Category Archives: Schottland

Wie aus einer Brauerei eine separatistische Trutzburg wurde

Vor 20 Jahren sagten die Stimmberechtigten in Schottland mehrheitlich Ja zu einem eigenen Parlament. Dieses grenzt sich nicht nur architektonisch von London ab.

Der Unterschied zwischen dem nationalen britischen Parlament in London und dem schottischen Regionalparlament in Edinburgh könnte kaum grösser sein. Dort der imposante barocke Bau mitten im Zentrum der Stadt, hier das moderne Gebäude am Stadtrand, das von aussen wie ein Museum für moderne Kunst aussieht. Dort die prunkvollen, altehrwürdigen Kammern mit purpurrot und smaragdgrün gepolsterten Bänken, auf denen sich die Politiker aneinanderdrängen, hier die geräumigen Hallen, ein eigenes Pult inklusive Mikrofon und elektronischer Abstimmungsanlage für jeden Parlamentarier.

 

Scottish Parliament, Edinburgh
Baujahr 2004
Legislatives System unikameral
Sitze 129
Wahlsystem Mischsystem
Wahlkreise 73
Legislaturperiode 5 Jahre
Parteien 5

Vielleicht haben sich die Schotten bewusst von der Londoner Politik abgrenzen wollen, von der man sich hier oft vernachlässigt und unterschätzt fühlt. Vielleicht sind solche Unterschiede aber auch ganz natürlich zwischen einem Gebäude aus dem 16. und einem aus dem 21. Jahrhundert.

Von Westminster nach Holyrood

Die Schaffung eines eigenen Parlaments für Schottland im Jahr 1999 war der Höhepunkt der Politik der «Devolution», mit der die Regierung Tony Blairs auf den wachsenden Druck aus dem Norden des Landes für mehr Autonomie reagierte. Die Dezentralisierung der Macht betraf nicht nur Schottland, sondern auch Wales und Nordirland (nicht aber England, die grösste Region Grossbritanniens). 1997 stimmten die schottischen Stimmberechtigten der Selbstverwaltung gewisser Politikbereiche (etwa Bildung, Gesundheits- und Wohnungswesen) mit einer Dreiviertelmehrheit zu. Als Standort, um diese Fragen künftig zu entscheiden, wurde das Gelände einer ehemaligen Brauerei im Quartier Holyrood ausgewählt. Wenige Meter vom Parlamentsgebäude entfernt steigt das Gelände steil an. Wer sich die Mühe macht, den vom Parlament ausgehenden Weg nach oben auf den Arthur’s Seat auf sich zu nehmen, wird mit einer einzigartigen Aussicht über die Stadt belohnt.

Holyrood2

Das Parlamentsgebäude von aussen. (Foto: lz)

Das Innere des Parlamentsgebäudes ist schlicht gehalten. Keine von Pathos triefenden Erinnerungen an William Wallace und den schottischen Freiheitskampf. Das, obwohl die separatistische Scottish National Party (SNP) seit zehn Jahren die Regierung in Schottland stellt.

Holyrood1

Der moderne und lichtdurchflutete Parlamentssaal. (Foto: lz)

Nicht nur was das Innere und die Kompetenzen betrifft, unterschiedet sich das Regionalparlament in Edinburgh stark vom Parlament in London, sondern auch hinsichtlich der Zusammensetzung. Anders als in Westminster werden die Parlamentarier in Holyrood nicht im klassisch britischen Mehrheitswahlverfahren gewählt, sondern in einem Mischsystem, das im Ergebnis dem «kontinentaleuropäischen» Proporzsystem nahe kommt. Erstaunlicherweise gelang es der SNP im Jahr 2011 dennoch, eine absolute Mehrheit der Sitze zu erringen. Inzwischen hat sie diese wieder verloren, ist aber immer noch die mit Abstand stärkste Kraft im schottischen Parlament und bildet eine Minderheitsregierung. Zweitstärkste Partei sind seit 2016 die Konservativen, drittstärkste die einst tonangebende Labour-Partei.

Das nächste Referendum steht vor der Tür

Wenn es das Ziel Tony Blairs war, mit der «Devolution» schottische Unabhängigkeitsgelüste zu bändigen, muss dieser Plan als gescheitert betrachtet werden. Nachdem Schottland ein eigenes Parlament erhielt, machte die dort bald tonangebende SNP Druck für ein Unabhängigkeitsreferendum. Der konservative Premier David Cameron gestand der Regionalregierung ein solches schliesslich zu (es gibt keine formelle Möglichkeit für die Regionalregierung, ein Referendum selber anzusetzen). 2014 stimmte zwar eine Mehrheit von 55 Prozent gegen die Unabhängigkeit, doch Cameron versprach kurz vor dem Urnengang, als das Ja-Lager immer stärker zulegte, weitergehende Autonomie für Schottland. Das entsprechende Gesetz wurde vergangenes Jahr vom House of Commons verabschiedet.

Die Devolution weiterer Kompetenzen an Edinburgh rückte allerdings in den Hintergrund angesichts dessen, was im Juni vergangenen Jahres passierte. In einem weiteren Referendum sprachen sich 52 Prozent der Briten für den Austritt ihres Landes aus der EU aus. Im EU-freundlichen Schottland, wo über 60 Prozent gegen den Austritt stimmten, war das Resultat für viele ein Schock – und löste prompt Forderungen nach einem neuen Unabhängigkeitsreferendum aus. Im Februar deponierte die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon die Bitte nach einer neuerlichen Abstimmung offiziell bei ihrer Kollegin Theresa May.

Diese sieht sich nun in einer ungemütlichen Situation: Sie will den Bruch mit Brüssel umsetzen und hat den entsprechenden Prozess in Gang gesetzt. Doch könnte dieser Bruch einen weiteren Bruch innerhalb des Vereinigten Königreiches nach sich ziehen. Die Unsicherheit darüber, ob ein unabhängiges Schottland EU-Mitglied bleiben könnte, war einer der Hauptargumente der Unabhänigigkeitsgegner vor der Abstimmung 2014. Dieses Argument hat sich nun in sein Gegenteil verkehrt: Die Unabhängigkeit ist nun wohl die einzige Möglichkeit für Schottland, in der EU zu bleiben. Und mit den bereits versprochenen zusätzlichen Autonomierechten hat May im Gegensatz zu ihrem Vorgänger auch keine Trümpfe mehr in der Hand, um bei einer neuen Unabhängigkeitsabstimmung ein enges Rennen zu ihren Gunsten zu entscheiden.

Dieser Beitrag ist der dreitte Teil der Serie «ParliamentHopping», in der wir Parlamente rund um die Welt porträtieren.

Camerons verspäteter Gegenvorschlag

Am Donnerstag stimmen die Schotten darüber ab, ob sie weiter zu Grossbritannien gehören wollen. Das Rennen wird eng werden. Dabei hätte die britische Regierung schon längst alles klar machen können.

Darf am Donnerstag wieder hervorgeholt werden: Der Referendum Whisky Bild: Eigene Aufnahme

Damit wird am Donnerstag angestossen: Der Referendum Whisky. Bild: Eigene Aufnahme

Seit 1891 sind in der Schweiz 311 Volksinitiativen zustande gekommen. Lediglich 22 davon wurden an der Urne angenommen. Auf den ersten Blick ist das eine bescheidene Erfolgsbilanz. Allerdings bleibt dabei die indirekte Wirkung von Volksbegehren unberücksichtigt. Denn in Reaktion auf Initiativen beschliesst das Parlament oft einen direkten oder indirekten Gegenvorschlag, der das Anliegen aufnimmt, aber weniger weit geht. Dadurch gelingt es der Politik immer wieder, den Initianten den Wind aus den Segeln zu nehmen und ihr Begehren zum Scheitern zu bringen.

Die Urheber der Initiative können sich dann immerhin damit trösten, dass sie eine Veränderung angestossen haben – auch wenn sie weniger weit geht, als sie das ursprünglich wollten. Immerhin etwa die Hälfte aller Volksbegehren hinterlassen so indirekte Spuren in der Verfassungs- und Gesetzgebung.[1]

Ein anschauliches Beispiel für den Nutzen von Gegenvorschlägen bietet dieser Tage Grossbritannien: Am Donnerstag stimmt die Bevölkerung in Schottland darüber ab, ob sie nach über 300 Jahren die Union mit England auflösen und einen unabhängigen Staat gründen will. Gemäss Umfragen ist der Ausgang offen: Eine knappe Mehrheit der Bürger befürwortet zurzeit den Verbleib bei Grossbritannien, allerdings gibt es noch viele Unentschlossene.

London gegen Gegenvorschlag «Devo Max»

Möglich wurde das Referendum durch den triumphalen Sieg der separatistischen Scottish National Party (SNP) bei den Regionalwahlen 2011, als sie die absolute Mehrheit der Sitze im schottischen Parlament gewann[2] und alleine eine Regierung bilden konnte. Dies erlaubte ihr, die lange gehegten Pläne für eine Abstimmung über die Unabhängigkeit in Tat umzusetzen. Weil die Regionalregierung keine rechtliche Kompetenz dazu hat, musste die SNP darüber mit der britischen Regierung verhandeln.

Dabei spielte sich Interessantes ab. Es war nämlich der SNP-Chef Alex Salmond, der eine Art direkten Gegenvorschlag für sein eigenes Begehren auf den Tisch legte: Er wünschte, dass auf dem Stimmzettel neben dem Ja und dem Nein zur Unabhängigkeit noch eine dritte Option aufgeführt werde, die eine ausgebaute Dezentralisierung der Macht und mehr Subsidiarität von London nach Edinburgh bringen würde (die so genannte «Devo Max»[3]).

Stimmzettel vom 18. September 2014.

Stimmzettel vom 18. September 2014 zur Unabhängigkeit Schottlands.

Laut Befragungen geniesst dieser Weg grosse Unterstützung in der Bevölkerung. Denn viele Schotten möchten mehr Autonomie von London, stehen einer vollständigen Abspaltung jedoch skeptisch gegenüber. Umso erstaunlicher, dass ausgerechnet Salmond «Devo Max» auf den Tisch brachte, hätte doch eine solche Option den sicheren Tod für seine Unabhängigkeitspläne bedeutet.

Noch erstaunlicher war, dass sich der britische Premierminister David Cameron mit Händen und Füssen gegen Salmonds Vorschlag wehrte. Hätte er ihn angenommen, wäre der Fortbestand der Union gesichert gewesen. Doch Cameron wollte den Schotten kein Jota mehr Autonomie zugestehen. Er vertraute darauf, dass die Unabhängigkeit an der Urne ohnehin keine Mehrheit finden würde, und boxte eine binäre Ja/Nein-Abstimmung durch.

Zitterpartie trotz Camerons spätem Einlenken

Als der Vertrag über das Unabhängigkeitsreferendum im Herbst 2012 unterzeichnet wurde, stand Cameron in den Augen der meisten Beobachter als Gewinner da. Heute wäre es ihm wohl lieber, er hätte Salmonds Vorschlag damals nachgegeben. Denn die Unabhängigkeitsbefürworter haben in den letzten Wochen vor dem Urnengang deutlich Boden gutgemacht. Die Umfragen, die über Monate einen klaren Sieg des Nein-Lagers prognostizierten, weisen wenige Tage vor dem Urnengang auf einen knappen Ausgang hin. Eine Mehrheit gegen die Unabhängigkeit scheint zwar immer noch wahrscheinlicher, doch für die Unionisten wird es eine Zitterpartie.

In ihrer Angst vor einer Niederlage hat die Regierung in London deshalb kurz vor dem Urnengang die alte Idee Salmonds wieder aufgewärmt und stellt den Schotten weitergehende Autonomierechte in Aussicht, falls sie am Donnerstag Nein stimmen. Im Schweizer Jargon: Aus dem verpassten direkten wurde kurzerhand eine Art indirekter Gegenvorschlag gestrickt. Dieser Versuch eines Befreiungsschlags in letzter Minute wirkt allerdings wenig glaubwürdig, nachdem sich Cameron solange gegen diesen Vorschlag gestemmt hatte.

So kann sich Salmond, dem noch vor kurzem eine blamable Niederlage vorausgesagt wurde, bereits vor der Verkündung des Abstimmungsresultats als Sieger fühlen: Entweder ihm gelingt der Coup und Schottland wird unabhängig, oder er kann wenigstens für sich in Anspruch nehmen, London zu weitgehenden Zugeständnissen gebracht zu haben.

Cameron dagegen wird im besten Fall (Nein) noch mit einem blauen Auge davonkommen, im schlechteren (Ja) ein Desaster erleben, das ihm sein Amt kosten könnte. Immerhin dürfte er durch die Abstimmung in Schottland einiges über den Nutzen von Gegenvorschlägen gelernt haben.


[1] Gabriela Rohner: Die Wirksamkeit von Volksinitiativen im Bund 1848-2010, Diss. Zürich 2012.

[2] Im Gegensatz zum Parlament in Westminster wird das schottische Regionalparlament im Proporzsystem gewählt. Aufgrund der Ausgestaltung (unter anderem dem Sitzzuteilungsverfahren Hagenbach-Bischoff) werden die grossen Parteien aber immer noch leicht bevorzugt, weshalb es der SNP gelang, mit 45 Prozent der Wählerstimmen 53 Prozent der Sitze zu besetzen.

[3] Als «Devolution» wird der Prozess bezeichnet, der Schottland Ende der 1990er Jahren eine grössere Autonomie innerhalb des Vereinigten Königreichs brachte (insbesondere ein eigenes Parlament mit Gesetzgebungskompetenz in gewissen Bereichen).