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Rezension: Andreas Glaser (Hrsg.) – Das Parlamentswahlrecht der Kantone

«Das Parlamentswahlrecht der Kantone», herausgegeben von Staatsrechtler Andreas Glaser, zeigt die Vielfalt und die Probleme der Wahlsysteme der kantonalen Parlamente auf. Eine Rezension.

Publiziert in der Zeitschrift «LeGes – Gesetzgebung & Evaluation», 30 (2019) 2.

Das Wahlrecht der Schweizer Kantonsparlamente war im 20. Jahrhundert, nachdem die meisten Kantone vom Mehrheitswahl- zum Verhältniswahlverfahren gewechselt hatten, durch grosse Stabilität geprägt. In den letzten zwei, drei Jahrzehnten gab es jedoch einige Reformwellen, die auch die kantonalen Parlamente respektive ihre Wahlverfahren nicht unberührt gelassen haben. So die Totalrevisionen diverser Kantonsverfassungen, territoriale Reformen, die Verkleinerung der Legislativen und schliesslich eine Reihe von höchstrichterlichen Urteilen zu den kantonalen Wahlsystemen.

Die aktuelle Zwischenpause nutzen Staatsrechtsprofessor Andreas Glaser und neun weitere Autorinnen und Autoren aus dem Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA), um eine längst überfällige, systematische Gesamtschau über das Parlamentswahlrecht der Schweizer Kantone vorzulegen.

Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Wahlsysteme der Kantone (§ 1)

Im Einführungskapitel erläutert Nagihan Musliu die bundesrechtlichen Vorgaben an die Wahlsysteme der Kantone. Zwar sind die Kantone in der Ausgestaltung des Wahlsystems für ihr Parlament frei (Art. 39 Abs. 1 BV); einige grundlegende bundesrechtliche Anforderungen müssen sie aber dennoch erfüllen. Nebst dem Demokratiegebot (Art. 51 Abs. 1 BV) ist vor allem die Wahlrechtsgleichheit (Art. 34 BV) einschlägig, die das Bundesgericht in den letzten Dekaden zu diversen Aspekten konkretisiert hat. In diesem Kapitel wird denn hauptsächlich (leider eher unkritisch) die bundesgerichtliche Rechtsprechung zu Fragen des kantonalen Wahlrechts resümiert.

Hierzu streift Musliu die bekannten und vielzitierten Bundesgerichtsentscheide, die seit 2002 die Kantone Zürich, Aargau, Zug, Nidwalden, Schwyz und Wallis zum nicht immer beliebten doppeltproportionalen Wahlverfahren geführt haben. In diesen Kantonen waren die Wahlkreise vormals zu klein und damit das natürliche Quorum für ein Parlamentsmandat zu hoch, genauer: Es lag in diversen Wahlkreisen bei einem Wähleranteil von über 10 Prozent, womit auch etablierten Parteien und ihrer Wählerschaft die parlamentarische Repräsentation verwehrt wurde (ein wichtiger Entscheid wurde übersehen, der bereits 1993 die Wahlkreisgrössen im Kanton Bern rügte: BGer 1P. 671/1992, 08. Dez.1993, in: ZBl 1994, 479 ff.). Hervorzuheben ist die ältere Rechtsprechung zu Sperrklauseln, die aufzeigt, dass die rote Linie von 10 Prozent nicht einfach vom Himmel gefallen ist. Indem das Bundesgericht sukzessive zu diversen konkreten Sperrklauseln (15 %: unzulässig; 12,4 %: unzulässig; 6,6 %: zulässig) Stellung bezog, konnte es die geltende Limite über Jahrzehnte hinweg dort einpendeln.

Leider lässt das Buch oftmals Querverweise zwischen den einzelnen Kapiteln vermissen. So wird hier zwar ausführlich die Rechtsprechung zu sogenannten indirekten Quoren zitiert (§ 1 II. 2.3 b)), doch weder erfährt man, ob und wo dieses Relikt von Quorum heute noch in Kraft ist, noch wird auf die entsprechende spätere Stelle (TI betreffend, § 5 Rz. 59) verwiesen. – Resümierend wird das Bundesgericht zu recht kritisiert, es wolle zwar die Erfolgswertgleichheit umfassend verwirklichen, schaue aber bei der Repräsentationsgleichheit zu wenig genau hin.

Wahlorgan, Wählbarkeit und Wahlkreise (§ 2)

Im zweiten Kapitel beleuchtet Corsin Bisaz die Zusammensetzung des Wahlorgans (aktives Wahlrecht), das passive Wahlrecht sowie die Einteilung in Wahlkreise. Das Elektorat besteht stets aus den volljährigen Schweizer Bürgerinnen und Bürgern mit Wohnsitz im jeweiligen Kanton (GL: ab 16 Jahren), zu denen mancherorts auch Ausländer oder Auslandschweizer dazustossen. Anschliessend werden die Aspekte Wählbarkeit einer Person, die Unvereinbarkeiten, Eid/Gelübde, Amtszwang, Amtsdauer/Amtsbeschränkung, Ausstand, Stellvertretung, Abberufung und Amtsenthebung in knappster Form dargelegt. Wenig bekannt sein dürfte etwa, dass in einigen Kantonen (SG, TI) auch Schweizer ins Kantonsparlament wählbar sind, die gar nicht im nämlichen Kanton wohnhaft sind. Oder dass die Nicht-Gewählten mit den meisten Stimmen in einigen Parlamenten (GE, GR, JU, NE) als Stellvertreter einspringen können, wenn die ordentlich Gewählten verhindert sind. Gerne hätte man über solcherlei mehr erfahren.

Schliesslich nimmt Bisaz die Wahlkreise und die Sitzzuteilung auf diese unter die Lupe (§ 2 III.). Die Aufteilung des Wahlgebiets in (teilweise auch kleine) Wahlkreise würdigt er positiv, er sieht darin gar eine «föderalistische Funktion». In der Tat fördern Wahlkreise freilich die Verbindung von Repräsentanten und ihrer Wählerschaft; in Kantonen mit tatsächlichen, insbesondere sprachlichen, Minderheiten sind sie essenziell. Umgekehrt werden hier die Vorteile von grösseren Wahlkreisen verkannt: die Wahlfreiheit des Souveräns, gerade auch durch das Verändern der offenen Listen. Zu Recht kritisch beurteilt werden aber auch hier die Sitzgarantien (und insbesondere Vorweg-Verteilungen wie in JU), die selbst Kleinstgemeinden wie Riemenstalden SZ (53 Stimmberechtigte) oder Avers GR (143 Stimmberechtigte) einen eigenen Parlamentssitz ermöglichen und damit die Repräsentationsgleichheit überstrapazieren. Letzteren Wahlkreis hat auch das Bundesgericht kürzlich als «deutlich zu klein» beurteilt und damit faktisch aufgehoben (BGer 1C_495/2017, 29.07.2019, E. 7.3 [Publ. vorges.]).

Kantone mit Proporzwahlverfahren nach Hagenbach-Bischoff (§ 3)

In den folgenden fünf Kapiteln (§§ 3–7) wird nacheinander die Ausgestaltung der Parlamentswahlverfahren aller 26 Kantone betrachtet. Corina Fuhrer kommt zunächst die Aufgabe zu, die elf Kantone mit dem herkömmlichen Proporzwahlsystem Hagenbach-Bischoff (BE, LU, OW, FR, SO, BL, SG, TG, NE, GE, JU) vorzustellen. Dieses Verfahren aus den Anfangstagen des Proporzes ist verzerrend, da es grössere Parteien überproportional begünstigt, was stärker hätte herausgestrichen werden dürfen. – Die Kurzportraits werden in einheitlicher Systematik dargestellt: Einleitend wird kurz auf ein paar historische Eckdaten eingegangen und folgend die aktuellen rechtlichen Grundlagen aufgeführt. Danach werden die jeweiligen Eigenheiten der Wahlsysteme präsentiert, so die Parlamentsgrösse und die Amtsdauer, das aktive und das passive Wahlrecht, die Wahlkreiseinteilung und die Sitzgarantien sowie die etwaige Möglichkeit von Listenverbindungen. Interessant ist etwa, dass das bekannte Kumulieren (mehrfaches Aufführen von Kandidaten) nicht überall erlaubt ist (so in FR, GE, NE).

Nebst dem rechtlich-deskriptiven Steckbrief untersucht Fuhrer auch empirisch je die letzten paar Wahlen und listet die Sitzzahlen der Wahlkreise und die jeweilige Höhe der natürlichen Quoren auf. Letztere Berechnung wirkt indes gekünstelt, wo Sperrklauseln (wie etwa in GE: 7 %) über dem natürlichen Quorum liegen und Letztere damit irrelevant sind. – Die elf Unterkapitel werden jeweils mit einer Einschätzung zur Verfassungskonformität abgeschlossen. Das Fazit ist hier eindeutig – und der Autorin ist dabei zuzustimmen: Abgesehen von Obwalden, dessen Wahlkreise mehrheitlich zu klein und damit verfassungswidrig sind, haben die verbleibenden Hagenbach-Bischoff -Kantone ein rechtmässiges Wahlsystem.

Kantone mit doppeltproportionalem Sitzzuteilungsverfahren (§ 4)

Die sieben Kantone, die ihr Kantonsparlament im modernsten Wahlverfahren Doppelproporz bestellen (ZH, AG, SH, NW, ZG, SZ, VS), werden von Julian-Ivan Beriger beschrieben. Die systematische Darstellung der jeweiligen Eckdaten – vom Anlass des Systemwechsels über die rechtlichen Grundlagen bis hin zu kantonalen Spezialitäten – wird auch in diesem Kapitel beibehalten. Dieses ist bedauerlicherweise mit vielen Unzulänglichkeiten gespickt: Da werden beiläufig wichtige Begriffe wie «Wählerzahl» oder «Kantonswahlschlüssel» erwähnt, ohne sie jedoch zu erklären, geschweige denn konkrete Beispiele darzulegen – obschon diese Zahlen für das Verständnis des doppeltproportionalen Wahlsystems wichtige Konzepte darstellen. Die mathematischen Formeln zur Berechnung des natürlichen Quorums sind nicht nur falsch, sondern in der Mehrheit der Kantone geradezu irrelevant, da sie dort von gesetzlichen Mindestquoren verdrängt werden. Es wird behauptet, Listenverbindungen seien «systemfremd» (zumindest innerhalb von Parteien wären solche sehr wohl sinnvoll und implementierbar), und es wird vorgebracht, der Doppelproporz werde in den Kantonsverfassungen festgeschrieben (es wird regelmässig nur das Verhältniswahlverfahren mit wahlkreisübergreifendem Ausgleich vorgegeben, was auch andere Wahlsysteme wie Wahlkreisverbände ermöglichen würde).

Offensichtlich hat sich der Autor bisher nie mit Sitzzuteilungsverfahren beschäftigt. Dies kommt dadurch zum Ausdruck, dass wichtige Publikationen (etwa Friedrich Pukelsheim, Proportional Representation – Apportionment Methods and Their Applications, Cham 2017) unerwähnt bleiben, und mathematische Literatur fehlt komplett. Daher kann es nicht erstaunen, dass Berigers Würdigung des Doppelproporzes vernichtend ausfällt: Er problematisiert insbesondere den wahlkreisübergreifenden Ausgleich, also just die Raison d’Être dieses Wahlsystems, das letztlich Wählern selbst in kleinen Wahlkreisen erlaubt, erfolgswertgleich zu wählen. Auf fast einer ganzen Seite breitet der Autor sodann empirische Beispiele von gegenläufigen Sitzverschiebungen aus, unterschlägt dabei aber, dass solche Anomalien ebenso in anderen Wahlsystemen vorkommen (etwa im sehr verbreiteten Hagenbach-Bischoff mit Listenverbindungen oder in Wahlkreisverbänden). Als Reformidee wird schliesslich unverständlicherweise die Einführung eines Grabenwahlsystems vorgeschlagen, das in den kleineren Wahlkreisen den Majorz vorsieht. Umgekehrt verschliesst Beriger die Augen vor effektiven Problemen, etwa den verbreiteten Mindestquoren in den Doppelproporz-Kantonen. Insbesondere im Kanton Zürich muss dieses als (kantonal-)verfassungswidrig bezeichnet werden (Tobias Jaag, Kommentar BGer 1C_369/2014, ZBl 2015, 85 ff.).

Kantone mit sonstigen Proporzwahlverfahren (§ 5)

In einem weiteren Kapitel bearbeitet Beriger die vier «Kantone mit sonstigen Proporzwahlverfahren». Dies sind zum einen Basel-Stadt und Glarus, die unlängst auf das Zuteilungsverfahren Sainte-Laguë (Divisorverfahren mit Standardrundung) gewechselt haben, zum anderen Waadt und Tessin, die gemäss Restzahlverfahren Hare/Niemeyer die Mandate verteilen. Beide Verfahren zeitigen meistens die gleichen Resultate und gelten grundsätzlich als fair, da sie weder grosse noch kleine Parteien systematisch begünstigen. Abgesehen von dieser Gemeinsamkeit unterscheiden sich die vier Kantone in wesentlichen Parametern: In Glarus wird seit der Grossfusion in hinreichend grossen Wahlkreisen gewählt, im Sinne des Traditionsanschlusses sind die (sinnvollen) Listenverbindungen weiterhin erlaubt. In Basel herrscht demgegenüber die schweizweit grösste Spannbreite der Wahlkreisgrössen: Während Grossbasel West 34 Sitze hält, liegt für die Gemeinde Bettingen nur ein einziger Sitz drin. Dass der dortige Grossrat im eher heiklen (und für ein Kantonsparlament schweizweit einmaligen) Verfahren First-past-the-post (ein Wahlgang mit relativem Mehr) gewählt wird, wird nicht erwähnt.

Die elektorale Spezialität des Kantons Waadt sind die Wahlkreisverbände. Anschaulich erklärt werden sie jedoch nicht, es geht nicht einmal hervor, auf welcher Ebene (Wahlkreise oder Unterwahlkreise?) die Kandidatinnen und Kandidaten gewählt werden. Der Autor versteigt sich sogar zur Empfehlung, diese undurchsichtigen Konstrukte als Ersatz für den Doppelproporz (NW, ZG, SZ) einzuführen. Abgesehen davon, dass diese das Stimmvolk etwa in Nidwalden explizit und klar abgelehnt hat: Just in Wahlkreisverbänden werden Mandate tatsächlich zwischen den Wahlkreisen hin- und hergeschoben. Was also im «Pukelsheim» nicht hinnehmbar sein soll, findet der Autor hier «aus verfassungsrechtlicher Sicht unproblematisch».

Derlei Probleme sind im Tessin inexistent, der keine Wahlkreise, sondern einen einzigen Einheitswahlkreis kennt. Eine freiwillige Regionalisierung innerhalb der Parteilisten ist aber möglich, sofern die Parteien dies wünschen (zu dieser spannenden Eigenheit werden leider keine empirischen Daten dargelegt). Eine weitere interessante Anomalie: Der Südkanton kennt kein allgemeines Auslandschweizerstimmrecht, sondern quasi ein Auslandtessinerstimmrecht, da dieses nur im Ausland wohnhafte Personen mit Tessiner Bürgerrecht miteinschliesst (und auch für Wahlen gilt). Der Kanton, der 1890 als erster die Proporzwahl einführte, krankt jedoch an einem anderen, schwerwiegenden Mangel: Das Restzahlverfahren Hare/Niemeyer wird nicht in Reinform berechnet, sondern enthält ein verstecktes, verzerrendes Quorum («indirektes Quorum»). Einerseits eliminiert dieses Listen, die weniger als 1,11 Prozent Wähleranteil haben, was legitim erscheint. Andererseits begünstigt das mathematisch unzulängliche Verfahren systematisch Kleinparteien, die diese Hürde erreicht haben; aufgrund der fehlerhaften Restsitzverteilung wird ihnen oft ein zusätzliches Mandat «geschenkt». Der Beitrag ignoriert diese grobe Verzerrung.

Kantone mit Mehrheitswahlverfahren (§ 6)

Ein so anspruchsvoller wie hervorragender Beitrag stammt von Marco Ehrat und Julia Eigenmann, welche die beiden Kantone Graubünden und Appenzell Innerrhoden vorstellen, die noch integral das Majorzwahlverfahren anwenden. Anspruchsvoll ist der Beitrag, weil das Wahlsystem dieser beiden Kantone noch nie höchstrichterlich beurteilt worden ist (bis zum Zeitpunkt seiner Erscheinung), die Einschätzung Kenntnisse der lokalen Verhältnisse verlangt und überdies die Lehre zum Majorz eher spärlich gesät ist (zu AI praktisch inexistent). Hervorragend ist das Kapitel, weil die Autoren weit über das deskriptive, positive Recht dieser beiden Bergkantone hinausgehen und stattdessen die Verfassungskonformität des jeweiligen Majorzsystems ausführlich, anhand der Kriterien des Bundesgerichts, herausschälen (Parteizugehörigkeit/Persönlichkeitswahl, Autonomie der Wahlkreise, geringe Bevölkerungszahl der Gemeinden, Besonderheiten). Hierfür werden die jeweiligen politischen, historischen, soziokulturellen, geografischen, sprachlichen und föderalistischen Ausprägungen der Wahlkreise respektive des Elektorats betrachtet.

Die Schlüsse, die Ehrat/Eigenmann daraus ziehen, sind so deutlich wie verschieden: In Graubünden sind die 39 (Wahl-)Kreise nicht nur äusserst unterschiedlich gross und teilweise sehr klein (Wahlkreis Avers: 160 Einwohner; Chur: 27 955), sie stellen nach der Gebietsreform per 2015 auch Entitäten dar, denen nunmehr keine andere Funktion mehr zukommt. Im Rahmen der diversen Gemeindefusionen erweisen sich die Grenzen der Kreise plötzlich als ziemlich flexibel, und sie werden sogar für Wahlkreismanipulationen missbraucht – «Gerrymandering» in der Surselva! Auch das beliebte Argument, der Majorz schütze die sprachlichen Minoritäten, zerpflücken die Autoren so simpel wie elegant, indem sie aufzeigen, dass die italienischsprachige Bevölkerung zwar 13 Prozent beträgt, die italienischsprachigen Wahlkreise aber nur 8 Prozent aller Grossratssitze stellen. Das Fazit ist unmissverständlich, der Bündner Majorz ist verfassungswidrig. Kürzlich ist das Bundesgericht dieser Kritik gefolgt und hat, mit diversen Verweisen auf diesen Beitrag, eine Beschwerde gegen den Bündner Majorz teilweise gutgeheissen (BGer 1C_495/2017, 29. Juli 2019 [Publ. vorges.]).

In Innerrhoden existieren derweil die Parteien SP und FDP erst seit wenigen Jahren, ja selbst die staatstragende CVP wurde hier erst 1988 gegründet; die Parteizugehörigkeit hat denn tatsächlich eine untergeordnete Bedeutung. Zusammen mit der geringen Bevölkerungszahl der Wahlkreise führt dies dazu, dass die Autoren den Innerrhoder Majorz als weiterhin zulässig erachten. Das Kapitel (und leider nur dieses) wird mit einem tabellarischen Anhang abgerundet, der die Wahlkreise mit den zugehörigen Kennzahlen auflistet.

Kantone mit gemischten Wahlverfahren (§ 7)

Die zwei verbleibenden Kantone Appenzell Ausserrhoden und Uri sind jene mit einem gemischten Wahlsystem Majorz/Proporz; sie werden von Liana Sala portraitiert. Zunächst werden auch hier die beiden Wahlsysteme in knappster Form dargestellt, so insbesondere die Aufteilung des Wahlgebiets in Majorz- und Proporz-Wahlkreise erläutert. Die Wahlkreise entsprechen jeweils den Gemeinden. Erwähnenswert ist in diesen beiden Kleinkantonen die Möglichkeit für Majorzgemeinden, ihre Kantons- bzw. Landräte an Gemeindeversammlungen mit Handmehr wählen zu lassen. Von dieser Option haben je zwei Urner und Ausserrhodener Gemeinden Gebrauch gemacht. Die Autorin weist sodann auf die kleinen Wahlkreisgrössen hin: Die Appenzeller Majorz-Gemeinden weisen durchschnittlich weniger als 2000 Einwohner auf, die zwölf Urner Majorz-Gemeinden haben gar, mit Ausnahme von Andermatt, weniger als 1000 Einwohner.

Die zwei letzten Bundesgerichtsentscheide zu kantonalen Wahlverfahren betrafen just diese beiden Kantone – die höchstrichterlichen Erwägungen nehmen denn auch den Hauptteil dieses Kapitels ein. Zunächst hält das Bundesgericht die grundsätzliche Zulässigkeit von Mischsystemen fest, die Unterteilung in Majorz- und Proporz-Wahlkreise müsse aber sachlich nachvollziehbar sein. Trotz Einbrüchen in die Erfolgswertgleichheit können Kantone den Majorz beibehalten, wenn die fraglichen Wahlkreise drei Bedingungen erfüllen: Erstens müssen sie eine geringe Bevölkerung aufweisen, zweitens müssen sie Entitäten mit eigener Autonomie darstellen, und drittens soll nicht die parteipolitische Haltung der Kandidatinnen und Kandidaten, sondern deren Persönlichkeit und individuelle Bekanntheit im Vordergrund stehen. Da Ausserrhoden diese Bedingungen derzeit (noch) erfüllt, beurteilte das Bundesgericht dieses Wahlsystem als rechtmässig. In Uri hingegen wurden zwar die Majorz-Wahlkreise – wenngleich weniger überzeugend, da hier parteiunabhängige Kandidaten praktisch inexistent sind – ebenfalls als verfassungskonform erachtet. Da aber sechs der acht Urner Proporz-Wahlkreise zu klein sind, musste der Kanton dennoch sein Wahlsystem revidieren.

Überprüfung kantonaler Wahlsysteme durch kantonale Gerichte (§ 8)

Der dritte Teil widmet sich in zwei Kapiteln (§§ 8–9) dem gerichtlichen Rechtsschutz. Nicolas Aubert untersucht hierbei die Überprüfung kantonaler Wahlsysteme durch kantonale Gerichte; er unterscheidet hier die Möglichkeit der gerichtlichen Prüfung im abstrakten Normkontrollverfahren von derjenigen im konkreten Normenkontrollverfahren. Die abstrakte Normenkontrolle (gerichtliche Überprüfung von generell-abstrakten Erlassen auf Konformität mit übergeordnetem Recht ohne konkreten Anwendungsfall) ist grundsätzlich zwar in elf Kantonen möglich, jedoch regelmässig bloss für Erlasse unterhalb der Gesetzesstufe. In einigen Kantonen (NW, GR, AG, VD, GE und JU) unterliegen aber auch Gesetze der Verfassungsgerichtsbarkeit (und in GE gar die Kantonsverfassung). Da indes die Grundzüge des Wahlsystems selbst auf Verfassungsstufe normiert sind, ist diese Kontrollmöglichkeit in der Praxis bedeutungslos.

Der erfolgreichere Weg, die Verfassungsmässigkeit eines Wahlverfahrens zu prüfen, erfolgt daher auf dem Weg der konkreten Normenkontrolle, also im Rahmen einer konkreten Wahl. Doch auch hier lauern diverse Schwierigkeiten, da dieses spezifische Rechtsmittel in den kantonalen Rechtsordnungen praktisch nicht normiert ist. Fragen betreffend Anfechtungsobjekt, Beschwerdefristen oder Instanzenzug können daher oftmals nicht a priori beantwortet werden. Aubert illustriert diese Unsicherheit anhand von formellen und prozeduralen Aspekten einiger Wahlbeschwerden vor kantonalen Gerichten (NW, ZG, AR, GR).

Überprüfung kantonaler Wahlsysteme durch das Bundesgericht (§ 9)

Der Überprüfung kantonaler Wahlsysteme durch das Bundesgericht mit der Beschwerde in Stimmrechtssachen widmet sich anschliessend Nevin Martina Bucher. Einerseits können Entscheide kantonaler Gerichte betreffend die Ausübung der politischen Rechte an die oberste rechtsprechende Behörde des Bundes weitergezogen werden. Andererseits ist das Bundesgericht oftmals Erstinstanz, da die Kantone gegen Akte der Regierung und des Parlaments keine kantonale Vorinstanz vorsehen müssen. Erlasse wie Wahlgesetze sind daher regelmässig mittels abstrakter Normenkontrolle direkt in Lausanne anzufechten. Die Autorin gliedert ihren Beitrag systematisch und übersichtlich in die Unterkapitel «Anfechtungsobjekt», «Vorinstanzen», «Beschwerderecht», «Beschwerdegründe», «Fristen», «Rechtsfolgen bei Gutheissung» und «Kosten». Hervorzuheben ist der umfassende Schutz der politischen Rechte: Dies etwa beim Anfechtungsobjekt, das nicht nur behördliche Erlasse und Entscheide betrifft, sondern alle Umstände, die geeignet sind, die Wahlfreiheit zu beeinträchtigen – also auch Realakte sowie Handlungen Privater. Die Beschwerdegründe, die gerügt werden können, sind ebenso breit: Nebst der Verletzung von verfassungsmässigen Rechten kann letztlich auch die Verletzung jeder beliebigen Gesetzes- oder Verordnungsbestimmung geltend gemacht werden.

Kantonales Wahlrecht zwischen harmonisiertem Proporz und neuen Spielräumen (§ 10)

Im Schlusskapitel nimmt Herausgeber Andreas Glaser eine resümierende Standortbestimmung und einen rechtspolitischen Ausblick vor. Das kantonale Wahlverfahren gehorche nun nicht mehr der klassischen Gebietseinteilung (Gemeinden, Bezirke), sondern die Gebietseinteilung müsse im Gegenteil – bezüglich des Wahlverfahrens – den Vorgaben der Wahlrechtsgleichheit angepasst oder jedenfalls insoweit in ihrer Bedeutung relativiert werden. Nach den wahlrechtlichen Umwälzungen in zahlreichen Kantonen stünden derzeit noch zwei Wahlsysteme unter dringendem Verdacht der Verfassungswidrigkeit: jene Obwaldens und Graubündens (womöglich zudem der Einerwahlkreis Bettingen in BS).

Der Autor kritisiert sodann die bundesgerichtliche «Präferenz», den Kantonen mit verfassungswidrigem Wahlsystem den Doppelproporz zu empfehlen. Nicht nur die gegenläufigen Sitzverschiebungen betrachtet er als grosses Manko. Auch der Zweck der Aufteilung des Wahlgebiets in Wahlkreise, nämlich die Bestellung der regionalen Parlamentsdeputation entsprechend dem Willen der Wählerinnen und Wähler in der betreffenden Region, werde jedenfalls teilweise vereitelt. Doch auch Glaser geht fehl in der Annahme, derlei Sitzverschiebungen seien eine Anomalie, die einzig dem doppeltproportionalen Wahlverfahren eigen sei. Wie erwähnt treten solche ebenso in herkömmlichen Wahlverfahren auf. Das Bundesgericht hat denn die hier problematisierten Sitzverschiebungen etwa im Kontext von Wahlkreisverbänden längst bemerkt und als unumgänglich und somit zulässig taxiert (BGer 09. Dez. 1986, in: ZBl 1987, 367 ff.; BGer 1P. 671/1992, 08. Dez.1993, in: ZBl 1994, 483 ff.).

Abschliessend beleuchtet Glaser zwei Standesinitiativen der Kantone Zug und Uri, die in Reaktion auf ihre Wahlsysteme rügende Bundesgerichtsentscheide die «Wiederherstellung der Souveränität der Kantone bei Wahlfragen» verlangt haben. Die beiden Initiativen wurden 2015 von der Staatspolitischen Kommission des Ständerats (SPK-S) und 2016 vom Nationalrat angenommen, worauf 2017 die SPK-S eine entsprechende Bundesverfassungsänderung ausarbeitete. Die Novelle hätte einerseits wieder Mehrheits- und Mischsysteme dem Proporz gleichgestellt, anderseits die Festlegung der Wahlkreiseinteilungen den Kantonen mehr oder weniger frei anheimgestellt. – Glaser hätte die Stossrichtung begrüsst. Der Nationalrat hat die Verfassungsänderung indes in letzter Minute, anlässlich der Schlussabstimmung im Dezember 2018, knapp mit 103 zu 90 Stimmen abgelehnt. Gemäss Andreas Auer habe es «noch nie in der schweizerischen Verfassungsgeschichte einen derart unverschämten Versuch gegeben, zentrale Grundrechte einfach auszuschalten und dem Richter diesbezüglich die Augen zu verbinden» (NZZ, 17. Mai 2018).

Was ist neu bei den Wahlen 2019? (Teil II: kantonales Recht)

Wahlrecht für Auslandschweizer, neue Zustellkuverts, Berechnung des absoluten Mehrs oder Urnenöffnungszeiten: Bei den eidgenössischen Wahlen kommen auch Dutzende Neuerungen im kantonalen Wahlrecht zur Anwendung. Wir erläutern die wesentlichen Novellen in sämtlichen Kantonen.

Im ersten Teil dieses Beitrags haben wir die rechtlichen Neuerungen des Bundesrechts für die anstehenden Wahlen erläutert. Im Verlauf der letzten vier Jahre haben jedoch auch etliche Kantone grössere oder kleinere Schraubendrehungen an ihren kantonalen Wahlgesetzen vorgenommen. Da das kantonale (und teilweise sogar kommunale) Wahlrecht subsidiär für die Nationalratswahlen gilt,[1] ergeben sich auch hierdurch einige lokale Neuerungen. Darüber hinaus sind die Ständeratswahlen kantonale Wahlen; die Kantone regeln das Wahlsystem fürs Stöckli also weitgehend eigenständig.[2] Im Folgenden erläutern wir die wesentlichen Änderungen, die auch die aktuellen Nationalrats- und Ständeratswahlen betreffen.[3]

 

Aargau: Auslandschweizer wählen auch die Ständeräte

Bei den Nationalratswahlen, die primär vom Bund geregelt werden, sind die Auslandschweizer schweizweit wahlberechtigt. Ständeratswahlen sind demgegenüber kantonale Wahlen, weshalb hier die Kantone individuell darüber entscheiden, ob auch den Auslandschweizern das Wahlrecht einzuräumen sei;[4] knapp die Hälfte der Kantone lässt dies zu.[5]

Im vergangenen Herbst hat der Aargauer Verfassungsgeber knapp (50.7 % Ja) das Ständeratswahlrecht für Auslandschweizer eingeführt.[6] Die Befürworter argumentierten, es sei «nur schwer nachvollziehbar, warum im Ausland wohnhafte Stimmberechtigte sich an den Nationalratswahlen beteiligen dürfen, hingegen von den gleichzeitig stattfindenden Ständeratswahlen ausgeschlossen sind». Die von der Auslandschweizer-Organisation (ASO) beantragte Ausweitung des Stimmrechts sei daher sinnvoll. Die ablehnende Minderheit brachte vor, die Nähe und der Bezug zum Kanton Aargau seien für die Standesvertreter wichtig. Wer den Aargau vertreten wolle, müsse mit den hiesigen Gegebenheiten und Sachverhalten vertraut sein.

 

Appenzell Innerrhoden: Ausmehrung des Ständerats an der Landsgemeinde

Der Kanton Appenzell Innerrhoden tanzt bei der Bestellung des Ständerats gleich mehrfach aus der Reihe: Als Kanton mit bloss halber Standesstimme stellt er nur einen statt zwei Ständeräte. Dieser wiederum wird nicht wie in den anderen 25 Kantonen an der Urne gewählt, sondern an der traditionellen Landsgemeinde. Damit einhergehend fällt in Innerrhoden die Nationalrats- und Ständeratswahl zeitlich auseinander, da die ordentliche Landsgemeinde jeweils Ende April tagt. Am 28. April wurde daher bereits Daniel Fässler als «erster» der diesjährigen Gesamterneuerungswahlen gewählt; er nimmt seit vergangener Sommersession im Stöckli Einsitz.

Wiederkandidierende Ständeräte wurden bisher stillschweigend gewählt, wenn die Landsgemeinde keine Namen von Gegenkandidaten in den Ring rief. Neu ist nun, dass an der Landsgemeinde auch die bisherigen Ständeräte explizit gewählt werden müssen; es wird immer ausgemehrt.[7]

 

Basel-Landschaft: Unvereinbarkeit Regierungsrat–Bundesversammlung / Informationsblatt

Seit 1892 durfte einer (aber nicht mehr!) der fünf Basellandschaftlichen Regierungsräte gleichzeitig auch dem National- oder Ständerat angehören. Zuletzt sass 1945 ein Regierungsrat parallel im Nationalrat; ein Doppelmandat mit Ständerat gab es nie. Seit einem Jahr ist diese Ämterkumulation nicht mehr zugelassen.[8] Die Arbeitsbelastung für eine wirkungsvolle Ausübung beider Ämter sei zu hoch, da in den vergangenen Jahrzehnten die Anforderungen sowohl im Regierungskollegium als auch in den eidgenössischen Räten kontinuierlich angestiegen sei.

Die Stimmberechtigten erhalten überdies zusammen mit den Wahlzetteln neu ein amtliches Informationsblatt mit den Namen aller Kandidaten für den Ständerat, die von mindestens 15 Stimmberechtigten vorgeschlagen worden sind.[9] Wählbar sind aber weiterhin alle Stimmberechtigten.

 

Basel-Stadt: Befreiung Wahlvorschlags-Unterzeichnungen, separater Stimmrechtsausweis

Bei den Baselstädtischen Majorzwahlen können 30 Stimmberechtigte einen Wahlvorschlag einreichen, der dann auf dem Wahlzettel abgedruckt wird. Die Wähler können so ihre bevorzugten Kandidaten einfach ankreuzen. Ab diesen Wahlen sind Parteien, die bei den letzten Wahlen für den Grossen Rat mindestens einen Sitz erzielten, von dieser Unterzeichnungspflicht befreit.[10]

Neu gilt bei der Briefwahl das Stimmkuvert nicht mehr gleichzeitig als Stimmrechtsausweis. Dieser ist nun, wie andernorts üblich, separat im Abstimmungskuvert enthalten (eigentlich sogar gleich zwei: ein Stimmrechtsausweis für die persönliche und ein weiterer, anonymisierter, für die briefliche Stimmabgabe).[11]

 

Bern: Weniger Kandidaten im zweiten Wahlgang, keine kantonalen Vorlagen im Wahlherbst

Im Kanton Bern sind bei Majorzwahlen (wie den Ständeratswahlen) nur Personen wählbar, die auf einem Wahlvorschlag figurieren. Verbleiben im zweiten Wahlgang, nachdem sich die wenig chancenreichen Kandidaten zurückgezogen haben, nur noch so viele Kandidaturen wie Sitze zu besetzen sind, so werden diese in stiller Wahl gewählt. In der Vergangenheit hielten jedoch auch Personen mit äusserst geringen Erfolgschancen an der Teilnahme am zweiten Wahlgang fest und forcierten damit als unnötig erachtete Wahlgänge (beispielsweise 2015, als nebst den bisherigen Ständeräten Werner Luginbühl [43 % der Stimmen] und Hans Stöckli [41 %] auch Bruno Moser [1 %] an der Kandidatur festhielt). – Neu sind für den zweiten Wahlgang nur noch jene Kandidaten zugelassen, die im ersten Wahlgang mindestens drei Prozent der Stimmen erhalten haben.[12] Die Urheber eines Wahlvorschlags dürfen jedoch für den zweiten Wahlgang Ersatzkandidaturen vorschlagen.[13]

Überdies wird neu im Jahr der nationalen Wahlen – analog zur Regelung auf Bundesebene – die zehnmonatige Frist zur Ansetzung von Volksabstimmungen um ein halbes Jahr verlängert.[14] Dadurch müssen im Wahlherbst keine kantonalen Abstimmungen abgehalten werden; solche können ins Folgejahr verschoben werden.

 

Freiburg: Noch keine Transparenz bei nationalen Wahlen

Im März 2018 wurde im Kanton Freiburg die Volksinitiative «Transparenz bei der Finanzierung der Politik» mit fast 70 Prozent Ja-Stimmen angenommen. Sie verlangt, dass politische Parteien und Organisationen, die sich an Wahlen beteiligen, ihre Budgets, Rechnungen und Zuwendungen offenlegen. Der Verfassungsartikel[15] ist nicht unmittelbar anwendbar, er wird derzeit in einem Umsetzungserlass konkretisiert und soll auf die kantonalen Wahlen 2021 Anwendung finden. Erwähnenswert ist, dass das Gesetz über die Politikfinanzierung nicht nur für die Ständeratswahlen, sondern auch für die (primär bundesrechtlich geregelten) Nationalratswahlen gelten soll – erstmals voraussichtlich bei den eidgenössischen Wahlen 2023.[16]

Bis zu den letzten Wahlen galt das Antwortcouvert gleichzeitig als Stimmrechtsauswies, letzterer war auf dem Kuvert aufgedruckt. Seit 2016 liegt der Stimmrechtsausweis separat bei; wird er umgedreht, so ist im Sichtfenster die Adresse des Abstimmungsbüros sichtbar, wohin das Antwortcouvert retourniert werden kann.[17]

 

Glarus: Totalrevidiertes Wahlgesetz bringt diverse kleinere Neuerungen

Im Gegensatz zu Appenzell Innerrhoden werden in Glarus die Ständeräte nicht an der Landsgemeinde, sondern an der Urne gewählt, gleichzeitig wie der Nationalrat. Die Glarner Landsgemeinde hat 2017 ein neues Wahlgesetz[18] beschlossen, welches nun auch diverse kleinere Anpassungen für die nationalen Wahlen mit sich bringt: Zunächst wurden die Zustellfristen für das Wahlmaterial denjenigen des Bundes angepasst; die Wahlzettel für den Ständerat müssen (wie diejenigen für den Nationalrat) den Wählern zwischen drei und vier Wochen vor dem Wahltag zugestellt werden.[19]

Wer seine Stimme an der Urne abgeben will, soll sich seinen Weg nicht durch Unterschriftensammlungen oder andere Aktionen bahnen müssen. Solche sind daher nicht nur in, sondern neu auch vor den Stimmlokalen verboten.[20] – Die Wahlzettel müssen nicht mehr abgestempelt werden.[21] – Nachdem die Glarner 2014 nach zwei überraschenden Vakanzen (SR Pankraz Freitag verstarb und SR This Jenny trat kurz darauf zurück) gleich zwei kurzfristige Ersatzwahlen in den Ständerat durchführen mussten, ist die Frist, innert welcher Ersatzwahlen durchzuführen sind, von drei auf sechs Monate heraufgesetzt worden.[22] – Neu dürfen die Resultate bei Wahlen und Abstimmungen soziodemografisch ausgewertet werden.[23]

 

Nidwalden: Mehr Unterschriften, mehr gültige Wahlzettel, kleineres absolutes Mehr

Wahlvorschläge für den je einen Sitz in den Nationalrat und Ständerat konnten bisher von Einzelpersonen eingereicht werden. Nunmehr findet für alle Mehrheitswahlen dasselbe Wahlvorschlagsverfahren statt, das die Unterzeichnung von mindestens fünf Aktivbürgern erfordert.[24] – Wahlzettel sind nun auch gültig, wenn sie lediglich ins Rückantwortkuvert gelegt werden.[25] Sie werden nicht mehr als ungültig ausgeschieden, wenn sie sich nicht im separaten, kleinen Stimmzettelkuvert befinden. Mit dieser Massnahme soll die Anzahl ungültiger Stimmen reduziert werden.

Für die Berechnung des absoluten Mehrs im ersten Wahlgang bei Majorzwahlen wurden bisher auch leere Wahlzettel miteinbezogen. Fortan werden hierzu nur noch die in Betracht fallenden Stimmen berücksichtigt, womit das absolute Mehr leicht gesenkt wird.[26] Die Regel kommt heuer indes noch nicht zur Anwendung, weil Ständerat Hans Wicki bereits in stiller Wahl gewählt worden ist (und bei den Nationalratswahlen das relative Mehr genügt).

 

Obwalden: Neues Stimmkuvert mit zwei Innenfächern

Wie auch in einigen anderen Kantonen, musste der Kanton Obwalden aufgrund neuen Vorgaben der Post sein Stimmkuvert anpassen. Er hat sich für die «Solothurner Lösung» entschieden. Das neue Stimmkuvert hat zwei Innenfächer: Im Fach ohne Sichtfenster liegen die Stimmzettel und die Abstimmungserläuterungen, im Fach mit Sichtfenster befindet sich der Stimmrechtsausweis.[27]

Fahrende mit Obwaldner Heimatort waren bisher einzig in eidgenössischen Angelegenheiten stimm- und wahlberechtigt. Diese Diskriminierung ist nun beseitigt worden, indem ihnen das Stimmrecht auch in kantonalen Angelegenheiten (wie die Ständeratswahlen) zuerkannt worden ist.[28]

 

Schaffhausen: Neue Vergabe der Listennummern, vereinfachte Briefwahl

Es gibt verschiedene Methoden, wie die Listennummern für die Wahllisten vergeben werden (siehe Wo die Juso die Nummer 1 ist). Im Kanton Schaffhausen wird die Reihenfolge der Wahlzettel für den Nationalrat neu anhand der Wählerstärke der Listen bei der jüngsten Kantonsratswahl zugeteilt.[29] Die SVP hält damit die Listennummer 1, die SP die 2, die FDP die 3 usw.

Nachdem bei den Wahlen 2015 die Gebühr fürs Versäumen der Stimmpflicht von drei auf sechs Franken erhöht worden ist, haben die Behörden seit diesem Jahr die briefliche Stimmabgabe ein bisschen bürgerfreundlicher ausgestaltet: Einerseits werden die Gemeindebriefkästen neu am Wahlsonntag um 11 Uhr geleert anstatt bereits am Samstagmittag.[30] Andererseits müssen in den Gemeinden Schaffhausen[31], Neuhausen[32] und Stein am Rhein[33] die Rücksendekuverts nicht mehr frankiert werden (siehe Wer Briefmarke selber bezahlen muss, stimmt seltener ab).

 

Schwyz: Einheitliche Urnenöffnungszeiten, noch keine transparente Wahlfinanzierung

Bisher konnten die Gemeinden des Kantons Schwyz die Urnen bis 12 Uhr geöffnet haben. Neu gilt eine kantonsweit einheitliche Urnenöffnungszeit am Wahlsonntag von 10 bis 11 Uhr.[34] – Neu gewählte Ständeräte dürfen erst dann Einsitz im Rat nehmen, wenn beide Mitglieder rechtskräftig gewählt sind.[35] Wird also gegen die Wahl des einen Mitglieds Beschwerde erhoben, so ist automatisch auch die Vereidigung des anderen neu gewählten Ständerats in der Schwebe.

Wie in Freiburg, so ist im März 2018 auch in Schwyz ein ähnlicher neuer Verfassungsartikel zur Offenlegung der Politikfinanzierung angenommen worden.[36] Das darauf fussende, neue Transparenzgesetz wurde im vergangenen Mai vom Volk angenommen (54 % Ja, obschon es alle Parteien abgelehnt haben) und würde auch die Ständeratswahlen betreffen.[37] Aus Sicht der Initianten wurde die Initiative aber nur unzulänglich umgesetzt, weshalb sie beim Bundesgericht gegen den Erlass Beschwerde erhoben haben. Ob, wann und in welcher Form das Schwyzer Transparenzgesetz in Kraft gesetzt werden wird, ist also noch offen.

 

St. Gallen: Neues Wahlgesetz bringt neue Vergabe der Listennummern und ermöglicht Rückzüge

Im Kanton St. Gallen ist dieses Jahr ein totalrevidiertes Wahl- und Abstimmungsgesetz[38] in Kraft getreten. Die Neuerungen für die aktuellen National- und Ständeratswahlen sind indes von begrenzter Tragweite. Der Regierungsrat hat immerhin vorgeschlagen, die Berechnung des absoluten Mehrs nicht mehr anhand der gültigen Wahlzettel, sondern anhand der gültigen Stimmen vorzunehmen (wie in den meisten Kantonen der Deutschschweiz üblich).[39] Dadurch wäre das absolute Mehr gesunken, womit auf einige zweite Wahlgänge hätte verzichtet werden können. Der Kantonrat lehnte dies jedoch ab.

Im Kantonsrat eingebracht wurde jedoch eine neue Regelung zur Vergabe der Listennummern bei Proporzwahlen. Neu werden diese in der Reihenfolge des Stimmenanteils vergeben, den die Parteien bei den letzten Wahlen erlangt haben.[40] Etwaige Unterlisten von Parteien erhalten ebenfalls dieselbe Listennummer, jedoch mit einem Buchstaben als Zusatz.[41] So tritt derzeit die SVP mit den Listen 01a, 01b, 01c und 01d an, die CVP mit den Listen 02a, 02b, 02c und 02d usw. – Eingeführt wurde zudem die Möglichkeit, Kandidaten wieder zurückzuziehen.[42] Damit soll verhindert werden, dass Personen auf den Wahlzetteln aufgeführt werden, die faktisch gar nicht mehr zur Verfügung stehen.

 

Tessin: harmonisierte Stimmgemeinde der Auslandtessiner

Am 10. Februar 2019 hat das Tessin eine Verfassungsänderung angenommen, welche das kantonale (und kommunale) Wahlrecht der Auslandtessiner neu regelt.[43] Bisher waren nämlich nur jene Auslandschweizer in Tessiner Angelegenheiten stimm- und wahlberechtigt, die ihren Heimatort im Südkanton haben. Neu ist der letzte Wohnsitz in der Schweiz massgeblich, so wie es auch das neue Auslandschweizergesetz für die politischen Recht auf Bundesebene vorsieht. Durch diese Harmonisierung werden einige Nachteile behoben, etwa das Auseinanderfallen der massgeblichen Stimmgemeinde bei kantonalen und nationalen Wahlen sowie Schwierigkeiten bei der Aktualisierung der Stimmregister.

 

Wallis: Briefwahl muss am Freitag eintreffen

Wer im Kanton Wallis brieflich wählen möchte, musste bisher dafür besorgt sein, dass die Sendung vor Schluss des Urnengangs bei der Gemeindeverwaltung eintrifft. Neu muss die Post bereits am Freitag vor der Wahl eintreffen, ansonsten ist die briefliche Stimmabgabe ungültig.[44]

 

Zug: Unterstützung privater Abstimmungs- und Wahlhilfen

Der Kanton Zug hat die gesetzliche Grundlage geschaffen, um jungen Stimmbürgern (von 18 bis 25 Jahren) nebst dem offiziellen Stimmmaterial auch private Wahl- und Abstimmungshilfen zustellen zu können. Damit sind beispielsweise private Abstimmungserläuterungen wie «Easyvote» gemeint. Kanton und Gemeinden können solche Projekte finanziell unterstützen und ihnen die Adressen der Jungwähler zur Verfügung stellen, falls die Wahl- und Abstimmungshilfen die Grundsätze der Neutralität und Sachlichkeit gewährleisten.[45]

 

Zürich: Verkürzte Fristen für zweiten Ständerats-Wahlgang

Findet im Kanton Zürich für die Ständeratswahlen ein zweiter Wahlgang statt, so gelten neu ziemlich kurze Mindestfristen für die Zustellung der Wahlunterlagen: Es genügt, wenn das Wahlkuvert zehn Tage vor dem Wahlgang bei den Wählern eintrifft.[46] Diese stark verkürzte Frist (die normale Frist beträgt drei bis vier Wochen) gilt zudem nicht nur für die Ständeratswahlen, sondern auch für jegliche weitere kantonale oder kommunale Wahlen und Abstimmungen, die auf jenen Wahltag gelegt werden.[47] – Für kommunale Abstimmungsvorlagen (wie etwa am 17. November in der Stadt Zürich) gilt daher eine unterschiedliche Zustellfrist, je nachdem, ob überhaupt ein zweiter Ständerats-Wahlgang vonnöten ist oder nicht.

 

Im ersten Teil dieses Beitrags sind die Neuerungen der Wahlen 2019 dargelegt, die sich aufgrund Änderungen des Bundesrechts ergeben.

 


[1] Art. 83 BPR.

[2] Art. 39 Abs. 1 und Art. 150 Abs. 3 BV.

[3] Keine oder nur untergeordnete, die Wähler nicht betreffende Änderungen seit den letzten Wahlen 2015 gibt es in den Kantonen AR, GR, LU, SO, TG und UR. In den Kantonen GE, JU, NE, TI und VD wurden nur die grundlegenden Änderungen auf Verfassungsstufe berücksichtigt. Nicht berücksichtigt wurden überdies Novellierungen betreffend die elektronische Stimmabgabe, da derzeit kein E-Voting-System in Betrieb ist.

[4] Art. 150 Abs. 3 BV.

[5] Vgl. VPB 1/2014 vom 6. März 2014 (Bundesverfassung, Auslandschweizer Stimmberechtigte und Ständeratswahlen).

[6] § 59 Abs. 3 KV/AG.

[7] Art. 7 Abs. 3 VLGV/AI.

[8] § 72 Abs. 2 KV/BL.

[9] § 26 Abs. 3 GPR/BL.

[10] § 36 Abs. 5 WahlG/BS.

[11] § 8 Abs. 1 WahlV/BS.

[12] Art. 109 Abs. 1 PRG/BE.

[13] Art. 111 PRG/BE. Diese Möglichkeit ist erstaunlicherweise selbst Unterzeichnern von Wahlvorschlägen erlaubt, deren Kandidat die 3%-Hürde im ersten Wahlgang nicht erreicht hat!

[14] Art. 42 Abs. 3 PRG/BE.

[15] Art. 139a KV/FR.

[16] Erläuternder Bericht vom 19. August 2019 zum Vorentwurf des Gesetzes über die Politikfinanzierung, S. 22.

[17] Art. 18 Abs. 3 PRG/FR.

[18] Gesetz über die politischen Rechte (GPR) vom 07.05.2017.

[19] Art. 32 Abs. 1 GPR/GL; für den zweiten Wahlgang gilt weiterhin die verkürzte Frist von 10 Tagen.

[20] Art. 11 Abs. 4 GPR/GL.

[21] Art. 17 GPR/GL e contrario.

[22] Art. 39 Abs. 2 GPR/GL.

[23] Art. 26 Abs. 1 GPR/GL.

[24] Art. 60 WAG/NW.

[25] Art. 28 Abs. 1 Ziff. 5 EG BPR/NW.

[26] Art. 72 Abs. 1 WAG/NW.

[27] Art. 16 und 35 AbstV/OW.

[28] Art. 3 Abs. 5 AG/OW.

[29] Art. 2g WahlG/SH.

[30] Art. 53bis Abs. 3 WahlG/SH.

[31] Art. 2 Abs. 1 Verordnung über die briefliche Stimmabgabe/Schaffhausen.

[32] Art. 1 Abs. 1 Verordnung betreffend vorfrankierte Stimm- und Wahlcouverts/Neuhausen am Rheinfall.

[33] Art. 1 Abs. 1 Verordnung betreffend vorfrankierte Stimm- und Wahlcouverts/Stein am Rhein.

[34] § 26 Abs. 1 WAG/SZ.

[35] § 54a Abs. 1 WAG/SZ.

[36] § 45a KV/SZ.

[37] § 2 Abs. 1 und § 7 Abs. 2 TPG/SZ.

[38] Gesetz über Wahlen und Abstimmungen vom 05.12.2018 (WAG).

[39] Art. 92 Abs. 2 E-WAG/SG.

[40] Art. 42 Abs. 2 WAG/SG.

[41] Art. 42 Abs. 4 WAG/SG.

[42] Art. 26 Abs. 1 WAG/SG.

[43] Art. 30 KV/TI.

[44] Art. 26 Abs. 2 kGPR/VS; Art. 14 Abs. 2 Verordnung über die briefliche Stimmabgabe/VS sah indes bereits früher vor, dass «[d]ie Sendung bei der Gemeindeverwaltung spätestens am Freitag, der der Wahl oder der Abstimmung vorausgeht, eintreffen [muss]. Die zu spät eintreffenden Übermittlungsumschläge werden nicht geöffnet».

[45] § 8 Abs. 6 WAG/ZG.

[46] § 84a Abs. 2 GPR/ZH.

[47] § 84a Abs. 3 GPR/ZH.

 

Die neunköpfige CVP-Hydra – ein Gesetzgebungs-Flop führt zu einer Listenflut bei den Nationalratswahlen

In den ersten Kantonen sind die Listen für die Nationalratswahlen publik. Dabei zeigt sich bereits, dass deren Anzahl markant zunimmt. Ein wesentlicher Grund dafür ist eine unglückliche Gesetzesrevision.

Anfangs Woche ist die Frist für die Einreichung von Listen für die Nationalratswahlen vom 20. Oktober in den ersten vier Kantonen Bern, Graubünden, Aargau und Genf abgelaufen. Zürich folgt heute Donnerstag. Anhand dieser ersten Kantone lässt sich bereits erkennen, dass die Anzahl eingereichter Listen und damit portierter Kandidaten erneut – und teilweise markant – angestiegen ist.

 

Politologen wie Michael Hermann erklären diese Kandidatenflut mit der veränderten Medienlandschaft: National ausgerichtete Medien würden immer dominanter; dies steigere die Attraktivität der Bundespolitik. Überdies sei ein «Smartvote-Effekt» verantwortlich: Für die Parteien sei es interessant, auf dieser Wahlempfehlungs-Plattform möglichst viele Kandidaten zu präsentieren, um die Chancen eines «Matchs» zu erhöhen. Ähnlich argumentiert Politologe Thomas Milic, der einen «Boyband-Effekt» ausmacht: «Man will für jeden Geschmack etwas bieten.»

Diese Begründungen alleine vermögen jedoch die neuerliche Listenflut nicht zu erklären. Ein wesentlicher Grund ist eine kleine, aber folgenreiche Änderung des Wahlgesetzes vor fünf Jahren, die sich erst heute auswirkt.

Damit eine Partei an den Nationalratswahlen teilnehmen kann, muss sie grundsätzlich eine gewisse Anzahl Unterschriften von Stimmberechtigten sammeln – ähnlich wie für eine Volksinitiative. Um der unterschiedlichen Grösse der Kantone, welche die Wahlkreise bilden, Rechnung zu tragen, ist das Unterzeichnungsquorum seit 1994 gestaffelt ausgestaltet. Im kleinen Schaffhausen sollen nicht so viele Unterschriften wie im grossen Zürich nebenan gesammelt werden müssen.

Wahlkreisgrösse Nationalrat Unterzeichnungsquorum Kantone (2019)
2–10 Sitze 100 Unterschriften BL, BS, FR, GR, JU, LU, NE, SH, SO, SZ, TG, TI, VS, ZG
11–20 Sitze 200 Unterschriften AG, GE, SG, VD
über 20 Sitze 400 Unterschriften BE, ZH

 

Bis zu den letzten Wahlen 2015 wurden aber die «etablierten» Parteien in einigen Kantonen von dieser Unterschriftensammlung dispensiert, wenn sie drei Bedingungen kumuliert erfüllten: Erstens musste sich die Partei ins offizielle Parteienregister der Bundeskanzlei eingetragen haben. Zweitens musste die Partei im jeweiligen Kanton eine gewisse Wählerstärke aufweisen (ein Nationalratssitz oder 3 Prozent Wähleranteil bei den letzten Wahlen). Und Drittens galt diese Erleichterung nur, falls sich die Partei auf einen einzigen Wahlvorschlag beschränkte. – Sobald also eine SVP-Kantonalpartei zusätzlich eine JSVP-Liste oder eine SP-Sektion eine Frauen- als auch eine Männer-Liste vorlegen wollte, mussten sie wieder auf die Strasse, die nötigen Unterschriften einholen. Und dies nicht nur für die zusätzliche zweite Liste, sondern auch für die Hauptliste. Die SVP Kanton Zürich musste damit 2015 für ihre beiden Listen 800 Unterschriften, die SP Kanton Bern für ihre drei Listen gar 1200 Unterschriften sammeln.

«Unnötige Schikane»

Während der Beratung einer Revision des Bundesgesetzes über die politischen Rechte im Jahr 2014 schlug Nationalrätin Marianne Streiff-Feller (EVP/BE) daher vor, auf die dritte Bedingung zu verzichten. Sie begründete ihren Einzelantrag dahingehend, es sei nicht zeitgemäss, wenn diese administrative Erleichterung hinfällig werde, sobald eine junge Liste, eine Seniorenliste oder eine Auslandschweizerliste eingereicht werde. Und weiter: «Es handelt sich um eine unnötige Schikane, die nichts zur Verminderung der Anzahl der Kandidierenden beiträgt.»

Der Antrag Streiff wurde erst im Plenum eingebracht, die vorberatende Staatspolitische Kommission konnte ihn daher nicht evaluieren. Nichtsdestotrotz empfahl auch Kommissionssprecher Rudolf Joder (SVP/BE), dem Antrag zuzustimmen. Die Differenzierung mache keinen Sinn: Wenn eine politische Partei registriert sei, solle sie keine Unterschriften einreichen müssen, unabhängig davon, ob sie in einem Kanton eine, zwei oder drei Listen einreiche. «Nach dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit scheint es sinnvoll, diese Detailfrage im Sinne der Vereinfachung des administrativen Aufwandes für politische Parteien zu klären.»

Die anwesende «Hüterin der politischen Rechte», Bundeskanzlerin Corina Casanova, schien ob diesem Vorschlag überrumpelt: Sie verzichtete auf ein Votum. Der Änderungsantrag Streiff wurde schliesslich mit 121 zu 55 Stimmen angenommen. Die Fraktionen SP, CVP/EVP, GPS und GLP unterstützten den Antrag, die FDP lehnte ihn ab, während SVP und BDP gespalten waren.

Da die «Chambre de réflexion» bei Fragen, die den Nationalrat selbst betreffen, usanzgemäss Zurückhaltung übt, reflektierte auch der Ständerat diese Novelle kaum. Kommissionssprecherin Christine Egerszegi (AG/FDP) empfahl mit wenig substanziierter Begründung, dem Nationalrat zu folgen. (Die Bundeskanzlerin schwieg auch hier, obschon das Wahlgesetz fast das einzige Gesetz ist, das die «achte Bundesrätin» im Parlament zu vertreten hätte.)

CVPCS, CVPBZ, CVP#1, CVPFT & Co.

Der revidierte und unterdessen in Kraft getretene Artikel 24 des nationalen Wahlgesetzes zeitigt Wirkung. Im Kanton Bern konnte die EVP nunmehr ihre beiden Listen (EVP und *jevp) einreichen, ohne eine einzige Unterschrift vorlegen zu müssen; die Jungfreisinnigen durften ohne Zusatzaufwand eine Stadt- und eine Land-Liste portieren. In Graubünden finden sich heute gegenüber 2015 fünf zusätzliche Nebenlisten, etwa Juso-Frauen nebst Juso-Männern, eine «Gemeindepolitik»-FDP, SVP-Senioren oder verheissungsvolle «CVP Junge 1» gekoppelt an «CVP Junge A».

Der bisher eindrücklichste Listen-Wildwuchs treibt im elektoralen Garten des Aargaus, wo sich die Anzahl Listen der etablierten Parteien fast verdoppelt hat. Da spriessen plötzlich Blüten wie «BDP3 – die Dritte» oder «SP queer*feministisch». In den Schatten gestellt werden diese Wahlvorschläge aber von der vielköpfigen christlichdemokratischen Hydra: Mit nicht weniger als neun Split-Listen will die CVP ihren Nationalratssitz verteidigen, die so kryptische Namen wie «CVPBZ» (für: «Miteinander.Für Baden und Zurzach.») oder «CVP#1» («Miteinander.Für Kulm, Lenzburg, Brugg.») tragen – total 127 Kandidatinnen und Kandidaten, für welche die CVP keine einzige Unterschrift sammeln musste.

Proportionalere Sitzverteilung, mehr Auswahl, aber keine höhere Beteiligung: Wie sich der Doppelproporz bei kantonalen Parlamentswahlen auswirkt

Mehrere Kantone haben in den vergangenen Jahren auf Anweisung des Bundesgerichts ihr Wahlsystem geändert und den Doppelproporz eingeführt. Dagegen gibt es in Bundesbern Widerstand. Doch was hat sich mit dem neuen Verfahren eigentlich geändert? Eine Analyse gibt Aufschluss.

Der vorliegende Beitrag wurde im Dezember 2018 in der Zeitschrift «Parlament/Parlement/Parlamento» (Mitteilungsblatt der Schweizerischen Gesellschaft für Parlamentsfragen), publiziert. Eine Zusammenfassung der Analyse erschien am 11. September 2018 in der «Neuen Zürcher Zeitung».

1. Einleitung

In den vergangenen Jahren haben sieben Kantone ihr Wahlsystem geändert und das so genannte doppeltproportionale Divisorverfahren mit Standardrundung (kurz: Doppelproporz) eingeführt.[1] In den meisten Fällen kam der Anstoss dazu vom Bundesgericht, welches die zuvor angewandten Wahlsysteme als im Widerspruch zur Wahlrechtsgleichheit und damit zur Bundesverfassung taxiert hatte. Gegen die Praxis des Bundesgerichts hat sich Widerstand formiert. Die Kantone Zug und Uri[2] reichten Standesinitiativen ein und forderten, dass die Kantone mehr Spielraum erhalten sollen bei der Ausgestaltung ihres Wahlsystems. National- und Ständerat nahmen die Standesinitiativen an; die Staatspolitische Kommission des Ständerats arbeitete daraufhin eine Vorlage zur Änderung der Bundesverfassung aus. Gemäss dieser soll die Verfassung explizit festhalten, dass die Kantone «frei in der Ausgestaltung der Verfahren zur Wahl ihrer Behörden» sind.[3] Der Ständerat stimmte der Vorlage in der Frühjahrssession 2018 zu. Der Nationalrat folgte ihm in der Wintersession zunächst, hat die Verfassungsänderung dann allerdings in der Schlussabstimmung abgelehnt.[4]

Angesichts der teilweise hitzigen Debatte erstaunt, dass bisher nicht systematisch untersucht wurde, welche Auswirkungen der Doppelproporz in der Praxis eigentlich hat. Diese Lücke will der vorliegende Beitrag schliessen. Er vergleicht die Wahlergebnisse aller sieben Kantone, die das Verfahren eingeführt haben, mit der hypothetischen Sitzverteilung nach dem früheren Wahlsystem. Zudem werden die tatsächlichen Veränderungen bei der ersten Anwendung des Systems betrachtet hinsichtlich der Zahl der Listen und der Wahlbeteiligung.

2. Hintergrund

2.1. Die Praxis des Bundesgerichts

Bei der Beurteilung kantonaler Wahlsysteme stützt sich das Bundesgericht auf die Wahlrechtsgleichheit. Diese ergibt sich aus der Garantie der politischen Rechte (Art. 34 BV), welche die freie Willensbildung und die unverfälschte Stimmabgabe schützt, teilweise wird auch auf die Rechtsgleichheit (Art. 8) zurückgegriffen. Die Wahlrechtsgleichheit setzt sich gemäss klassischer Auffassung aus drei Komponenten zusammen: Die Zählwertgleichheit garantiert, dass alle Wähler gleich viele Stimmen haben («one man, one vote»); die Stimmkraftgleichheit stellt sicher, dass jede Stimme möglichst das gleiche Gewicht hat, dass also das Verhältnis der repräsentierten Bevölkerung zur Anzahl Sitze in allen Wahlkreisen möglichst gleich sein soll; die Erfolgswertgleichheit schliesslich sieht vor, dass jeder Wähler in der Praxis den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis hat.[5] Diese Bedingung ist verletzt, wenn Wähler kleinerer Parteien faktisch keine Chance haben, im Parlament vertreten zu sein, was namentlich bei kleinen Wahlkreisen der Fall ist. Massgebend ist dabei das natürliche Quorum, also der Stimmenanteil, den eine Partei mindestens erreichen muss, um im Parlament vertreten zu sein. In einem Wahlkreis mit 9 Sitzen beträgt das natürliche Quorum 10 Prozent. Diesen Wert erachtet das Bundesgericht bei Proporzsystemen als Maximum. Liegt das Quorum in einem Wahlkreis darüber, sieht das Gericht die Erfolgswertgleichheit verletzt und das Wahlsystem muss angepasst werden, um den Anforderungen der Bundesverfassung zu genügen.[6]

Dazu gibt es verschiedene Wege. Ein offensichtlicher ist, kleine Wahlkreise zu grösseren zusammenzulegen, die mehr Sitze und damit ein tieferes natürliches Quorum aufweisen.[7] Eine andere Möglichkeit sind Wahlkreisverbände, bei denen mehrere Wahlkreise für die Sitzzuteilung zusammengefasst werden.[8] Die Kantone, die in der jüngeren Vergangenheit zu einer Änderung ihres Wahlsystems verpflichtet wurden, haben sich jedoch alle für einen dritten Weg entschieden: den Doppelproporz. Bei diesem werden die Sitze über den ganzen Kanton hinweg auf die Parteien verteilt, sodass die gesamtkantonale Sitzverteilung die gesamtkantonalen Stimmenanteile möglichst genau abbilden; gleichzeitig werden die Sitze in den einzelnen Wahlkreisen möglichst proportional verteilt.

In Bezug auf Majorzwahlsysteme bei kantonalen Parlamentswahlen hat sich das Bundesgericht bislang zurückhaltend geäussert, obschon die Erfolgswertgleichheit (und teilweise auch die Stimmkraftgleichheit) dort stark eingeschränkt sind. In einem Urteil zum Kanton Appenzell Ausserrhoden[9] haben die Richter in Lausanne die Anwendung des Majorzsystems als zulässig erachtet, allerdings nur unter gewissen Umständen (etwa eine schwache Stellung der Parteien und die Autonomie der als Wahlkreise fungierenden Gebietskörperschaften). Eine Beschwerde aus dem Kanton Graubünden ist derzeit beim Bundesgericht hängig.

2.2. Die Kantone mit Doppelproporz-System

Bisher haben sieben Kantone den Doppelproporz eingeführt.[10] Bei den konkreten Umständen und der Umsetzung gibt es allerdings bedeutende Unterschiede. Die Kantone Aargau, Nidwalden, Schwyz, Zug und Wallis führten das System als Folge von Urteilen des Bundesgerichts ein. Zürich und Schaffhausen gingen diesen Schritt von sich aus (wenn auch im Wissen, dass das alte Wahlsystem vor Bundesgericht keinen Bestand haben würde).[11] Als erster Kanton wechselte Zürich 2007 zum Doppelproporz, und zwar als Reaktion auf ein Bundesgerichtsurteil zur Stadt Zürich fünf Jahre zuvor. Der bisher letzte Kanton, der nach dem doppeltproportionalen System wählte, war Wallis im Jahr 2017.[11a] Allerdings bildete die Grundlage damals kein Gesetz, sondern (aus zeitlichen Gründen) nur ein Dekret. Die Walliser Lösung ist auch insofern speziell, als dass der Doppelproporz nicht über den gesamten Kanton, sondern jeweils innerhalb von sechs Wahlregionen (bestehend aus jeweils einem bis drei Wahlkreisen) zur Anwendung kommt.

Interessant ist, dass fünf der sieben Kantone ein Quorum bei der Sitzverteilung kennen, womit es Kleinparteien erschwert wird, ins Parlament einzuziehen. In den meisten Fällen wurde die Sperrklausel gleichzeitig mit dem Wechsel zum Doppelproporz oder kurz danach eingeführt. Einzig im Kanton Wallis galt schon vorher ein Quorum von 8 Prozent, das beibehalten wurde.

Tabelle 1 gibt eine Übersicht über die sieben Kantone und ihre Wahlsysteme.

Tabelle 1: Übersicht über die Kantone mit Doppelproporz

Kanton Altes Wahlsystem Neues Wahlsystem Zahl der Wahl-kreise Quorum Erste Wahl mit neuem System/
jüngste Wahl
Zürich Hagenbach-Bischoff (mit Listenverbindungen) Doppelproporz 18 5% in einem Wahlkreis (zur Sitzverteilung im ganzen Kanton zugelassen) 2007/
2015
Schaffhausen Hagenbach-Bischoff (mit Listenverbindungen) Doppelproporz 6 2008/
2016
Aargau Hagenbach-Bischoff (mit Listenverbindungen) Doppelproporz 11 5% in einem Wahlkreis (zur Sitzverteilung im ganzen Kanton zugelassen) oder 3% im Kanton 2009/
2016
Nidwalden Hagenbach-Bischoff (ohne Listenverbindungen) Doppelproporz 11 2014/
2018
Zug Hagenbach-Bischoff (ohne Listenverbindungen) Doppelproporz

11

5% in einem Wahlkreis (zur Sitzverteilung im ganzen Kanton zugelassen) oder 3% im Kanton 2014/
2018
Wallis Hagenbach-Bischoff (ohne Listenverbindungen) Doppelproporz (innerhalb von Wahlregionen) 14 8% im Kanton 2017/
2017
Schwyz Hagenbach-Bischoff (ohne Listenverbindungen) Doppelproporz 30 1% in einem Wahlkreis (zur Sitzverteilung in der ganzen Wahlregion zugelassen) 2016/
2016

 

3. Auswirkungen des Doppelproporz auf die Sitzverteilung

3.1. Sitzverschiebungen infolge des Doppelproporz

Um die Auswirkungen des neuen Wahlsystems auf die Sitzverteilung zu untersuchen, wurde jeweils die jüngste Parlamentswahl unter dem Doppelproporz-System betrachtet. Dabei wurde die tatsächliche Sitzverteilung mit der hypothetischen Sitzverteilung unter dem früheren Wahlsystem verglichen. Für die drei Kantone, in denen im Hagenbach-Bischoff-System Listenverbindungen möglich waren, wurde angenommen, dass die gleichen Listenverbindungen eingegangen worden wären wie bei der letzten Wahl unter diesem System.[12] Zur Berechnung der Sitzverteilung wurde das Programm BAZI[13] verwendet.

Zunächst lässt sich feststellen, dass unter dem Doppelproporz-System im Durchschnitt etwa 10 Prozent der Sitze einer anderen Partei zufielen, als dies unter dem Hagenbach-Bischoff-System der Fall gewesen wäre. Am höchsten ist der Anteil im Kanton Schaffhausen, wo 9 von 60 Sitzen oder 15 Prozent den Besitzer wechselten. Am anderen Ende der Skala findet sich der Kanton Wallis, wo nur 8 von 130 Sitzen verschoben wurden. Das dürfte mit der Ausgestaltung des dortigen Wahlsystems zusammenhängen, da Sitzverschiebungen jeweils nur innerhalb der gleichen Wahlregion möglich sind, sowie mit dem relativ hohen Quorum von 8 Prozent, das kleine bis mittelgrosse Parteien von der Mandatsverteilung ausschliesst, sofern sie nicht mit einem Partner eine gemeinsame Liste bilden.

Zu beachten ist, dass die Sitzverschiebungen nicht immer zugunsten oder zulasten der gleichen Parteien ausfallen, sondern sich teilweise aufheben. So fielen beispielsweise der CVP im Kanton Zürich unter dem Doppelproporz 5 Sitze zu, die sie unter dem alten System nicht bekommen hätte. Allerdings kostete ihr der Doppelproporz in einem Wahlkreis auch einen Sitz. Unter dem Strich «gewann» die Partei durch den Systemwechsel also 4 Sitze.

Der Anteil von 10 Prozent der Sitze, die durch das neue System an eine andere Partei gehen, mag hoch erscheinen. Er wird aber relativiert, wenn man betrachtet, wie viele Sitze jeweils von einer Wahl zur nächsten den Besitzer wechseln, wenn das Wahlsystem nicht ändert. Bei den Nationalratswahlen 2015 etwa wechselten 22 Sitze oder 11 Prozent aller Mandate die Parteifarbe. Wenn man bedenkt, dass die Volatilität der Stimmenanteile bei diesen Wahlen eher gering war (selbst für Schweizer Verhältnisse), kann eine durch das Wahlsystem verursachte Verschiebung von 10 Prozent der Sitze kaum als Erdrutsch bezeichnet werden.

3.2. Proportionalität

Interessant ist nun natürlich die Frage, welche Parteien unter dem Doppelproporz mehr Sitze holen als unter dem alten System und auf wessen Kosten. Generell lässt sich sagen, dass grössere Parteien etwas weniger Mandate holen, während kleinere Parteien mehr Sitze erhalten. Dies erstaunt nicht: Am Ursprung der Systemwechsel standen ja die hohen natürlichen Quoren unter den früheren Verteilungsverfahren, die vor allem kleine Parteien benachteiligten. Unter dem Doppelproporz werden die Sitze (mit Ausnahme des Kantons Wallis) über den ganzen Kanton hinweg zugeteilt, was es für kleinere Parteien leichter macht, Mandate zu gewinnen. Zwar relativieren die vielerorts geltenden gesetzlichen Quoren diese Aussage, die gesetzlichen Hürden liegen aber immer noch weniger hoch als die natürlichen Quoren in einigen Wahlkreisen unter Hagenbach-Bischoff.

Daraus lässt sich allerdings nicht schliessen, dass der Doppelproporz kleinere Parteien «bevorteilen» würde. Das wird bereits klar, wenn man die Stimmenanteile der Parteien mit ihren Sitzanteilen vergleicht. Beispielsweise erhielt die SP im Kanton Schaffhausen bei den letzten Wahlen 23 Prozent der Stimmen. Unter dem Hagenbach-Bischoff-Verfahren hätte sie damit 18 von 60 Sitzen im Kantonsrat (also 30 Prozent) geholt. Unter dem Doppelproporz sind es «nur» 14 Sitze, was ziemlich genau der Stärke der Partei entspricht.

Um eine allgemeine Aussage darüber zu gewinnen, wie gut das neue Wahlsystem die Stärken der Parteien im Parlament abbildet, verwenden wir den Gallagher Index of Disproportionality. Dieser misst die Unterschiede zwischen Stimmenanteilen und Sitzanteilen aller Parteien und fasst sie in einer Zahl zusammen, wobei die Differenzen jeweils quadriert werden. Deutliche Abweichungen zwischen dem Rückhalt einer Partei unter den Wählern und ihrer Stärke im Parlament resultieren in einem höheren Indexwert.

Nimmt man den Gallagher Index als Massstab, ist der Trend in allen sieben Kantonen eindeutig: Unter dem Doppelproporz ist die Sitzverteilung deutlich proportionaler, als sie es unter dem alten Wahlsystem war beziehungsweise gewesen wäre. In allen Kantonen sank der Indexwert, zum Teil massiv. Am schwächsten war der Rückgang im Kanton Wallis, was zum einen daran liegt, dass der Doppelproporz nur innerhalb von Wahlregionen und nicht über den ganzen Kanton hinweg zur Anwendung kommt, zum anderen an der hohen 8-Prozent-Sperrklausel. Dennoch hat sich der Wert auch im Wallis mehr als halbiert. Abbildung 1 gibt eine Übersicht über die Auswirkung des Doppelproporz auf die Disproportionalität der Sitzverteilung.

Gallagher Index

Abbildung 1: Vergleich der Disproportionalität der Sitzverteilung (gemäss Gallagher Index) unter dem alten Wahlsystem (helle Balken) und dem Doppelproporz (dunkle Balken).

3.3. Gegenläufige Sitzvergebungen

Der Doppelproporz verteilt die Sitze so auf die Parteien, dass über den ganzen Kanton hinweg die Sitzanteile möglichst genau den Stimmenanteilen entsprechen. Dies hat den Nachteil, dass innerhalb der Wahlkreise die Proportionalität zuweilen relativiert wird. Wenn beispielsweise eine Partei im Kanton Schwyz in jedem Wahlkreis 5 Prozent der Stimmen holt, hat sie Anspruch auf 5 Sitze. Allerdings hat kein Wahlkreis mehr als 10 Sitze, sodass ein Anteil von 5 Prozent nirgends einen Sitzgewinn garantiert. Weil die Partei die ihnen zustehenden Sitze irgendwo erhalten muss, teilt sie ihr das System tendenziell in jenen Wahlkreisen zu, wo sie aufgrund ihres Stimmenanteils am nächsten an einem Mandat ist. Das kann dazu führen, dass eine Liste in einem Wahlkreis mehr Sitze als eine andere gewinnt, obwohl sie weniger Stimmen erhalten hat.

Allerdings können solche gegenläufigen Sitzvergebungen auch unter dem Hagenbach-Bischoff-Verfahren auftreten, sofern Listenverbindungen erlaubt sind. Ist eine Liste mit einer oder mehreren anderen verbunden, ist es möglich, dass sie dank dieser Verbindung zu einem Mandat kommt, das sonst einer anderen Liste zugefallen wäre.

Doch wie oft kommen gegenläufige Sitzvergebungen in der Praxis vor? Die Analyse zeigt, dass es sich insgesamt um ein eher seltenes Phänomen handelt. Bei den letzten sieben Wahlen unter dem doppeltproportionalen Verfahren fielen lediglich 11 von 750 Sitzen einer Liste zu, obwohl eine andere im betreffenden Wahlkreis mehr Stimmen erhalten hatte. Das entspricht einem Anteil von etwa 1.5 Prozent. Am meisten gegenläufige Sitzvergebungen, nämlich deren 3, gab es im Kanton Schwyz. Das dürfte mit damit zusammenhängen, dass es in Schwyz sehr viele und insbesondere viele kleine Wahlkreise gibt.[14] Die Stimmen, die dort nicht zu einem Sitzgewinn führen, müssen in anderen Wahlkreisen zu Mandaten für die betreffenden Parteien «verwertet» werden.

Interessant ist der Blick auf die drei Kantone, in denen unter dem alten Wahlsystem Listenverbindungen möglich waren (Zürich, Schaffhausen und Aargau). Wäre bei den jüngsten Wahlen das frühere Verfahren zur Anwendung gekommen, hätte es in zwei der drei Kantone mehr gegenläufige Sitzvergebungen gegeben, als unter dem Doppelproporz zu beobachten waren.[15] Dies relativiert die vielfach kritisierten Verzerrungen des Doppelproporz.[16]

4. Weitere Auswirkungen

4.1. Auswahl für die Wähler

Unter dem Doppelproporz sind Stimmen, die in einem Wahlkreis nicht zu einem Sitzgewinn führen, nicht verloren, sondern können der Partei anderswo zu einem Mandat verhelfen. Deshalb haben Parteien einen Anreiz, in möglichst vielen Wahlkreisen Listen aufzustellen, um Stimmen zu sammeln, die ihnen bei der Oberzuteilung helfen. Zu erwarten wäre demnach, dass insbesondere in kleinen Wahlkreisen die Zahl der eingereichten Listen zunimmt.

Der Blick auf die sieben Kantonen lässt den Schluss zu, dass dies tatsächlich der Fall ist. Interessant ist wiederum der Kanton Schwyz: Bei den letzten Wahlen unter dem Hagenbach-Bischoff-System 2012 stand in 9 der 30 Wahlkreisen jeweils nur eine Partei beziehungsweise ein Kandidat – es handelte sich ausnahmslos um Einerwahlkreise – zur Auswahl.[17] Bei den ersten Wahlen unter dem Doppelproporz waren es nur noch 2.[18] Im Durchschnitt aller Wahlkreise stieg die Zahl der antretenden Parteien von 2.6 auf 4.

In den anderen Kantonen lässt sich eine ähnliche Entwicklung feststellen. Von den sieben Kantonen, die zum Doppelproporz wechselten, verzeichneten sechs bei den ersten Wahl unter dem neuen System mehr Parteien.[19] Erstaunlich ist, dass die Zahl der Parteien selbst in Kantonen zunahm, die unter dem alten Wahlsystem Listenverbindungen erlaubt hatten (diese erleichtern kleinen Parteien tendenziell die Kandidatur). Die einzige Ausnahme ist Zürich, wo die durchschnittliche Zahl der Parteien leicht sank, was allerdings fast ausschliesslich auf die Entwicklung in den Stadtzürcher Wahlkreisen zurückzuführen ist.[20]

Ein Effekt, der sich in allen Kantonen zeigt, ist, dass vor allem in kleinen Wahlkreisen die Auswahl für die Wähler markant zunahm. Betrachtet man nur die Wahlkreise mit weniger als drei Sitzen (in allen Kantonen), war die Zahl der Parteien bei der ersten Wahl unter dem Doppelproporz im Schnitt mehr als doppelt so hoch wie zuvor.[21]

4.2. Wahlbeteiligung

Wenn die Auswahl (zumindest in den meisten Wahlkreisen) zunimmt und Stimmen einen Einfluss auf die Sitzverteilung haben, auch wenn die betreffende Partei im Wahlkreis selber chancenlos ist, erhöht sich tendenziell der Anreiz, an der Wahl teilzunehmen. Zu erwarten wäre deshalb, dass die Beteiligung (leicht) zunimmt. Ein Blick auf die Zahlen stützt diese Erwartung indes nicht. In sechs von sieben Kantonen ging die Beteiligung bei den ersten Wahlen unter dem neuen System zurück. Einzig in Nidwalden nahm sie gegenüber den vorangegangenen Wahlen minim zu.

Allerdings ist bei diesen Vergleichen zu berücksichtigen, dass die Beteiligung an kantonalen Wahlen generell rückläufig ist. Aus diesem Grund wurden die Veränderungen der Entwicklung in sämtlichen Kantonen in der gleichen Periode gegenübergestellt. Auch diese Rechnung zeigt aber keinen positiven Effekt des Doppelproporz auf die Wahlbeteiligung. In fünf von sieben Kantonen entwickelte sich die Wahlbeteiligung bei den ersten Wahlen unter dem neuen Wahlsystem schlechter als der Durchschnitt aller Kantone.[22]

Natürlich ist das Wahlsystem nur einer von mehreren (möglichen) Einflussfaktoren für die Wahlbeteiligung. Die Parteienkonkurrenz, die wahrgenommene Bedeutung des betreffenden Urnengangs, die Zugänglichkeit der Stimmabgabe oder die Demografie spielen ebenfalls eine Rolle, mutmasslich sogar eine grössere. Um den Einfluss des Wahlsystems zu identifizieren, wäre eine detailliertere Analyse nötig, die den Rahmen dieses Artikels sprengt. Zumindest lassen aber die hier erhobenen Daten den Schluss zu, dass der Doppelproporz insgesamt wohl keinen positiven Einfluss auf die Beteiligung hatte.

Interessant ist allerdings wiederum der Blick auf die kleinen Wahlkreise: Dort weist der Trend vielerorts in die andere Richtung. Während beispielsweise bei den Kantonsratswahlen 2016 im Kanton Schwyz die Beteiligung insgesamt um fast 6 Prozentpunkte zurückging, wuchs sie in den Einerwahlkreisen um rund 2 Prozentpunkte.[23] In den anderen Kantonen halten sich positive und negative Trends die Waage, wobei die Zahl der Beobachtungen dort deutlich kleiner ist (es gibt insgesamt nur 6 kleine Wahlkreise, während es in Schwyz deren 17 sind).

5. Fazit

Wahlsysteme setzen den demokratischen Anspruch in die Realität um und legen dabei unterschiedlichen Wert auf bestimmte Aspekte oder Ziele; sie beeinflussen die Parteienlandschaft[24] und sind gerade deshalb oft umstritten.[25]

Der vorliegende Artikel hat untersucht, wie sich die Einführung eines neuen Wahlsystems, konkret des Doppelproporz, in sieben Kantonen auswirkt. Der Doppelproporz gibt dem Ziel ein grosses Gewicht, dass jeder Wähler möglichst frei entscheiden und den gleichen Einfluss auf das Wahlresultat ausüben kann, unabhängig davon, in welchem Wahlkreis er wohnt und welche Partei er wählt. Ausserdem sucht er eine möglichst proportionale Verteilung der Sitze auf die Parteien sowohl im gesamten Wahlgebiet als auch in den einzelnen Wahlkreisen zu erreichen.

Die Untersuchung hat gezeigt, dass der Doppelproporz diese beiden Ziele erreicht. Zum einen wird die Erfolgswertgleichheit besser gewährleistet als unter dem Hagenbach-Bischoff-System. Zum anderen ist die Sitzverteilung deutlich proportionaler. Die konkrete Folge davon ist, dass tendenziell grosse Parteien, die im Hagenbach-Bischoff-System bevorteilt werden, unter dem Doppelproporz weniger Sitze erhalten. Man kann dies als Nachteil auffassen, wenn es darum geht, im Parlament möglichst leicht Mehrheiten zu beschaffen (wobei dies in klassischen parlamentarischen Systemen mit Regierung und Opposition wichtiger ist als in der Schweiz mit ihrem Mischsystem). Dem Anspruch eines Proporzsystems wird dieses Ergebnis aber besser gerecht.

Wie viele Sitze aufgrund des neuen Wahlsystems anders verteilt werden, hängt vom Kontext ab; im Durchschnitt der untersuchten Kantone sind es etwa zehn Prozent aller Mandate. Der Doppelproporz führt also durchaus zu Veränderungen bei der Zusammensetzung des Parlaments, aber nicht zu politischen Erdbeben.

Der Preis der genauen Abbildung der Parteistärken in der gesamtkantonalen Sitzverteilung können Abstriche bei der Proportionalität in einzelnen Wahlkreisen sein. Diese halten sich indes in Grenzen. Gegenläufige Sitzvergebungen treten lediglich bei 1.5 Prozent der Mandate auf.

Eine weitere Auswirkung des Doppelproporz besteht darin, dass die Auswahl für die Wähler insbesondere in kleinen Wahlkreisen grösser ist. In Wahlkreisen mit einem oder zwei Sitzen hat sich die Zahl der Listen, die zur Wahl stehen, im Durchschnitt mehr als verdoppelt. Hingegen lassen die Daten nicht den Schluss zu, dass der Doppelproporz zu einer höheren Wahlbeteiligung führt – die Partizipation hat im Gegenteil in den meisten Kantonen abgenommen, auch wenn der Trend in kleinen Wahlkreisen positiver ist.

Der Entscheid für ein bestimmtes Wahlsystem ist ein politischer. Bei der gegenwärtig diskutierten Frage, wie gross die Freiheit der Kantone bei der Ausgestaltung ihres Wahlrechts sein soll, geht es letztlich darum, wie weitreichend die Kompetenz der (kantonalen) Politik und wie weitgehend jene der Justiz sein soll.

Klar ist, dass das Bundesgericht den Kantonen nicht ein bestimmtes Wahlsystem vorschreiben kann. Der Vorteil des Doppelproporz besteht darin, dass er die Wahlrechtsgleichheit gewährleistet, während gleichzeitig die bestehenden Wahlkreise beibehalten werden können. Die bisherigen Erfahrungen mit dem Verfahren sind gut, die Einhaltung der Wahlrechtsgleichheit und die Proportionalität der Sitzverteilung werden damit verbessert, wie auch die vorliegende Analyse bestätigt. Die teilweise erbitterte Opposition gegen den Doppelproporz erscheint im Rückblick daher übertrieben und ist wohl zu einem wesentlichen Teil mit parteipolitischen Interessen zu erklären.[26]

 


[1] Oft wird auch vom «Pukelsheim-System» oder vom «doppelten Pukelsheim» gesprochen, nach dem Mathematiker Friedrich Pukelsheim, der das Verfahren massgeblich entwickelt hat.

[2] Der Kanton Uri hat bislang noch kein neues Wahlsystem eingeführt, muss dies gemäss Bundesgerichtsurteil vom Oktober 2016 aber bis zu den nächsten Landratswahlen im Jahr 2020 tun. Der Regierungsrat schlägt ein Mischwahlsystem vor, bei dem in den kleinsten Wahlkreisen nach dem Mehrheitswahlsystem gewählt wird und in den anderen nach dem Doppelproporz.

[3] Entwurf für einen Bundesbeschluss über die Souveränität der Kantone bei der Festlegung ihrer Wahlverfahren, BBl 2018 19.

[4] Siehe zur Entstehungsgeschichte: Claudio Kuster, «Ein ‹Bundesgesetz gegen die wahlrechtliche Beschneidung Lausannes?›», Napoleon’s Nightmare, 1. Juni 2015.

[5] Vgl. Thomas Poledna (1988): Wahlrechtsgrundsätze und kantonale Parlamentswahlen.

[6] Das Bundesgericht erachtet Verstösse gegen die Erfolgswertgleichheit unter gewissen Bedingungen als zulässig, namentlich, wenn diese durch geografische, historische, sprachliche, religiöse etc. Gegebenheiten begründet sind. Macht ein Kanton jedoch von der Möglichkeit des Doppelproporzes (oder anderer wahlkreisübergreifender Ausgleichsmassnahmen) keinen Gebrauch, lassen sich im Proporzwahlverfahren Wahlkreise, die gemessen am Leitwert eines grundsätzlich noch zulässigen natürlichen Quorums von 10 % deutlich zu klein sind, selbst dann nicht mehr rechtfertigen, wenn gewichtige Gründe wie die obengenannten für die Wahlkreiseinteilung bestehen (BGE 143 I 92 E. 5.2).

[7] Diesen Weg wählte einzig der Kanton Thurgau mit der Bezirksreform 2009.

[8] Die Kantone Luzern und Freiburg konnten auf diese Weise ihr Wahlsystem bundesrechtskonform ausgestalten.

[9] BGE 1C_59/2012 vom 26. September 2014.

[10] Auf kommunaler Ebene hat die Stadt Zürich den Doppelproporz eingeführt; er kam temporär auch im Nachgang von Gemeindefusionen etwa in den Städten Schaffhausen oder Aarau zur Anwendung.

[11] Der Kanton Schaffhausen führte den Doppelproporz 2008 im Nachgang einer Verkleinerung des Kantonsrats von 80 auf 60 Mitglieder ein.

[11a] Der Kanton Wallis wählte überdies am 25. November 2018 einen Verfassungsrat, der ebenfalls im Doppelproporz gewählt worden ist.

[12] Parteien, die unter dem alten Wahlsystem in einem Wahlkreis nicht angetreten waren, wurden nur dann einer Listenverbindung in diesem Wahlkreis zugeordnet, wenn sie überall sonst, wo sie antraten, mit der/den gleichen Partei(en) eine Listenverbindung eingegangen waren.

[13] https://www.math.uni-augsburg.de/htdocs/emeriti/pukelsheim/bazi/

[14] Siehe zur Konstellation im Kanton Schwyz auch: Claudio Kuster, «Doppelproporz Schwyz: ‹Kuckuckskinder› nicht im Sinne der Erfinder», Napoleon’s Nightmare, 2. März 2015.

[15] Man könnte dies als Argument gegen Listenverbindungen verwenden. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass es ohne Listenverbindungen zwar keine gegenläufigen Sitzvergebungen gegeben hätte, dafür wäre die Disproportionalität in zwei von drei Kantonen noch höher gewesen. Listenverbindungen führen also tendenziell zu einer besseren Abbildung der Parteistärken im Parlament zum Preis möglicher Verzerrungen in einzelnen Wahlkreisen.

[16] Vgl. etwa Schweizerische Bundeskanzlei, «Proporzwahlsysteme im Vergleich», Seite 18.

[17] In den meisten Fällen erhielten auch einzelne «Diverse» Stimmen. Diese Kategorie wurde als Partei beziehungsweise Kandidat gezählt, sofern sie mindestens 10 Prozent der Stimmen ausmachte.

[18] Dass es überhaupt noch Wahlkreise ohne Parteienkonkurrenz gab, hat damit zu tun, dass die Hürden, um eine Liste einzureichen, nach wie vor relativ hoch sind: Der Wahlvorschlag muss von fünf bis 25 Stimmberechtigten (je nach Wahlkreisgrösse) unterzeichnet werden – in einem Wahlkreis wie Riemenstalden (52 Stimmberechtigte) kein leichtes Unterfangen.

[19] Bei dieser Zählung wurden separate Listen, die klar mit einer bestimmten Partei assoziiert waren, dieser zugerechnet (z.B. Jungparteien-Listen oder regionale Listen).

[20] Viele Parteien traten bei den Wahlen 2003 nur in einem Wahlkreis an, teilweise handelte es sich um Spassparteien.

[21] Dieses Ergebnis dürfte für den Kanton Uri aufschlussreich sein, welcher sein Wahlsystem überarbeiten muss. Die Regierung schlägt vor, dass in Wahlkreisen mit mehr als zwei Sitzen künftig der Doppelproporz zur Anwendung kommt. In den kleinen Wahlkreisen, also dort, wo die Auswirkungen des Doppelproporz besonders relevant sind, soll hingegen weiter im Majorzverfahren gewählt werden.

[22] Der Effekt scheint nicht auf eine generelle «Demokratiemüdigkeit» in den betreffenden Kantonen zurückzuführen sein. Jedenfalls zeigt ein Blick auf die Beteiligungsraten bei nationalen Volksabstimmungen, dass diese sich in den sieben Kantonen in etwa gleich gut (beziehungsweise schlecht) entwickelte wie im Rest des Landes.

[23] Aufschlussreich ist, dass die Beteiligung dort besonders stark zulegte, wo die Zahl der kandidierenden Parteien am stärksten wuchs.

[24] Maurice Duverger (1951): Les Partis Politiques.

[25] Andrea Töndury: «Der ewige K(r)ampf mit den Wahlkreisen», in: Andrea Good, Bettina Platipodis (Hrsg.): Direkte Demokratie. Herausforderungen zwischen Politik und Recht. Festschrift für Andreas Auer zum 65. Geburtstag.

[26] Die detaillierten Zahlen, auf denen diese Analyse beruht, können hier abgerufen werden.

Das Wahlsystem, das Zürcher Wähler vom Bauchweh befreien (und gleichzeitig den Berner Staatshaushalt um 500’000 Franken entlasten) könnte

Das Verfahren, mit dem in der Schweiz die Ständeräte gewählt werden, hat offensichtliche Mängel. Höchste Zeit, über Alternativen zu diskutieren.

Die SVP-Wähler im Kanton Zürich stehen vor einem Dilemma: Am kommenden Sonntag müssen sie einen zweiten Ständerat bestimmen, und wenn es – aus Sicht der SVP – blöd läuft, wird auch der Zweite aus dem linken Lager kommen. Dann nämlich, wenn sich die Stimmen der bürgerlichen Wähler auf SVP-Kandidat Hans-Ueli Vogt und FDP-Kandidat Ruedi Noser aufteilen, während das linke Lager geschlossen für den Grünen Bastien Girod stimmt und dieser damit obenauf schwingt. Verhindern liesse sich dies am besten, indem sich die bürgerlichen Stimmen auf den aussichtsreicheren Kandidaten konzentrieren – wohl also Ruedi Noser. Sollen also die SVP-Wähler ihren bevorzugten Kandidaten Vogt wählen oder ihn zugunsten von Noser verschmähen, um Girod zu verhindern?

Die Wähler auf der anderen Seite des politischen Spektrums befinden sich im umgekehrten Dilemma: Den meisten SP-Wählern steht Bastien Girod näher als Ruedi Noser. Geben sie ihre Stimme aber Girod, gehen sie das Risiko ein, dass SVP-Kandidat Vogt mit ihrer Mithilfe in den Ständerat gewählt wird. Sollen sie ihrem bevorzugten Kandidaten Girod die Stimme geben oder besser aus taktischen Gründen Noser wählen, um Vogt zu verhindern?

Vor analogen Dilemmata stehen viele Wähler auch im Nachbarkanton Aargau, der ebenfalls am Sonntag seinen zweiten Ständeratssitz besetzt. Wähler aus dem linken politischen Spektrum würden wohl am liebsten CVP-Frau Ruth Humbel wählen, viele von ihnen werden aber versucht sein, stattdessen FDP-Kandidat Philipp Müller zu unterstützen, weil ihnen dieser immer noch lieber ist als SVP-Mann Hansjörg Knecht. Umgekehrt müssen sich SVP-Wähler fragen, ob sie wirklich ihrem eigenen Kandidaten die Stimme geben wollen, wenn dadurch die Chancen der CVP-Kandidatin Humbel steigen.

Einladung zum taktischen Wählen

Den meisten Wähler bereitet es eher Bauchweh als Freude, vor solchen Entscheidungen zu stehen. Leider konfrontiert sie das Wahlsystem, das in den meisten Kantonen[1] für den Ständerat zur Anwendung kommt, immer wieder damit. Es lädt dazu ein, taktisch zu wählen.[2] Umso erstaunlicher, dass es in der öffentlichen Diskussion in den Kantonen kaum einmal in Frage gestellt wird. Dabei gäbe es durchaus Alternativen, die in mehrerer Hinsicht vorteilhaft wären.

Gehen wir beispielsweise einmal davon aus, die Zürcher Wähler könnten nicht einfach einen Namen auf den Wahlzettel schreiben, sondern könnten die drei Kandidaten nach ihren Präferenzen ordnen. In einem einfachen Beispiel sieht das so aus:

 

Wähler A Wähler B Wähler C Wähler D Wähler E
Hans-Ueli Vogt (SVP) 1 1 2 3 3
Ruedi Noser (FDP) 2 2 1 1 2
Bastien Girod (Grüne) 3 3 3 2 1

 

Jeder Wähler hat also angegeben, welcher Kandidat ihm am liebsten ist, aber auch, wen er bevorzugen würde, falls sein Lieblingskandidat nicht gewählt würde.

Wie geht man nun mit diesem Präferenzen um?

  • Zunächst schaut man, ob ein Kandidat von einer Mehrheit der Wähler als erste Wahl angegeben wird. Dieses Vorgehen entspricht jenem in den ersten Wahlgängen der Ständeratswahlen. Das absolute Mehr liegt bei 3 Stimmen. Diese Marke erreicht keiner der drei Kandidaten.
  • Daher wird als zweiten Schritt der Kandidat, der am wenigsten Erstpräferenzstimmen erhalten hat, ausgeschlossen. In diesem Beispiel ist das Bastien Girod. Die Stimmen seiner Wähler gehen jedoch nicht verloren, sondern werden gemäss ihren Präferenzen an die anderen Kandidaten verteilt. In diesem Beispiel hat Bastien Girod nur einen Wähler (Wähler E), dessen zweite Präferenz Ruedi Noser ist. Seine Stimme geht daher an Noser.
  • Nun schaut man erneut, ob jemand das absolute Mehr erreicht hat. In diesem Beispiel hat Noser nun 2+1=3 Stimmen. Er ist damit gewählt.

Dieses Wahlsystem ist unter dem Namen Single Transferable Vote (auch Präferenzwahlverfahren) bekannt.[3] Es kommt unter anderem in Australien, Indien, Irland und Nordirland zur Anwendung.

Nun werden bei Ständeratswahlen in den meisten Kantonen nicht nur ein Sitz, sondern zwei Sitze vergeben. Das System lässt sich aber auch da problemlos anwenden. Dabei muss ein Anteil der Stimmen definiert werden, mit dem ein Kandidat gewählt ist. (In der Regel verwendet man die so genannte Droop-Quote, die bei zwei Sitzen 33.3 Prozent der Stimmen entspricht, es gibt aber auch andere Optionen, etwa die Hare-Quote, die in diesem Fall bei 50 Prozent liegt.) Liegt ein Kandidat darüber, ist er gewählt und seine «übriggebliebenen» Stimmen werden an die anderen Kandidaten verteilt.

Dieses System hat mehrere Vorteile:

  • Erstens kann verhindert werden, dass ein Kandidat nur deshalb gewählt wird, weil sich seine Gegner gegenseitig Stimmen wegnahmen. Dank den Präferenzen, die jeder Wähler angeben kann, ist keine Stimme verloren.
  • Zweitens gibt es viel weniger Anreize, taktisch zu wählen – dadurch fällt auch das Bauchweh weg, das damit verbunden ist. Im obigen Beispiel konnte Wähler E die Stimme seinem bevorzugten Kandidaten geben, ohne befürchten zu müssen, dass er damit seinem am wenigsten bevorzugten Kandidaten zur Wahl verhelfen könnte.
  • Drittens ist schon nach dem ersten Wahlgang klar, wer in den Ständerat einzieht.
  • Viertens sparen sich Wähler und Behörden damit den Aufwand, einen zweiten Wahlgang durchzuführen. So könnte der Kanton Bern, der jedes Jahr über eine Milliarde Franken aus dem Finanzausgleich erhält, seine Staatskasse pro Wahl um 500’000 Franken entlasten (bei den anderen Kantonen dürfte sich der Betrag in ähnlicher Grössenordnung bewegen).

Spätestens das letzte Argument sollte die kostenbewussten Schweizer davon überzeugen, alternative Wahlsysteme zumindest einmal zu prüfen. Denn eine Diskussion darüber fehlte bislang fast gänzlich, trotz der offensichtlichen Nachteile des geltenden Systems.

 


[1] Ausnahmen bilden die Kantone Jura und Neuenburg, die im Proporzverfahren wählen.

[2] Grund dafür ist, dass im zweiten Wahlgang das relative Mehr zur Anwendung kommt, dass also jener Kandidat gewinnt, der die meisten Stimmen hat, auch wenn er nicht die absolute Mehrheit der Stimmen erreicht.

[3] Kommt das System in Einerwahlkreisen zur Anwendung, wird es meist Alternative Vote oder Instant-runoff voting genannt.