Monthly Archives: February 2024

Napoleon’s Nightmare-Buchempfehlungen 2023

Im vergangenen Jahr wurde eine Fülle interessanter Bücher über Demokratie und Staatspolitik veröffentlicht. Die Redaktion von Napoleon’s Nightmare stellt die besten vor. Sie befassen sich unter anderem mit Menschenrechten, Demophobie, der Landsgemeinde und Bürgerräten.

Von Claudio Kuster und Lukas Leuzinger

Urs Hafner: Karl Bürkli – Der Sozialist vom Paradeplatz (Echtzeit)
Die Bundesstaatsgründung vor 175 Jahren markiert zwar den Auftakt zur modernen Schweiz, doch es brauchte lange Kämpfe, bis die direkte Demokratie 1874 Eingang in die Verfassung fand. Den Boden dafür bereitet hat unter anderen Karl Bürkli. Dabei wies nur wenig darauf hin, wie Urs Hafner in seiner Biografie zeigt. Bürklis Leben ist voller Widersprüche und Überraschungen: Vor 200 Jahren ins Zürcher Grossbürgertum hineingeboren, distanzierte er sich von seinem Milieu, lernte Gerber und wurde Sozialist. Als Mitgründer des Konsumvereins war er ein Pionier des Genossenschaftswesens. Dies war ihm jedoch nicht genug. Weil er für die Ideen des französischen Gesellschaftstheoretikers Charles Fourier brannte, der in freiwilligen Kommunen das Paradies erblickt hatte, brach Bürkli 1855 gemeinsam mit über hundert Anhängern nach Amerika auf, um diese Utopie in Texas Realität werden zu lassen. Das Experiment scheiterte krachend. Nach einer Odyssee durch die Vereinigten Staaten und Zentralamerika kehrte Bürkli nach Zürich zurück, wo er die Strategie wechselte: Statt über freiwillige Zusammenschlüsse sollte das Ziel einer Gesellschaft der Gleichen auf politischem Weg erreicht werden. Er wurde zu einem Anführer der demokratischen Bewegung, die in den 1860er-Jahren in Zürich Referendum und Volksinitiative gegen das liberale «System» durchsetzte.

Hafner beschreibt Bürklis Leben und seine Ideen detailreich, macht aus seiner Bewunderung für den Porträtierten jedoch keinen Hehl und füllt Lücken in den Quellen mit der eigenen Fantasie aus. So hebt er Zitate des Sozialisten nicht durch Anführungszeichen, sondern lediglich durch Kursivschrift von seinen eigenen Gedanken ab. Hervorzuheben ist, dass Bürkli sich durch einen ausgeprägten Sinn fürs «einfache Volk» auszeichnete, dem die liberalen Eliten misstrauten (ebenso wie viele Linke heute). Dabei war die direkte Demokratie für ihn stets ein Mittel auf dem Weg zu einer sozialistischen Gesellschaft. Dass Referendum und Volksinitiative die moderne, liberale Demokratie vollenden würden, war nicht sein Plan. Wie diese spannende Biografie zeigt, sind Utopien manchmal gerade deshalb so wertvoll, weil sie scheitern.

 

Bruno S. Frey & Oliver Zimmer: Mehr Demokratie wagen – Für eine Teilhabe aller (aufbau)
Pandemie, Krieg, Klimawandel: Die Häufung von Krisen leistet der Zentralisierung von Macht Vorschub. Schnelles, entschlossenes Handeln einsichtiger Experten ist gefragt, langwierige demokratische Prozesse werden dagegen als störend dargestellt. Dahinter steht ein epistokratisches Denken, das Oliver Zimmer und Bruno S. Frey einer Fundamentalkritik unterziehen. Der Historiker und der Ökonom, beide Forschungsleiter am Center for Research in Economics, Management, and the Arts (CREMA), beschreiben in «Mehr Demokratie wagen» geistesgeschichtliche Grundlagen der Epistokratie, also der Herrschaft der Wissenden, und stellen ihr konkrete Vorschläge für die Stärkung der Demokratie entgegen.

Ihre Kernthese: Epistokratie steht für Alternativlosigkeit, für von oben vorgegebene Lösungen, Demokratie dagegen für Offenheit. Diese Offenheit des Austauschs und der Debatte ist gerade zur Bewältigung komplexer Herausforderungen nötiger denn je. Im ersten Teil zeichnet Zimmer die historischen Entwicklungen nach und zeigt, dass Epistokratie bis heute zumindest implizit in vielen Denkschulen und Institutionen das vorherrschende Ideal ist, etwa in der von Demokratieskepsis geprägten Europäischen Union.

Im zweiten Teil macht Ökonom Frey (von ihm bereits andernort publizierte) Vorschläge zur Stärkung einer partizipativen, dezentralisierten Demokratie: beispielsweise dezentralisierte, neue Jurisdiktionen oder der Einsatz von Losverfahren bei der Besetzung von Gremien. Die Kombination von historischer und ökonomischer Analyse ist zwar spannend, zum Teil führt sie allerdings zu Widersprüchen: Wie verträgt sich etwa die Betonung demokratischer Gleichheit mit dem Vorschlag, gewissen Altersgruppen nur ein limitiertes Stimmgewicht zuzugestehen? Solche Inkongruenzen schwächen die Überzeugungskraft des Buches, das ansonsten einen anregenden und hochrelevanten Beitrag zur Debatte über die Zukunft der Demokratie bietet.

 

Gertrude Lübbe-Wolff: Demophobie – Muss man die direkte Demokratie fürchten? (Klostermann)
Bis vor wenigen Jahren sprachen sich in Umfragen 70 bis 80 Prozent der deutschen Bürger dafür aus, auch auf Ebene des Bundes direktdemokratische Entscheidungen einzuführen. Die Wahlprogramme aller im Bundestag vertretenen Parteien (ausser der CDU) sahen die Einführung von Volksabstimmungen in der Bundesrepublik vor. Dann, 2016: zuerst der Schock des Brexit-Votums, dann der Wahlsieg Donald Trumps und plebiszitär-populistische Referendumsabstimmungen von Viktor Orbán bis Recep Tayyip Erdogan. Seither ist eine Trendumkehr zu beobachten, die Zustimmungsraten sind gesunken, die Mehrzahl der deutschen Parteien will plötzlich nichts mehr wissen von sachunmittelbarer Demokratie.

Vor diesem Hintergrund möchte Gertrude Lübbe-Wolff «einen Beitrag zur Diskussion über Vor- und Nachteile, Chancen und Risiken direkter Demokratie leisten», wie sie in ihrem Vorwort zu «Demophobie» nüchtern festhält. Angst vor dem Volk hat die ehemalige Richterin am deutschen Bundesverfassungsgericht keineswegs, im Gegenteil: Ihr Buch ist eine engagierte, geradezu «demophile» Streitschrift, die in zehn Kapiteln die zehn geläufigsten Vorbehalte gegen direktdemokratische Entscheidungen entkräftet, ja mit Freude und Verve zerpflückt. Diese Einwände lauten etwa: «für Sachentscheidungen ist das Volk zu dumm», «direkte Demokratie begünstigt Demagogen», «gefährdet Minderheiten», «passt nur zu kleinen Einheiten», «das Volk wird rechtslastige/linkslastige Entscheidungen treffen» usw.

Lübbe-Wolff untermauert ihre überzeugenden Gegenargumente mit zahlreichen Beispielen aus der Praxis (insbesondere der Schweiz) und breitgefächerten Literaturnachweisen aus Rechts-, Politik-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und Geschichte (das Literaturverzeichnis erstreckt sich über fast 50 Seiten). Immer wieder weist die Autorin zu Recht darauf hin, dass direkte Demokratie nicht per se, sondern nur in der richtigen Ausgestaltung ihre positiven Wirkungen zeitigen könne. Diesfalls begünstige «sie aber eine stärker an den Interessen der Bürger orientierte Politik, eine Steigerung des Niveaus politischer Kommunikation, eine Zunahme von Bürgersinn und Bürgerkompetenz und grösseres Vertrauen in die Institutionen und Akteure der repräsentativdemokratischen Politik». Dieses Potential ungenutzt zu lassen, sei in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland noch nie so riskant gewesen wie heute.

 

Wolf Linder: Die Schweiz, der unbekannte Nachbar – Schriften zur Politik und Demokratie (Harrassowitz)
Die politische Schweiz – anders als ihre wohlbekannten Exportprodukte und ihre Alpen – sei für Deutschland ein eher unbekannter Nachbar. Wolf Linder (em. Professor für Politikwissenschaft, Universität Bern) stellt daher im Sammelband «Die Schweiz, der unbekannte Nachbar» zwei Dutzend Texte – Aufsätze, Vorträge, Meinungsbeiträge – aus den letzten 25 Jahren seines Schaffens zusammen. Die Beiträge sollen zum Verständnis der Eigenheiten der helvetischen Demokratie beitragen, die quer liegt zu den eingängigen Typologien vergleichender Politik.

Drei der 24 Texte seien kurz hervorgehoben: Der Teil «Verfassungspolitik» besteht aus dem Vortrag «Verfassung als politsicher Prozess», den Linder 1997 im Kontext der Totalrevision der Verfassung hielt und der einige «verfassungsrechtliche Rätsel» entschlüsselt – und nichts von seiner Aktualität verloren hat. Linder hinterfragt etwa die in der Theorie überzeugende Konzeption des Parallelismus zwischen Normstufe eines Erlasses (Verfassung – Gesetz – Verordnung), seines Rechtssetzers (Volk und Stände – Parlament – Exekutive) und der materiellen Wichtigkeit. Zwar sei die Schweizer Bundesverfassung «das Gefäss geronnener politischer Entscheidungen» und damit ständigem Wandel unterworfen, doch fänden sich in der obersten Normebene oftmals eher nebensächliche Vorschriften, während die wichtigen Entscheide später vom Bundesrat auf Verordnungsebene entschieden würden. So werde letztlich der Stufenbau der Rechtsordnung geradezu auf den Kopf gestellt.

Im Teil «Föderalismus» stellt der Beitrag «Die deutsche Föderalismusreform – von aussen betrachtet» einen instruktiven Vergleich der unterschiedlichen Föderalismuskonzepte der Schweiz und Deutschlands an; Anlass waren die Reformbestrebungen beider Bundesstaaten um die Jahrtausendwende. Während der Föderalismus in Deutschland primär die Mitwirkung und Kontrolle der Gliedstaaten am zentralistischen Gesamtstaat und letztlich einheitliche Lebensbedingungen bezweckt, so sind hiesige Vorstellungen von Nicht-Zentralisierung und grösstmöglicher (gerade auch fiskalischer) Autonomie unterer Einheiten geprägt, um die sprachlich-kulturelle Vielfalt zu erhalten. Der Teil «Direkte Demokratie» enthält den Aufsatz «Zur Ambivalenz der Digitalisierung direkter Demokratie», der sich nicht mit technischen Details, sondern mit den Auswirkungen der Digitalisierung auf die Strukturen öffentlicher Meinungsbildung und die Diskursqualität befasst. Ob E-Voting, E-Collecting oder Social Media: nach Linder «kein Segen für die Demokratie». – Die weiteren Teile des sehr abwechslungsreichen, lesenswerten Sammelbands betreffen die Themen «Gesellschaftspolitik», «Zwischenrufe» (u.a. Kritik an der behördlichen und wissenschaftlichen Corona-Kommunikation), «Die Schweiz in Europa» und «Demokratie und Menschenrechte».

 

Yvo Hangartner, Andreas Kley, Nadja Braun Binder & Andreas Glaser: Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft (2. Auflage) (Dike)
Wer sich bisher einen Überblick über ein spezifisches demokratisches Recht oder Institution verschaffen wollte, der hat mit grosser Wahrscheinlichkeit zum «Hangartner/Kley» gegriffen. Das im Jahr 2000 – also kurz nach Inkrafttreten der neuen Bundesverfassung – erschienene Handbuch ist ein Vierteljahrhundert später indes nicht mehr ganz aktuell und ohnehin seit einiger Zeit vergriffen. Nachdem der Erstautor Yvo Hangartner (Staatsrechtslehrer Universität St. Gallen) 2013 verstarb, hat sich Co-Autor Andreas Kley verdienstvollerweise gemeinsam mit Andreas Glaser und Nadja Braun Binder, allesamt auf Demokratiefragen spezialisierte Staatsrechtler, der Aktualisierung dieses vielzitierten Standardwerks angenommen.

Der erste Teil widmet sich den Grundlagen des Stimm- und Wahlrechts, mithin den Voraussetzungen des aktiven und passiven Wahlrechts sowie den Modalitäten der Stimmrechtsausübung. Namhafte Anpassungen ergeben haben sich hier mit der (etablierten) brieflichen Stimmabgabe und den (fragwürdigen) Versuchen mit E-Voting. Die Autoren kritisieren das dogmatisch wenig überzeugende Auslandschweizerstimmrecht, gerade auf kantonaler und kommunaler Ebene. – In Teil 2 werden einerseits historische, demokratie- und entscheidungstheoretische Grundlagen erörtert, Stichworte sind: Volkssouveränität, Repräsentationsprinzip, Rechtsstaatlichkeit, Volksbegriffe, Abstimmungsverfahren bei mehreren Varianten. Andererseits werden die verfassungsrechtlichen Grundlagen sowie die Schranken der politischen Rechte beschrieben, insbesondere der Vorrang des Völkerrechts. – Der umfangreiche Teil 3 behandelt die «Politischen Rechte im Bund»: die Wahl des Nationalrats, das obligatorische Verfassungsreferendum, Volks- und Ständemehr, die Volksinitiative, das Referendum gegen Bundesgesetze und völkerrechtliche Verträge sowie die (seit der Pandemie ein Revival erlebende) Gesetzgebung bei Dringlichkeit/Notrecht. Andere Novellen wie die Transparenz der Politikfinanzierung finden leider nur sehr knappen Niederschlag, ebenso wenig die Rechtsschutzmöglichkeiten. – Der längste Teil 4 (knapp 400 Seiten) beschreibt die «Volksrechte in den Kantonen», wo sich nach Totalrevisionen der Verfassungen in fast der Hälfte der Kantone einiges weiterentwickelt hat. Nebst den bereits vom Bund bekannten Instrumenten stossen hier die Wahl der Ständeräte und der Kantonsregierung, die Abberufung, das Finanzreferendum, Konsultativabstimmungen und die Volksmotion dazu. Den grössten Anpassungsbedarf erforderten aber die Wahlsysteme der Kantonsparlamente, nachdem das Bundesgericht die Anforderungen an die Wahlrechtsgleichheit spürbar verschärft hat. Hier würdigen die Autoren den unterdessen in neun Kantonen etablierten Doppelproporz leider kaum, der die Erfolgswertgleichheit optimiert, ohne auf die herkömmlichen Wahlkreise verzichten zu müssen. – Teil 5 schliesslich behandelt die «Wahl- und Abstimmungsfreiheit», insbesondere die Einheit der Materie und die unterdessen regelmässig beanstandeten behördlichen Interventionen vor Abstimmungen.

Das 1057-seitige enzyklopädische Werk vermag zu überzeugen, der Aufbau ist übersichtlich, die Sprache klar und verständlich. Auf ein Stichwortregister verzichtet die Zweitauflage, was jedoch dadurch mehr als aufgewogen wird, indem die Open-Access-Publikation integral durchsucht werden kann. Kritikpunkte sind einerseits die oftmals veralteten Literaturhinweise, andererseits einige äusserst merkwürdige Thesen, die Erstautor Hangartner kaum unterschrieben hätte (die Einheit der Materie gelte nicht für Bundesgesetze; der Grundsatz «in dubio pro populo» sei zu verwerfen; Unterlistenverbindungen seien problematisch, dafür sei das unfaire, Grossparteien begünstigende Wahlsystem «Hagenbach-Bischoff» legitim; mit «Negativstimmen» sollen Wähler gegnerische Politiker abstrafen können…).

 

Arthur Haefliger & Frank Schürmann: Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Schweiz (3. Auflage) (Stämpfli)
In der Reihe «Kleine Schriften zum Recht» umreissen diverse Autoren juristische Fragestellungen für einmal nicht in dicken, schweren Monografien, sondern im handlichen Taschenbuchformat. So wenden sich Frank Schürmann und Arthur Haefliger der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu, deren Ratifizierung durch die Schweiz im 2024 das 50-jährige Jubiläum feiern wird. Frank Schürmann war von 2006 bis 2018 Prozessbevollmächtigter der Schweizer Regierung, hat also in unzähligen, gegen die Schweiz gerichteten Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EGMR) in Strassburg die Schweiz vertreten. Er setzt hier die vom verstorbenen Bundesrichter Arthur Haefliger lancierte Schrift in stark erweiterter und aktualisierter dritter Neuauflage fort.

Nach einer knappen Einleitung werden im Hauptteil das gute Dutzend der durch die EMRK verbürgten Rechte erläutert, vom Recht auf Leben über die Versammlungsfreiheit bis zum Diskriminierungsverbot. Die einzelnen Garantien, ihre Tragweite und Entwicklung der Rechtsprechung werden anschaulich beschrieben. Ein besonderer Fokus wird dabei auf die Schweiz gelegt, indem insbesondere jene Fälle und Klagen hervorgehoben werden, die aus und gegen die Schweiz gerichtet waren. Schliesslich landet im Durchschnitt fast jeden Tag eine neue Beschwerde aus der Schweiz vor dem EGMR. Erfolgreich sind nur etwa 1.6 Prozent all dieser Eingaben, die aber nichtsdestotrotz etwa das Polizei- und Ausländerrecht sowie die Rechtsweggarantie nachhaltig geprägt haben. Im Schlussteil wird die Organisation und das Verfahren vor dem EGMR beschrieben und dabei auf die diversen Reorganisationen, Reformen und Zusatzprotokolle hingewiesen, die teilweise geholfen haben, die Beschwerdeflut in letzter Zeit wieder einigermassen in den Griff zu bekommen.

 

Nidwaldner Museum / Carmen Stirnimann (Hrsg.): Hand i d’Luft oder d’Fuischt im Sack – Eine Publikation zur Landsgemeinde (Nidwaldner Museum)
Zum 175-jährigen Jubiläum der Bundesverfassung und somit des Schweizer Bundesstaats im vergangenen Jahr wurde allerorten so manche Bundesmeile, Festakt oder Sonderausstellung durchgeführt. Vor diesem Hintergrund fand auch in Stans, im Nidwaldner Museum die Ausstellung «Ja, Nein, Weiss nicht – Musterdemokratie Schweiz?» statt. Im ehemaligen Landsgemeindekanton Nidwalden sind die Erinnerungen an diese Urform der direkten Demokratie natürlich noch präsent, wurde doch bis in die 1990er Jahre im Ring mittels Handerheben abgestimmt. «Hand i d’Luft oder d’Fuischt im Sack – Eine Publikation zur Landsgemeinde» erweist dieser Institution in Form eines knappen Ausstellungsbüchleins eine gelungene Reverenz.

Im ersten Teil «Eine kurze Geschichte der Landsgemeinde in Nidwalden» geht Historikerin Isabelle Zimmermann dem Ursprung ab 1398 und den seitherigen Entwicklungen in groben Zügen nach. Ähnlich wie in anderen Kantonen entstand diese Demokratieform aus Gerichtsgemeinden und hatte noch lange einen aristokratischen Einschlag. In einem Zwischenteil besucht Fotograf Emanuel Wallimann alle – auch ehemaligen – Landsgemeindeplätze von Appenzell über Rothenthurm bis Zug und stellt den heutigen Schauplätzen historische Aufnahmen von damaligen Versammlungen gegenüber. Im dritten Teil «Getriiwi liäbi Landsliit» schliesslich hat Journalist Simon Mathis von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen Erinnerungen an die Nidwaldner Landsgemeinde eingefangen. Unterhaltsam schildern so ehemalige Regierungsräte, Landschreiber, Votantinnen oder Polizisten Anekdoten, etwa eine Mutter, die 1987 unbedingt bei einer umstrittenen «Wellenberg»-Abstimmung mitentscheiden wollte und daher mit ihrem kleinen Sohn in den Ring zu treten gedachte. Ein Soldat verweigerte ihr so den Zutritt, worauf sie dem Ordnungshüter flugs den Kinderwagen zum Bewachen übergab. – Das mit diversen Bildern ansprechend gestaltete Büchlein geht jedoch auch an diversen Stellen auf die Schattenseiten der Landsgemeinde ein, die letztlich 1996 zu ihrer Abschaffung führen sollten: das fehlende Stimmgeheimnis, der Ausschluss einiger Personenkreise, eine sinkende Teilnehmerzahl und vermehrt uferlose Debatten bis in den Sonntagabend hinein. Ein Rettungsversuch 1994, mit dem zur Entschlackung Wahlen und Verfassungsänderungen an die Urne verschoben wurden, hat wohl den Niedergang eher noch befördert als verhindert.

 

Rolf Graber: Labor der direkten Demokratie – Konkurrierende Wahrnehmungen der politischen Mitbestimmung in der Schweiz (Chronos)
Zum 175-Jahr-Jubiläum der Gründung des Bundesstaats hat der Historiker Rolf Graber ein Überblickswerk über die Entwicklung der modernen, halbdirekten Demokratie der Schweiz vorgelegt. Seine Grundthese ist, dass die Volksrechte gegen den Widerstand der Eliten erkämpft werden mussten, wobei letztere immer wieder wechselten. Im Zuge der französischen Revolution begannen viele Schweizer, die Verhältnisse im eigenen Land zu hinterfragen. Das ist zugleich ein Beispiel für das Zusammenspiel zwischen Fremdwahrnehmung und Selbstbild, die Graber anhand verschiedener Beispiele beschreibt. So forderten die Unterzeichner des «Stäfner Memorials» von 1794 von der Stadtzürcher Obrigkeit mehr Rechte für die benachteiligte Landbevölkerung. Interessant ist dabei, wie sich das Freiheitsverständnis verändert hat. Widerstandsbewegungen vor dem 19. Jahrhundert beriefen sich meist auf eine Vorstellung von Freiheit als ein Privileg, das man kraft göttlichen Willens oder der eigenen militärischen Stärke erhält. Mit der Aufklärung und der französischen Revolution änderte sich diese Vorstellung. Freiheit wurde nicht mehr als Privileg, sondern als unveräusserliches Recht jedes Menschen verstanden.

Gleichzeitig beriefen sich Widerstandsbewegungen bei ihren Forderungen nach Mitsprache auf vormoderne Formen der Demokratie wie die Landsgemeinde, die wiederholt als Referenzmodell diente. Die Landsgemeindekantone selber waren von dem Wandel des Demokratieverständnisses nicht ausgenommen. So gaben sich Glarus und Schwyz im Zuge der Regeneration neue Verfassungen, die individuelle Freiheitsrechte und Gewaltenteilung verankerten. Ein wiederkehrendes Merkmal der Widerstandsbewegungen ist, dass sie partizipatorische mit materiellen Forderungen verbanden. Graber stellt damit die «liberale Meistererzählung» infrage, gemäss der die moderne schweizerische Demokratie im wesentlichen das Werk des Freisinns ist. Zugleich kritisiert er aber auch, dass von linker Seite eine direkte Linie vom Frühliberalismus zur modernen Sozialdemokratie gezogen und damit eine eigene «Meistererzählung» gesponnen wird. Dabei passe, schreibt Graber, «der Frühliberalismus schlecht in die Ahnengalerie der politischen Linken».

Das hält Graber nicht davon ab, selber den Bogen zur Gegenwart zu schlagen. Die Exklusion breiter Teile der Bevölkerung zur Zeit des Ancien Régime stellt er auf eine Stufe mit dem Ausschluss von Ausländern vom Stimmrecht heute. Das ist, gerade mit Blick auf das gewandelte Freiheitsverständnis und die Rechtsstaatlichkeit, ein gewagter Vergleich. Recht hat Graber indes mit der Feststellung, «dass die Entwicklung der halbdirekten Demokratie in der Schweiz eine Geschichte von Exklusion und Inklusion ist». Oft spielten die beiden Gegensätze zusammen. Denn je mehr Mitspracherechte die Bürger geniessen, desto geringer ist ihr Interesse, diese Rechte anderen Gruppen zuzugestehen; nicht zuletzt dadurch erklärt sich die späte Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz.

 

René Roca (Hrsg.): Die Landsgemeinde und der Freistaat der Drei Bünde – Aspekte der Demokratiegeschichte in den Kantonen Glarus und Graubündenz (FIDD)
Seit einigen Jahren führt das «Forschungsinstitut direkte Demokratie» von Historiker René Roca spannende Konferenzen durch, um die vernachlässigte Schweizer Demokratiegeschichte besser auszuleuchten. Nach Tagungen zu den Themen Katholizismus, Liberalismus, Frühsozialismus, Naturrecht und Genossenschaftsprinzip fanden nun zwei weitere Veranstaltungen statt. Der neue Band der Reihe «Beiträge zur Erforschung der Demokratie» versammelt im ersten Teil Referate zum Thema Landsgemeinde, mit speziellem Fokus auf die noch bestehende Glarner Institution.

Tagungsleiter René Roca führt zunächst ins Thema «Die schweizerischen Landsgemeinden – Geschichte und Bedeutung für die direkte Demokratie» ein. Er gibt einen Überblick zum Forschungsstand und skizziert die Entstehung und Geschichte dieser Demokratie-Urform, die bis im vorletzten Jahrhundert in immerhin acht Kantonen respektive Orten existierte. Roca legt überzeugend dar, dass sich ohne die Tradition und Kultur der Landsgemeinde die direkte Demokratie in der Schweiz auf kantonaler und später auf Bundesebene nicht hätte entwickeln können. – «Demokratisches Vorbild oder demokratisches Fossil?»: Der Beitrag von Lukas Leuzinger (Autor des Landsgemeinde-Buchs «Ds Wort isch frii» und Chefredaktor dieses Blogs) knüpft hier an: Zweifelsohne habe die Landsgemeinde liberalen und demokratischen Reformbewegungen immer wieder als Inspirationsquelle gedient. Ohne diese Strukturen hätte sich die moderne direkte Demokratie kaum so schnell und breit durchsetzen können. Gleichzeitig weist Leuzinger auch auf die Nachteile dieser Versammlungsform aus heutiger Sicht hin. – Politikwissenschafter Hans-Peter Schaub (Année Politique Suisse) wiederum nimmt diesen Ball auf: «Wie gut funktioniert die direkte Demokratie an der Glarner Landsgemeinde?» Positiv zu würdigen sei, dass die Abstimmungsagenda in hohem Mass durch die Stimmbürger selbst geprägt werden kann. Einzigartig ist auch das freie Rederecht, das intensiv genutzt wird und effektiv für Austausch der Argumente und Meinungsbildung sorge. Hier erstaunt dann aber, dass der Einfluss der Behörden dennoch beträchtlich ist, denn die Landsgemeinde-Mehrheit folgt in den weitaus meisten Fällen letztlich den behördlichen Empfehlungen.

Im zweiten Teil wird die Entstehung der Demokratie im Freistaat der Drei Bünde, also im heutigen Kanton Graubünden genauer untersucht. Seit dem Spätmittelalter kann hier «ein ‹Labor› zur Förderung der politischen Partizipation und zur Entwicklung der Demokratie in der Schweiz» verortet werden, wie Roca in seinem Überblicksreferat ausführt. Im Zentrum steht hier das «altbündnerische Referendum» als föderatives Referendumsrecht der (Gerichts-)Kreise und Gemeinden, einem Vorläufer des Gesetzesvetos des 19. Jahrhunderts. – In weiteren Detailstudien beleuchten die Historiker Jon Mathieu respektive Randolph C. Head die Formen und Begrifflichkeiten der (früh)neuzeitlichen Bündner Demokratie. Abschliessend porträtiert Verfassungsrechtler Stefan G. Schmid einen vergessenen Bündner Demokratie-Theoretiker, Florian Gengel.

 

Widmer Schweiz andersPaul Widmer: Die Schweiz ist anders – oder sie ist keine Schweiz mehr (NZZ Libro)
«Die Schweiz muss Respekt für ihr Staatswesen einfordern», forderte Paul Widmer 2020 in einem Essay zum Rahmenvertrag im «Schweizer Monat». Unter anderem schlug er vor, die Anbindung an den EU-Gerichtshof zu streichen, um das Abkommen zu retten. Ohne Erfolg: Ein Jahr später begrub es der Bundesrat.

Vielleicht nimmt sich die Regierung ja Widmers Forderung bei der Aushandlung eines neuen Vertrags zu Herzen. Denn er hat durchaus einen Punkt, den er in seinem neuen Buch «Die Schweiz ist anders – oder sie ist keine Schweiz mehr» unterstreicht. Als langjähriger Diplomat und ausgebildeter Historiker hat er sowohl geografisch als auch zeitlich das grosse Ganze im Blick – und gerade deshalb ein Gespür für den Wert der Besonderheit, die er bedroht sieht. Ausdruck dieser Bedrohung ist aus seiner Sicht der Druck auf die Neutralität im Zuge des Ukrainekriegs. Widmer kritisiert, dass der Bundesrat die Neutralität auf ihre rechtliche Seite reduziere. Denn: «Neutralität ohne Neutralitätspolitik ist ein Ding der Unmöglichkeit.»

Die grundsätzlichere Bedrohung sieht Widmer in der Aushöhlung der einzigartigen politischen Kultur der Schweiz, die auf demokratischer Mitbestimmung, Machtteilung und einer gesunden Skepsis gegenüber dem Staat basiere. Eine Bedrohung, die nicht von aussen, sondern von innen komme: in Form einer Tendenz, den Föderalismus auszuhöhlen und den Staat auszubauen. Setze sich diese Tendenz durch, warnt Widmer, wäre es vorbei mit der Einzigartigkeit der Schweiz – und damit letztlich auch mit der Daseinsberechtigung als Nation.

 

Clark Frühling RevolutionChristopher Clark: Frühling der Revolution. Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt. München (DVA)
Ist eine politische Bewegung, die Europa vor fast 200 Jahren durchschüttelte, ein 1200-seitiges Buch wert? Ja, findet Christopher Clark. In seinem Monumentalwerk «Frühling der Revolution» über die Umbrüche von 1848 und 1849 beleuchtet der in Cambridge lehrende Historiker die Ideen und Dynamiken dieser Jahre in ihrer ganzen Breite und Tiefe.

Dabei stellt er das gängige Narrativ in Frage, das man sich – gerade in der Schweiz – erzählt: dass die 48er-Revolutionen überall – ausser in der Schweiz – gescheitert seien. Zwar stimmt das, was die unmittelbaren Folgen betrifft, denn in kaum einem Land konnten sich die Revolutionäre langfristig durchsetzen. Und doch veränderten sie den Kontinent fundamental, ja sie legten in vielerlei Hinsicht den Grundstein für die moderne Welt. Einflussreiche Ideen und Bewegungen wurden erstmals breit diskutiert: Liberalismus, Radikalismus, Sozialismus und nicht zuletzt Nationalismus. Diese Ideen, befeuert durch weitverbreitete Unzufriedenheit mit den wirtschaftlichen und politischen Zuständen, schufen 1848 ein Momentum, wie es Europa zuvor nicht erlebt hatte. Von Preussen bis Sizilien, von Paris bis Bukarest stürzten Regierungen, wackelten die Throne von Monarchen. Alte Privilegien wurden in Frage gestellt, Arbeiter, Sklaven, Juden und Frauen forderten Rechte ein. Ganze Gesellschaften wurden politisiert, alles schien möglich. Vielleicht war das Vakuum, das entstand, zu gross, denn sobald sie an der Macht waren, brachen zwischen den unterschiedlichen Fraktionen Grabenkämpfe aus, Blockaden und Gegenrevolutionen folgten.

Clark würdigt die Ereignisse in den einzelnen Ländern mit Liebe zum Detail und einer Ausführlichkeit, die zuweilen zur Langatmigkeit verkommt und gewichtige Erkenntnisse verdeckt. Schade, denn die Revolutionen von 1848/49 bleiben relevant, denkt man an den Sturm auf das Kapitol 2021 oder an die jüngsten Proteste gegen die Rentenreform in Frankreich. Die Parallelen haben indes Grenzen: Damals überboten sich die Revolutionäre mit utopischen Forderungen. Heute beschränken sie sich auf eine nihilistische Ablehnung des Bestehenden.

 

Sonia I. Seneviratne, Laura Zimmermann, Markus Notter & Andreas Spillmann (Hrsg.): Mit einem Zukunftsrat gegen die Klimakrise – Warum die Schweiz eine dritte Parlamentskammer braucht (Scheidegger & Spiess)
Der Titel des Buches gibt bereits die Richtung vor: «Mit einem Zukunftsrat gegen die Klimakrise» lautet die Ansage einer Gruppe, die den bescheidenen Anspruch hat, mit ihrer Idee für «ein bisschen mehr Demokratie» in der Schweiz zu sorgen. Konkret soll der «Zukunftsrat» folgendermassen funktionieren: Eine Art dritte Parlamentskammer wird geschaffen, zusammengesetzt aus 100 Personen, die aus dem gesamten Stimmvolk ausgelost werden (wobei eine repräsentative Zusammensetzung nach «Alter, Wohnort, Geschlecht, sozialem Status und Bildungsstand» mittels Quoten sichergestellt werden soll). Der Rat soll einerseits eine Art Vetorecht gegen Beschlüsse von National- und Ständerat haben, andererseits mittels Initiativrecht Verfassungsrevisionen anstossen können. In dem Buch führt die linksliberale Gruppe, der etwa die frühere Co-Präsidentin von Operation Libero, Laura Zimmermann, und der ehemalige Zürcher SP-Regierungsrat Markus Notter angehören, ihre Idee aus. Ergänzt wird das Werk durch Gespräche mit «normalen» Bürgern, die potenziell in einem solchen Zukunftsrat sitzen könnten. Das Buch ist durchaus lesenswert, wenn auch der Aufbau zuweilen verwirrt.

Die Idee von ausgelosten «Bürgerräten» ist nicht neu. Ein solches Gremium könnte geeignet sein, Ideen auszuarbeiten, vor denen gewählte Politiker zurückschrecken, etwa in der Altersvorsorge. Es fragt sich allerdings, ob es den Initianten wirklich um neue Ideen geht – oder vielmehr um die Durchsetzung von Vorschlägen, die in ihrem Sinne sind, im heutigen politischen System aber keine Mehrheiten finden. Womöglich hegen manche Mitglieder der Gruppe dabei überhöhte Erwartungen. So äusserte ein «Fridays for Future»-Vertreter an der Buchvernissage die Hoffnung, ein Zukunftsrat könnte Vorschläge der Aktivistengruppe aufnehmen. Als Beispiel nannte er ein Verbot von «Werbung». Wahrscheinlicher ist, dass ein zusätzlicher Vetospieler im austarierten politischen System der Schweiz eher für neue Blockaden statt visionäre Lösungen sorgen würde.

 

Siehe auch:

Napoleon’s Nightmare-Buchempfehlungen 2022
Napoleon’s Nightmare-Buchempfehlungen 2021
Napoleon’s Nightmare-Buchempfehlungen 2020
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2019
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2018
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2017
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2016
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2015

Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2014