Mitglieder der eigenen Familie zum Zug kamen. Die weniger mächtigen Geschlechter, die nicht im Kleinen Rat vertreten waren, befürchteten nicht zu Unrecht, mittelfristig ganz aus dem Grossen Rat zu fallen. Auch deshalb versuchte Albrecht von Haller – der dafür lukrative Stellen an angesehenen Universitäten und Höfen ausschlug – derart verzweifelt, in den Kleinen Rat zu kommen: Es ging um das politische Überleben seiner Familie.

Das Los, das für Landvogteien ab 1710 und für den Kleinen Rat ab 1722 eingesetzt wurde, sollte die Ämterverteilung gleichmässiger machen und Bestechung erschweren. Wie in Glarus kam das Glück beziehungsweise Pech in goldenen und silbernen Kugeln zum Ausdruck. Dabei bestimmte nie das Los allein; vielmehr kam ein komplexes System zur Anwendung, das über mehrere Runden Wahl und Losverfahren kombinierte. Der Zufall hatte keine freie Bahn, sondern wurde im Gegenteil stark eingehegt. Denn die mächtigen Familien hatten kein Interesse daran, ihre Privilegien einfach so aufzugeben. Umgekehrt wollten sie aber auch nicht, dass innere Konflikte ihre Herrschaft gefährdeten. Die Einbindung des Loses erlaubte es, beiden Absichten gerecht zu werden. «Das Ziel der Einführung von Losverfahren in Bern war nicht eine Demokratisierung, sondern vielmehr der Abbau von Konflikten sowie eine Stabilisierung der aristokratischen Republik», schreibt der Historiker Nadir Weber. Wie wirksam das Los dabei war, ist offen. Jedenfalls blieb die Macht bis zum Zusammenbruch des Ancien Régime in den Händen weniger Familien konzentriert.

Albrecht von Haller war kein begeisterter Anhänger des Losverfahrens. Zwar schrieb er, dass das Los die Chancen von Aussenseitern auf Ämter verbessere. Das Übel der Wahlbestechung lasse sich damit aber nicht beheben, sondern verlagere sich lediglich auf die Phase der Vorselektion. Haller mag aufgrund seiner persönlichen Erfahrung nicht eben ein unvoreingenommener Richter sein. Letztlich stand er dem Los aber doch versöhnlich gegenüber: Man solle jener höheren Instanz vertrauen, die das Gold und Silber der Kugeln geschaffen und jede Farbe mit dem Namen dessen versehen habe, für den sie bestimmt sei. Haller sah in seinem Lospech offenbar einen Hinweis, dass Gott ihn nicht mit Regierungsgeschäften belasten wollte, so dass er sich ungestört seiner wissenschaftlichen Tätigkeit widmen konnte.

Reaktion auf Staatskrise

Auf den göttlichen Willen berief man sich auch anderswo wiederholt, etwa in Schaffhausen. Dort forderten die Zünfte, die das Fundament des Staats bildeten, 1688 die Einführung des «göttlichen Loss», um den Zugang zu höheren Ämtern gerechter zu gestalten.[5] Vorausgegangen waren dem Ansinnen wachsende Spannungen zwischen dem Kleinen Rat, der immer mehr Kompetenzen an sich zog, und dem Rest der Bürgerschaft, die sich schliesslich zu einer veritablen Staatskrise ausweiteten. Dem Kleinen Rat wurden Absolutismus, Korruption und Vetternwirtschaft vorgeworfen. Die Schwere der Krise erklärt wohl auch, warum Schaffhausen mit seiner Reform deutlich weiter ging als Bern. Der Grosse Rat beschloss, sämtliche Ämter auszulosen, wobei die Zünfte und Gesellschaften je einen Kandidaten stellen durften.

Demokratisierung war nicht das Ziel

Kurzum: In den Landsgemeindeorten ebenso wie in den Städterepubliken der Eidgenossenschaft wurde das Los als Mittel gegen politische Korruption und absolutistische Herrschaftsansprüche propagiert. Zahlreiche Orte griffen auf das Verfahren zurück, Auslöser waren oft Spannungen innerhalb der oberen Herrschaftsschichten. Angestrebt wurden eine breitere Verteilung der Macht und eine weniger berechenbare – und somit auch weniger beeinflussbare – Besetzung der Ämter. Eine wirkliche Demokratisierung war hingegen nie das Ziel und fand auch nirgends statt. Im Gegenteil: Oft lag das Losverfahren durchaus im Interesse der herrschenden Schicht. Sei es, weil diese (wie in Glarus) die horrenden Kosten der Wahlbestechung vermeiden wollte; sei es, weil (wie in Bern) der Kreis der Mächtigen immer enger wurde und damit die Stabilität der Regierung gefährdete.

Es mag sein, dass das Losverfahren Vorteile für die Demokratie mit sich bringen kann. Die Alte Eidgenossenschaft ist aber ein denkbar ungeeignetes Beispiel dafür. Die Berner Patrizier wären erstaunt über die Vorstellung, dass sie mit ihrer Reform Pioniere der Demokratie gewesen sein sollen.

 


[1] Zitiert in Nadir Weber (2017): «Gott würfelt nicht», in: Chollet, Antoine und Fontaine, Alexandre (2017): Expériences du tirage au sort en Suisse et en Europe (XVIe-XXIe siècle), S. 60.

[2] Chollet/Fontaine 2017.

[3] Aurèle Dupuis: «Un remède désespéré pour des démocraties aux abois», in Chollet/Fontaine 2017.

[4] Zitiert in Winteler, Jakob (1954): Geschichte des Landes Glarus. Band II: von 1638 bis zur Gegenwart, S. 128.

[5] Roland E. Hofer: Absolutismus oder Republik? Bemerkungen zur Verfassungskrise von 1688. Schaffhauser Beiträge zur Geschichte, 84 (2010), S. 95 ff.

Behördliche Interventionen zu Abstimmungen: Kein Maulkorb für die «föderalen Lautsprecher»

Die Behörden greifen zunehmend in Abstimmungskämpfe ein – und nutzen dabei rechtliche Schlupflöcher. Das ist demokratiepolitisch heikel, denn oft genug wird die Meinungsbildung der Stimmbürger damit eher verzerrt als erleichtert.

Von Lukas Leuzinger und Claudio Kuster

Die Westschweizer Finanzdirektoren haben die KMU für sich entdeckt. In den vergangenen Wochen haben die Vertreter der Kantone Genf, Waadt, Wallis, Freiburg und Jura verschiedenen Betrieben in der Romandie kollektive Besuche abgestattet. Dabei ging es nicht darum, mehr über die Kaffeeröstung oder die Herstellung von Elektronikkomponenten zu lernen, sondern vor allem um das Paket aus Steuerreform und AHV-Zuschuss, über das am 19. Mai abgestimmt wird. Wo immer sie auftraten, betonten die Regierungsvertreter die Bedeutung der Vorlage.

Dass sie dazu Pressekonferenzen abhalten müssen, liegt an zwei kürzlichen Urteilen des Bundesgerichts. Die Lausanner Richter haben im Nachgang der Volksabstimmungen über das Geldspielgesetz und die Vollgeld-Initiative gerügt, dass sich jeweils Fachdirektorenkonferenzen zu den Vorlagen in einer Medienmitteilung äusserten. Es liege grundsätzlich in der alleinigen Kompetenz der Kantonsregierungen als die Kantone repräsentierende Behörden, sich im Namen ihres betroffenen Kantons in einen eidgenössischen Abstimmungskampf einzuschalten. Nur wenn die Kantone durchgehend oder zumindest in ihrer Mehrheit von einer Vorlage stark betroffen seien, erscheine es zulässig, wenn sich die Konferenz der Kantonsregierungen (KdK) im Vorfeld einer bundesweiten Abstimmung öffentlich äussert und eine Abstimmungsempfehlung abgibt. Denn die KdK trete im Namen der Gesamtheit oder Mehrheit der Kantone auf.

Interventionen von «blossen» Fachdirektorenkonferenzen wie derjenigen der Finanzdirektoren demgegenüber, deren Meinungsbildung und Vertretung nach Aussen wenig transparent seien, müssen von solchen Interventionen ausgeschlossen bleiben.[1] «Ganz wie ihr wollt!», scheinen die Finanzdirektoren den Bundesrichtern nun sagen zu wollen, «dann packen wir unsere Aussagen eben von einer Pressemitteilung in eine Pressekonferenz um».

Zulässige Intervention der Kantone: Medienkonferenz der KdK. (Foto: @AHVSteuerJA)

 

Garantie der Abstimmungsfreiheit

Warum aber spielt das überhaupt eine Rolle? Dazu muss man sich Artikel 34 der Bundesverfassung in Erinnerung rufen, welcher die Abstimmungsfreiheit garantiert. Die Stimmbürger sollen bei Abstimmungen und Wahlen möglichst unverfälscht ihren Willen bilden und kundtun können. Behörden und ihre Informationstätigkeit im Vorfeld von Urnengängen spielen bei der Gewährleistung der Abstimmungsfreiheit eine bedeutende Rolle. Zum einen muss der Bundesrat bei eidgenössischen Abstimmungen sicherstellen, dass die Stimmbürger die nötigen Informationen erhalten, um einen informierten Entscheid zu treffen. Daher legt die Regierung Stimmunterlagen eine Broschüre mit Abstimmungserläuterungen bei, den Wahlzetteln eine Wahlanleitung.

Abgesehen von dieser minimalen Beratungsfunktion gingen die Rechtsprechung und -lehre bis in die 1990er Jahre von einem grundsätzlichen Interventionsverbot aus. Behördliches Tätigwerden im Abstimmungskampf wurde als prinzipielle Gefahr betrachtet, welche die Offenheit des Meinungsbildungsprozesses einseitig beeinträchtigen könnte. Behörden durften daher ihre privilegierte Stellung nicht dazu nutzen, den Abstimmungskampf zugunsten der eigenen Position zu beeinflussen. Man war sich einig, dass Behörden grundsätzlich nicht am Abstimmungskampf teilnehmen sollen. Nach dem damaligen Verständnis einer «innenpolitischen Neutralität» von Behörden sollten Staat und Gesellschaft streng getrennt sein.[2] Ausnahmsweise waren Interventionen erlaubt, wenn triftige Gründe vorlagen. So etwa, wenn ein privater Akteur irreführende Propaganda betreibt, sodass der Bundesrat (beziehungsweise die zuständige Behörde auf kantonaler oder kommunaler Ebene) die Falschaussage richtigstellen muss. Oder wenn plötzlich neue und wesentliche Tatsachen auftauchten, die für die Stimmberechtigten entscheidrelevant sein konnten. Ansonsten war die Regierung gehalten, sich zurückzuhalten und neutral zu agieren.[3]

Seit der Jahrtausendwende – nicht zuletzt nach den Abstimmungen zum EWR und zur Totalrevision der Bundesverfassung, bei denen die Bundesbehörden in noch nie dagewesener Intensität für ihre Vorlagen warben – hat hat eine sukzessive Abkehr vom Interventionsverbot stattgefunden. Nicht mehr das Ob, sondern das Wie wurden entscheidend. Behördliche Informationen im Abstimmungskampf werden nunmehr akzeptiert, wenn sie den Grundsätzen der Sachlichkeit, der Vollständigkeit, der Transparenz und der Verhältnismässigkeit entsprechen. Die Behörden müssen sich somit eines nüchternen Tons bedienen und auf Polemik und starke Übertreibungen verzichten. Wichtige Elemente einer Vorlage dürfen sie nicht unterdrücken. Versteckte Einflussnahme ist unzulässig, insbesondere die finanzielle Unterstützung der einen oder anderen Seite unzulässig. Die Intensität der Intervention darf schliesslich nicht unverhältnismässig sein; die Art und Weise soll sich daran orientieren, was die gesellschaftlichen und politischen Akteure in der Lage sind, aufzubringen.

Problematisch ist der Fall, wenn sich einzelne Mitglieder der Regierung in der Öffentlichkeit äussern. Mitunter versuchen Exekutivmitglieder hierdurch, ihre pointierten Aussagen nicht als Intervention einer Behörde, sondern als private Verlautbarung darzustellen – auch wenn der Zeitungsleser oder Fernsehzuschauer sie als Stellungnahme der Gesamtbehörde wahrnimmt. In der jüngeren Vergangenheit haben Bundesräte vermehrt von dieser zweifelhaften Möglichkeit Gebrauch gemacht. So betonte Alain Berset vor der Abstimmung über die Rentenreform 2020 bei jeder Gelegenheit die Bedeutung der Vorlage und rief die Bürger sogar noch auf Twitter dazu auf, abstimmen zu gehen.

Zweifelhafte demokratische Legitimität

Wieder nach einem unterschiedlichen Massstab zu beurteilen sind Stellungnahmen von Behörden zu Abstimmungen einer anderen Staatsebene. Der Bundesrat dürfte sich beispielsweise nicht zu Abstimmungen in einzelnen Kantonen oder Gemeinden äussern, ebensowenig wie die Kantonsregierung zu kommunalen Wahlen (es sei denn, die dortigen Behörden würden in eklatanter Weise gegen die Abstimmungsfreiheit verstossen, was aufsichtsrechtliche Massnahmen erforderte).

Nicht per se unzulässig und relativ häufig sind demgegenüber Interventionen von Behörden zu Abstimmungen eines übergeordneten Staatswesens. Vor allem Abstimmungsempfehlungen von Kantonsregierungen zu eidgenössischen Vorlagen haben sich in den letzten Jahren vermehrter Beliebtheit erfreut. Eine Erhebung für die 25 eidgenössischen Abstimmungsvorlagen im Zeitraum von November 2013 bis Februar 2016 zeigt, dass die Regierungen der Kantone Waadt und Freiburg je 8 Mal eine Parolen fassten, Schaffhausen 10 Mal und Aargau mit 13 Parolen gar bei mehr als der Hälfte aller Vorlagen. Die Innerschweizer Regierungen halten derweil nicht viel von solcherlei föderaler Einmischung: Luzern, Obwalden, Schwyz, Uri und Zug haben keine einzige Abstimmungsempfehlung publiziert.[4]

Trotz der in der Praxis eindrücklichen Anzahl Parolen war es den Kantonen bis vor kurzem eigentlich nur in Ausnahmefällen gestattet, vor eidgenössischen Abstimmungen Stellung zu beziehen. Schliesslich haben die Kantone mit dem Vernehmlassungsverfahren, den Instrumenten der Standesinitiative und des Kantonsreferendums sowie über Parlamentarier und eigene Lobbyisten im Bundeshaus bereits ausreichend Kanäle, über die sie sich bei Vorlagen auf Bundesebene einbringen können. Überdies stellt sich die Frage nach der demokratischen Legitimität, vertreten doch die Kantonsregierungen den gesamten Kanton, also auch jene Bürger, die eine andere Position haben (und die möglicherweise sogar in der Mehrheit sind).

Das Bundesgericht erachtete daher solche Interventionen eines Kantons lange nur dann als zulässig, wenn er am Ausgang der Abstimmung ein unmittelbares und besonderes Interesse hatte, das jenes der übrigen Kantone deutlich überstieg. Deshalb hielten die Richter etwa eine Intervention des Kantons Zürich im Vorfeld der Abstimmung über das revidierte Nachrichtendienstgesetz 2016 für zulässig, da sie Zürich als von der Thematik in besonderem Masse betroffen erachteten. Die Stellungnahme der Ostschweizer Justiz- und Polizeidirektorenkonferenz hingegen war laut Bundesgericht nicht zulässig, da die Ostschweizer Kantone nicht überdurchschnittlich von der Revision betroffen waren.[5]

Mit den zwei Eingangs erwähnten Urteilen (zum Geldspielgesetz und Vollgeld-Initiative) ist das Bundesgericht Ende 2018 indes von dieser Linie abgerückt, ja hat ob der kantonalen Parolen-Flut geradezu kapituliert: Zu gross wurde der Spagat zwischen Sein und Sollen, zwischen der verlangten «besonderen Betroffenheit» und der effektiven, zusehends extensiven Behördenpraxis. Nwu sind also die Kantone bereits dann zur Stellungnahme befugt, wenn eine Bundesvorlage die Kantonsebene in irgendeiner Form berührt, was doch regelmässig der Fall sein wird, sind die Kantone doch oftmals zumindest mit Vollzugsaufgaben betraut. Dabei haben die Kantone immerhin, wie der Bundesrat, bei ihren Äusserungen die erwähnten Grundsätze der Vollständigkeit, der Sachlichkeit, der Transparenz und der Verhältnismässigkeit einzuhalten.

Die Mär vom Maulkorb

Die Rechtsprechung des Bundesgerichts mag zuweilen widersprüchlich erscheinen. Eine Liberalisierung auf der einen Seite geht oftmals mit Einschränkungen auf der anderen Seite einher. Die differenzierte, sich wandelnde und konkretisierende und teilweise dennoch unklare Rechtslage erklärt auch, warum die Behördenvertreter immer wieder versuchen Wege zu finden, um die Einschränkungen bezüglich ihrer Stellungnahmen zu umgehen.

Klar wird aus dieser Übersicht indes, dass das Bundesgericht seine Rechtsprechung in den letzten 20 Jahren, und speziell in der jüngeren Vergangenheit liberalisiert hat. Die Klage von Kantonsvertretern, die Lausanner Richter würden ihnen einen «Maulkorb» umlegen, hat mit der Realität wenig zu tun. Das zeigt sich allein daran, dass die Aktivität der kantonalen Behörden in eidgenössischen Abstimmungskämpfen kürzlich deutlich zugenommen hat. Die Zahl der Interventionen ist seit der Jahrtausendwende deutlich angestiegen.[6] Der richterliche Maulkorb wäre also, wenn es ihn denn gäbe, extrem ineffizient.

Ob die Unmenge von behördlicher Abstimmungspropaganda der Abstimmungsfreiheit der Bürger dienlich ist, ist dabei sehr fraglich. Zumal von den 87 untersuchten regierungsrätlichen Abstimmungsempfehlungen 2013–2016 alle 87 Parolen den Abstimmungsempfehlungen der Bundesbehörden (Bundesversammlung und Bundesrat) entsprachen – die exekutiven Empfehlungen fungieren also weniger als Ausfluss kantonaler Diversität denn als plumpe «föderale Lautsprecher».

 


[1] BGE 145 I 1 (Geldspielgesetz) und Urteil 1C_216/2018 des Bundesgerichts vom 10. Dezember 2018, zur Publikation vorgesehen (Vollgeld-Initiative).

[2] Andrea Töndury (2011): Intervention oder Teilnahme? Möglichkeiten und Grenzen staatlicher Kommunikation im Vorfeld von Volksabstimmungen, ZBl 2011, S. 341 ff., 342 f.; Yvo Hangartner und Andreas Kley (2000): Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Rz. 2593.

[3] Das war früher mitunter auch ein Argument dafür, dass der Bundesrat für seine Stellungnahme im Abstimmungsbüchlein mehr Platz in Anspruch nahm, als er Initiativ- und Referendumskomitees zugestand. Inzwischen wurde diesbezüglich eine gewisse Balance hergestellt.

[4] Lorenz Langer (2017): Kantonale Interventionen bei eidgenössischen Abstimmungskämpfen, ZBl 2017, S. 183 ff.

[5] BGE 143 I 78 (Nachrichtendienstgesetz).

[6] Rahel Freiburghaus (2018): «Föderalismus im Abstimmungskampf?» Neue föderale Einflusskanäle am Beispiel kantonaler Interventionen bei eidgenössischen Volksabstimmungen, Masterarbeit an der Universität Bern.

Wie die USA in eine Diktatur verwandelt werden könnten (nein, es geht nicht um Trump)

Die US-amerikanische Verfassung enthält ein Schlupfloch, um die Demokratie abzuschaffen – das behauptete der brillante Logiker Kurt Gödel. Das Problem: Bis heute ist nicht klar, worauf er sich genau bezog.

Der österreichische Mathematiker Kurt Gödel wurde vor allem durch seinen Unvollständigkeitssatz von 1931 bekannt. In Politik war der geniale, aber exzentrische Logiker (der starb, weil er aus Angst vor Vergiftungen aufhörte zu essen) weniger bewandert. Und doch hinterliess er auch hier seine Spuren.

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Kurt Gödel auf einer Aufnahme von 1925. (Foto: Wikipedia)

Gödel hatte nach dem Anschluss Österreichs ans nationalsozialistische Deutschland 1938 seine Professur in Wien verloren und war zwei Jahre später in die USA ausgewandert. Dort arbeitete er an der Princeton University und freundete sich mit Albert Einstein an. Einstein war es auch, der Gödel 1947 zusammen mit dem Ökonomen Oskar Morgenstern bei seinem Vorhaben, die US-amerikanische Staatsbürgerschaft zu erhalten, unterstützte. Diese scheiterte allerdings beinahe.

Gödel bereitete sich gewissenhaft auf die Einbürgerungsprüfung vor und studierte die Verfassung eingehend. Während des Gesprächs wurde Gödel nach seiner Nationalität gefragt. Als Gödel angab, dass er Österreicher sei, sagte der Richter beiläufig, dass in Amerika zum Glück keine Diktatur wie in Österreich entstehen könnte. Gödel widersprach und behauptete, dass es in der Verfassung der USA einen logischen Widerspruch gebe, der die Umwandlung des Staates in eine Diktatur erlaube.

Der Richter unterbrach die Ausführungen des Mathematikers allerdings schnell – was möglicherweise dessen Einbürgerung rettete, aber für die verfassungsrechtliche Debatte einen Verlust darstellt. Denn: Was genau das Schlupfloch ist, das Gödel entdeckt zu haben glaubte, ist nicht bekannt. Weder von ihm noch von Einstein oder Morgenstern sind Angaben dazu überliefert.

Spirale nach unten

Gödels Entdeckung ist deshalb zum Gegenstand von Spekulationen geworden. Die häufigste Vermutung ist, dass sich der Widerspruch auf Artikel 5 der amerikanischen Verfassung bezieht.[1] Darin ist das Verfahren zur Revision der Verfassung beschrieben. Damit eine Änderung in Kraft tritt, müssen ihr je zwei Drittel des Repräsentantenhauses und des Senats sowie drei Viertel der Gliedstaaten zustimmen.

Diese Bedingungen gelten natürlich auch für Änderungen von Artikel 5 selber. Somit könnten die Hürden für eine Verfassungsänderung gesenkt werden. Beispielsweise könnte festgelegt werden, dass eine einfache Mehrheit im Parlament genügt. Diese Mehrheit könnte anschliessend noch weitergehen und in die Verfassung schreiben, dass es keine Wahlen mehr gibt oder dass der Präsident die Verfassung per Dekret ändern kann. Von diesem Zeitpunkt an könnte der Präsident die Verfassung nach Belieben ändern und würde somit über diktatorische Macht verfügen. Selbst vermeintlich unantastbare Verfassungsgarantien sind vor dem Schlupfloch nicht sicher. So garantiert die US-Verfassung den Gliedstaaten, dass sie alle Recht auf gleiche Repräsentation im Senat hätten, dass also keine Verfassungsänderung beschlossen werden könnte, die das Prinzip der gleichen Repräsentation verletzt. Wenn man aber Artikel 5 ändern kann, kann man auch diesen Schutzmechanismus für die Gliedstaaten streichen.

Ein kurzer Weg

Nun existiert Gödels Schlupfloch nicht nur in der amerikanischen Verfassung, sondern eigentlich in jeder Verfassung, die geändert werden kann und deren Regeln zur Änderung auf sich selber anwendbar sind. Das trifft auf so ziemlich alle Verfassungen der Welt zu.[2] Eine Ausnahme bildet das deutsche Grundgesetz, das eine sogenannte «Ewigkeitsklausel» enthält. Diese legt fest, dass jede Änderung der Artikel 1 bis 20 (welche die Grundrechte und die Grundstruktur des Staates als parlamentarische Demokratie enthalten) ungültig ist. Theoretisch könnte die «Ewigkeitsklausel» ihrerseits geändert werden, was gemäss juristischer Lehre allerdings nicht zulässig wäre.

Angesichts der grundsätzlichen Abänderbarkeit aller Verfassungen erscheint Gödels These ziemlich trivial. Und sie erinnert uns daran, dass der Weg in die Diktatur juristisch gesehen kurz ist. Versperrt wird er nur von standfesten Politikern und Richtern – und von besonnenen Bürgern.

Aber wer weiss – vielleicht hatte Gödel auch ein ganz anderes Schlupfloch im Blick. Es wäre jedenfalls nicht das erste Mal, dass der geniale Logiker nicht verstanden wurde. Als er 1930 an einer Mathematikertagung in Königsberg seinen Unvollständigkeitssatz erstmals präsentierte, war die Reaktion – keine. Seine Fachkollegen brauchten Monate, um die Bedeutung des revolutionären Beweises zu erfassen.

 


[1] Vgl. Enrique Guerra-Pujol (2013): «Gödel’s Loophole», in: Capital University Law Review 41, S. 637-673.

[2] Einige Verfassungen der Schweizer Kantone im 19. Jahrhundert enthielten immerhin gewisse Fristen, während derer sie nicht geändert werden konnten.

Système proportionnel: les racines genevoises d’une innovation démocratique

Il y a cent ans, la Suisse adoptait le système proportionnel pour les élections au Conseil national. Elle faisait alors figure de pionnière.

Cet article était publié dans « Le Temps » le 12 octobre 2018. Il est basé sur ce texte en allemand.

Il y a cent ans, le 13 octobre 1918, la Suisse a accepté une initiative introduisant le système proportionnel pour les élections au Conseil national. La Confédération ne fut pas le premier pays à introduire ce système (la Belgique l’ayant précédée de vingt ans); elle fut néanmoins parmi les pionniers du système proportionnel – dans la théorie comme dans la pratique.

Victor Considerant. (Image: Musée national du château de Compiègne)

Tout au long de l’histoire, les hommes ont utilisé le système électoral le plus simple pour repourvoir un poste: le système majoritaire. L’idée que chaque force politique doit recevoir une partie du pouvoir correspondant à son soutien dans la population était pratiquement inconnue avant la Révolution française, et elle resta une construction théorique peu considérée avant que le philosophe, économiste et penseur socialiste Victor Considerant se soit occupé plus concrètement de la méthode.

La première fois que le système a été sérieusement proposé fut en 1846 à Genève. Le Parti radical ayant pris le pouvoir des conservateurs l’année précédente, il voulut rédiger une nouvelle Constitution. Considerant, qui venait tout juste d’arriver dans la ville, écrivit une lettre au Grand Conseil constituant dans laquelle il proposait l’introduction du système proportionnel. Selon lui, le système majoritaire n’était pas seulement « barbare », mais aussi illogique car, dans une élection dans plusieurs circonscriptions, un parti pouvait obtenir une majorité de sièges avec une minorité de voix.

L’influence de Naville

Or, les radicaux, après avoir gagné le pouvoir, n’avaient aucun intérêt à le partager. Le Grand Conseil constituant répondit à Considerant que son idée était une « utopie philosophique ».

Il fallut une éruption de violence pour que le suffrage proportionnel réapparaisse dans la discussion publique à Genève. En 1864, James Fazy, le meneur des radicaux, perdit l’élection au Conseil d’Etat. Mais la Commission électorale, qui était dominée par les radicaux, annula le résultat sans offrir d’explications convaincantes. Ce scandale déclencha une émeute au cours de laquelle trois personnes furent tuées.

Ernest Naville. (Image: Bibliothèque de Genève)

Cette tragédie choqua les Genevois, dont le théologien et philosophe Ernest Naville. En pensant à ces événements, il devint convaincu que le système électoral donnant tout pouvoir à la majorité (ou même à une minorité) était une des sources du clivage profond qui marquait le canton. Pour cette raison, il fonda l’Association réformiste, qui luttait pour l’introduction du proportionnel. Naville et ses alliés ont exercé une influence importante sur la diffusion de l’idée du suffrage proportionnel dans le monde, comme le décrit Dominique Wisler dans son livre La démocratie genevoise. Mais les mœurs se révélèrent difficiles à changer. Il fallut presque trente ans pour que Naville atteigne son but.

Deux cantons en marge

Ce fut toutefois un autre canton qui devint le premier en Suisse à appliquer le nouveau système dans la pratique: le Tessin. Et ce n’est pas un hasard si, là aussi, un conflit violent est à l’origine de la discussion sur un mode de scrutin plus équitable et plus juste. En 1890, après une série d’élections dans lesquelles le Parti conservateur avait bénéficié du système majoritaire distordant les résultats, une partie des radicaux se révolta contre le gouvernement conservateur. Au cours de la révolte, un Conseiller d’Etat fut tué. Le Conseil fédéral envoya des troupes fédérales au Tessin et installa un gouvernement provisoire. Afin de calmer la situation durablement, il arrangea un accord entre les deux partis ennemis visant à instaurer une nouvelle méthode électorale: le suffrage proportionnel. En 1891, le système fut mis en œuvre pour la première fois – ce fut une première non seulement en Suisse mais dans le monde. La même année, le canton de Neuchâtel suivit le Tessin en introduisant le nouveau système. Genève le fit en 1892.

Ce sont donc les cantons latins qui furent les pionniers du système proportionnel, qui s’est ensuite diffusé dans le reste du pays. Ce fut l’inverse pour l’autre innovation démocratique, la démocratie directe. Celle-ci fut introduite dans les cantons alémaniques avant de se diffuser en Suisse romande.

Après que dix cantons eurent opté pour le système proportionnel et après deux initiatives infructueuses à l’échelle nationale, la Confédération décida enfin d’introduire le système pour le Conseil national il y a de cela cent ans. Aujourd’hui, il n’y a que deux cantons qui élisent leur parlement selon le système majoritaire: les Grisons et Appenzell Rhodes-Intérieures.

Landsgemeinde für Nicht-Landleute

Die Glarner Landsgemeinde ist bekannt als traditionsreiche Urform der Demokratie. Ihre Geschichte, ihre aktuelle Verfassung, die Vorzüge und Nachteile dieser Demokratieform bringt nun Lukas Leuzingers Buch «Ds Wort isch frii» einer breiteren Leserschaft näher.

«Ds Wort isch frii» (176 Seiten, Fr. 36.–) ist 2018 bei NZZ Libro erschienen.

Gäbe es den perfekten Autoren für ein Portrait über die Glarner Landsgemeinde in Buchform, er müsste Glarner Wurzeln haben, aber dennoch den unabhängigen Blick von aussen wahren können. Er müsste Politikwissenschaft studiert haben, der sich als auf Demokratiefragen spezialisierter Journalist einen gut verständlichen Schreibstil angeeignet hat. – Lukas Leuzinger (südlich des Linthkanals ausgesprochen als «Lüüziger»), Chefredaktor dieses Blogs, ist ein solcher Autor.[*]

Leuzinger hat während grob eines Jahres in und um Glarus recherchiert und sich der Urinstitution Landsgemeinde Glarus angenommen. Dieses traditionsreiche und dennoch auf der «roten Liste» der gefährdeten Demokratieformen fungierende Kuriosum ist schliesslich nur noch in zwei Kantonen anzutreffen, nebst Glarus noch in Appenzell Innerrhoden. Höchste Zeit, dass der Glarner Landsgemeinde eine Veröffentlichung gewidmet wird, die sich insbesondere an ein breiteres Publikum richtet und damit eine echte Lücke schliesst.

Wie bereits dem Untertitel zu entnehmen, gliedert sich das Buch in die drei Teile Geschichte, Gegenwart und Zukunft. Um auf die Entstehung dieser Institution zurückblicken zu können, muss im umfangreichsten ersten Teil (Die Geschichte der Landsgemeinde) ziemlich weit zurückgeblättert werden, ins Jahr 1387 nämlich, in welchem die Glarner Landsgemeinde erstmals dokumentiert ist. Damals wurde nicht über ein Radroutengesetz oder die Finanzierung des Hochwasserschutzes «gemehrt und gemindert» (wie an der diesjährigen Landsgemeinde), sondern über Leben und Tod gerichtet (Blutgerichtsbarkeit), über Krieg und Frieden befunden.

Landsgemeinde als Antithese zur Demokratiekrise

Leuzinger ist sichtlich gelegen, nicht nur die Eckpfeiler der über 600-jährigen Geschichte der Landsgemeinde zu rekapitulieren, sondern die Institution, den Kanton Glarus, sein Volk und auch die Eidgenossenschaft in den jeweiligen geschichtlichen Kontext zu setzen, um ebendieses Demokratiemodell mit ihren Vorzügen und Nachteilen einordnen und nachvollziehen zu können. Wer hätte so gedacht, dass es in Glarus bis ins 19. Jahrhundert beispielsweise gleich mehrere parallele Landsgemeinden gab? Im Kontext der Glaubensspaltung, die andernort gar zu Krieg und Kantonstrennungen führte, ist nachvollziehbar, dass es in Glarus eine protestantische und eine katholische Landsgemeinde gab. – Der Autor hätte den historischen Teil durchaus noch ausbauen und insbesondere dem interessierten Leser ein paar weitere umstrittene Landsgemeinde-Traktanden oder Wahlen näher bringen dürfen.

Im zweiten Teil (Die Landsgemeinde heute: Demokratisches Vorbild oder undemokratisches Kuriosum?) schaut Leuzinger zunächst weit über den «Zigerschlitz» hinaus, indem er auf die gegenwärtige weltweite «Krise der Demokratie» eingeht und die Landsgemeinde quasi als Antithese gegenüberstellt. Schliesslich – Wie die Landsgemeinde funktioniert – wird auf die eigentlichen Befugnisse und Verfahren der Portraitierten eingegangen. Leuzinger hält wenig vom Traditionalismus und Pomp rund um die jahrhundertealte Institution. Er hebt demgegenüber besonderes zwei funktionale Aspekte hervor: Das Rederecht und das Antragsrecht.

Wer sein Anliegen sachlich, kurz und klar vorbringt, kann mit einer Rede den Ausschlag für ein Ja oder Nein geben. Die Unvorhersehbarkeit macht den Reiz der Landsgemeinde aus. Natürlich haben Glarner ebenso wie Stimmbürger in anderen Kantonen mehr oder weniger gefestigte Ansichten und werden durch Parteiparolen oder eigene Vorurteile beeinflusst. Der Unterschied zum Urnensystem besteht darin, dass die Landsgemeinde einen zusätzlichen Kanal für die Meinungsbildung darstellt. Das Besondere an diesem Kanal ist, dass er im Vergleich zu anderen sehr ausgeglichen ist: Jeder hat die gleiche Möglichkeit, zu seinen Mitbürgern zu reden und sie von seiner Meinung zu überzeugen. Gleichzeitig ist jeder den Argumenten – jenen der Befürworter ebenso wie jenen der Gegner – in gleichem Masse ausgesetzt.

Das Juwel der Glarner Demokratie ist jedoch das Antragsrecht. Einerseits kann jeder Stimmberechtigte mittels Memorialsantrag – eine Art Volksinitiative, für die bloss eine einzige Unterschrift vonnöten ist – sein individuelles Begehren auf die Traktandenliste setzen. Andererseits können die Teilnehmer sogar noch an der Landsgemeinde selbst spontane Änderungsanträge einbringen. Resultat dieses unmittelbaren Mitwirkungsrechts war beispielsweise die extreme (und rechtswidrige) Gemeindezwangsfusion vor zwölf Jahren, als von den damaligen 25 Gemeinden zur Überraschung aller plötzlich nur noch deren 3 übrig geblieben sind. Mittels Antragsrecht wurden indes zumeist fortschrittliche Lösungen eingebracht und durchgesetzt, so ein Fabrikgesetz 1864 zum Schutz der Arbeiter und Kinder, die Einführung des Frauen- und später des Jugendlichenstimmrechts (ab 16 Jahren).

Das eigentlich Spezielle an der Landsgemeinde ist aber nicht die direkte Demokratie, sondern die tiefe Schwelle zur Mitbestimmung: Jeder einzelne Bürger kann per Antragsrechts Gesetzes- und sogar Verfassungsänderungen vorschlagen, und statt an der Versammlung nur Ja oder Nein zu sagen, kann jeder Teilnehmer Änderungsvorschläge zu traktandierten Vorlagen einbringen. Bezüglich des Zugangs der Bürger zum politischen Prozess ist das Antragsrecht an der Glarner Landsgemeinde sehr radikal. Trotzdem werden die Behörden nicht mit Anträgen überflutet, und die Antragsteller können ihre Anliegen meist vernünftig begründen. Das zeigt: Wenn man den Bürgern Verantwortung überträgt, verhalten sie sich verantwortungsvoll. Betrachtet man sie als störendes Element, werden sie sich auch so verhalten.

Makel der Vorzeigeinstitution

Leuzinger verhehlt aber auch die Nachteile dieser Demokratieform keineswegs, indem er das mangelnde Stimmgeheimnis, die Zählmethode (es wird selbst bei knappen Ergebnissen nicht gezählt, sondern geschätzt) sowie die gegenüber der Urnenwahl erschwerte Zugänglichkeit der Versammlungsdemokratie vorhält. Die Vorzeigeinstitution Glarus’ vermöge nämlich lediglich 20 bis 30 Prozent der Stimmberechtigten an den Zaunplatz zu locken (die Stimmbeteiligung muss unterdessen sogar noch auf durchschnittlich grobe zehn Prozent herunterkorrigiert werden!).

Auszug aus der Fotoreihe in «Ds Wort isch frii».

 

In einem kurzen dritten Teil schliesslich widmet sich Leuzinger der Zukunft der Landsgemeinde. Darin wird beleuchtet, inwiefern sich die Landsgemeinde heute Reformen unterziehen könnte, um einige der genannten Nachteile zu beheben und damit als Institution langfristig vital zu bleiben. Im Vordergrund steht dabei das Hilfsmittel der elektronischen Auszählung. Wie aber bereits so oft in der Vergangenheit, dürfte es auch dieses Landsgemeinde-Update sehr schwer haben. – Das sehr flüssig und spannend geschriebene Buch wird durch eine Fotoreihe und neun Testimonials («Stimmen zur Landsgemeinde») von Glarner Politikern und Bürgerinnen abgerundet.

 


[*] Der Rezensent hat eine frühe Fassung des hier vorgestellten Buchs gegengelesen.

Zersplitterung heisst Vielfalt

Allerorten wird die zunehmende Fragmentierung der Parteiensysteme beklagt. Doch Vielfalt ist nicht ein Problem, sondern eine Stärke der Demokratie.

Wenn immer irgendwo in Europa gewählt wird, sind die anschliessenden Klagen so sicher wie das Amen in der Kirche. Über den Niedergang der Volksparteien, die Zersplitterung des Parlaments in immer mehr Parteien und die daraus entstehende Schwierigkeit der Regierungsbildung. Tatsächlich hat in den meisten Ländern Europas in den letzten Jahren die Zahl der Parteien im Parlament zu- und ihre durchschnittliche Grösse abgenommen. In den Niederlanden kam bei den Wahlen vergangenes Jahr die grösste Partei des Landes auf gerade einmal 21 Prozent der Stimmen, und es waren vier Parteien nötig, um eine Regierung bilden zu können, die im Parlament auf eine Mehrheit der Sitze kam. In Deutschland sind heute so viele Parteien im Bundestag wie nie seit 1945, und als Folge davon war nach den Wahlen im Herbst weder eine klassische linke (SPD und Grüne) noch eine klassische rechte Koalition (Union und FDP) möglich, weshalb nun einmal mehr eine grosse Koalition gebildet wurde (wobei diese «grosse» Koalition zusammen gerade einmal 53 Prozent der Wähler vertritt). Dass das Land ein halbes Jahr ohne gewählte Regierung dastand, liess die Medien hyperventilieren; Schlagzeilen wie «Republik am Rande des Nervenzusammenbruchs» dominierten über Monate den Blätterwald.

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Ein Parlament sollte das Spektrum der Meinungen in einer Gesellschaft möglichst genau abbilden. (Foto: D-Kuru)

Wer hat, dem wird gegeben

Aufgrund der steigenden Zahl von Parteien wächst die Lust unter den Grossen, kleinere Konkurrenten mittels Anpassungen am Wahlsystem auszuschliessen. Diverse Länder kennen bereits heute Mindestquoren, um Kleinparteien am Einzug ins Parlament zu hindern. In Griechenland erhält die grösste Partei automatisch einen Bonus von 50 Sitzen. Noch stärker zugunsten der grossen Parteien wirken sich Mehrheitswahlsysteme aus, wie sie Grossbritannien oder die USA kennen und wo kleine Parteien praktisch chancenlos sind. Auch bei den Wahlen ins EU-Parlament wollen die grossen Parteien kleinere Konkurrenten ausschliessen: Der EU-Rat hat kürzlich beschlossen, dass alle Mitgliedsstaaten verpflichtet werden sollen, eine Sperrklausel zwischen 2 und 5 Prozent einzuführen. Das ist insbesondere ein Erfolg für die etablierten Parteien in Deutschland, nachdem das Bundesverfassungsgericht in Karsruhe ein Quorum für EU-Wahlen für verfassungswidrig erklärt hatte. Stimmt das Europaparlament zu, tritt der Beschluss in Kraft – möglicherweise gilt er bereits bei den Wahlen im kommendem Jahr.

Zweifelsohne ist es komplizierter, Regierungen zu bilden, wenn mehr Parteien im Parlament vertreten sind. Doch ist es sinnvoll, grössere Parteien mithilfe des Wahlrechts zu bevorzugen? Spezielle Wahlregeln zur Schwächung von kleinen Parteien führen zuverlässig zu starken Verzerrungen der Wahlresultate und damit des Wählerwillens. Das Argument, dass solche Regeln zu mehr «Stabilität» führen, wird durch Wahlergebnisse wie jenes 2013 in Deutschland ad absurdum geführt, als die Regierung von Union und FDP scheiterte – zwar hatten die Koalitionspartner zusammen fast gleich viele Stimmen geholt als vier Jahre zuvor, weil aber die FDP unter die 5-Prozent-Hürde fiel, stand Merkels Regierung ohne Mehrheit im Parlament da. Die Kanzlerin rettete sich damals in eine Koalition mit der SPD.

Vielfalt oder Einfalt?

Darüber hinaus sprechen grundsätzliche Überlegungen dagegen, bestimmte Parteien auf Kosten anderer zu bevorteilen. Die Fragmentierung, die als Gespenst an die Wand gemalt wird, ist letztlich ein Abbild der Vielfalt der Gesellschaft. Die grossen Volksparteien, denen man in Europa nachtrauert, waren zwar regierungsfähig, aber inhaltsarm. Es gab weniger Debatten zwischen verschiedenen Parteien im Parlament, dafür mehr zwischen Vertretern unterschiedlicher Parteiflügel in Hinterzimmern.

In den USA, einem der letzten reinen Zwei-Parteien-Systemen der Welt, decken die Republikaner von einwanderungsfreundlichen Libertären über konservative Evangelikale bis zu nationalistischen Freihandelskritiker wie Donald Trump so ziemlich alles ab, während unter der Flagge der Demokraten Marxisten gemeinsam mit progressiven Kapitalisten aus dem Silicon Valley kämpfen. (Interessanterweise ist trotz dieser Heterogenität in den USA eine sehr starke Polarisierung zwischen den beiden Parteien zu beobachten.) Ist es das, was sich die Stabilitätsvorbeter für Europa wünschen?

Fokus auf Themen

Vielfältige Parteiensysteme sind aus Sicht der Wähler und letztlich aus Sicht der demokratischen Idee attraktiver. Das unterstreicht eine kürzlich veröffentlichte Dissertation des Politikwissenschafters Simon Lanz.[1] Er beschäftigt sich darin mit Issue ownership von Parteien. Diese Theorie besagt im Kern, dass es für den Wahlentscheid zentral ist, welcher Partei ein Stimmbürger bei dem aus seiner Sicht wichtigsten Thema die grösste Kompetenz zuschreibt. Lanz zeigt auf, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein Wähler eine Partei wählt, um 16 Prozentpunkte steigt, wenn er diese Partei als am kompetentesten in dem aus seiner Sicht wichtigsten Thema erachtet. Dieser Effekt ist unabhängig von der politischen Positionierung und von der Parteipräferenz. Selbst wenn der Wähler also einer anderen Partei nähersteht, ist die Chance gross, dass er jener Partei die Stimme gibt, die sich auf «sein» Thema spezialisiert und sich darin einen Ruf als kompetente Akteurin erarbeitet hat.

Diese Erkenntnis belegt im Prinzip lediglich, dass die Wähler aufgrund ihrer Präferenzen entscheiden und Parteien zur Rechenschaft ziehen aufgrund deren Leistungen beziehungsweise Lösungsansätzen auf einem Gebiet. Also eigentlich das, was die Idee der Demokratie will.

Weil es in der Politik aber verschiedene Themen gibt, lässt sich der Wählerwille umso weniger genau abbilden, je weniger Parteien zur Auswahl stehen. Lanz’ Untersuchung zeigt denn auch, dass Themen bei Wahlen eine umso grössere Rolle spielen, je mehr Parteien im Parlament vertreten sind.

Die vielgescholtene Fragmentierung ist damit nicht etwa eine Gefahr, sondern im Gegenteil ein Segen für die Demokratie: Sie stärkt die Rechenschaft und den Wettbewerb unter den Parteien und trägt damit zum Funktionieren des politischen Systems bei.

 


[1] Simon Lanz (2017): No Substitute for Competence. On the Origins and Consequences of Individual-Level Issue Ownership. Dissertation, Universität Genf.

Mit Bürgerforen wider die Reformmüdigkeit?

Nach dem Scheitern der Rentenvorlage steht die Schweiz vor der grundsätzlichen Frage, wie künftig Reformen gelingen können. Vielleicht, indem man die Mitsprache der Bürger stärkt.

Wer vor der Abstimmung über die Rentenreform die politische Debatte verfolgte, staunte nicht schlecht. Es ging um nicht weniger, als die wichtigste Reform dieses Jahrzehnts in Kraft zu setzen. Doch erstaunlich oft argumentierten die Befürworter nicht mit dem Nutzen, den der Vorlage für ein Rentensystem, das längst aus der finanziellen Balance geraten ist, sondern vor allem mit der Dringlichkeit und der Alternativlosigkeit des Pakets. Diese Reform, so wurde gebetsmühlenartig wiederholt, sei die einzige, die an der Urne eine Mehrheit finden würde. Insbesondere nach dem Nein zur Unternehmenssteuerreform im Februar setzte sich das Narrativ durch, die Reform der Altersvorsorge müsse nun zwingend irgendwie «sozialer» ausgestaltet werden. Oder einfacher gesagt: Mit Unterstützung der Linken gelingt die Reform, ohne die Linke nicht.

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Alain Berset – hier bei einem Besuch des Filmsets zum Schellen-Ursli Film – muss beim nächsten Anlauf für eine Rentenreform neue Wege suchen. (Bild: flickr/engadinscuolsamnaun)

Das Ergebnis der Abstimmung vom Sonntag hat diese Argumentation Lügen gestraft. Offenbar funktioniert die direkte Demokratie eben doch nicht ganz nach der Logik, dass man eine Vorlage nur mit einigen Zückerchen für die beteiligungsstärksten Jahrgänge zu garnieren braucht, um an der Urne zu gewinnen.

Wenig überzeugende Drohkulisse

Natürlich stürzten sich Gewinner und Verlierer nach Bekanntwerden des Resultats sogleich routiniert in den Kampf um die Deutungshoheit über das Resultat. Nach den monatelangen Predigten, dass nur diese Reform und keine andere eine Mehrheit finden könne, erklärten die Befürworter dem staunenden Publikum nun, warum diese Reform nun doch keine Mehrheit gefunden hatte.

Die Fragen, die das Abstimmungsresultat aufwirft, sind jedoch grundsätzlicher: Warum tut sich die Schweiz zunehmend schwer damit, seine Institutionen erfolgreich der Zeit anzupassen und nötige Reformen umzusetzen?

Es hilft wenig, wenn Politiker keine anderen Argumente für eine Vorlage finden können als «Es gibt keine Alternative», «Sonst gibt’s ein Sparpaket» oder «Sonst kriegt ihr keine AHV mehr». Offenbar wirken solche Drohkulissen auf die Stimmbürger nicht besonders überzeugend. Zu Recht: Wir sollten uns den Luxus leisten, aufgrund unserer Einschätzung von Vor- und Nachteilen einer Vorlage zu entscheiden und nicht aufgrund von Angst vor Alternativen.

Grosse Verantwortung

Abstimmungsresultate sind in der Schweiz nicht Stimmungsmesser (wie in gewissen anderen Ländern), sondern verbindliche Entscheide.[1] Damit wird den Stimmbürgern eine grosse Verantwortung in die Hände gelegt. Sie können mit einem Entscheid an einem einzigen Sonntag die Arbeit eines halben Jahrzehnts zunichte machen. Gross ist indes der Kontrast zwischen der eindrücklichen Macht, welche den Stimmbürger bei einer Abstimmung zukommt, und der Phase davor, wo sie nahezu nichts zu sagen haben.

Stattdessen arbeitet die Verwaltung, grübelt die Regierung, bearbeiten die Lobbyisten, kritisieren die Vernehmlassungsteilnehmer und bastelt das Parlament. Und über all dem schwebt das Damoklesschwert der Volksabstimmung. Man macht Umfragen, analysiert frühere Urnengänge und fragt sich: Reicht es für eine Mehrheit? Kommt der Bonus von 70 Franken beim Volk an? Braucht es eher 100 Franken? Oder ist die Idee kontraproduktiv, weil sie eine Zweiklassen-Gesellschaft in der AHV schafft? Bräuchte es stattdessen ein höheres Rentenalter? Oder wäre dieses erst recht der Tod des Projekts? Dieses Orakeln wirkt oft wie ein Stochern im Nebel. Natürlich: Spekulation gehört zum politischen Alltag, und es ist nicht das Ende der Welt, wenn sich eine Mehrheit im Parlament verschätzt. In der direkten Demokratie ist es erlaubt und legitim, auf Entscheide zurückzukommen. Wiederholt haben wir es erlebt, dass Vorlagen, die einmal abgelehnt werden, einige Jahre später in anderer (oder gleicher) Form eine Mehrheit findet. In der Zwischenzeit finden Diskussionen, Anpassungen und oft genug auch ein Umdenken in der Bevölkerung statt. Bei gewissen Fragen steht uns für neue Anläufe allerdings eine relativ beschränkte Zeit zur Verfügung. Die Altersvorsorge gehört zu diesen Fragen. Es ist daher geboten, über Anpassungen nachzudenken, um das System der direkten Demokratie zu verbessern.

Alternativen vorschlagen

Heute steht den Stimmberechtigten die Möglichkeit offen, mittels Volksinitiativen Einfluss auf die Politik zu nehmen. Zudem bestimmen sie ihre Repräsentanten im Parlament. Doch in den Gesetzgebungsprozess werden sie erst ganz am Schluss einbezogen, in der (allfälligen) Abstimmung. Wir erleben vor Urnengängen zwar oft lebhafte Debatten. Allerdings beginnen diese erst, wenn eine Vorlage bereits vorliegt und nicht mehr verändert werden kann. Zwecks besserer Mitsprache wäre es sinnvoll, ein Instrument einzuführen, das Diskussionen ausserhalb von Regierung und Parlament bereits zu einem früheren Zeitpunkt erlaubt. In vielen Demokratien wurden in jüngerer Vergangenheit – vor allem auf lokaler Ebene – Bürgerforen, Diskussionsplattformen oder ähnliches eingerichtet, in der Bürgerinnen und Bürger Ideen einbringen und darüber diskutieren können. Auch in der Schweiz gibt es in vielen Gemeinden solche Verfahren. Die Ansätze sind dabei sehr verschieden: Mancherorts können die Bürger spontan erscheinen, andernorts werden sie zufällig ausgewählt, um ein möglichst repräsentatives Abbild der Bevölkerung zu erhalten. In den meisten Fällen haben diese Gremien keine formelle Entscheidungskompetenz, wirken also nur «beratend» für eine Behörde. Oft haben sie dennoch massgeblichen Einfluss auf Entscheidungen. Partizipative Verfahren erlauben es, neue Ideen einzubringen, unabhängig von Partikularinteressen und parteitaktischen Überlegungen zu diskutieren und herauszufinden, bei welchen Vorschlägen sich ein Konsens finden lässt.

Die Argumentation in einer Gruppe bietet auch die besten Chancen, das Ideal der deliberativen Demokratie zu erfüllen, wonach sich im politischen Prozent das beste Argument durchsetzt und nicht die stärkste oder lauteste Interessengruppe. Das ist gerade bei Themen wie der Altersvorsorge, wo Einzelinteressen naturgemäss sehr stark sind, ein unschätzbarer Vorteil.

Die Politikphilosophin Alice el-Wakil hat jüngst die Idee vorgebracht, vor Abstimmungen Bürgerkomitees einzusetzen, diese über die Vorlagen diskutieren zu lassen und das Ergebnis im Abstimmungsbüchlein zu publizieren. Die Idee dahinter ist, die Qualität der demokratischen Debatte zu verbessern. Es wäre denkbar, dass ähnliche Komitees bereits in einem früheren Stadium des Gesetzgebungsprozesses einberufen werden, so dass sie nicht nur über ein Projekt diskutieren, sondern auch Änderungen daran vorschlagen können – oder einen eigenen Lösungsansatz vorlegen.

Bundesrat Alain Berset kündigte am Sonntagabend an, noch dieses Jahr die «Akteure» an einen Tisch zu bringen, um eine neue Reform aufzugleisen. Schön und gut, doch haben diese «Akteure» nicht schon genug Zeit damit verbracht, über Reformen zu verhandeln und zu streiten? Vielleicht wäre es an der Zeit, die Runde zu öffnen und einen runden Tisch einzuberufen, an dem nicht nur Verbands- und Parteienvertreter sitzen, sondern in erster Linie jene, die am Ende entscheiden: die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger. Das würde den Weg für pragmatische Lösungen frei machen – und vielleicht für eine Reform, die mehr Erfolg hat.

 


[1] Auch wenn das Parlament im Nachgang zuweilen den Respekt vor Volksentscheiden vermissen lässt.

Wir wählen und misstrauen euch

Die westlichen Demokratien stehen vor einem Paradox: Obwohl die Bürger die Demokratie schätzen, vertrauen sie den Institutionen, die sie wählen, immer weniger. Das hat damit zu tun, dass im Zuge der Globalisierung Anspruch und Wirklichkeit der nationalen Demokratie zunehmend auseinanderklaffen.

Donald Trump hat einen neuen Rekord aufgestellt. Innert acht Tagen nach seinem Amtsantritt ist der Anteil der Amerikaner, die mit seiner Amtsführung zufrieden sind, unter 50 Prozent gefallen. So schnell war das bei keinem seiner Vorgänger der Fall – Barack Obama hatte dafür noch zweieinhalb Jahre gebraucht. Trump kann sich damit trösten, dass er keineswegs der einzige unbeliebte Staatschef ist. In Frankreich sank der Anteil der Bürger, die mit Noch-Präsident François Hollande zufrieden sind, zeitweise auf 4 Prozent.

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Die Wähler bescheren Politikern wie François Hollande zwar Wahlsiege, vertrauen ihnen aber wenig. Bild: Parti socialiste (flickr)

Dass Politiker, sobald sie gewählt werden, an Zuspruch verlieren, ist normal. Wer Verantwortung trägt, bietet Angriffsfläche für Kritik. Die Wähler messen einen an den eigenen vollmundigen Wahlversprechen, von denen viele mit der Realität in Konflikt geraten.

Besorgniserregend ist hingegen, dass die Leute sich nicht nur von Politikern enttäuscht abwenden, sondern von den demokratischen Institutionen per se. 1975 gaben in einer Gallup-Umfrage 40 Prozent der Amerikaner an, dem Parlament sehr oder ziemlich stark zu vertrauen. Im Juni 2016 waren es nur noch 9 Prozent. Das Vertrauen in den Präsidenten sank im gleichen Zeitraum von 52 auf 36 Prozent.

In den europäischen Demokratien ist die Entwicklung ähnlich verlaufen. In praktisch allen Ländern stellen Umfragen ein sinkendes Vertrauen in Regierung und Parlament über die Zeit fest – in den etablierten Demokratien Westeuropas ebenso wie in den ehemals sozialistischen Ländern im Osten des Kontinents (wobei der Vertrauensverfall in den südeuropäischen Ländern in den letzten Jahren am stärksten war). Es gibt aber auch Ausnahmen: So blieb in der Schweiz das Vertrauen in Bundesrat und Parlament in den letzten Jahren auf hohem Niveau stabil oder stieg sogar noch.

Das sinkende Vertrauen widerspiegelt sich im über die Jahre ziemlich konstanten Rückgang der Beteiligung an nationalen Wahlen in allen Ländern.

Unbeliebte Politiker, umjubelte Polizisten

Die Enttäuschung über die die demokratischen Institutionen ist nicht gleichzusetzen mit einer grundsätzlichen Ablehnung der Demokratie. Tatsächlich wird die Demokratie nach wie vor fast überall auf der Welt unbestritten als ideale Regierungsform angesehen. Doch die Ansprüche, welche die Bürger an diese Regierungsform stellen, vermögen die Politiker offensichtlich immer weniger zu befriedigen.

Dabei ist es nicht so, dass die Leute generell das Vertrauen in staatliche Institutionen verlieren würden – im Gegenteil: Schaut man sich die Umfragen genauer an, stellt man fest, dass das Vertrauen in die Polizei, in die Armee und auch in die Justiz unverändert hoch sind – jedenfalls höher als in Legislative und Exekutive. Und während letztere in den letzten Jahrzehnten konstant an Zuspruch verloren haben, ist ein ähnlicher Trend bei Militär oder Polizei nicht festzustellen. Sie stiegen sogar eher in der Gunst der Bevölkerung. Es zeigt sich eine wachsende Kluft zwischen demokratisch gewählten und nicht demokratisch legitimierten Institutionen. Die Leute vertrauen jenen Institutionen weniger, die sie selber wählen (wenigstens indirekt) und kontrollieren können, dafür jenen mehr, auf deren Besetzung sie keinen Einfluss haben.

Kritische Bürger

Eine mögliche Erklärung für den Vertrauenszerfall ist, dass Politiker schlicht schlechtere Arbeit leisten. Es wäre allerdings ein ziemlicher Zufall, wenn die Politiker in sämtlichen Demokratien über die Zeit hinweg konstant immer unfähiger, korrupter und volksferner geworden wären.

Umgekehrt ist es auch möglich, dass die politischen Verantwortungsträger zwar nicht schlechtere Arbeit leisten, aber die Erwartungen ihrer Wähler gestiegen sind. Tatsächlich stellten die Politologen Michel Crozier, Samuel Huntington und Joji Watanuki bereits 1975 fest, dass die Ansprüche der Bürger an den Staat gestiegen und überdies vielfältiger geworden seien, so dass Regierungen immer mehr Mühe hätten, diese zu erfüllen.

Die US-amerikanische Professorin Pippa Norris sieht den Vertrauensrückgang daher nicht als etwas Negatives, sondern als Ausdruck einer anspruchsvollen und engagierten Bürgerschaft – von «critical citizens», die sich von ihren Regierungen nicht mehr mit schönen Reden und Versprechen einlullen lassen, sondern den Politikern auf die Finger schauen und sie an die Ansprüche ihrer Wähler erinnern.

Der Spielraum der Nationalstaaten wird kleiner

Dass sich Bürger von den Eliten emanzipiert haben, ist sicherlich richtig. Allerdings vermag dies nicht zu erklären, warum die angeblich engagierte und kritische Bürgerschaft sich immer seltener an Wahlen beteiligt. Ausserdem: Müssten kritische Bürger nicht auch kritischer gegenüber der Polizei oder der Justiz sein? Offenbar steckt mehr hinter dem Vertrauensverlust.

Vielleicht hängt er ja damit zusammen, dass die Erwartungen und die Realität der Demokratie zunehmend auseinanderdriften. Die in den letzten Jahrzehnten stattgefundene zunehmende weltweite Vernetzung – technisch, wirtschaftlich, sozial – hat auch vor der Politik nicht Halt gemacht. Ob Klimaschutz, Handel oder Migration: Immer mehr Herausforderungen betreffen nicht mehr einzelne Staaten, sondern viele oder alle. Gleichzeitig haben Massnahmen einzelner Länder immer mehr Auswirkungen auf andere Länder. Da scheint es nur logisch, dass immer mehr Fragen in inter- und supranationalen Organisationen beraten und entscheiden werden.

Bloss: Jeder Transfer von Entscheidungen hin zu diesen Organisationen hat zur Folge, dass der nationalen Demokratie Kompetenzen entzogen werden. Auf EU-Ebene entscheiden im Wesentlichen der EU-Rat – also die Vertreter nationaler Regierungen – und die EU-Kommission – Gremien, die demokratisch nur sehr schwach legitimiert sind. Derweil haben nationale Parlamente – die eigentlichen Kerninstitutionen der nationalstaatlichen Demokratie – an Einfluss verloren. Die Politik hat sich auf die internationale Ebene verschoben, doch die Demokratie ist ihr nicht gefolgt.

Wenn aber nationale demokratische Institutionen weniger Spielraum haben, wächst auch das Enttäuschungspotenzial für die Wähler. Warum den vollmundigen Wahlversprechen der Politiker noch glauben, wenn am Ende in Hinterzimmern in Brüssel entschieden wird, wie viel Geld nach Griechenland fliesst oder wie viele Flüchtlinge ins Land kommen?

«Der Adressat der Forderungen der Wähler sind nach wie vor die nationalstaatlichen Regierungen», sagt Dieter Fuchs, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Stuttgart. «Doch die Handlungsspielräume dieser Regierungen sind durch die Globalisierung und die Internationalisierung der Politik deutlich kleiner geworden.»

Fehlender Konsens

Hinzu kommt, dass die Politik in den meisten westlichen Demokratien in den letzten Jahrzehnten pluralistischer und polarisierter geworden ist. Immer mehr Parteien treten aufs politische Parkett – ein Ausdruck der wachsenden Vielfalt der Gesellschaft und der Unlust der Bürger, sich in einen von zwei oder drei monolithischen Blocken zwängen zu lassen, der ihre Interessen vertreten soll. Die Wähler entscheiden sich nicht mehr aufgrund ihres sozialen oder religiösen Hintergrunds für eine Partei. Stattdessen spielen Werthaltungen eine immer wichtigere Rolle – und zwischen diese lassen sich naturgemäss nur schwer Kompromisse finden. Für Regierungen ist es schwieriger geworden, Resultate zu liefern, die für alle unterschiedlichen Gruppen akzeptabel sind. Demgegenüber besteht bei der Armee, bei der Polizei oder bei Gerichten ein relativ klarer Konsens darüber, was man von ihnen erwartet.

Es scheint also gerade ihr politischer Charakter zu sein, der das Misstrauen gegenüber demokratischen Institutionen weckt. Es ist wohl kein Zufall, dass der oberste Gerichtshof in den USA den Vertrauenszerfall der Legislative und der Exekutive mitgemacht hat – wie in kaum einem anderen Land wird der Supreme Court als politisches Gremium wahrgenommen, in dem sich verschiedene Parteien um die Durchsetzung ihrer Interessen streiten. Dabei wäre die Erwartung an ein Gericht, dass es nach rechtsstaatlichen Grundsätzen urteilt und nicht nach politischen Überlegungen. Ähnlich lässt sich erklären, warum die Europäische Zentralbank (EZB) bei den Europäern weniger Vertrauen geniesst als die nationalen Notenbanken, als diese noch für die Geldpolitik zuständig waren: Die Entscheide des EZB-Rats haben weitreichende politische Auswirkungen, und er wird offenbar als politisches Gremium wahrgenommen.

Das Paradox, das wir jenen am wenigsten vertrauen, die wir wählen können ist also nur auf den ersten Blick ein Paradox: Parlament und Regierung geniessen nicht deshalb weniger Vertrauen, weil sie demokratisch legitimiert sind, sondern weil es politische Gremien sind, die das tun, was Politik im Grunde ausmacht: Sie tragen Konflikte widerstrebender Interessen um Macht und Einfluss aus.

Mehr Demokratie – aber wo?

Müssen wir uns deswegen Sorge um die Demokratie machen? Pessimisten warnen davor, dass sich die Leute mit der Abwendung von demokratischen Institutionen auch von der Demokratie als System abwenden. Darauf deuten die Daten aber wie gesagt nicht hin. Die grundsätzliche Unterstützung für die Demokratie ist in allen westlichen Gesellschaften im Grunde intakt. Auch der vielzitierte Aufstieg der «Populisten» in zahlreichen Ländern ändert daran nichts. Mehr noch: Die Nachfrage nach mehr demokratischer Mitsprache nimmt zu. Forderungen nach Volksabstimmungen als zusätzliches Instrument demokratischer Kontrolle werden ebenso erhoben wie solche nach mehr demokratischem Einfluss auf EU-Ebene.

Die entscheidende Frage ist eine andere: Wie gehen wir mit dem zunehmenden Widerspruch zwischen demokratischen Ansprüchen auf nationaler Ebene und der politischen Realität, die sich immer mehr auf internationaler Ebene abspielt, um? Während einige die Antwort in einem Zurückdrängen internationaler Institutionen und einer Stärkung der nationalstaatlichen Souveränität sehen, befürworten andere eine Demokratisierung der internationalen Politik, etwa eine Stärkung des Europäischen Parlaments gegenüber dem Rat und der Kommission oder gar EU-weite Volksabstimmungen. Beide Antworten gehen vom Prinzip der Demokratie aus, wonach jene mitreden können, die von einem Entscheid betroffen sind.

Zu bedenken gilt es aber, dass Entscheidungen, die in einzelnen Staaten gefällt werden, fast immer Auswirkungen auf andere Länder haben. Der Beschluss des US-amerikanischen Präsidenten, eine Ölpipeline zu bauen, betrifft das angrenzende Kanada ebenso wie den Rest der Weltbevölkerung, die mit den Folgen eines höheren Ölverbrauchs der Amerikaner auf den Welthandel und ihre Umwelt leben muss. «Die gegenseitigen Abhängigkeiten von Staaten lassen sich kaum aus der Welt schaffen, weil sie überwiegend von Technologie getrieben sind», sagt Michael Zürn, Politikwissenschaftler am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. «Will man diese Interdependenzen beseitigen, muss man den ganzen technologischen Fortschritt zurückdrängen.»

Solange die Wähler aber weiter die nationalen Regierungen als Hauptverantwortliche sehen – und die Politiker dieses Bild gerne wahren –, wird das Vertrauen in die demokratischen Institutionen so bald nicht zurückkehren.

E-Demokratie: Trügerische Fortschrittlichkeit

«Sicherheit vor Tempo» hiess jahrelang die Losung der Bundeskanzlei im Umgang mit dem Projekt «Vote électronique». Nun geht es dem Bundesrat aber offensichtlich nicht schnell genug. Gerade aus demokratietheoretischer Sicht drängt sich aber ohnehin keine weitere Beschleunigung und Digitalisierung des Abstimmungsvorgangs auf. (Red.)

Ein Gastbeitrag von Sandro Lüscher (Student Politikwissenschaften an der Universität Zürich).

Neuesten Medienberichten zufolge möchte der Bundesrat die Digitalisierung der direkten Demokratie vorantreiben. Testversuche in verschiedenen Kantonen hätten gezeigt, dass rund zwei Drittel der stimmberechtigten Testpersonen von der Stimmabgabe per Mausklick Gebrauch machen. Grund also, die direkte Demokratie einer digitalen Generalwartung zu unterziehen? Kaum, denn technologieromantischen Vorstellungen zum Trotz schafft Digitalität per se keinen Mehrwert und Bequemlichkeit darf im Kontext der politischen Selbstherrschaft kein valides Argument sein.

 

Gross waren die Hoffnungen und Erwartungen an elektronische Formen der Stimmabgabe. Doch das grosse Versprechen, Demokratiedeprivierte politisch zu (re)animieren, wurde durch Auswertungen empirischer Studien rasch enttäuscht. E-Voting, so fand man heraus, führt nicht zu einer höheren demokratischen Beteiligung, sondern substituiert lediglich die analogen Formen der Stimmabgabe.[1] Man könnte nun von der Nutzung dieses neuen Instruments schliessen, es sei praktisch und daher nützlich, oder der Tugend des Zweifelns folgend fragen, welche Folgen diese technische Erneuerung auf die Bürgerinnen und Bürger haben und wie sich ihr Verhältnis zum Staat verändert.

Der Abstimmungsmodus, also wie ein individueller Entscheid herbeigeführt wird, ist gerade aus einer politphilosophischen Warte sehr zentral. Denn Demokratie im Sinne der politischen Selbstherrschaft wirkt verpflichtend auf den Einzelnen, durchaus auch auf einer moralischen Ebene. Es wird erwartet, dass man sich mit der Materie seriös auseinandersetzt, dem öffentlich-medialen Diskurs folgt und die eigene Meinung im Dialog auf ihre argumentative Standfestigkeit hin prüft und gegebenenfalls revidiert. Der Gang an die Urne oder an den Postbriefkasten wirken fördernd auf diesen reflexiven und kommunikativen Prozess. Es ist eine Hürde, die man für die Stimmabgabe nehmen muss, die man jedoch nur dann zu nehmen bereit ist, wenn man von der Wichtig- und Richtigkeit des eigenen Votums überzeugt ist.

Erst Digitalisierung ermöglicht grossflächige Angriffe

Wird die Stimmabgabe per Mausklick eingeführt, so bedeutet dies zwar nicht, dass Sachentscheide per se weniger reflektiert werden, doch die Wahrscheinlichkeit zu affektgeleiteten Entscheiden wird mit Sicherheit zunehmen; dazu bedarf es keinen prophetischen Fähigkeiten. Insofern wirkt der analoge Gang zur Urne entschleunigend und garantiert auch bedingt durch seine raumzeitliche Dimensionalität eine minimale Seriosität und Rationalität des Stimmentscheids.

Doch auch aus einer informatischen beziehungsweise sicherheitstechnischen Perspektive würden wir uns mit dem flächendenkenden (und gemäss Bundesrat gar substituierenden) E-Voting einen Bärendienst erweisen. Denn es ist absehbar, dass es zu systematischen Hackerangriffen, die schlimmstenfalls gar nie als solche erkannt werden, kommen wird. Solche grossflächige und damit potenziell das Abstimmungsresultat verändernde Manipulationen werden erst durch die Digitalisierung mit relativ geringem Aufwand möglich. Dass solche Manipulationen bei Wahldemokratien bereits stattfinden ist hinlänglich bekannt. Im Kontext der direkten Demokratie, wo mit hoher Frequenz sachpolitische Entscheide gefällt werden, bekommt diese Gefahr eine ganz andere Dimension.

Lassen wir uns also von dieser digitalen Verlockung nicht verführen. Denn mehr als das ist sie nicht.

 


[1] Vgl. nur Daniel Bochsler, Can Internet voting increase political participation? – Remote electronic voting and turnout in the Estonian 2007 parliamentary elections, Conference “Internet and Voting”, Fiesole, 3-4 June 2010; Micha Germann/Uwe Serdült, Internet Voting for Expatriates: The Swiss Case, JeDEM 6(2): 197-215, 2014.

Offene Diskussion als Vorteil der Landsgemeinde – aber nicht für alle

Eine wissenschaftliche Untersuchung liefert erstmals empirische Erkenntnisse über Teilnahme und Entscheidfindung an der Landsgemeinde. Dabei zeigt sich: Die Reden an der Versammlung spielen für die Meinungsbildung eine wichtige Rolle. Als gewichtiger Nachteil der Landsgemeinde erweist sich die eingeschränkte Teilnahmemöglichkeit für gewisse Stimmberechtigte.

Die Landsgemeinde – direktdemokratisches Ideal oder überholte Folklore-Veranstaltung? Über die Vorzüge und Schwächen der Versammlungsdemokratie werden immer wieder engagierte Debatten geführt, nicht erst seit der Abschaffung der Landsgemeinde in drei Kantonen (Nidwalden, Appenzell Ausserrhoden und Obwalden) in den 1990er Jahren. Während Befürworter der Landsgemeinde die ausgebauten direktdemokratischen Rechte sowie die unmittelbare Diskussion unter den Stimmbürgern betonen, kritisieren die Gegner, dass die Versammlungsdemokratie anfällig für Manipulationen und Demagogie sei, viele Stimmbürger nicht teilnehmen könnten und daher ihres Stimmrechts beraubt würden und ausserdem das Stimmgeheimnis durch die offene Handabstimmung verletzt werde.

Die Argumente, die für Abschaffung, Beibehaltung oder Reform der Landsgemeinde ins Feld geführt wurden und werden, gehen implizit oder explizit von bestimmten Annahmen aus. Inwieweit diese zutreffen, wurde bislang allerdings kaum empirisch untersucht. Eine Umfrage von Politikwissenschaftler der Universität Bern bringt nun Licht ins Dunkel. Die Forscher befragten vor und nach der diesjährigen Glarner Landsgemeinde insgesamt rund 1000 Personen. Jetzt liegt ihr Bericht dazu vor.

Natürlich ist bei Übertragungen der Resultate auf die Realität Vorsicht geboten. Einerseits, weil die Stichprobe bei einigen Fragen relativ klein und darüber hinaus nicht zufällig ist – wenig überraschend sind Politikinteressierte und Landsgemeindebesucher deutlich übervertreten. Andererseits, weil Effekte wie die soziale Erwünschtheit, die bei Umfragen häufig auftreten, die Aussagekraft der Ergebnisse einschränken.

Nichtsdestotrotz liefert die Umfrage wertvolle und teilweise durchaus überraschende Erkenntnisse über die Teilnahme und die Meinungsbildung an der Landsgemeinde.

Das gilt zum einen für die Frage, wer überhaupt an der Landsgemeinde teilnimmt. Die Untersuchung stellt fest, dass die Zusammensetzung der Versammlungsteilnehmer hinsichtlich Alter, Bildung und Einkommen relativ ausgeglichen ist, also die Gesamtheit der Stimmberechtigten ziemlich gut repräsentiert). Dies ist insofern erstaunlich, als bei Urnenabstimmung die Jungen im Allgemeinen signifikant seltener teilnehmen als Ältere. Hingegen scheint der Unterschied zwischen den Geschlechtern an der Landsgemeinde grösser zu sein als bei Urnenabstimmungen. Der Anteil der Männer, die angaben, an der Landsgemeinde teilgenommen zu haben, liegt rund 15 Prozentpunkte höher als jener der Frauen.

Ein Grund für die Differenz könnte darin liegen, dass Frauen häufiger wegen Betreuungspflichten nicht an der Landsgemeinde teilnehmen können. Überhaupt ist es laut der Umfrage keine Seltenheit, dass Stimmberechtigte ihr Stimmrecht nicht ausüben können, weil sie am Tag der Landsgemeinde verhindert sind. Der am häufigsten genannte Grund sind Reisen beziehungsweise Aufenthalte ausserhalb des Kantons. Aber auch Arbeit und Krankheit halten Leute von der Versammlung fern. Insgesamt gaben 40 Prozent der Befragten an, dass sie in den letzten fünf Jahren mindestens einmal nicht an der Landsgemeinde teilnehmen konnten. Dieser Kritikpunkt an der Landsgemeinde ist also durchaus empirisch begründet.

Grosse Meinungsumschwünge möglich

Die Befürworter der Landsgemeinde dürfen sich von der Studie aber ebenfalls bestätigt fühlen: Denn die Umfrage zeigt, dass die häufig als Vorteil genannte unmittelbare Diskussion an der Landsgemeinde eine wichtige Rolle spielt. Für rund 60 Prozent der Befragten sind die Landsgemeinde-Reden eine wichtige bis sehr wichtige Informationsquelle bei der Meinungsbildung. Die wichtigste Informationsquelle sind Gespräche mit Bekannten, gefolgt vom Landsgemeinde-Memorial (dem Pendant zum Abstimmungsbüchlein) und Zeitungsberichten, während Fernsehen und Radio kaum von Bedeutung sind. Bei den zwei genauer untersuchten Geschäften der Landsgemeinde 2016 (Personalgesetz und Informatikgesetz) gaben rund 60 Prozent der Befragten an, an der Landsgemeinde noch Argumente gehört zu haben, die ihnen vor der Versammlung nicht bekannt waren.

Die Bedeutung der Diskussion an der Landsgemeinde unterstreicht die Tatsache, dass ein Drittel der Befragten sich bei den beiden erwähnten Vorlagen erst an der Versammlung selber entschied, wie sie stimmten. 14 beziehungsweise 12 Prozent änderten sogar noch ihre Meinung, d.h. sie wechselten von der Ja- zur Nein-Seite oder umgekehrt. Stimmen diese Anteile mit der gesamten Stimmbevölkerung überein, bedeutet das, dass im Extremfall eine 60:40-Mehrheit für eine Vorlage während der Landsgemeinde zu einem komfortablen Sieg des Nein-Lagers werden kann. Die Diskussion vor Ort ist also im wahrsten Sinne des Wortes von entscheidender Bedeutung.

Offen für Reformen

Was die offene Handabstimmung betrifft, scheinen die Teilnehmer diese nicht als gravierenden Nachteil zu sehen. 83 Prozent der Befragten gaben an, dass es sie nie störe, wenn andere sehen können, wie sie abstimmen; 13 Prozent fühlen sich selten gestört, 4 Prozent immer. Der Anteil der Stimmbürger, die sich unter Druck gesetzt fühlen, ist noch kleiner. Allerdings sind diese Ergebnisse aufgrund des bereits erwähnten möglichen Einflusses sozialer Erwünschtheit mit Vorsicht zu geniessen.

lg-umfrage

Zustimmungsraten zu verschiedenen Reformmöglichkeiten.
(Grafik: Forschungsbericht der Universität Bern)

 

Obwohl die Befragten die offene Abstimmung nach eigenen Angaben nicht stört, stehen sie Reformen, welche eine geheime Stimmabgabe an der Versammlung ermöglichen würden, positiv gegenüber: 66 Prozent befürworten die Einführung eines elektronischen Systems, bei dem die Bürger mittels speziellen Geräten ihre Stimme abgeben könnten (siehe Grafik). Dies, obwohl der Landrat erst vor kurzem (auf Antrag des Regierungsrats) entschieden hatte, die Möglichkeit technischer Hilfsmittel nicht weiter zu prüfen.[1]

Allerdings bedeuten diese 66 Prozent nicht, dass ein elektronisches System gegenüber dem Status Quo bevorzugt würde. Tatsächlich erhält die Option, die Landsgemeinde in ihrer bisherigen Form beizubehalten, mit Abstand am meisten Zustimmung, nämlich 93 Prozent. Zwei Drittel bevorzugen diese Variante gegenüber allen anderen.

Auch wenn die Wissenschaftler zu bedenken geben, dass die Unterstützung in der Realität möglicherweise etwas tiefer liegt, scheint nach wie vor eine komfortable Mehrheit der Glarner der Ansicht zu sein, dass die Vorteile der Versammlungsdemokratie die Nachteile überwiegen.

 


[1] Andere Reformvorschläge, die in der Vergangenheit teilweise schon vorgebracht wurden (etwa die Idee, bei knappen Resultaten an der Landsgemeinde noch eine Urnenabstimmung durchzuführen) erhielten deutlich weniger Unterstützung.