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150 Jahre Semper-Stadthaus Winterthur: Auf dem Weg zur modernen Demokratie

Das Semper-Stadthaus Winterthur ist nicht nur architektonisches Kunstwerk, sondern war auch Wirkstätte der Demokratischen Bewegung Zürichs. Stadtpräsident Michael Künzle bezeichnet es gar als «Denkmal und Aufforderung zugleich, sich immer wieder für Volksrechte stark zu machen». An der kürzlichen Jubiläumsfeier «150 Jahre Stadthaus Winterthur» hat Historiker Josef Lang an die Ecole de Winterthour und ihren Kampf für die progressive Bundesverfassung 1874 erinnert. (Red.)

Festrede von Josef Lang[*], gehalten an der Feier «150 Jahre Stadthaus Winterthur» vom 22. September 2021.

Stadthaus Winterthur. (Foto: Ikiwaner)

 

«Regenwetter und behagliche Temperaturen im neuen Saal ermutigten zum Ausdauern.» So leitete der Landbote die Berichterstattung über die allererste Gemeindeversammlung in diesem Gebäude ein. Ausdauer war nötig: Die Versammlung vom Sonntag, den 30. Oktober 1870, startete vormittags um halb Zehn und dauerte bis in den Abend hinein. Behaglich war auch die damalige politische Temperatur in Winterthur. Im Herbst 1870 herrschte eine kurze Ruhe nach dem kantonalen und vor dem nationalen Verfassungs-Sturm. Die Demokraten fühlten sich in der Gemeinde und im Kanton sicher im Sattel. Und über ihre wichtigste Errungenschaft, die Volksrechte, wurde damals in vielen Kantonen und Vereinigungen intensiv diskutiert.

Selbst beim Hauptthema der «von 350 – 400 Mann zahlreich besuchten» Gemeindeversammlung, nämlich «Deckung des Defizits», herrschte laut dem zitierten Landboten für «die Stadtverwaltung das schönste Wetter». Nur einer hatte etwas zu kritisieren. Ich zitiere aus dem Landboten vom 1. November: «Herr Koller sucht die Versammlung zu überzeugen, dass die Stadtverwaltung endlich einmal so aufrichtig sei, was er, Herr Koller, schon längst prophezeit habe, nämlich, dass das viele Bauen und Geldausgeben eine teure Sache sei.»

So hatte die Gemeinde drei Monate zuvor eine Million Franken für die Bahn nach Waldshut mit einer Fortsetzung nach Basel beschlossen. Vielleicht hat der demokratische Stadtpräsident Johann Jakob Sulzer bei seinem Rücktritt im Februar 1873 an das Koller-Votum anlässlich der ersten Versammlung im neuen Stadthaus gedacht. Sulzer konnte die Nationalbahn-Risiken nicht mehr verantworten. Der vom Landboten etwas abschätzig «Herr Koller» Genannte hatte den Vornamen Konrad Traugott und war Redaktor der eschernahen Winterthurer Zeitung.

Friedrich Albert Lange, Salomon Bleuler und Gottlieb Ziegler: Vordenker der Winterthurer Demokraten

An der ersten Gemeindeversammlung in diesem Saal sprachen auch die drei – seit der gemeinsamen Matura 1847 – eng verbundenen Vordenker der Winterthurer Demokraten: Der Philosoph und Landbote-Redaktor Friedrich Albert Lange, Sohn des konservativen Uni-Professors für Theologie, der ehemalige Pfarrer und Landbote-Besitzer Salomon Bleuler sowie dessen ebenfalls theologisch gebildete Schwager und damalige Regierungspräsident Gottlieb Ziegler. Bleuler unterstützte eine Motion von Niedergelassenen im Zusammenhang mit dem Bürgernutzen. Die Gleichberechtigung der Zugezogenen mit den Ortsbürgern wurde zu einem Schlüsselthema im Ringen um die Totalrevision der Bundesverfassung.

Damit wären wir beim Hauptthema: Der von der Geschichtsschreibung arg unterschätzte Beitrag der Winterthurer Demokraten und ihrer beiden Machtzentren – der Landbote-Redaktion und des Semper-Stadthauses – für die neue Bundesverfassung von 1874. Diese sollte bis 1906, als Finnland das Frauenstimmrecht einführte, die fortschrittlichste und modernste Europas bleiben.

Die Bundesparlamentarier aus Winterthur hatten quantitativ eine starke und qualitativ eine hervorragende Präsenz in der ganzen Revisions-Debatte. Ab 1869 stellten die Winterthurer Demokraten einen Ständerat: den Stadtpräsidenten Sulzer, der selber den Stadtschreiber Theodor Ziegler in der Kleinen Kammer abgelöst hatte. Der andere Ziegler, der Regierungsrat, rückte 1871 in den Nationalrat nach, den er im historischen Jahr 1874 präsidieren sollte. Zusätzlich gehörten seit 1869 Salomon Bleuler und Friedrich Scheuchzer der grossen Kammer an.

Ecole de Winterthour fordert Abschaffung des Ständemehrs, des Ständerats und Volkswahl des Bundesrats

Auf nationaler Ebene, wo die Säkularisierung, Demokratisierung und Zentralisierung des Bundesstaates die Hauptfragen waren, hatten die Zürcher Demokraten zwei Hauptgegner: das wirtschaftsliberale Escher-Zentrum und den katholischen Konservativismus. Die Ecole de Winterthour, wie die Romands die Ziegler, Bleuler, Scheuchzer, Sulzer, Lange würdigten, war inhaltlich viel umfassender, radikaler und moderner, als sie gemeinhin dargestellt wird. Das zeigte sich besonders deutlich drei Wochen nach der Einweihung dieses Stadthauses. Am Ustertag vom 22. November 1870 legte Salomon Bleuler das Programm der Zürcher Demokraten für die Totalrevision der Bundesverfassung vor. Die erste Forderung lautete:

«Bundes-Referendum und Initiative mit Abschaffung des Ständemehrs; Abschaffung des Ständerats und Wahl des Bundesrats durch das Volk.» Dass die Winterthurer Demokraten die Einführung der Volksrechte auch auf Bundesebene anstrebten, kann nicht überraschen. Eher überraschen dürfte die Forderung nach Abschaffung des Ständemehrs und noch mehr des Ständerats. Beim neuen fakultativen Referendumsrecht für Gesetzesänderungen und Bundesbeschlüsse erreichten sie dann auch den Verzicht auf das Ständemehr – allerdings denkbar knapp. Nach einem Patt von 52:52 Stimmen hatte sich der Nationalratspräsident, ein radikaler Berner Demokrat, im Sinne der Demokraten und Deutschschweizer Freisinnigen entschieden.

Was steckte hinter der Ablehnung von Ständemehr und Ständerat durch die Winterthurer Demokraten? Erstens das Ziel, dem Volkswillen möglichst keine Schranken zu setzen. Zweitens die Nation gegenüber den Kantonen zu stärken. Und drittens stand die Ecole de Winterthour in der Tradition der Französischen Revolution, die auf dem mündigen Individuum baute und vorgegebene, tradierte Körperschaften ablehnte.

Nationalräte Bleuler und Ziegler spielen Schlüsselrolle beim Ringen um neue Bundesverfassung

Am 26. Januar 1872 sagte Gottlieb Ziegler-Bleuler im Nationalrat gegen das Ständemehr: «Es ist aber zu bemerken, dass der moderne Staat auf ganz anderen Grundlagen beruht als der alte Schweizerbund, und er sich von den historischen Traditionen desselben gelöst hat. Nicht auf diese können wir abstellen, sondern auf die Kraft, die in jedem einzelnen ruht.» Im Sinne dieses Radikalismus, der die Moderne über die Tradition stellt, forderte der Ustertag von 1870 weiter:

  • Demokratisierung auch der Kantone und Gemeinden durch die Gleichstellung der Niedergelassenen aus anderen Kantonen, damals bereits die Hälfte der Schweizer Bevölkerung;
  • Gleichberechtigung der Juden, Glaubens-, Kultus- und Lehrfreiheit, konfessionsfreies Schulwesen, Schaffung von Zivilehe und Zivilstandsämtern;
  • Humanisierung durch Abschaffung der Todes- und der Kettenstrafe;
  • Nationalisierung durch Übernahme des Wehrwesens oder Erteilung der Eisenbahnkonzessionen durch den Bund;
  • Sozialer Ausgleich und soziale Schutzmassnahmen.

Die gut vorbereiteten Bleuler und Ziegler spielten darauf im Nationalrat und in der Öffentlichkeit beim harten Ringen um die Bundesverfassung eine Schlüsselrolle. Bleuler mit zusätzlich starker Präsenz in der Zivilgesellschaft, sein Schwager als innerparlamentarischer Vordenker. Zu Bleulers Schwerpunkten gehörten die soziale Fragen, u.a. die Unentgeltlichkeit der Primarschule und der Schutz der Arbeitenden. Sein engster Mitdenker und Mitkämpfer Friedrich Albert Lange hatte 1865 das Buch «Die Arbeiterfrage» veröffentlicht. In einem parlamentarischen Wortgefecht mit dem Basler Liberalkonservativen Johann Jakob Stehlin, der sich auf die Privatautonomie der Vertragspartner berief, konterte der Winterthurer Bleuler: Die Interessen der Arbeiter werden nicht gewahrt, «wenn man den Arbeitgebern gestattete, sie zu übertriebener Arbeit von 82 bis 84 Stunden in der Woche anzuhalten, unter dem Vorwande, sie seien vollständig frei, die ihnen gestellten Bedingungen anzunehmen oder zu verwerfen».

Volkstag Solothurn 1873: grösste politische Kundgebung der Schweizer Geschichte

Bleulers Hauptbeitrag zur Bundesverfassung von 1874 lag aber im Ausserparlamentarischen – vor allem nach dem Absturz der ersten Vorlage am 12. Mai 1872 wegen einer föderalistischen Nein-Allianz von Deutschschweizer Konservativen und welschen Radicaux. Die kulturkämpferischen Radikalen, die Nordostschweizer Demokraten und die demokratisch-sozialen Grütlianer gründeten nach dem erwähnten Rückschlag einen gesamtschweizerischen Volksverein. Bleuler, der in allen drei Strömungen eine tonangebende Stimme war, gehörte auch zu den Köpfen der neuen freisinnigen Sammelbewegung. Seine basisorientierte Begründung hat nichts an Aktualität eingebüsst: «weil man die politische Aktion von unten herauf stützen und organisieren» wolle, «und weil man sich sagte, dass ein ehrlicher, offener Meinungsaustausch auf dem Boden des Volksvereins auch eher zu einer Verständigung mit der welschen Schweiz führe, als wenn alles das nur im Bundeshaus ausgekocht und diskutiert werde».

Am 11. April 1873 konnte Bleuler seinem in Berlin weilenden Freund Lange mitteilen: «Der Gedanke des Volksvereins hat überall gezündet. […] Wir schwimmen im Strom.» Für den gesamtschweizerischen Volkstag in Solothurn zugunsten einer weniger zentralistischen, dafür laizistischeren Bundesverfassung sagte er eine «Menschenmenge von 25‘000 bis 30‘000 Personen» voraus. So viele wurden es dann auch am 15. Juni 1873 – in der grössten politischen Kundgebung der Schweizer Geschichte bis zur Berner Klimademo vom 28. September 2019.

Gottlieb Ziegler-Bleuler verkörpert wie nur noch der Solothurner Staatsrechtler Simon Kaiser den wichtigsten Fortschritt, den die Bundesverfassung von 1874 ausmachte: die Kombination von demokratischen Volksrechten und sozialer Wohlfahrt mit einer individualistischen Begründung von Nation und Staat. Gottlieb Ziegler war es gewesen, der 1859 als Grossrat die Gleichberechtigung der Zürcher Juden vorgeschlagen und 1861 durchgesetzt hatte – ausgehend von einem Staatsverständnis, in dem das mündige Individuum, das «freie Menschentum» in den Worten Gottfried Sempers, nicht irgendwelchen – hier konfessionellen – Traditionen unterordnet wird. Im Nationalrat erklärte Ziegler-Bleuler 1872, warum das Referendum der Landsgemeinde überlegen ist: «Der Bürger kann sich für die Abstimmungsfrage ruhig und in aller Stille vorbereiten. […] Das ist die Form, wo das Gold der Fabrikherren und vielleicht auch die Kutte sich ihrer nicht bemächtigen können.»

Festtaumel in Winterthur ob Zustimmung zur progressivsten Verfassung der Welt

In der Abstimmungskampagne für die neue Bundesverfassung wies der Landbote neben all den Errungenschaften auf zwei Defizite hin: das Fehlen des Initiativrechts und des «Schweizerbürgerrechts», das den «gordischen Knoten […] des Gegensatzes von Territorial- und Heimatprinzip durchhauen» hätte. Vorbild für das allgemeine «Schweizerbürgerrecht» war die Helvetische Republik von 1798 bis 1803. Die umstrittene Helvetik erfuhr in den Tagen vor der Einweihung dieses Stadthauses eine positive Würdigung durch eine sechsteilige Artikelserie im Landboten.

Trotz der erwähnten Vorbehalte fiel Winterthur nach der Annahme der Bundesverfassung am 19. April 1874 bei einer Rekordbeteiligung von 82 % in einen ausgelassenen und ausdauernden Festtaumel. National hatten 63 %, kantonal 95 % für die damals progressivste Verfassung der Welt gestimmt. Bleuler hielt vor 6000 begeisterten Menschen eine Ansprache, und zwar, wie er es ausdrückte: «pro domo, deutsch: Rede vor dem Stadthaus». Später schrieb Bleuler seinem Freund Lange, der inzwischen in Berlin lebte: «Du magst Dir vorstellen, wie es in Winterthur an den zwei Tagen herging. Kanonen, Feuerwerk, Tambouren, Musik, Fahnen – Schwindel aller Art, jedoch keine Greuel.» Unterzeichnet wurde die neue Bundesverfassung natürlich von einem Winterthurer: von Nationalratspräsident Gottlieb Ziegler-Bleuler.

Nachtrag zur Eisenbahnfrage: Erfolge an Urne, Hybris auf Schiene?

Ich schliesse mit einem Nachtrag: Im zitierten euphorischen Brief an Friedrich Albert Lange vom 28. April 1874 ging Salomon Bleuler nebenbei auf die Eisenbahnfrage ein. «Ich bin der Ansicht, dass die Nationalbahn zum Leben kommt, sofern es gelingt, das Obligationen-Kapital zu beschaffen. […] Die Haltung» Sulzers – des im Vorjahr wegen der Eisenbahnfrage zurückgetretenen Stadtpräsidenten – «verstehe ich nicht mehr». Führten die Erfolge der Winterthurer Demokraten an der Urne zu einer Hybris auf der Schiene? Die Antwort auf diese Frage ist eine andere Geschichte.

 


[*] Dr. Josef Lang ist Historiker und alt Nationalrat sowie Autor von Demokratie in der Schweiz. Geschichte und Gegenwart (Verlag Hier und Jetzt, Baden/Zürich 2020).

Das Losverfahren brachte in der Schweizer Geschichte vor allem Aristokraten Glück

Verbessert das Losverfahren die Demokratie? Seine Fürsprecher verweisen gern auf die Alte Eidgenossenschaft. Aber gerade hier diente die Verlosung von Ämtern vor allem den Mächtigen.

Publiziert im Magazin «NZZ Geschichte» vom 9. Juli 2020.

Gott meinte es offensichtlich nicht gut mit Albrecht von Haller. Der Universalgelehrte sass seit bald dreissig Jahren im bernischen Grossen Rat. Es war längst Zeit für den nächsten Schritt in der Karriere des Patriziers. Wiederholt bewarb sich von Haller um einen Sitz im Kleinen Rat, in der Regierung, mehrmals kandidierte er für eine Landvogtei. Doch immer wieder traf das Glück beim Losentscheid einen Konkurrenten. Haller tröstete sich mit dem Gedanken, dass die politische Karriere offenbar nicht seine Bestimmung sei. Nachdem er 1772 beim Rennen um den Einzug in den Kleinen Rat ein weiteres Mal leer ausgegangen war, bezeichnete er das Los in einem Brief an seinen Freund, den Genfer Gelehrten Charles Bonnet, als «Stimme Gottes». Sie sei tiefsinniger als menschliche Entscheide.[1]

Wer die goldene Kugel zog, stieg in der Berner Machthierarchie auf. (Bild: Bernisches Historisches Museum)

 

Kaum jemand sieht im Los heute noch ein Verdikt Gottes. Und doch erlebt die Idee, politische Vertreter nicht per Wahl, sondern per Zufall zu bestimmen, wieder einen Aufschwung. Vorangetrieben wird sie von Wissenschaftern wie dem belgischen Historiker David Van Reybrouck. Das Los, so argumentiert er in seinem 2016 auf Deutsch erschienenen Buch «Gegen Wahlen», sei das wahrhaft demokratische Verfahren.

Ansätze, es in moderne Demokratien zu integrieren, gab es in der jüngeren Vergangenheit unter anderem in Irland, im US-Gliedstaat Oregon und im deutschsprachigen Teil Belgiens. In Sitten wurde kürzlich ein Pilotversuch durchgeführt, bei dem wie in Oregon eine ausgeloste Gruppe von Bürgern über eine Abstimmungsvorlage diskutierte und einen kurzen Bericht zuhanden ihrer Mitbürger verfasste. Weiter geht die Justizinitiative, welche die Auslosung von Bundesrichtern fordert. Das Begehren ist zustande gekommen, bald will der Bundesrat seine Botschaft dazu vorlegen. Noch nicht so weit ist die Volksinitiative Génération Nomination. Sie will, dass der Nationalrat künftig per Los besetzt wird. Die Initianten wollen zusätzliche Unterstützer und finanzielle Mittel sammeln, bevor sie mit der Unterschriftensammlung starten.

Die Eidgenossenschaft war ein Spätzünder

Verfechter des Losverfahrens betonen, es sei demokratischer als die Wahl, weil es das Prinzip der Gleichheit besser zur Geltung bringe. So schreiben die zwei Politikwissenschafter Nenad Stojanović und Alexander Geisler in der «Zeit», das Los sei «lange Zeit die demokratische Methode par excellence» gewesen. Sie und andere Befürworter des Modells verweisen auf den antiken Stadtstaat Athen, wo das Losverfahren zur Besetzung einiger (nicht aller) wichtiger Ämter zum Einsatz kam, sowie auf die norditalienischen Stadtstaaten wie Venedig oder Florenz, die im Mittelalter beim Besetzen von Ämtern auf den Zufall setzten. Und noch ein Vorbild wird genannt: die Eidgenossenschaft. Verschiedene Kantone und Gemeinden vergaben ab dem 17. Jahrhundert Ämter per Los. Ein genauerer Blick zeigt aber, dass sie damit keineswegs eine Demokratisierung anstrebten – im Gegenteil.

Im Vergleich zu anderen Gebieten findet das Los in der Schweiz relativ spät Aufnahme in die politischen Systeme. Während das Verfahren in Venedig bereits im 13. Jahrhundert eingeführt wurde, tauchen die ersten Beispiele in der Schweiz erst im 17. Jahrhundert auf. Die Schweiz ist für die Geschichte des Losverfahrens aber besonders interessant, weil es in sehr unterschiedlichen Staatsformen zur Anwendung kam: in den ländlichen Landsgemeindeorten ebenso wie in aristokratischen Städterepubliken und nach dem Ende der Alten Eidgenossenschaft auch in der Helvetischen Republik, wie ein 2017 von Wissenschaftern der Universität Lausanne herausgegebener Sammelband eindrücklich aufzeigt.[2]

Ruinöses Wettrüsten

Unter den Landsgemeindeorten war Glarus jener, der das Losverfahren als erster einführte und am längsten beibehielt. Vor der Einführung waren die wichtigen Ämter in offenen Wahlen an der Landsgemeinde besetzt worden. Dabei war allerdings der Stimmenkauf weit verbreitet. Um dem Missstand beizukommen, führten die Glarner 1623 zunächst Abgaben ein; wer in ein Amt gewählt wurde, musste einen gewissen Betrag an die Staatskasse oder direkt an die Stimmbürger entrichten. Das sollte den Anreiz mindern, Stimmen zu kaufen. Die Massnahme scheint aber nicht den gewünschten Effekt gehabt zu haben, ja sie verstärkte die Aristokratisierung noch. Jedenfalls beschloss 1640 die evangelische Landsgemeinde – Glarus war inzwischen konfessionell geteilt –, wichtige Amtsträger nicht mehr zu wählen, sondern auszulosen. Das Verfahren war zweistufig: Zunächst wurden per Handmehr acht Kandidaten ausgewählt (zwei aus dem hinteren, vier aus dem mittleren und zwei aus dem vorderen Landesteil). Unter diesen wurde danach gelost. Ein unmündiger Knabe gab jedem Bewerber eine schwarz eingefasste Kugel; sieben waren silbern, eine golden. Wer die goldene Kugel zog, bekam das Amt. Der katholische Teil von Glarus übernahm das Verfahren 1649.

Anders als man denken würde, lag das Losverfahren durchaus im Interesse der Eliten, wie der Historiker Aurèle Dupuis von der Universität Lausanne betont.[3] Denn die Wahlbestechung hatte mit der Zeit zu einem immer kostspieligeren Wettstreit um Ämter geführt, der ganze Familien zu ruinieren drohte. Durch das Los sollte der Anreiz für dieses ruinöse Wettrüsten gesenkt werden. Ausserdem erhofften sich insbesondere Angehörige von Familien, die zwar zur Elite, aber nicht zu den ganz mächtigen Geschlechtern zählten, eine ausgeglichenere Verteilung der Ämter.

Verdächtiger Zufall

Allerdings scheint auch beim Los nicht immer alles mit rechten Dingen zugegangen zu sein. Jedenfalls ist es auffällig, dass einige Herren das gleiche Amt mehrmals hintereinander erlangten. So gelang Johann Heinrich Zwicky das Kunststück, zwischen 1699 und 1719 fünfmal in Folge zum Landesstatthalter gelost zu werden (wodurch er jeweils zwei Jahre später Landammann werden konnte). Die Wahrscheinlichkeit, das in einem fairen Verfahren zu schaffen (gegen jeweils sieben Mitbewerber), liegt bei 1 zu 32 768. Die Vermutung liegt nahe, dass Zwicky seinem Glück auf die Sprünge zu helfen wusste, etwa mittels Absprachen mit anderen Kandidaten. Auf Unregelmässigkeiten lässt auch ein Beschluss der evangelischen Landsgemeinde von 1764 schliessen, in dem die Kandidaten ermahnt werden, sie sollten «keine Kugeln mehr wechseln, sondern jeder die ihn treffende Kugel behalten».[4] Statt der Wähler bestachen die Politiker nun also einfach ihre Mitbewerber.

Gleichwohl hielten die Glarner am Losverfahren fest. 1791 ging die evangelische Landsgemeinde sogar noch einen Schritt weiter: Sie führte für einige Ämter (Landschreiber, Läufer und Landvögte) das sogenannte Kübellos ein. Dieses verzichtete ganz auf eine vorgängige Wahl und loste die Ämter direkt unter allen Bürgern aus. Dafür wurden Zettel mit Namen aus einem Butterfass gezogen. Weil keinerlei Vorselektion stattfand, konnte es vorkommen, dass das Los Leute traf, die ein Amt nicht ausüben wollten oder konnten, zum Beispiel wenn ein Analphabet zum Landschreiber ernannt wurde. In vielen Fällen wurde es daher an den Meistbietenden versteigert, womit man wieder gleich weit war wie im 17. Jahrhundert: beim Ämterkauf.

Inspiriert von Glarus, übernahmen zwei weitere Landsgemeindeorte das Losverfahren, wenn auch nur für kurze Zeit: In Schwyz wurde es 1692 eingeführt und blieb formell bis 1706 in Kraft, wobei es in der Praxis schon vorher nicht mehr angewandt wurde. In Zug dauerte das Experiment noch kürzer, nämlich von 1697 bis 1699. In Glarus überlebte das Losverfahren derweil bis weit ins 19. Jahrhundert hinein. Erst als die Glarner im Zuge der Regenerationsbewegung 1837 eine neue Verfassung beschlossen, schafften sie die alten Strukturen der konfessionellen Trennung ab – und mit ihnen das Losverfahren.

Verengung der Herrschaftsschicht

Nicht nur in Landsgemeindeorten fand das Losverfahren Anwendung, sondern auch in städtischen Aristokratien wie Bern, Basel oder Schaffhausen. Und so unterschiedlich die politischen Systeme waren, so ähnlich waren die Gründe, die sie aufs Los brachten: Einerseits wollte man die verbreitete politische Korruption eindämmen, andererseits die Tendenz zur Machtkonzentration entschärfen. In Bern etwa wurde die herrschende Schicht ab dem 17. Jahrhundert immer schmaler: Zählten 1630 noch 139 Familien zum Patriziat, waren es 1701 nur noch 88.

Die zunehmende Abkapselung führte zu Spannungen, einerseits zwischen den regierenden Geschlechtern und dem Rest der Burgerschaft, andererseits aber auch innerhalb des Patriziats. Die Aufnahme in den Grossen Rat erfolgte durch Kooptation: Das Gremium bestimmte selber, wen es neu aufnehmen wollte. Dabei hatten die Mitglieder des Kleinen Rats und des Rats der Sechzehn ein Vorschlagsrecht; sie konnten so sicherstellen, dass Mitglieder der eigenen Familie zum Zug kamen. Die weniger mächtigen Geschlechter, die nicht im Kleinen Rat vertreten waren, befürchteten nicht zu Unrecht, mittelfristig ganz aus dem Grossen Rat zu fallen. Auch deshalb versuchte Albrecht von Haller – der dafür lukrative Stellen an angesehenen Universitäten und Höfen ausschlug – derart verzweifelt, in den Kleinen Rat zu kommen: Es ging um das politische Überleben seiner Familie.

Das Los, das für Landvogteien ab 1710 und für den Kleinen Rat ab 1722 eingesetzt wurde, sollte die Ämterverteilung gleichmässiger machen und Bestechung erschweren. Wie in Glarus kam das Glück beziehungsweise Pech in goldenen und silbernen Kugeln zum Ausdruck. Dabei bestimmte nie das Los allein; vielmehr kam ein komplexes System zur Anwendung, das über mehrere Runden Wahl und Losverfahren kombinierte. Der Zufall hatte keine freie Bahn, sondern wurde im Gegenteil stark eingehegt. Denn die mächtigen Familien hatten kein Interesse daran, ihre Privilegien einfach so aufzugeben. Umgekehrt wollten sie aber auch nicht, dass innere Konflikte ihre Herrschaft gefährdeten. Die Einbindung des Loses erlaubte es, beiden Absichten gerecht zu werden. «Das Ziel der Einführung von Losverfahren in Bern war nicht eine Demokratisierung, sondern vielmehr der Abbau von Konflikten sowie eine Stabilisierung der aristokratischen Republik», schreibt der Historiker Nadir Weber. Wie wirksam das Los dabei war, ist offen. Jedenfalls blieb die Macht bis zum Zusammenbruch des Ancien Régime in den Händen weniger Familien konzentriert.

Albrecht von Haller war kein begeisterter Anhänger des Losverfahrens. Zwar schrieb er, dass das Los die Chancen von Aussenseitern auf Ämter verbessere. Das Übel der Wahlbestechung lasse sich damit aber nicht beheben, sondern verlagere sich lediglich auf die Phase der Vorselektion. Haller mag aufgrund seiner persönlichen Erfahrung nicht eben ein unvoreingenommener Richter sein. Letztlich stand er dem Los aber doch versöhnlich gegenüber: Man solle jener höheren Instanz vertrauen, die das Gold und Silber der Kugeln geschaffen und jede Farbe mit dem Namen dessen versehen habe, für den sie bestimmt sei. Haller sah in seinem Lospech offenbar einen Hinweis, dass Gott ihn nicht mit Regierungsgeschäften belasten wollte, so dass er sich ungestört seiner wissenschaftlichen Tätigkeit widmen konnte.

Reaktion auf Staatskrise

Auf den göttlichen Willen berief man sich auch anderswo wiederholt, etwa in Schaffhausen. Dort forderten die Zünfte, die das Fundament des Staats bildeten, 1688 die Einführung des «göttlichen Loss», um den Zugang zu höheren Ämtern gerechter zu gestalten.[5] Vorausgegangen waren dem Ansinnen wachsende Spannungen zwischen dem Kleinen Rat, der immer mehr Kompetenzen an sich zog, und dem Rest der Bürgerschaft, die sich schliesslich zu einer veritablen Staatskrise ausweiteten. Dem Kleinen Rat wurden Absolutismus, Korruption und Vetternwirtschaft vorgeworfen. Die Schwere der Krise erklärt wohl auch, warum Schaffhausen mit seiner Reform deutlich weiter ging als Bern. Der Grosse Rat beschloss, sämtliche Ämter auszulosen, wobei die Zünfte und Gesellschaften je einen Kandidaten stellen durften.

Demokratisierung war nicht das Ziel

Kurzum: In den Landsgemeindeorten ebenso wie in den Städterepubliken der Eidgenossenschaft wurde das Los als Mittel gegen politische Korruption und absolutistische Herrschaftsansprüche propagiert. Zahlreiche Orte griffen auf das Verfahren zurück, Auslöser waren oft Spannungen innerhalb der oberen Herrschaftsschichten. Angestrebt wurden eine breitere Verteilung der Macht und eine weniger berechenbare – und somit auch weniger beeinflussbare – Besetzung der Ämter. Eine wirkliche Demokratisierung war hingegen nie das Ziel und fand auch nirgends statt. Im Gegenteil: Oft lag das Losverfahren durchaus im Interesse der herrschenden Schicht. Sei es, weil diese (wie in Glarus) die horrenden Kosten der Wahlbestechung vermeiden wollte; sei es, weil (wie in Bern) der Kreis der Mächtigen immer enger wurde und damit die Stabilität der Regierung gefährdete.

Es mag sein, dass das Losverfahren Vorteile für die Demokratie mit sich bringen kann. Die Alte Eidgenossenschaft ist aber ein denkbar ungeeignetes Beispiel dafür. Die Berner Patrizier wären erstaunt über die Vorstellung, dass sie mit ihrer Reform Pioniere der Demokratie gewesen sein sollen.

 


[1] Zitiert in Nadir Weber (2017): «Gott würfelt nicht», in: Chollet, Antoine und Fontaine, Alexandre (2017): Expériences du tirage au sort en Suisse et en Europe (XVIe-XXIe siècle), S. 60.

[2] Chollet/Fontaine 2017.

[3] Aurèle Dupuis: «Un remède désespéré pour des démocraties aux abois», in Chollet/Fontaine 2017.

[4] Zitiert in Winteler, Jakob (1954): Geschichte des Landes Glarus. Band II: von 1638 bis zur Gegenwart, S. 128.

[5] Roland E. Hofer: Absolutismus oder Republik? Bemerkungen zur Verfassungskrise von 1688. Schaffhauser Beiträge zur Geschichte, 84 (2010), S. 95 ff.

Fünf verblüffende Anekdoten aus den letzten 50 Wahlen

Bevor die Schweiz in einer Woche ihr Parlament neu besetzt, werfen wir einen Blick zurück. In den 50 eidgenössischen Wahlen seit der Bundesstaatsgründung hat sich einiges an Überraschungen, Kuriositäten und Sonderfällen ereignet. Wir präsentieren fünf davon.

Schweizer Wahlen stehen nicht im Ruf, besonders ereignisreich zu sein. Erdrutschartige Verschiebungen, Parteien, die plötzlich implodieren, oder Bewegungen, die über Nacht zu dominanten Kräften aufsteigen – das alles gibt es in anderen Ländern wesentlich häufiger zu beobachten.

Und doch: Wer in der jüngeren und älteren Geschichte gräbt, stösst immer wieder auf bemerkenswerte und sonderbare Ereignisse.[1] Wir haben fünf davon herausgepickt, die wir an dieser Stelle erzählen. Es hätte genug weitere Anekdoten gegeben, die es ebenso wert gewesen wären zu erzählen. Man denke etwa an die Wahlen 1854, bei denen der Tessiner Stefano Franscini beinahe sein Amt verloren hätte, wären ihm nicht einige Parteifreunde zur Hilfe gekommen, so dass er letztlich im vierten (!) Wahlgang gewählt wurde – und zwar nicht im Tessin, sondern in Schaffhausen.[2] Auch die teilweise dreisten Wahlfälschungen und Manipulationen in den Gründungsjahren wären zu erwähnen.[3] Oder die ersten Wahlen im Proporz vor genau 100 Jahren, für die der Begriff Erdrutsch für einmal angebracht ist.[4] Oder die ersten Nationalratswahlen unter Beteiligung der Frauen 1971, die nicht annähernd so grosse Verschiebungen brachten, dafür viele neuen Gesichter – unter anderem jene von Frauen, die in ihrem Kanton noch gar nicht stimmberechtigt waren.

Hier widmen wir uns fünf anderen Geschichten, die mindestens so erwähnenswert sind:

Der Ralph Nader von Obwalden

Sechs Kantone haben derzeit nur einen Sitz im Nationalrat. Diese Sitze werden im Majorzverfahren besetzt – allerdings im Unterschied zu den Ständeratssitzen nicht in zwei Wahlgängen, sondern nur in einem. Massgebend ist das relative Mehr. Das hat zur Folge, dass der Wahlsieger unter Umständen deutlich weniger als 50 Prozent der Stimmen auf sich vereint. Der Minus-Rekord wurde 2007 aufgestellt, und zwar in Obwalden.[5]

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Luke Gasser. (Foto: www.lukegasser.ch)

Der Obwaldner Nationalratssitz war seit 1848 praktisch ununterbrochen in den Händen der CVP. Und deren Kandidat Patrick Imfeld hätte unter normalen Umständen wohl einem sicheren Sieg entgegenblicken können. Doch diesmal waren die Umstände anders. Nicht nur trat die SP das erste Mal mit einem eigenen Kandidaten an. Auch der politisch unerfahrene Filmemacher Luke Gasser bewarb sich um den Sitz. Und: Gasser, dessen Vater lange für die CVP im Regierungsrat sass, kündigte an, sich im Fall einer Wahl der CVP-Fraktion anzuschliessen. Damit war absehbar, dass der Aussenseiter viele CVP-Wähler abwerben würde.

Und tatsächlich: Bei den Wahlen am 21. Oktober 2007 holte Imfeld 32.5 Prozent der Stimmen – der schlechteste Wert für die CVP in Obwalden seit der Gründung des Bundesstaats. Gasser schaffte mit 23 Prozent einen Achtungserfolg, der SP-Kandidat Beat von Wyl kam auf 11.6 Prozent. Der lachende Vierte war der Kandidat der SVP, Christoph von Rotz, der mit 32.9 Prozent – nur gerade 300 Stimmen mehr als Imfeld – die Wahl in den Nationalrat schaffte. So wie in den USA im Jahr 2000 der Grüne Ralph Nader dem Demokraten Al Gore die Wahl zum Präsidenten vereitelt hatte, verhinderte der Christdemokrat in spe Gasser den Sieg des Christdemokraten Imfeld.

Auch in anderen Majorzkantonen wurden schon Kandidaten gewählt, die deutlich unter dem absoluten Mehr blieben. Der früheren FDP-Fraktionschefin Gabi Huber reichten 2003 bei ihrer ersten Kandidatur in Uri 36.6 Prozent der Stimmen. Und bei den Nationalratswahlen 2015 erkoren 36.1 Prozent der Ausserrhoder David Zuberbühler (SVP) zum Vertreter des Kantons in der grossen Kammer. In allen drei Fällen führten aussergewöhnliche Konstellationen zu einer eigentlichen Lotterie um den zu vergebenden Sitz. Wäre ein Kandidat weniger (oder mehr) angetreten, wäre das Resultat womöglich völlig anders ausgefallen.

Solche absurden Effekte liessen sich mit anderen Mehrheitswahlsystemen verhindern, etwa dem System der übertragbaren Stimmgebung (Single Transferable Vote) oder dem bewährten Verfahren mit zwei Wahlgängen. Zudem kommt die relative Mehrheitswahl tendenziell grösseren Parteien zugute, weil die Wähler faktisch gezwungen werden, ihre Stimmen auf chancenreichere Kandidaten zu konzentrieren, wenn sie nicht für den Papierkorb stimmen wollen. Es erstaunt daher nicht, dass es bisher keine Bestrebungen dieser Parteien für ein faireres Verfahren gab. Im Gegenteil: In der Vernehmlassung zum neuen Bundesgesetz über die politischen Rechte, das 1976 beschlossen wurde, sprachen sich die Majorzkantone explizit gegen die Einführung eines zweiten Wahlgangs aus, wie ihn der Bundesrat vorschlug.

Stille Wahl, heilige Wahl

Erich Ettlin und Hans Wicki haben es geschafft: Sie sind als Ständeräte in Ob- und Nidwalden wiedergewählt. Und das bereits vor dem Wahltag. Weil keine Gegenkandidaten angetreten sind, hat eine stille Wahl stattgefunden. Bei Majorzwahlen in kleinen Kantonen sind stille Wahlen keine Seltenheit. In der Vergangenheit kamen sie aber auch schon bei Proporzwahlen vor. Das Wahlgesetz sieht vor, dass, wenn insgesamt nicht mehr Kandidaten zur Wahl antreten als Sitze zu vergeben sind, alle Kandidaten als gewählt erklärt werden.[6]

Besonders viele stille Wahlen gab es bei den Wahlen 1939, nämlich in nicht weniger als neun Kantonen. Während des Kriegs war die Lust der Parteien auf Wahlkämpfe gering.[7] Unter den neun waren auch grosse Kantone wie die Waadt (15 Sitze) oder Luzern (9 Sitze). In der Regel einigten sich die Parteien auf die Sitzverteilung gemäss den vorangehenden Wahlen.

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Die letzten zwei still gewählten Nationalräte: Hans-Rudolf Früh (FDP) und Herbert Maeder (parteilos). (Fotos: www.parlament.ch)

Unangefochtener Rekordhalter in Sachen stillen Wahlen ist der Kanton Appenzell Ausserrhoden: Dort wurden die Nationalratssitze seit 1919 nicht weniger als neunmal vergeben, ohne dass ein einziger Wähler einen Wahlzettel ausfüllen musste. Zunächst hielt der Kanton noch drei Sitze in der grossen Kammer, von denen jeweils zwei den Freisinnigen und einer der SP zufiel; ab 1931 waren es zwei Sitze, die bis 1983 stets an FDP und SP gingen. Mit dieser Aufteilung schienen beide Seiten leben zu können, weshalb sie regelmässig auf einen Wahlkampf verzichteten. Von 1939 bis 1947 fanden drei Nationalratswahlen in Folge still statt. Allmählich nahm die politische Konkurrenz jedoch zu. 1975 trat die CVP erstmals in Ausserrhoden an. Acht Jahre später bewarb sich der parteilose Herbert Maeder mit einer eigenen Liste um einen Sitz – und schaffte mit 25.9 Prozent der Stimmen die Wahl. Als 1987 die beiden Bisherigen wieder antraten, wagte es niemand, sie herauszufordern. Es war die letzte stille Wahl in Ausserrhoden wie auch in einem Proporzkanton überhaupt. Seit 2003 hat Ausserrhoden nur noch einen Sitz im Nationalrat, dieser ist dafür umstritten, wie das Beispiel der Wahl 2015 zeigt (siehe oben). Stille Wahlen sind jedenfalls auch in Ausserrhoden Geschichte.

Bis dass das Los entscheidet

marcoromano

Marco Romano unmittelbar nach dem Losentscheid. Rechts ist Staatsrat Marco Borradori zu sehen, der das Los gezogen hatte. (Screenshot: SRF Tagesschau)

Trotz des in jüngerer Vergangenheit gestiegenen Interesses am Losverfahren in Demokratien setzt die Schweiz bei der Besetzung ihrer Parlamentskammern nach wie vor auf Wahlen. Ausnahmen bestätigen aber auch hier die Regel: Zwei Abgeordnete haben in der Geschichte des Bundesstaats ihr Mandat dem Zufall zu verdanken.

Der jüngste Fall dürfte vielen noch in Erinnerung sein: Bei den Nationalratswahlen 2011 kamen im Tessin zwei CVP-Kandidaten auf genau gleich viel Stimmen.[8] Das Los musste zwischen Monica Duca und Marco Romano entscheiden. Die Schweiz schaute gespannt auf das Tessin, wo am 25. Oktober 2011 die Auslosung mittels Computer Duca zur Siegerin kürte. Doch die Freude der CVP-Politikerin war verfrüht: Aufgrund mehrerer Beschwerden hob das Bundesgericht das Ergebnis auf: Die elektronische Auslosung wie auch der Ausschluss der Öffentlichkeit waren gesetzeswidrig.[9] Die Auslosung wurde einen Monat später wiederholt, öffentlich und manuell – und diesmal war das Glück auf der Seite Romanos.

Der erste Fall, in dem das Los einen Nationalrat kürte, hatte sich schon einiges früher ereignet, nämlich 1939.[10] Damals war es keine Seltenheit, dass die Mitglieder kantonaler Exekutiven gleichzeitig im Bundesparlament sassen. In einzelnen Kantonen allerdings, darunter Baselland, schränkte die Kantonsverfassung diese Praxis ein, indem sie festlegte, dass maximal ein Regierungsrat im National- oder Ständerat Einsitz nehmen durfte.[11] Dessen waren sich auch die beiden Regierungsräte Hugo Gschwind (Katholisch-Konservative) und Walter Hilfiker (SP) bewusst. Gleichwohl versuchten beide ihr Glück als Kandidaten für den Nationalrat. Beide wurden gewählt.

Hugo Gschwind

Hugo Gschwind. (Foto: StABL)

Weil nicht beide im Parlament einsitzen konnten und keiner auf das Amt verzichten wollte, stellte sich die Frage, wer antreten durfte. Das kantonale Recht legte zwar fest, dass nur ein Regierungsrat im Nationalrat sitzen durfte, enthielt jedoch keine Bestimmung darüber, wie man in einem solchen Fall bestimmt, wer das sein sollte. Die Anhänger beider Regierungsräte brachten verschiedene Kriterien vor, die man heranziehen könnte (Alter, Amtsdauer, Stimmenzahl usw.). Weil aber für keines davon eine Rechtsgrundlage bestand, entschied der Regierungsrat, dass der Zufall entscheiden musste.

Am 10. November 1939 wurde in der Sitzung des Regierungsrats das Los gezogen. Dabei wurden zwei Kuverts mit den Namen der beiden Gewählten mit acht leeren Kuverts gemischt und dann eines nach dem anderen geöffnet, bis eines mit einem Namen gezogen wurde. Der Zufall erwählte den Konservativen Gschwind. Hilfiker musste seinen Sitz dem Zweiten auf der SP-Liste überlassen. Das dürfte ihn deshalb besonders geärgert haben, weil er mehr als doppelt so viele Stimmen geholt hatte als sein Kontrahent Gschwind, dessen Partei nur dank einer Listenverbindung mit den Freisinnigen ein Mandat errang.

Gschwind blieb das Glück allerdings nicht lange hold. 1943 verloren die Konservativen ihr Mandat bereits wieder – und zwar an die SP, die einen zweiten Sitz dazu gewann. Diesen wiederum sicherte sich ein gewisser Walter Hilfiker.

Der Pfarrer, der kein Geistlicher sein wollte

Arnold Knellwolf. (Foto: Das Rote Kreuz [1945])

Die Bundesverfassung von 1848 gab zwar (zumindest theoretisch) allen männlichen Bürgern das aktive Wahlrecht. Beim passiven Wahlrecht schränkte sie den Kreis allerdings ein. Gemäss Artikel 64 war «jeder stimmberechtigte Schweizer Bürger weltlichen Standes» in den Nationalrat wählbar.[12] Geistliche waren damit vom Einsitz in der grossen Kammer ausgeschlossen. Die Bestimmung geht auf den Kulturkampf zurück und das Misstrauen der Freisinnigen gegenüber papsttreuer Ultramontaner, die den Staat unterwandern könnten. Betroffen von der Einschränkung waren aber nicht nur katholische, sondern auch protestantische Pfarrer.

In der Praxis wurde die Regelung so angewandt, dass Angehörige des geistlichen Standes zwar zur Wahl antreten konnten, im Fall einer Wahl aber entweder auf ihr Pfarramt oder auf das Parlamentsmandat verzichten mussten. So erklärte Ernst Sieber nach seiner Wahl als EVP-Nationalrat 1991 den Verzicht auf sein Pfarramt in Zürich per Februar 1992.

Einer allerdings wollte die Unvereinbarkeit von geistlichem und politischem Amt nicht akzeptieren und kämpfte vehement darum, beides behalten zu dürfen. Dabei handelte es sich nicht um einen konservativen Ultramontanen, sondern einen protestantischen Sozialdemokraten. Arnold Knellwolf, Pfarrer im Berner Dorf Erlach, wurde 1917 für die SP gewählt.[13] Vor dem Wahltag erklärte er auf Anfrage der Berner Regierung zunächst, im Fall einer Wahl auf sein Pfarramt zu verzichten. Wenig später tönte es allerdings anders: In einem an den Nationalrat gerichteten Brief schrieb er, dass er bereit sei, von seinem kirchlichen Amt zurückzutreten – unter dem Vorbehalt, dass es ihm nicht erlaubt würde, dieses Amt zu behalten. Warum sollte das Parlament gerade bei ihm eine Ausnahme machen? Knellwolf argumentierte, dass der besagte Artikel nur für Katholiken gelte. Reformierte Pfarrer hingegen gehörten nicht dem geistlichen Stand an. Diese Interpretation stand im Widerspruch zur vorherrschenden Rechtslehre. Der Nationalrat validierte denn auch die Wahl Knellwolfs nur unter der Bedingung, dass er sein Pfarramt niederlege.

Knellwolf allerdings hatte andere Pläne. Kaum im Parlament, forderte er vom Bundesrat via Motion einen Bericht, um die Frage zu prüfen, ob Artikel 75 der Verfassung auch auf reformierte Pfarrer anwendbar sei. Das Parlament überwies den Vorstoss, doch lag der Bericht des Bundesrats noch nicht vor, als Knellwolf 1919 zur Wiederwahl antrat – nach wie vor in kirchlichem Amt und Würden. Trotz der deutlichen Sitzgewinne der Sozialdemokraten verpasste «der temperamentvolle Pfarrherr von Erlach», wie ihn ein Ratskollege einmal nannte, die Wiederwahl. Damit wurde ihm die Wahl zwischen kirchlichem und politischem Amt erspart.

Die Episode hätte damit als abgeschlossen betrachtet werden konnte, wenn nicht eineinhalb Jahre später SP-Nationalrat August Rikli zurückgetreten wäre. Knellwolf konnte nachrücken, und die Frage seiner Wählbarkeit stellte sich erneut. Diesmal beharrte der Pfarrer, der kein Geistlicher sein wollte, ultimativ auf seinem kirchlichen Amt. Er erklärte, dass er zumindest solange Pfarrer bleiben wollte, bis das Parlament über das weitere Schicksal von Artikel 75 entschieden hätte. Der Bundesrat hatte inzwischen seinen Bericht vorgelegt, in dem er die Auffassung bekräftigte, dass der Artikel auch für Protestanten gelte. Auch der Nationalrat wollte von einer Praxisänderung nichts wissen und verweigerte die Validierung von Knellwolfs Wahl.[14]

So endete die Karriere des politisierenden Pfarrers, und 1923 erklärte sich der Nationalrat mit den Schlussfolgerungen des Bundesrats einverstanden, so dass Knellwolfs Anliegen gescheitert war. Erst 1999 sah man die Gefahr des politischen Einflusses von Geistlichen im Nationalrat gebannt und strich den Artikel aus der Verfassung.

Der Hans Dampf in allen Kantonen

Gottlieb Duttweiler. (Karikatur: Nebelspalter [1939])

Im Gegensatz zu Ländern mit Präsidialsystem gibt es in der Schweiz kein Amt, das von allen Stimmbürgern des Landes gewählt wird. Die Volkswahl des Bundesrats wurde zwar immer wieder diskutiert, aber genauso oft verworfen – erstmals bereits in der Verfassungskommission von 1848. Ein Argument gegen die Volkswahl war damals, dass ein landesweiter Wahlkampf zu teuer wäre und sich nicht genug «fähige Männer» für die Regierung finden würden.

Dennoch haben die Politiker früh die Vorzüge des grenzüberschreitenden Wahlkampfs erkannt. Bereits in den Anfangsjahren, als noch im Majorz gewählt wurde, war es keine Seltenheit, dass Kandidaten in mehreren Wahlkreisen antraten. In der Regel waren es besonders bekannte und populäre Köpfe, die als «Wahlkampflokomotiven» eingesetzt wurden und die Wähler der eigenen Seite mobilisieren sollten. So liess sich der nachmalige Bundesrat Ulrich Ochsenbein bei den ersten Nationalratswahlen 1848 in vier der sechs Berner Wahlkreise aufstellen.

Mit der Einführung des Proporzes und der damit verbundenen Vergrösserung der Wahlkreise verlor diese Strategie an Relevanz, zumal nur wenige Politiker über ihren Kanton (der ja nun ihr Wahlkreis war) hinaus Bekanntheit erlangten. Doch es gab Ausnahmen. Eine davon war Gottlieb Duttweiler. Der Migros-Gründer war bereits landesweit bekannt, als er 1935 in die Politik einstieg und in Zürich, Bern und St. Gallen «Unabhängige Listen» für die Nationalratswahlen lancierte (aus denen später der Landesring der Unabhängigen entstehen sollte).[15] Seiner nationalen Ausstrahlung bewusst, trat er in allen drei Kantonen gleich selber als Spitzenkandidat an.

Der Coup gelang: Die neue Bewegung gewann auf Anhieb sieben Sitze. Und wenig überraschend erzielte Duttweiler sowohl in Zürich als auch in Bern und St. Gallen jeweils mit Abstand das beste Resultat seiner Liste. Er konnte also auswählen, welchen Kanton er im Nationalrat vertreten wollte. Schliesslich entschied er sich, die Wahl in Bern anzunehmen. In Zürich und St. Gallen rückten Ersatzkandidaten nach.

Bei den anderen Parteien kam Duttweilers Dreifachkandidatur indes nicht besonders gut an. Bald wurden Stimmen laut, die solche Manöver unterbinden wollten. Aufgrund einer Motion erarbeitete die zuständige Kommission des Nationalrats eine Vorlage für eine Ergänzung des Bundesgesetzes betreffend die Wahl des Nationalrats. Die neue Bestimmung legte fest, dass niemand in mehr als einem Kanton als Nationalratskandidat antreten dürfe. Die Vorlage wurde von National- und Ständerat in der Sommersession 1939 angenommen, gerade noch rechtzeitig für die Wahlen im Oktober.

Der Hauptbetroffene der «Lex Duttweiler» hielt sich an die neue Regel, doch scheint sich Duttweiler weiterhin schwergetan zu haben, sich politisch auf einen Kanton festzulegen: Er trat nämlich nicht mehr in Bern zur Wahl an, sondern in Zürich. Dort schaffte er 1949 auch die Wahl in den Ständerat, verpasste zwei Jahre später jedoch die Wiederwahl und wurde erneut Nationalrat, diesmal wieder für den Kanton Bern, den er bis zu seinem Tod 1962 in der grossen Kammer vertrat.

 


[1] Der vorliegende Artikel ist massgeblich inspiriert von: Hans-Urs Wili (2002): Nationalratswahlen. Präzedenzfälle.

[2] Siehe Der unbekannte Schaffhauser Bundesrat.

[3] Siehe unter anderem Als in Luzern nach Gesteinsarten gewählt wurde und Chaos, Manipulationen und Rekorde.

[4] Siehe Der Machtverlust des Freisinns – und wer davon wirklich profitierte.

[5] BBl 2007 8103-8104.

[6] Art. 45 Bundesgesetz über die politischen Rechte (BPR).

[7] In den Majorzwahlkreisen sind stille Wahlen erst seit 1994 möglich.

[8] BBl 2011 8529-8530.

[9] BGE 138 II 13.

[10] BBl 1939 II 674.

[11] Ab diesen Wahlen ist der gleichzeitige Einsitz im Regierungsrat und im Bundesparlament ganz ausgeschlossen (Siehe Was ist neu bei den Wahlen 2019? [Teil II: kantonales Recht])

[12] In der totalrevidierten Bundesverfassung von 1874 als Artikel 75 übernommen.

[13] BBl 1917 IV 706-708.

[14] Verhandlungen des Nationalrats, 21.4.1921.

[15] BBl 1935 II 677.

Wie die USA in eine Diktatur verwandelt werden könnten (nein, es geht nicht um Trump)

Die US-amerikanische Verfassung enthält ein Schlupfloch, um die Demokratie abzuschaffen – das behauptete der brillante Logiker Kurt Gödel. Das Problem: Bis heute ist nicht klar, worauf er sich genau bezog.

Der österreichische Mathematiker Kurt Gödel wurde vor allem durch seinen Unvollständigkeitssatz von 1931 bekannt. In Politik war der geniale, aber exzentrische Logiker (der starb, weil er aus Angst vor Vergiftungen aufhörte zu essen) weniger bewandert. Und doch hinterliess er auch hier seine Spuren.

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Kurt Gödel auf einer Aufnahme von 1925. (Foto: Wikipedia)

Gödel hatte nach dem Anschluss Österreichs ans nationalsozialistische Deutschland 1938 seine Professur in Wien verloren und war zwei Jahre später in die USA ausgewandert. Dort arbeitete er an der Princeton University und freundete sich mit Albert Einstein an. Einstein war es auch, der Gödel 1947 zusammen mit dem Ökonomen Oskar Morgenstern bei seinem Vorhaben, die US-amerikanische Staatsbürgerschaft zu erhalten, unterstützte. Diese scheiterte allerdings beinahe.

Gödel bereitete sich gewissenhaft auf die Einbürgerungsprüfung vor und studierte die Verfassung eingehend. Während des Gesprächs wurde Gödel nach seiner Nationalität gefragt. Als Gödel angab, dass er Österreicher sei, sagte der Richter beiläufig, dass in Amerika zum Glück keine Diktatur wie in Österreich entstehen könnte. Gödel widersprach und behauptete, dass es in der Verfassung der USA einen logischen Widerspruch gebe, der die Umwandlung des Staates in eine Diktatur erlaube.

Der Richter unterbrach die Ausführungen des Mathematikers allerdings schnell – was möglicherweise dessen Einbürgerung rettete, aber für die verfassungsrechtliche Debatte einen Verlust darstellt. Denn: Was genau das Schlupfloch ist, das Gödel entdeckt zu haben glaubte, ist nicht bekannt. Weder von ihm noch von Einstein oder Morgenstern sind Angaben dazu überliefert.

Spirale nach unten

Gödels Entdeckung ist deshalb zum Gegenstand von Spekulationen geworden. Die häufigste Vermutung ist, dass sich der Widerspruch auf Artikel 5 der amerikanischen Verfassung bezieht.[1] Darin ist das Verfahren zur Revision der Verfassung beschrieben. Damit eine Änderung in Kraft tritt, müssen ihr je zwei Drittel des Repräsentantenhauses und des Senats sowie drei Viertel der Gliedstaaten zustimmen.

Diese Bedingungen gelten natürlich auch für Änderungen von Artikel 5 selber. Somit könnten die Hürden für eine Verfassungsänderung gesenkt werden. Beispielsweise könnte festgelegt werden, dass eine einfache Mehrheit im Parlament genügt. Diese Mehrheit könnte anschliessend noch weitergehen und in die Verfassung schreiben, dass es keine Wahlen mehr gibt oder dass der Präsident die Verfassung per Dekret ändern kann. Von diesem Zeitpunkt an könnte der Präsident die Verfassung nach Belieben ändern und würde somit über diktatorische Macht verfügen. Selbst vermeintlich unantastbare Verfassungsgarantien sind vor dem Schlupfloch nicht sicher. So garantiert die US-Verfassung den Gliedstaaten, dass sie alle Recht auf gleiche Repräsentation im Senat hätten, dass also keine Verfassungsänderung beschlossen werden könnte, die das Prinzip der gleichen Repräsentation verletzt. Wenn man aber Artikel 5 ändern kann, kann man auch diesen Schutzmechanismus für die Gliedstaaten streichen.

Ein kurzer Weg

Nun existiert Gödels Schlupfloch nicht nur in der amerikanischen Verfassung, sondern eigentlich in jeder Verfassung, die geändert werden kann und deren Regeln zur Änderung auf sich selber anwendbar sind. Das trifft auf so ziemlich alle Verfassungen der Welt zu.[2] Eine Ausnahme bildet das deutsche Grundgesetz, das eine sogenannte «Ewigkeitsklausel» enthält. Diese legt fest, dass jede Änderung der Artikel 1 bis 20 (welche die Grundrechte und die Grundstruktur des Staates als parlamentarische Demokratie enthalten) ungültig ist. Theoretisch könnte die «Ewigkeitsklausel» ihrerseits geändert werden, was gemäss juristischer Lehre allerdings nicht zulässig wäre.

Angesichts der grundsätzlichen Abänderbarkeit aller Verfassungen erscheint Gödels These ziemlich trivial. Und sie erinnert uns daran, dass der Weg in die Diktatur juristisch gesehen kurz ist. Versperrt wird er nur von standfesten Politikern und Richtern – und von besonnenen Bürgern.

Aber wer weiss – vielleicht hatte Gödel auch ein ganz anderes Schlupfloch im Blick. Es wäre jedenfalls nicht das erste Mal, dass der geniale Logiker nicht verstanden wurde. Als er 1930 an einer Mathematikertagung in Königsberg seinen Unvollständigkeitssatz erstmals präsentierte, war die Reaktion – keine. Seine Fachkollegen brauchten Monate, um die Bedeutung des revolutionären Beweises zu erfassen.

 


[1] Vgl. Enrique Guerra-Pujol (2013): «Gödel’s Loophole», in: Capital University Law Review 41, S. 637-673.

[2] Einige Verfassungen der Schweizer Kantone im 19. Jahrhundert enthielten immerhin gewisse Fristen, während derer sie nicht geändert werden konnten.

Wie die Schweiz das Panaschieren lernte

1918 stimmte die Schweiz der Einführung des Proporz zu. Wie aber kam sie auf das konkrete Verfahren zur Umsetzung dieses Prinzips? Wo liegen die Wurzeln von Kumulieren und Listenverbindungen? Eine Spurensuche in den historischen Gesetzen und Debatten.

Wie die Schweiz zum Proporzsystem kam, haben wir an dieser Stelle bereits beschrieben. Doch wie wir gesehen haben, gibt es verschiedene Möglichkeiten, wie bei Wahlen die Stimmen (einigermassen) proportional auf die Parteien verteilt werden können. Gleichwohl sind die Proporzwahlsysteme in den Kantonen sowie jenes für die Nationalratswahlen einander recht ähnlich. Wie kam man zu genau diesem System?

Eine wichtige Rolle bei der Einführung des Verhältniswahlrechts spielte bekanntlich der Kanton Genf, wo die Association réformiste sich bereits ab 1865 für ein gerechteres Wahlsystem starkmachte. Ernest Naville, der Gründer der Vereinigung, sah zu Beginn das sogenannte Systeme Hare (Single Transferable Vote) als Lösung. Dabei handelt es sich im Prinzip um ein Mehrheitswahlsystem, mit der Besonderheit, dass die Wähler die Kandidaten nach Präferenz ordnen können und Minderheitsparteien dadurch bessere Chancen haben.

Schliesslich setzte die Association réformiste genevoise auf das System des Listenproporz – eher aus pragmatischen Gründen als aus Überzeugung, wie Dominique Wisler in La démocratie genevoise schreibt.[1] Denn, so befand Naville, die Parteien seien in Genf bereits derart dominant, dass es sinnvoll sei, die Sitze gemäss Parteistärken zu verteilen.

Kandidaten wählen, nicht nur Parteien

Im System des Listenproporzes stellt sich zunächst die Frage, wie die Sitze auf die Listen verteilt werden. Hier tendierten sowohl die Association réformiste wie auch der 1876 gegründete Schweizerische Wahlreformverein früh zum Divisorverfahren mit Abrunden, das international unter dem Namen seines Erfinders D’Hondt und in der Schweiz unter dem Namen des vermeintlichen Erfinders Hagenbach-Bischoff bekannt ist. Dieses System bevorzugt tendenziell grosse Parteien, was aber, soweit ersichtlich, nicht zu grossen Diskussionen Anlass gab. Offenbar erschienen den Proporzbefürwortern die Verzerrungen des Hagenbach-Bischoff-Systems vernachlässigbar im Vergleich zu den Verzerrungen des Mehrheitswahlrechts.

Wie werden die Stimmen gezählt? Und wie in Sitze umgerechnet?Stimmenzähler bei der Arbeit (Aufnahme von 1936). Quelle: Parlamentsdienste

Viel mehr zu reden gab ein anderer Aspekt: Der Listenproporz verteilt die Stimmen auf die Parteien gemäss ihrer jeweiligen Stärke. Was aber ist mit den einzelnen Kandidaten? Die Proporzbefürworter waren sich einig, dass die Wähler nicht nur ihre Präferenz für eine Partei ausdrücken können sollten, sondern auch für einzelne Kandidaten. Aber wie?

Eine Übersicht der Association réformiste genevoise aus dem Jahr 1890[2] listet nicht weniger als zehn unterschiedliche Verfahren auf – darunter geschlossene Listen, Möglichkeit des Streichens ohne Panaschieren, Streichen mit Panaschieren, beschränktes Kumulieren oder unbeschränktes Kumulieren. Die letzte Variante bevorzugte die Association réformiste. Unter diesem System kann ein Kandidat so oft auf den Wahlzettel geschrieben werden, wie Sitze zu besetzen sind (Streichen und Panaschieren sind ebenfalls erlaubt).

Als im Tessin kurz nach der Publikation des Hefts am 11. September 1890 die konservative Regierung gestürzt wurde und der Kanton im Chaos zu versinken drohte, intervenierte die Eidgenossenschaft. Sie sandte Truppen in den Südkanton und setzte Oberst Arnold Künzli als Kommissär ein, der vorübergehend die Regierungsgeschäfte übernahm. Er setzte eine Volksabstimmung für den 5. Oktober an, in der sich die Tessiner Stimmberechtigten im Grundsatz für eine Totalrevision der Verfassung aussprachen. Da sich der Konflikt insbesondere am verzerrenden Wahlsystem entzündet hatte, galt es, für die Wahl des Verfassungsrats ein faireres Verfahren zu finden. Die Abordnung des Bundesrats wollte diesen Entscheid zunächst den Tessiner Parteien überlassen, wobei sie ihnen die Broschüre der Genfer Reformer als Inspiration zukommen liess, ebenso wie eine Untersuchung des Statistischen Bureaus, das die Auswirkungen des Proporz auf die Sitzverteilung berechnet hatte.

Als sich Konservative und Liberale nicht auf ein neues Wahlsystem einigen konnten, machte Künzli am 21. November 1890 schliesslich doch einen konkreten Vorschlag für die Einführung der Verhältniswahl. Als Verfahren schlug er jenes mit der Möglichkeit des Streichens, aber ohne Panaschieren oder Kumulieren vor. Dieses wurde in der Genfer Broschüre als «la plus simple et la plus facile» bezeichnet. Am folgenden Tag stimmten die konservative und die liberale Abordnung dem Vorschlag mit einer kleinen Änderung bei der Wahlkreiseinteilung zu. Für die Zuteilung der Mandate auf die Listen kam das Restzahlverfahren (Hare-Niemeyer) zur Anwendung, welches heute unter anderem für die Verteilung der Nationalratssitze auf die Kantone Anwendung findet.

Die Anwendung des Verfahrens bei der Wahl zum Verfassungsrat am 11. Januar 1891 endete wieder im Streit, was allerdings nicht die Schuld des neuen Wahlsystems war. Die konservative Partei stellte in den Wahlkreisen jeweils mehrere Listen auf, offenbar mit der Erwartung, dass diese Listen mit ihren Restzahlen insgesamt mehr Sitze holen würden als eine einzelne konservative. Bereits dieser Plan zeigt, dass die politischen Akteure mit dem Proporz noch nicht vertraut waren, denn eine solche Strategie resultiert ebenso häufig in einem Sitzverlust wie in einem Sitzgewinnin. Dennoch fürchteten die Liberalen, von den Konservativen übervorteilt zu werden, und boykottierten die Wahl, so dass diese einen rein konservativen Verfassungsrat hervorbrachte.[3]

Dieser verankerte das Verhältniswahlsystem für die Wahl des Parlaments in der Verfassung, mit der wesentlichen Neuerung, dass das Panaschieren explizit erlaubt wurde. Das in der Folge vom Grossen Rat beschlossene neue Wahlgesetz sah deshalb den Wechsel von der Listenstimmenkonkurrenz zur Einzelstimmenkonkurrenz vor.

Die Broschüre der Association réformiste genevoise hatte bei dieser Variante vorgesehen, dass leere Zeilen auf dem Wahlzettel verfallen. Das hat zur Folge, dass Wähler, die mehr Kandidaten streichen als hinzufügen, automatisch an Stimmengewicht verlieren. Auch sind die Parteien faktisch gezwungen, vollständig gefüllte Listen einzureichen. Das Tessiner Gesetz fand hier eine sinnvollere Variante, die sich in der Folge schweizweit durchsetzte: Leere Zeilen wurden einfach als Stimmen für jene Liste gezählt, die auf dem Kopf des Wahlzettels stand. Ähnliche Lösungen wählten die Kantone Neuenburg und Genf, die den Proporz kurz nach dem Tessin 1891 beziehungsweise 1892 einführten.

Gesetze mit Kinderkrankheiten

Die Verfahren für die Zuteilung der Sitze auf die Listen waren zunächst noch ziemlich rudimentär (obschon mit dem Vorschlag von Hagenbach-Bischoff eigentlich ein elegantes und praxistaugliches System vorlag). So legten die ersten Gesetze im Tessin, in Neuenburg, Genf, Zug und Schwyz die Verteilungszahl fest, indem einfach die Zahl der Stimmen durch die Zahl der Sitze im betreffenden Wahlkreis (statt durch die Zahl der Sitze plus 1, wie im Vorschlag von Hagenbach-Bischoff) geteilt wurde. Dadurch wurden in der Praxis weniger Sitze in der ersten Verteilungsrunde zugeteilt. Stossend war das vor allem deshalb, weil die verbleibenden Restmandate in den meisten Kantonen dann einfach der respektive den grössten Liste(n) gegeben wurden und der Proporz somit deutlich zugunsten der grossen Parteien verzerrt wurde.[4] Genf vermied diese Verzerrung, indem auf die grössten Reste abgestellt wurde. 1906 ging der Kanton zum Hagenbach-Bischoff-Verfahren über.

Mit der Einführung der Verhältniswahl in Basel-Stadt 1905 fand die Möglichkeit des Kumulierens erstmals Anwendung in der Praxis. Das Gesetz sah vor, dass ein Name bis zu dreimal auf einer Liste stehen darf. Bis heute ist Basel-Stadt der einzige Kanton, der das dreifache Aufführens eines Kandidaten erlaubt, während in allen anderen ebenso wie bei Nationalratswahlen nur das einmalige Kumulieren zulässig ist (wenn es denn überhaupt möglich ist).[5]

Der Bund als Vorbild

Eine weitere Innovation brachte die Einführung des Proporz auf Bundesebene 1918 beziehungsweise das entsprechende Gesetz von 1919. Dieses liess nämlich erstmals Listenverbindungen zu. Diese Möglichkeit war 1887 erstmals in Belgien und 1896 von Hagenbach-Bischoff für die Schweiz vorgeschlagen worden.[6] Der Bundesrat nahm sie in seinem Gesetzesvorschlag vor allem deshalb auf, um es den Parteien insbesondere in grossen Kantonen zu ermöglichen, mit regionalen Listen anzutreten.[7] Dass Listenverbindungen auch zwischen verschiedenen Parteien abgeschlossen werden könnten, um dem Proporzglück auf die Sprünge zu helfen, betrachtete die Regierung mit Skepsis, beliess die Bestimmung aber trotzdem in ihrem Vorschlag.

In den Räten gab dieser Punkt überraschenderweise kaum zu Reden. Hier drehten sich die Diskussionen vor allem um die Möglichkeit des Kumulierens, die der Bundesrat wie auch der Nationalrat zunächst ausschliessen wollte – unter anderem mit dem Argument, dass dadurch die Macht der Parteien auf Kosten der Wähler ausgedehnt würde, da erstere ihren bevorzugten Kandidaten durch Vorkumulieren Sitze sichern könnten. Ebenfalls wollte der Nationalrat zusammen mit dem Proporz den Stimmzwang einführen. Möglicherweise standen dahinter taktische Überlegungen seitens der Freisinnigen, die hofften, dass das Gesetz mit diesem Zusatz versehen in einer Referendumsabstimmung Schiffbruch erleiden würde.[8] In beiden Punkten stellte sich jedoch der Ständerat gegen die grosse Kammer, die schliesslich einlenkte. Im Februar 1919 – in einer eigens einberufenen Sondersession und nur gerade vier Monate nach der Volksabstimmung über die Einführung des Proporz – stimmten beide Räte dem Gesetz einstimmig zu.

Das Bundesgesetz hatte Vorbildcharakter. Es sollte die kantonalen und kommunalen Proporzregeln massgeblich prägen, wie dies in den Ratsdebatten bereits erwartet worden war. So hatte der St. Galler Konservative Emil Grünenfelder im Nationalrat erklärt: «Wir haben hier ein Gesetz von ungeheurer Tragweite zu machen, ein Gesetz, das für alle Kantone der Eidgenossenschaft gelten und als Vorbild auch für die Kantone und grösseren Gemeinden dienen wird. Denn es wird wohl kaum angehen, dass man in einem und demselben Staatswesen mehrere Proporzgesetze nach verschiedenen Systemen hat.» Tatsächlich haben in der Folge z.B. die meisten Kantone, in denen der Proporz zur Anwendung kommt, die Möglichkeit des Kumulierens und des Panaschierens eingeführt. Auch das Prinzip der Einzelstimmenkonkurrenz hat sich durchgesetzt, ebenso über weite Strecken das Sitzzuteilungsverfahren nach Hagenbach-Bischoff – zumindest bis in der jüngeren Vergangenheit. Demgegenüber sind die Kantone in der Frage der Listenverbindungen geteilt. (Siehe dazu auch die Übersicht über die politischen Systeme der Kantone.)

Wahlsysteme sind nie statisch oder in Stein gemeisselt. Sie entwickeln sich fort, sei es wegen Veränderungen des Rechtsempfindens in der Gesellschaft, sei es dank neuer technischer Möglichkeiten. Das zeigen gerade die Diskussionen der letzten Jahre über die Verfassungskonformität kantonaler Proporzsysteme. Gleichwohl lässt sich sagen, dass die Weichenstellungen in den Anfangszeiten des Verhältniswahlrechts seine Anwendung bis heute prägen.


[1] Dominique Wisler (2008): La démocratie genevoise, S. 90.

[2] Association réformiste genevoise (1890): Étude comparée des différentes méthodes de représentation proportionnelle, deuxième édition.

[3] Emil Klöti (1901): Die Proportionalwahl in der Schweiz. Geschichte, Darstellung und Kritik, S. 42-44.

[4] Das Tessin war erst 1891 zu diesem unfaireren Modell übergegangen, nachdem man – wie erwähnt – für die Wahl des Verfassungsrats noch das simple Restzahlverfahren angewendet hatte.

[5] Nach der Einführung des Proporz im Kanton Zug 1894 sah die Verordnung des Regierungsrats sogar die Möglichkeit des unbeschränkten Kumulierens vor. Bei der Umsetzung auf Gesetzesstufe entschied sich der Kantonsrat 1896 jedoch dafür, die Listenstimmen- statt der Einzelstimmenkonkurrenz anzuwenden und die Möglichkeit des Kumulierens fallenzulassen.

[6] Klöti 1901, S. 402f.

[7] Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend die Wahl des Nationalrates nach dem Grundsatze der Proportionalität vom 26. November 1918, S. 125.

[8] Alfred Kölz (2004): Neuere Schweizerische Verfassungsgeschichte. Ihre Grundlinien in Bund und Kantonen seit 1848, S. 729.

Système proportionnel: les racines genevoises d’une innovation démocratique

Il y a cent ans, la Suisse adoptait le système proportionnel pour les élections au Conseil national. Elle faisait alors figure de pionnière.

Cet article était publié dans « Le Temps » le 12 octobre 2018. Il est basé sur ce texte en allemand.

Il y a cent ans, le 13 octobre 1918, la Suisse a accepté une initiative introduisant le système proportionnel pour les élections au Conseil national. La Confédération ne fut pas le premier pays à introduire ce système (la Belgique l’ayant précédée de vingt ans); elle fut néanmoins parmi les pionniers du système proportionnel – dans la théorie comme dans la pratique.

Victor Considerant. (Image: Musée national du château de Compiègne)

Tout au long de l’histoire, les hommes ont utilisé le système électoral le plus simple pour repourvoir un poste: le système majoritaire. L’idée que chaque force politique doit recevoir une partie du pouvoir correspondant à son soutien dans la population était pratiquement inconnue avant la Révolution française, et elle resta une construction théorique peu considérée avant que le philosophe, économiste et penseur socialiste Victor Considerant se soit occupé plus concrètement de la méthode.

La première fois que le système a été sérieusement proposé fut en 1846 à Genève. Le Parti radical ayant pris le pouvoir des conservateurs l’année précédente, il voulut rédiger une nouvelle Constitution. Considerant, qui venait tout juste d’arriver dans la ville, écrivit une lettre au Grand Conseil constituant dans laquelle il proposait l’introduction du système proportionnel. Selon lui, le système majoritaire n’était pas seulement « barbare », mais aussi illogique car, dans une élection dans plusieurs circonscriptions, un parti pouvait obtenir une majorité de sièges avec une minorité de voix.

L’influence de Naville

Or, les radicaux, après avoir gagné le pouvoir, n’avaient aucun intérêt à le partager. Le Grand Conseil constituant répondit à Considerant que son idée était une « utopie philosophique ».

Il fallut une éruption de violence pour que le suffrage proportionnel réapparaisse dans la discussion publique à Genève. En 1864, James Fazy, le meneur des radicaux, perdit l’élection au Conseil d’Etat. Mais la Commission électorale, qui était dominée par les radicaux, annula le résultat sans offrir d’explications convaincantes. Ce scandale déclencha une émeute au cours de laquelle trois personnes furent tuées.

Ernest Naville. (Image: Bibliothèque de Genève)

Cette tragédie choqua les Genevois, dont le théologien et philosophe Ernest Naville. En pensant à ces événements, il devint convaincu que le système électoral donnant tout pouvoir à la majorité (ou même à une minorité) était une des sources du clivage profond qui marquait le canton. Pour cette raison, il fonda l’Association réformiste, qui luttait pour l’introduction du proportionnel. Naville et ses alliés ont exercé une influence importante sur la diffusion de l’idée du suffrage proportionnel dans le monde, comme le décrit Dominique Wisler dans son livre La démocratie genevoise. Mais les mœurs se révélèrent difficiles à changer. Il fallut presque trente ans pour que Naville atteigne son but.

Deux cantons en marge

Ce fut toutefois un autre canton qui devint le premier en Suisse à appliquer le nouveau système dans la pratique: le Tessin. Et ce n’est pas un hasard si, là aussi, un conflit violent est à l’origine de la discussion sur un mode de scrutin plus équitable et plus juste. En 1890, après une série d’élections dans lesquelles le Parti conservateur avait bénéficié du système majoritaire distordant les résultats, une partie des radicaux se révolta contre le gouvernement conservateur. Au cours de la révolte, un Conseiller d’Etat fut tué. Le Conseil fédéral envoya des troupes fédérales au Tessin et installa un gouvernement provisoire. Afin de calmer la situation durablement, il arrangea un accord entre les deux partis ennemis visant à instaurer une nouvelle méthode électorale: le suffrage proportionnel. En 1891, le système fut mis en œuvre pour la première fois – ce fut une première non seulement en Suisse mais dans le monde. La même année, le canton de Neuchâtel suivit le Tessin en introduisant le nouveau système. Genève le fit en 1892.

Ce sont donc les cantons latins qui furent les pionniers du système proportionnel, qui s’est ensuite diffusé dans le reste du pays. Ce fut l’inverse pour l’autre innovation démocratique, la démocratie directe. Celle-ci fut introduite dans les cantons alémaniques avant de se diffuser en Suisse romande.

Après que dix cantons eurent opté pour le système proportionnel et après deux initiatives infructueuses à l’échelle nationale, la Confédération décida enfin d’introduire le système pour le Conseil national il y a de cela cent ans. Aujourd’hui, il n’y a que deux cantons qui élisent leur parlement selon le système majoritaire: les Grisons et Appenzell Rhodes-Intérieures.

Ein utopischer Sozialist, ein konservativer Philosoph und ein liberaler Mathematiker: Die Väter des Proporzes in der Schweiz

Die Schweiz ist eine Pioniernation des Verhältniswahlrechts. Nicht nur nahm die theoretische Entwicklung der Idee hier ihren Anfang, sie wurde auch als erstes in der Praxis umgesetzt. Ein geistesgeschichtlicher Überblick.

Der folgende Artikel ist der erste einer dreiteiligen Serie zum 100-Jahr-Jubiläum des Proporzwahlrechts auf Bundesebene.

«Dans un État démocratique, le droit de décision appartient à la majorité,
mais le droit de représentation doit appartenir à tous.»
Ernest Naville

Vor bald 100 Jahren, am 13. Oktober 1918, haben die Stimmbürger der Einführung des Proporz für Nationalratswahlen zugestimmt. Die Ursprünge der Idee sind aber deutlich älter.

Von der Athenischen Demokratie über Landsgemeinden bis zur Papstwahl: Während Jahrhunderten griff man, wenn politische oder andere Amtsträger zu wählen waren und kein Konsens gefunden werden konnte, auf das naheliegendste Verfahren zurück: die Mehrheitswahl. Diese basiert auf einem simplen Prinzip: Wer die (absolute oder relative) Mehrheit hat, gewinnt, alle anderen gehen leer aus.[1]

Die Idee, dass Minderheiten einen fairen Anteil an der Macht beziehungsweise an den zu vergebenden Sitzen erhalten sollten, fand erstmals nach der französischen Revolution in der breiteren Öffentlichkeit Beachtung. Einer der wichtigsten Exponenten der damaligen Zeit, Mirabeau, erklärte 1789: «Les Assemblées sont pour la nation ce qu’est une carte réduite pour son étendue physique ; soit en partie soit en grand, la copie doit toujours avoir les mêmes proportions que l’original.»[2] Condorcet schlug im Rahmen des Gironde-Verfassungsentwurfs 1793 das Verfahren der beschränkten Stimmgebung («vote limité») vor, das gegenüber dem reinen Majorzsystem eine proportionalere Verteilung der Sitze ermöglicht (jedoch auch zu Verzerrungen führen kann). Der Entwurf scheiterte allerdings.»[3]

Flucht vor dem Kamel

Victor Considerant

Victor Considerant. (Bild: Musée national du château de Compiègne)

Trotzdem blieb die Idee der Verhältniswahl, mindestens im französischen Sprachraum, virulent. Das, was wir heute unter Verhältniswahl verstehen, wurde erstmals vom Franzosen Victor Considerant vorgeschlagen – und zwar in Genf. Der Philosoph und Ökonom Considerant, 1808 in Salins-les-Bains im französischen Jura geboren, war ein Anhänger des utopischen Sozialisten Charles Fourier und gilt als einer der einflussreichsten Denker des Frühsozialismus. Er beschäftigte sich aber auch mit verfassungsrechtlichen Fragen und suchte nach Alternativen zum Mehrheitswahlsystem, das er als barbarisch und verzerrend kritisierte. Als die Genfer Radikalen 1846 eine neue Verfassung ausarbeiteten, wandte sich Considerant, der ich kurz zuvor in der Stadt niedergelassen hatte, mit einer Eingabe an den Verfassungsrat, in der er das Prinzip der Verhältniswahl beschrieb.[4] Die Radikalen, die kurz zuvor an die Macht gekommen waren, hatten aber kein Interesse daran, diese zu teilen, und taten Considerants Vorschlag als «utopie philosophique» ab.[5] Für Considerant war das keine Überraschung; ganz zu Beginn seines Schreibens hatte er ein Gedicht von La Fontaine zitiert:

«Le premier qui vit un chameau
S’enfuit à cet objet nouveau ;
Le second approcha ; le troisième osa faire
Un licou pour le dromadaire.»

Mehr als zehn Jahre später, 1858, arbeitete man in Neuenburg an einer neuen Verfassung. Der Liberale Jules Philippin schlug im Verfassungsrat das Proporzsystem vor. Auch dieser Vorschlag wurde abgelehnt, unter anderem mit der Begründung, der Proporz sei noch zu wenig erprobt.[6]

Ein Gewaltausbruch als Katalysator

Im Kanton Genf brauchte es eine Gewalteskalation, bevor die Verhältniswahl wieder auf die Tagesordnung kam. 1864 wuchsen die Spannungen zwischen den regierenden Radikalen um James Fazy und den oppositionellen Unabhängigen. Als Fazy am 22. August im Rennen um einen Sitz in der Regierung überraschend gegen den Unabhängigen Chenevière verlor, erklärte die regierungstreue Wahlkommission das Ergebnis für ungültig, worauf ein gewalttätiger Aufstand gegen das Regime ausbrauch. Erst nach der Intervention eidgenössischer Truppen beruhigte sich die Lage.

Ernest Naville

Ernest Naville. (Bild: Bibliothèque de Genève)

Der Schock der blutigen Ereignisse traf auch Ernest Naville. Der konservative Philosoph und Theologe begann darüber nachzudenken, wie die verheerenden Konflikte, die den Kanton erschütterten, entschärft werden könnten. Er kam zum Schluss, dass ein Grund in der Machtkonzentration durch das Wahlsystem lag, das Wahlen statt einer Abfrage der Meinungen der Bevölkerung zu einem Kampf um alles oder nichts machte. Die Lösung, war er überzeugt, konnte nur eine Reform des Wahlsystems sein. Ein halbes Jahr später gründete Naville die Association Réformiste, die sich der Werbung und Einführung des Proporz verschrieb. Innert weniger Monate zählte die Vereinigung 900 Mitglieder.[7]

Die Proporzbefürworter standen jedoch vor einem Problem: Welches Verfahren sollten sie eigentlich befürworten? Die theoretischen Arbeiten der Wissenschaft waren noch wenig fortgeschritten, und praktische Erfahrungen zu den Auswirkungen verschiedener Systeme fehlten weitgehend. Zunächst befürwortete Naville das vom Engländer Thomas Hare entwickelte Verfahren der Single Transferable Vote. Dieses verbessert zwar die Chancen von Minderheiten, ist seiner Natur nach aber immer noch ein Mehrheitswahlverfahren. Das gleiche gilt für die Vote limité, die in Genf ebenfalls im Gespräch war. Unter diesem System stehen den Wählern weniger Stimmen zur Verfügung, als im Wahlkreis Sitze zu vergeben sind (z.B. vier in einem Sechserwahlkreis), was Minderheitsparteien die Repräsentation erleichtert.

Schliesslich legte sich die Association Réformiste auf den Listenproporz fest. Allerdings kannte man damals noch kein Verfahren, bei dem der Wähler gleichzeitig zwischen Listen und zwischen einzelnen Kandidaten hätte wählen können. Es sollte bis 1882 dauern, bis ein solches, basierend auf den Vorarbeiten des Genfer Apothekers Antoine Morin entwickelt wurde.

Davon abgesehen war der Proporz nach wie vor in der Praxis kaum erprobt. Niemand wagte es, das Kamel zu besteigen, bevor er gesehen hatte, dass es sich reiten lässt.

Widerwilliger Namensgeber

Eduard Hagenbach-Bischoff

Eduard Hagenbach-Bischoff. (Bild: Wikipedia)

Doch Naville gewann immer mehr Mitstreiter, auch in anderen Kantonen. In Zürich setzte sich Karl Bürkli – wie Considerant Frühsozialist und Anhänger der Ideen Fouriers – neben der direkten Demokratie auch für den Proporz ein. In Basel wurde der Mathematikprofessor Eduard Hagenbach-Bischoff auf die Idee aufmerksam. Und: Er fand auch ein geeignetes Verfahren für die Verteilung der Sitze auf die Parteien. Dieses Verfahren, das der belgische Jurist Victor D’Hondt entwickelt hatte, teilt die Sitze zu, indem die gesamte Stimmenzahl (in einem Wahlkreis) durch das Total der Sitze geteilt wird und jede Partei so viele Sitze erhält, wie der so ermittelte Divisor in ihrer Stimmenzahl Platz hat (die Sitzzahl wird somit abgerundet). Der wissenschaftliche Name für dieses System ist «Divisorverfahren mit Abrunden».

Hagenbach-Bischoff entwickelte eine eigene Berechnungsmethode, die im Ergebnis zur gleichen Verteilung der Sitze gemäss «D’Hondt» führt. Bis heute trägt D’Hondts Verfahren daher in der Schweiz den Namen Hagenbach-Bischoffs, obwohl der Mathematiker sich Zeit seines Lebens dagegen wehrte.[8]

D’Hondt, Hagenbach-Bischoff und Naville waren nicht die einzigen in Europa, die sich intensiv mit der proportionalen Repräsentation und Ansätzen zu ihrer Umsetzung beschäftigten. Der internationale Austausch nahm zu und fand seinen Höhepunkt in einer Konferenz 1885 in Antwerpen. An dieser einigte man sich auf eine gemeinsame Erklärung, die D’Hondts Verfahren explizit zur Anwendung empfahl.[9]

Hagenbach-Bischoff-Liste

Das Hagenbach-Bischoff-Verfahren in der Praxis mit Hagenbach-Bischoff als Kandidaten (dreifach vorkumuliert): Proporzliste der Liberalen für die Grossratswahlen Basel-Stadt 1908 (Quelle: Emil Klöti [1909]: Die Texte der schweizerischen Verhältniswahl-Gesetze).

Auch in der Schweiz legten sich die Vorkämpfer für ein neues Wahlsystem bald auf dieses Modell fest – obwohl (oder weil?) D’Hondts System nicht neutral ist, sondern tendenziell grosse Parteien bevorzugt. (Eine faire Variante ist das Divisorverfahren mit Standardrundung, das der US-Amerikaner Daniel Webster entwickelt hatte und der französische Mathematiker André Sainte-Laguë später wissenschaftlich begründete.)

Die lateinische Schweiz war federführend

Hagenbach-Bischoff, der selbst für die Liberalen im Grossen Rat sass, setzte viel daran, der Öffentlichkeit zu demonstrieren, dass der Proporz mehr war als ein theoretisches, nicht praxiserprobtes Konstrukt. Er führte vor allem mit seinen Studenten zahlreiche Versuchswahlen durch, mit welcher er die Praktikabilität seines Verfahrens untermauerte.[10]

Der Härtetest sollte 1891 folgen, als im Tessin der Proporz eingeführt wurde – eine weltweite Premiere. (Das erste Land, das die Verhältniswahl auf nationaler Ebene anwandte, war 1899 Belgien.) Bekanntermassen waren es auch hier gewalttätige Konflikte, die zu einem Umdenken führten. Neuenburg folgte noch im gleichen Jahr, Genf 1892.

Auffallend ist, dass die Proporzwelle in den lateinischen Kantonen ihren Anfang nahm und dann in die Deutschschweiz überschwappte, während die andere grosse demokratische Innovation des 19. Jahrhunderts, die Volksrechte in Gestalt von Initiative und Referendum, den umgekehrten Weg ging. Interessanterweise gab es innerhalb der Zürcher Demokraten in den 1860er Jahren Überlegungen, die Einführung des Proporz zu fordern; die Partei entschied sich aber schliesslich, ihren Fokus auf die direkte Demokratie zu legen.[11]

Der erste Deutschschweizer Kanton, der zum Proporz wechselte, war 1895 Solothurn. In Basel-Stadt war 1897 zwar eine Volksinitiative für die Verhältniswahl angenommen worden, allerdings war diese als allgemeine Anregung formuliert gewesen und die gesetzliche Umsetzung scheiterte in der Volksabstimmung (wohl vor allem, weil gleichzeitig der Stimmzwang hätte eingeführt werden sollen). Erst 1905 wechselte Basel endgültig ins Proporzlager.

Weder Considerant noch Naville und Hagenbach-Bischoff war es vergönnt, den Durchbruch des Proporz auf nationaler Ebene vor 100 Jahren noch zu erleben. Immerhin sollte Considerant mit seiner Prophezeiung recht behalten: Die Stimmbürger hatten dem Kamel ein Halfter angelegt.

 


[1] Dass das vermeintlich einfache System ziemlich tückisch werden kann, sobald mehr als zwei Kandidaten bzw. Optionen im Spiel sind, zeigte sich schon bald und wurde von Marquis de Condorcet theoretisch hergeleitet. Vgl. George Szpiro (2011): Die verflixte Mathematik der Demokratie, Kapitel 6.

[2] Mirabeau wollte die drei Stände indes in der Versammlung bestehen lassen; auch dachte er in keiner Weise an eine chancengleiche Abbildung aller Bürger und ihrer Meinungen (Andrea Töndury [2017]: Toleranz als Grundlage politischer Chancengleichheit, S. 473).

[3] Töndury 2017, S. 478 f.

[4] Victor Considerant (1846): De la Sincérité du Gouvernement Représentatif ou Exposition de l’Election Véridique. Das konkrete Verfahren, das Considerant vorschlug, war freilich ziemlich umständlich und sah unter anderem zwei Wahltage vor: an einem ersten sollten die Wähler sich für eine section (also eine Partei bzw. Liste) entscheiden, an einem zweiten acht Tage später die Kandidaten nennen, die sie repräsentieren sollten. Darüber, wie die Sitze auf die sections aufgeteilt werden sollten, machte Considerant keine näheren Angaben; er verwendete ein Beispiel, in dem es keine Bruchzahlen gab, und bezeichnete alles weitere als «arithmétique élémentaire». Vgl. Töndury 2017, S. 487 ff.

[5] Zitiert in Alfred Kölz (1992): Neuere Schweizerische Verfassungsgeschichte. Ihre Grundlinien vom Ende der Alten Eidgenossenschaft bis 1848, S. 542.

[6] Alfred Kölz (2004): Neuere Schweizerische Verfassungsgeschichte. Ihre Grundlinien in Bund und Kantonen seit 1848, S. 437.

[7] Dominique Wisler (2008): La démocratie genevoise, S. 84.

[8] Szpiro 2011, S. 189.

[9] Andrew McLaren Carstairs (2010 [1980]): A Short History of Electoral Systems in Western Europe, S. 3.

[10] Kölz 2004, S. 352.

[11] Wisler 2008, S. 95.

Landsgemeinde für Nicht-Landleute

Die Glarner Landsgemeinde ist bekannt als traditionsreiche Urform der Demokratie. Ihre Geschichte, ihre aktuelle Verfassung, die Vorzüge und Nachteile dieser Demokratieform bringt nun Lukas Leuzingers Buch «Ds Wort isch frii» einer breiteren Leserschaft näher.

«Ds Wort isch frii» (176 Seiten, Fr. 36.–) ist 2018 bei NZZ Libro erschienen.

Gäbe es den perfekten Autoren für ein Portrait über die Glarner Landsgemeinde in Buchform, er müsste Glarner Wurzeln haben, aber dennoch den unabhängigen Blick von aussen wahren können. Er müsste Politikwissenschaft studiert haben, der sich als auf Demokratiefragen spezialisierter Journalist einen gut verständlichen Schreibstil angeeignet hat. – Lukas Leuzinger (südlich des Linthkanals ausgesprochen als «Lüüziger»), Chefredaktor dieses Blogs, ist ein solcher Autor.[*]

Leuzinger hat während grob eines Jahres in und um Glarus recherchiert und sich der Urinstitution Landsgemeinde Glarus angenommen. Dieses traditionsreiche und dennoch auf der «roten Liste» der gefährdeten Demokratieformen fungierende Kuriosum ist schliesslich nur noch in zwei Kantonen anzutreffen, nebst Glarus noch in Appenzell Innerrhoden. Höchste Zeit, dass der Glarner Landsgemeinde eine Veröffentlichung gewidmet wird, die sich insbesondere an ein breiteres Publikum richtet und damit eine echte Lücke schliesst.

Wie bereits dem Untertitel zu entnehmen, gliedert sich das Buch in die drei Teile Geschichte, Gegenwart und Zukunft. Um auf die Entstehung dieser Institution zurückblicken zu können, muss im umfangreichsten ersten Teil (Die Geschichte der Landsgemeinde) ziemlich weit zurückgeblättert werden, ins Jahr 1387 nämlich, in welchem die Glarner Landsgemeinde erstmals dokumentiert ist. Damals wurde nicht über ein Radroutengesetz oder die Finanzierung des Hochwasserschutzes «gemehrt und gemindert» (wie an der diesjährigen Landsgemeinde), sondern über Leben und Tod gerichtet (Blutgerichtsbarkeit), über Krieg und Frieden befunden.

Landsgemeinde als Antithese zur Demokratiekrise

Leuzinger ist sichtlich gelegen, nicht nur die Eckpfeiler der über 600-jährigen Geschichte der Landsgemeinde zu rekapitulieren, sondern die Institution, den Kanton Glarus, sein Volk und auch die Eidgenossenschaft in den jeweiligen geschichtlichen Kontext zu setzen, um ebendieses Demokratiemodell mit ihren Vorzügen und Nachteilen einordnen und nachvollziehen zu können. Wer hätte so gedacht, dass es in Glarus bis ins 19. Jahrhundert beispielsweise gleich mehrere parallele Landsgemeinden gab? Im Kontext der Glaubensspaltung, die andernort gar zu Krieg und Kantonstrennungen führte, ist nachvollziehbar, dass es in Glarus eine protestantische und eine katholische Landsgemeinde gab. – Der Autor hätte den historischen Teil durchaus noch ausbauen und insbesondere dem interessierten Leser ein paar weitere umstrittene Landsgemeinde-Traktanden oder Wahlen näher bringen dürfen.

Im zweiten Teil (Die Landsgemeinde heute: Demokratisches Vorbild oder undemokratisches Kuriosum?) schaut Leuzinger zunächst weit über den «Zigerschlitz» hinaus, indem er auf die gegenwärtige weltweite «Krise der Demokratie» eingeht und die Landsgemeinde quasi als Antithese gegenüberstellt. Schliesslich – Wie die Landsgemeinde funktioniert – wird auf die eigentlichen Befugnisse und Verfahren der Portraitierten eingegangen. Leuzinger hält wenig vom Traditionalismus und Pomp rund um die jahrhundertealte Institution. Er hebt demgegenüber besonderes zwei funktionale Aspekte hervor: Das Rederecht und das Antragsrecht.

Wer sein Anliegen sachlich, kurz und klar vorbringt, kann mit einer Rede den Ausschlag für ein Ja oder Nein geben. Die Unvorhersehbarkeit macht den Reiz der Landsgemeinde aus. Natürlich haben Glarner ebenso wie Stimmbürger in anderen Kantonen mehr oder weniger gefestigte Ansichten und werden durch Parteiparolen oder eigene Vorurteile beeinflusst. Der Unterschied zum Urnensystem besteht darin, dass die Landsgemeinde einen zusätzlichen Kanal für die Meinungsbildung darstellt. Das Besondere an diesem Kanal ist, dass er im Vergleich zu anderen sehr ausgeglichen ist: Jeder hat die gleiche Möglichkeit, zu seinen Mitbürgern zu reden und sie von seiner Meinung zu überzeugen. Gleichzeitig ist jeder den Argumenten – jenen der Befürworter ebenso wie jenen der Gegner – in gleichem Masse ausgesetzt.

Das Juwel der Glarner Demokratie ist jedoch das Antragsrecht. Einerseits kann jeder Stimmberechtigte mittels Memorialsantrag – eine Art Volksinitiative, für die bloss eine einzige Unterschrift vonnöten ist – sein individuelles Begehren auf die Traktandenliste setzen. Andererseits können die Teilnehmer sogar noch an der Landsgemeinde selbst spontane Änderungsanträge einbringen. Resultat dieses unmittelbaren Mitwirkungsrechts war beispielsweise die extreme (und rechtswidrige) Gemeindezwangsfusion vor zwölf Jahren, als von den damaligen 25 Gemeinden zur Überraschung aller plötzlich nur noch deren 3 übrig geblieben sind. Mittels Antragsrecht wurden indes zumeist fortschrittliche Lösungen eingebracht und durchgesetzt, so ein Fabrikgesetz 1864 zum Schutz der Arbeiter und Kinder, die Einführung des Frauen- und später des Jugendlichenstimmrechts (ab 16 Jahren).

Das eigentlich Spezielle an der Landsgemeinde ist aber nicht die direkte Demokratie, sondern die tiefe Schwelle zur Mitbestimmung: Jeder einzelne Bürger kann per Antragsrechts Gesetzes- und sogar Verfassungsänderungen vorschlagen, und statt an der Versammlung nur Ja oder Nein zu sagen, kann jeder Teilnehmer Änderungsvorschläge zu traktandierten Vorlagen einbringen. Bezüglich des Zugangs der Bürger zum politischen Prozess ist das Antragsrecht an der Glarner Landsgemeinde sehr radikal. Trotzdem werden die Behörden nicht mit Anträgen überflutet, und die Antragsteller können ihre Anliegen meist vernünftig begründen. Das zeigt: Wenn man den Bürgern Verantwortung überträgt, verhalten sie sich verantwortungsvoll. Betrachtet man sie als störendes Element, werden sie sich auch so verhalten.

Makel der Vorzeigeinstitution

Leuzinger verhehlt aber auch die Nachteile dieser Demokratieform keineswegs, indem er das mangelnde Stimmgeheimnis, die Zählmethode (es wird selbst bei knappen Ergebnissen nicht gezählt, sondern geschätzt) sowie die gegenüber der Urnenwahl erschwerte Zugänglichkeit der Versammlungsdemokratie vorhält. Die Vorzeigeinstitution Glarus’ vermöge nämlich lediglich 20 bis 30 Prozent der Stimmberechtigten an den Zaunplatz zu locken (die Stimmbeteiligung muss unterdessen sogar noch auf durchschnittlich grobe zehn Prozent herunterkorrigiert werden!).

Auszug aus der Fotoreihe in «Ds Wort isch frii».

 

In einem kurzen dritten Teil schliesslich widmet sich Leuzinger der Zukunft der Landsgemeinde. Darin wird beleuchtet, inwiefern sich die Landsgemeinde heute Reformen unterziehen könnte, um einige der genannten Nachteile zu beheben und damit als Institution langfristig vital zu bleiben. Im Vordergrund steht dabei das Hilfsmittel der elektronischen Auszählung. Wie aber bereits so oft in der Vergangenheit, dürfte es auch dieses Landsgemeinde-Update sehr schwer haben. – Das sehr flüssig und spannend geschriebene Buch wird durch eine Fotoreihe und neun Testimonials («Stimmen zur Landsgemeinde») von Glarner Politikern und Bürgerinnen abgerundet.

 


[*] Der Rezensent hat eine frühe Fassung des hier vorgestellten Buchs gegengelesen.

Mit Protest und Revolten zur direkten Demokratie

Die direkte Demokratie ist nicht einfach so gewachsen oder von aussen importiert worden. Sondern das Resultat vieler Auf- und Widerstände. Das ist die These eines neuen Buches, das die «einfachen» Leute ins Zentrum der Demokratiegeschichte stellt.

Publiziert in der «Luzerner Zeitung» und im «St. Galler Tagblatt» am 31. Mai 2017.

Rolf Graber: Demokratie und Revolten.

Die Erinnerung an längst vergangene Schlachten wird in der Schweiz sorgsam gepflegt. Sempach, Murten, Marignano: Seit unserer Schulzeit wissen wir, wie sich die tapferen Eidgenossen verteidigten und ihr Herrschaftsgebiet auszubauen versuchten – mit unterschiedlichem Erfolg. Dagegen wird über die Konflikte innerhalb der Schweiz wenig gesprochen, obschon diese nicht weniger bedeutsam sind. Laut dem Thurgauer Historiker Rolf Graber sind sie sogar dafür verantwortlich, dass wir heute alle vier Monate an die Urne gerufen werden.

In der Geschichtswissenschaft gibt es, vereinfacht gesagt, zwei konkurrierende Erzählungen, wie die moderne (halb-)direkte Demokratie entstanden ist. Einige Forscher vertreten die Ansicht, dass Volksinitiative und Referendum vor allem aus den vormodernen Demokratieformen der Landsgemeinden und Gemeindeversammlungen hervorgingen, die es seit Jahrhunderten gibt.

Eine andere Sichtweise betont den Einfluss aufklärerischer Ideen aus Frankreich und den USA. Mit der Gründung der Helvetischen Republik 1798 wurden in der Schweiz erstmals die Ideen von Freiheit und Gleichheit verankert. Auch die erste schweizweite Volksabstimmung fällt in diese Zeit. Die Republik überlebte nur wenige Jahre, doch die Ideen wurden in der Regenerationszeit der 1830er-Jahre wieder aufgenommen.

Graber relativiert beide Sichtweisen. Für ihn ist moderne Demokratie primär Resultat vieler Widerstandsbewegungen, Protesten und blutigen Revolten. In seinem Buch zeichnet er diese detailliert nach und beschreibt die Akteure dahinter. Zeitlich beginnt er bei der Französischen Revolution 1789, auch wenn es natürlich schon vorher immer wieder Revolten gegen die Machthaber gab.

Graber erklärt die – auch im internationalen Vergleich – unruhige Geschichte damit, dass die Obrigkeiten in den eidgenössischen Orten im Unterschied zu den Fürstenhöfen im Ausland keine stehenden Heere hatten. Für die Niederschlagung der Aufstände seien sie immer auf die Loyalität eines Teils der eigenen Bevölkerung angewiesen gewesen, was diese zum Widerstand ermuntert habe.

Als in Frankreich die Revolution ausbrach, waren in fast allen Kantonen aristokratische Regime an der Macht. Sogar in den Landsgemeindeorten, wo die Bürger theoretisch sehr weitgehende Mitbestimmungsrechte besassen, hatten sich Herrschaften weniger Familien gebildet, die sich vom Rest der Bevölkerung abkapselten und die Macht monopolisierten. Grosse Teile der heutigen Schweiz waren zudem Untertanengebiete, die von anderen Orten unterdrückt wurden.

Kein Wunder, brodelte es, und die revolutionären Ideen aus Frankreich wirkten wie ein Funken, der auf das Pulverfass Schweiz zuflog. In St. Gallen, Zürich, Basel und anderen Kantonen erhoben sich Bauern, Handwerker und Angehörige des städtischen Bürgertums gegen die aristokratischen Regierungen.

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Am 22. November 1830 versammelte sich in Uster die Zürcher Landbevölkerung, um gegen die Vorherrschaft der Stadt zu protestieren. Die Versammlung, an der rund 30’000 Menschen teilnahmen, ging als «Ustertag» in die Geschichte ein. (Bild: ZB Zürich)

 

Graber zeigt auf, wie sich die neuen Ideen von Freiheit und Gleichheit mit dem Ideal der Landsgemeinde-Demokratie vermischte. Das Ziel der Revolutionäre war die Etablierung eigener Landsgemeinden, an denen sie ihre Regierung selber wählen konnten. Allerdings besassen auch die Landsgemeindeorte Untertanengebiete. Die Oppositionellen beriefen sich deshalb in Petitionen und Flugblättern auf aufklärerische Ideen und forderten gleiche Rechte gegenüber ihren Herren. Vielerorts entstanden 1798, kurz bevor die Franzosen in die Schweiz einmarschierten, unabhängige Staaten mit Landsgemeinde-Verfassungen – acht allein im Kanton St. Gallen. Jedoch wurden diese mit der zentralistischen Verfassung der Helvetik sogleich wieder abgeschafft.

Die Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen

Das revolutionäre Potenzial blieb allerdings bestehen. In den 1830er-Jahren brach es vielerorts wieder auf, als breite Bevölkerungsschichten, angeführt von den Liberalen, gegen ihre Regierungen opponierten. So am 22. November 1830, als in Uster 30’000 Bürger der Zürcher Landschaft gegen die Benachteiligung gegenüber der Stadt protestierten. Die ersten Vorformen des Referendums und der Initiative entstanden damals – wobei die Hürden zunächst sehr hoch angesetzt wurden. Man wollte nicht, dass das Volk zu viel dreinredete.

Später wurden die liberalen Eliten selber Ziel von Protesten, insbesondere in der Anfangszeit des 1848 gegründeten Bundesstaats, als die Bewegung in vielen Kantonen mehr direkte Demokratie forderte. Die Reformen, die sie den liberalen Eliten abtrotzte, beeinflussten auch die Entwicklung auf Bundesebene, wo 1874 das fakultative Referendum und 1891 die Volksinitiative auf Teilrevision der Verfassung eingeführt wurden.

Auffallend ist, dass die Forderungen nach direkter Demokratie oft mit anderen Anliegen verknüpft wurden – insbesondere materiellen. Offenbar erhofften sich insbesondere die Unterschichten von den neuen Mitbestimmungsrechten auch eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen, sei es durch Interventionen des Staates in die Wirtschaft oder durch eine Reduktion der Steuerbelastung.

Vorläufer der Populisten?

Die Träger der Bewegungen stammten oft selbst aus der Mittel- oder Unterschicht. Vielfach waren es charismatische Führungsfiguren, die die einfache Bevölkerung direkt ansprachen und sich zu Advokaten des «Volkes» gegen die «Herren» aufschwangen. In ihrer politischen Rhetorik nahmen sie laut Graber Argumentationsfiguren des modernen Populismus vorweg, auch wenn der Historiker die Übertragung dieses Begriffs auf die Demokratiebewegungen des 19. Jahrhunderts für problematisch hält.

Neben dem Widerstand zur Zeit der Französischen Revolution, der Regenerationszeit und der Anfangszeit des Bundesstaats befasst sich Graber auch mit der Zeit danach – etwa dem Widerstand gegen die Vollmachtenregime während der beiden Weltkriege. Dies allerdings nur überblicksartig. Entsprechend fehlt dem Buch dort etwas die Tiefe.

Dennoch bietet Grabers Werk einen lehrreichen Einblick in die unruhige, von Umbrüchen und Rückschlägen geprägte Entstehungsgeschichte der direkten Demokratie in der Schweiz. Der Fokus auf Widerstände von unten bietet eine ungewohnte Perspektive. Und die detailbewussten Schilderungen verleihen dem Buch eine Spannung, die es auch für Nicht-Historiker lesenswert macht.

 

Rolf Graber: Demokratie und Revolten. Chronos, 232 Seiten, ca. Fr. 42.–.

Kämpfer zwischen zwei Fronten

Logo_Serie_TrouvaillenDer vor 200 Jahren geborene Philipp Anton von Segesser wurde als konservativer Oppositionsführer im jungen Bundesstaat bekannt. Doch die Rolle des Luzerners war komplexer.

Publiziert in der «Zentralschweiz am Sonntag» am 16. April 2017.

Geschichte, heisst es, wird von den Siegern geschrieben. So gesehen, war die Aufgabe Philipp Anton von Segessers, des ersten wichtigen Oppositionsführers im schweizerischen Bundesstaat, keine sehr dankbare. Doch die Karriere des Luzerner Politikers zeigt, dass Verlierer manchmal eine mindestens so wichtige Rolle spielen für den weiteren Verlauf der Geschichte wie die Sieger.

Der vor 200 Jahren, am 5. April 1817, geborene Segesser war von seiner Herkunft aus einem alten Luzerner Patriziergeschlecht geprägt. Er studierte Rechtswissenschaften in Deutschland und hielt sich in Paris auf. Zurück in Luzern, trat er 1841 als stellvertretender Staatsschreiber in den Dienst der konservativen Regierung, die gerade an die Macht gekommen war. Deren Ziele unterstützte er zwar, nicht aber ihr Vorgehen. Die Berufung der Jesuiten an die höhere Lehranstalt in Luzern 1845 kritisierte er als «politischen Fehler», weil sie die Liberalen aus seiner Sicht unnötig provozierte. Die Provokation trug zur Verhärtung der Fronten im Konflikt zwischen Freisinnigen und Katholisch-Konservativen bei, die im Sonderbundskrieg 1847 gipfelte.

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Philipp Anton von Segesser.

Den Bürgerkrieg erlebte Segesser als Offizier mit. Der Sieg der Liberalen, der zur Gründung des Bundesstaats führte, war für den Luzerner eine schwere Niederlage. Nichtsdestotrotz schaffte er als einer der wenigen Katholisch-Konservativen den Sprung in den Nationalrat, der 1848 erstmals gewählt wurde. «Segesser war kein Freund des Bundesstaats, aber er sah es als sinnlos an, ihn zu bekämpfen», sagt die Luzerner Historikerin Heidi Bossard-Borner. Er verwendete fortan seine Energie darauf, innerhalb des neuen Staats die Interessen seines Kantons und der katholischen Minderheit zu vertreten und den Einfluss «Berns» so gering wie möglich zu halten.

Überzeugter Föderalist

In Erinnerung blieb Segesser als konservativer Oppositionsführer, als Gegenspieler des einflussreichen Zürcher Unternehmers und Nationalrats Alfred Escher. Dieser setzte sich für eine starke Rolle des Bundesstaats unter anderem beim Bau des Gotthardtunnels ein – ein Vorhaben, das der überzeugte Föderalist Segesser bis zum Schluss bekämpfte, weil er fürchtete, dass das Projekt das Gewicht des Bundes zu Lasten der Kantone stärken würde.

Um die Freisinnigen politisch zu schwächen, schreckten die Konservativen um Segesser auch vor antisemitischen Kampagnen nicht zurück. 1866 kamen zwei Verfassungsänderungen an die Urne, mit denen Juden bei der Religions- und Niederlassungsfreiheit den christlichen Schweizern gleichgestellt werden sollten. Während die Stimmberechtigten der Niederlassungsfreiheit mehrheitlich zustimmten, lehnten sie die Religionsfreiheit für die Juden knapp ab. In den katholischen Kantonen war die Ablehnung beider Vorlagen stärker als im Rest der Schweiz. Im Vorfeld der Abstimmung hatte Segesser gewarnt, die Juden verfolgten das Ziel der «Zerstörung der christlichen Gesellschaft», und forderte die Ablehnung der «Judenartikel». Der Zuger Historiker Josef Lang erklärt, dass Segesser im Kampf gegen die Judenemanzipation nicht zuletzt ein nützliches Mittel sah, um die Liberalen zu schädigen.

Scharfe Worte gegen die Liberalen

Obwohl Segesser an seiner katholisch-konservativen Haltung nie einen Zweifel liess, war er kein sturer Ideologe. Zwar schenkte er seinen Gegnern im Nationalrat nichts. Als bei der Revision der Bundesverfassung 1871 sein Antrag, die freie Ausübung des Glaubens auf die christlichen Konfessionen zu beschränken, auf freisinnigen Widerstand stiess, spottete er über seine Gegner und schlug ihnen vor, wenn sie sich des Christentums schämten, sollten sie das Kreuz im Wappen durch eine Wurst ersetzen.

So angriffslustig Segesser sein konnte: Persönlich pflegte er enge Freundschaften über das eigene Lager hinaus. Die konfrontative Haltung vieler Konservativer teilte er nicht. Ihm war bewusst, dass Freisinnige und Konservative einen Weg für ein friedliches Zusammenleben im Bundesstaat finden mussten. Mit dem Aufflammen des Kulturkampfs wurde dieser Weg jedoch immer steiniger. Das Erste Vatikanische Konzil (1869–1870) steuerte die katholische Kirche auf einen prononciert antiliberalen und anti-aufklärerischen Kurs. Segesser, im Nationalrat ein unermüdlicher Kämpfer für die katholische Sache, stand dieser Entwicklung kritisch gegenüber. Er war in kirchenrechtlichen Fragen eher liberal eingestellt. So übte er in seiner Schrift «Der Culturkampf» von 1875 deutliche Kritik am Ersten Vatikanischen Konzil und insbesondere am Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit. Damit machte er sich in katholischen Kreisen viele Feinde.

Sonderbundskrieg als Warnung

Segesser betätigte sich auch als Rechtshistoriker und schrieb unter anderem ein einflussreiches Werk über die Rechtsgeschichte des Kantons Luzern. Seine politische Aktivität beschränkte sich nicht nur auf den Nationalrat, dem er 40 Jahre lang angehörte. Er war daneben auch Grossrat und sass über 20 Jahre in der Luzerner Regierung. Dabei lebte er die Machtteilung, die er auf Bundesebene einforderte, auf kantonaler Ebene vor. Er setzte sich 1871 dafür ein, dass die Konservativen den Liberalen drei Sitze im Regierungsrat zugestanden. Segesser habe den Kulturkampf als grosse Gefahr gesehen, sagt Bossard-Borner: «Er befürchtete eine Wiederholung der Situation, die zum Sonderbundskrieg geführt hatte.»

Und er wusste, dass die Radikalisierung auf katholischer Seite jenen Freisinnigen in die Hände spielte, die die Katholiken ausgrenzen wollten – so geschehen mit den konfessionellen Ausnahmeartikeln (unter anderem Klosterverbot und Jesuitenverbot) in der revidierten Bundesverfassung von 1874.

Als moderater, pragmatisch denkender Konservativer kämpfte Segesser in den unruhigen Anfangszeiten des Bundesstaats an zwei Fronten: einerseits gegen die Erzkonservativen innerhalb der katholischen Konfession, andererseits gegen den wachsenden Einfluss des Bundesstaats und für die politische Integration der Katholiken in eben jenen Staat. Deren ersten Höhepunkt erlebte er jedoch nicht mehr: 1891, drei Jahre nach Segessers Tod, wurde mit seinem Luzerner Gesinnungsgenossen Josef Zemp der erste Katholisch-Konservative in den Bundesrat gewählt.

 

Dieser Beitrag ist Teil der Serie «Trouvaillen aus den Anfängen des Bundesstaats». Bereits publiziert: