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Fusion wider Willen: Wenn Gemeinden zwangsverheiratet werden

Ein Überblick über die Möglichkeit und Wirklichkeit von Zwangsfusionen von Gemeinden in den Schweizer Kantonen. Und wie solche begründet werden.

Ein Gastbeitrag von Sandro Lüscher[1]

1. Einleitung

Das schweizerische Gemeindewesen befindet sich in einem tiefgreifenden Wandlungsprozess. Alte Gemeindestrukturen werden durch neue Formen interkommunaler Zusammenarbeit und territoriale Umstrukturierungen abgelöst. Seit der Jahrtausendwende hat ein veritables Fusionsfieber eingesetzt. Jährlich werden dutzende territoriale Reformprojekte aufgegleist, von denen die grosse Mehrheit schliesslich auch die Abstimmungshürde nimmt. Der Gemeindebestand nahm seither um etwa 700 Gemeinden auf 2’212 ab.[2]

In der Regel verlaufen die Fusionen und Eingemeindungen einvernehmlich und im Interesse aller beteiligten Parteien. Trotzdem kommt es gelegentlich vor, dass einzelne Gemeinden gegen ihren Willen zur Fusion gedrängt werden. Darauf kann ein intensiver Rechtsstreit entbrechen, der bisweilen bis ans Bundesgericht als letztinstanzliche Entscheidungsbehörde weitergezogen wird.

Dieser Beitrag soll einerseits einen Überblick über die Rechtsgrundlagen und damit die Möglichkeiten für Zwangsfusionen in den Schweizer Kantonen bieten. Andererseits sollen anhand bisheriger Streitfälle die Argumente sowie bundesgerichtlichen Erwägungen für und wider Zwangsfusionen erörtert werden. Durch diese Gesamtschau kann ein Beitrag zu einem besseren Verständnis von Zwangsfusionen als «schwerstmöglicher Eingriff in den Schutzbereich der Gemeindeautonomie»[3] geleistet werden

2. Die kantonalen Rechtsgrundlagen für Zwangsfusionen

Im Unterschied zu anderen Staaten sind die öffentlichen Strukturen der Schweiz ausgeprägt dezentral organisiert. Die öffentlichen Verwaltungsaufgaben werden zu einem wesentlichen Teil von den Gemeinden als unabhängige demokratische Gebietskörperschaften und als Vollzugsorgane von Bund und Kantonen in subsidiärer Allzuständigkeit erledigt.[4] Nur wenn sie mangels Ressourcen dazu ausserstande sind oder wenn die Bereitstellung bestimmter öffentlicher Güter auf einer höheren Staatsebene effizienter vollbracht werden kann, findet eine vertikale Kompetenzverschiebung «nach oben» statt.

Dieses Subsidiaritätsprinzip findet seinen Niederschlag auch in der Kompetenzregelung für Gemeindereformen: Sie fallen in die Zuständigkeit der Kantone. Es gibt weder eine gesetzliche oder verfassungsmässige Grundlage, die dem Bund die aktive Einmischung in kommunale Fusionsprozesse erlauben würde, noch eine bundesrechtliche Bestandesgarantie zugunsten der Gemeinden. Die Bundesverfassung hält einzig fest: «Die Gemeindeautonomie ist nach Massgabe des kantonalen Rechts gewährleistet.»[5] Jeder Kanton hat daher sein eigenes Fusionsregime und seine eigene Praxis im Umgang mit «fusionsrenitenten» Gemeinden. Im Folgenden werden die 26 kantonalen Fusionsregimes in drei unterschiedliche Regime-Typen aufgeteilt.

Die drei Fusionstypen im Überblick.

 

2.1. Protektiver Typus: Bestandesgarantie

Dem ersten protektiven Typus werden jene 17 Kantone (AG, AI, AR, BL, BS, GE, NE, NW, OW, SG, SH, SO, SZ, UR, VD, ZG, ZH) zugerechnet, bei denen die Gemeindeautonomie durch eine in der Kantonsverfassung verankerte Bestandesgarantie geschützt wird.[6] Zwangsfusionen sind hier nicht erlaubt. Eine Möglichkeit, dies zu erreichen, ist die namentliche Aufzählung aller Gemeinden in der Kantonsverfassung (AI, AR, BS, OW, ZG)[7].

Der Kanton St. Gallen kennt zwar eine Verfassungsgrundlage für Zwangsfusionen.[8] Das konkretisierende Gemeindevereinigungsgesetz verzichtet aber auf diese Möglichkeit, womit auch in St. Gallen der Gemeindebestand gesetzlich geschützt ist.[9]

2.2. Regulativer Typus: Zwangsfusionen theoretisch möglich

Den zweiten regulativen Typus bilden die sechs Kantone (BE, FR, GL, GR, JU, LU), in denen eine Zwangsfusion zwar rechtlich möglich ist, bisher jedoch nie angewandt wurde.

Ein Zusammenschluss von Gemeinden gegen ihren Willen bedürfte immerhin einiger Voraussetzungen. So werden hier, eher vage, «überwiegende kommunale, regionale oder kantonale Interessen» (BE, FR)[10] oder dort das Erfordernis «einer wirksamen und wirtschaftlichen Aufgabenerfüllung» (LU)[11] verlangt. In Graubünden kann eine Gemeinde fusioniert werden, die infolge ihrer geringen Anzahl Einwohner oder unzureichender personeller oder finanzieller Ressourcen dauernd ausserstande ist, den gesetzlichen Anforderungen zu genügen und ihre Aufgaben zu erfüllen. Desgleichen droht Gemeinden, wenn ihr Mitwirken für die Abgrenzung oder Aufgabenerfüllung einer neuen Gemeinde unentbehrlich ist (eine Mehrheit der anderen betroffenen Gemeinden muss dem Zusammenschluss aber zugestimmt haben).[12] Man möchte hiermit verhindern, dass bei Zusammenschlüssen von Talschaften das Veto einer Gemeinde die ganze Fusion verhindert.[13] Auch im Jura wären Zwangsfusionen nur in Ausnahmefällen möglich, so etwa, wenn die Gemeinde aufgrund ihrer prekären finanziellen Lage nicht mehr in der Lage ist, ihren Verpflichtungen nachzukommen oder wenn ihre Organe in der Vergangenheit regelmässig unvollständig gebildet wurden.[14]

Das Organ, das die Zwangsfusion verfügen würde, ist regelmässig das kantonale Parlament.[15] In Luzern unterliegt dieser Beschluss dem fakultativen Referendum, womit das kantonale Stimmvolk über Zwangsfusionen befindet.[16]

2.2.1. Spezialfall Glarus

Seit dem 1. Januar 2011 sieht zwar auch die Verfassung der Kantons Glarus eine Bestandesgarantie für die nunmehr bloss drei Gemeinden vor.[17] Doch die Umstände, unter denen am 7. Mai 2006 die Glarner Landsgemeinde einer Massenfusion zustimmte, vermögen die zahlreichen Bedenken prozeduraler sowie verfassungsrechtlicher Art nicht gänzlich auszuräumen.[18] Denn bei der Zwangsfusion der 25 bestehenden Ortsgemeinden zu drei Einheitsgemeinden handelte es sich nicht um ein ordentliches Traktandum, sondern um einen Abänderungsantrag, der den ursprünglichen Antrag seitens des Landrats und der Regierung zur Schaffung eines zehn Gemeinden umfassenden Verbunds modifizierte. Es ist zum einen fraglich, ob das anwesende Stimmvolk in der Lage war, sich zu diesem spontan in der Versammlung eingebrachten Abänderungsantrag eine differenzierte Meinung zu bilden und über allfällige Konsequenzen zu räsonieren, die mit dem Fusionsentscheid verbunden sind.[19] Zum anderen wurden die Gemeinden weder angehört noch ging dem Entscheid eine Beschlussfassung der Gemeinden voraus, wie die Verfassung damals explizit verlangte.[20]

2.3. Restriktiver Typus: Zwangsfusionen effektiv angeordnet

Den dritten restriktiven Typus bilden schliesslich die drei Kantone (TG, TI, VS), in denen Zwangsfusionen nicht nur rechtlich möglich sind, sondern bereits effektiv angeordnet wurden.[21]

2.3.1. Thurgau

Per 1. Januar 1990 trat im Kanton Thurgau eine neue Verfassung in Kraft, mit der die seit der Helvetik bestehende Gemeindeordnung mit Orts- und Munizipalgemeinden komplett reformiert werden sollte. Aus den vormaligen 179 Orts- und Munizipalgemeinden sollten 80 leistungsfähige politische Gemeinden werden,[22] wofür eine Frist von zehn Jahren vorgesehen war.[23] Im Zuge dieser umfassenden Neugestaltung der Gemeindelandschaft wurden einzelne Gemeinden auch gegen ihren Willen fusioniert.[24]

Seit dieser Reformphase in den 1990er Jahren hat sich am Thurgauer Gemeindewesen wenig verändert. Zwangsfusionen bleiben aber möglich: Der Grossen Rat das Recht, «aus triftigen Gründen Änderungen in Bestand oder Gebiet politischer Gemeinden zu beschliessen, sofern mindestens die Hälfte der betroffenen Gemeinden zustimmt.»[25]

2.3.2. Wallis

Um die Jahrtausendwende sollten sich im Rahmen eines Fusionsprojekts im Walliser Bezirk Goms fünf Klein- und Kleinstgemeinden zu einer Einheitsgemeinde zusammenschliessen (Binn, Ausserbinn, Ernen, Mühlebach und Steinhaus). In einer konsultativen Vorabstimmung äusserten sich vier der fünf Gemeinden zustimmend zum Fusionsvorhaben. Die ablehnende Gemeinde Binn wurde darauf von der Planung ausgenommen. Zwei Jahre später lehnte die Gemeinde Ausserbinn das Fusionsprojekt in einer Volksabstimmung überraschenderweise deutlich ab.[26]

Der Grosse Rat leistete der eher dürftig begründeten Empfehlung des Staatsrats, der Fusion der vier Gemeinden (einschliesslich Ausserbinn) zuzustimmen, sodann Folge und besiegelte damit die Zwangsfusion von Ausserbinn. Rechtlich stützte man sich auf Art. 71 Abs. 2 Kantonsverfassung, wonach der Staatsrat unter gewissen Bedingungen Gemeinden zwingen kann, zusammenzuarbeiten oder sich zu öffentlich-rechtlichen Verbänden zusammenzuschliessen.[27] Gegen den Entscheid wurde beim Bundesgericht erfolglos ein Rekurs eingelegt.[28]

2.3.3. Tessin

Während die erwähnten Gemeindefusionen im Thurgau und Wallis Ausnahmecharakter hatten, haben Zwangsfusionen im Tessin bereits eine längere Tradition. Sie sind Teil oder Wirkung einer rigorosen Fusionsstrategie, welche die tessinische Regierung im Rahmen des kantonalen Richtplans schon seit Längerem verfolgt. Zählte der Südkanton im Jahr 1994 noch 247 Gemeinden, so waren es im April 2017 gerade noch deren 115. Bis ins Jahr 2020 sieht die ambitiöse Strategie gar nur noch 23 Einheitsgemeinden vor.[29] Besonders strukturschwache, abgelegene Talschaften sollten räumlich-infrastrukturell und wirtschaftlich besser erschlossen und in grössere, leistungsfähigere Gemeindeverbände integriert werden.

Doch die in den meisten Fällen von der kantonalen Regierung angeregten Fusionen treffen immer wieder auf Widerstand, gerade in peripheren Regionen, in deren Abgeschiedenheit sich im Verlaufe der Zeit ein starkes Eigenbewusstsein herausgebildet hat und wo das Bedürfnis nach politischer Autonomie vielleicht grösser ist als in zentrumsnahen Ortschaften. So wurden im Tessin bereits sieben Gemeinden gegen ihren Willen fusioniert.[30] Rechtsgrundlage bildet das Fusionsgesetz von 2003, welches vorsieht, dass der Grosse Rat unter Berücksichtigung des Gemeininteressens eine Region gegebenenfalls entgegen den Präferenzen einzelner Gemeinden eine Fusion verfügen kann. Obschon die für Fusionsfragen zuständigen Ämter um die Findung einvernehmlicher Lösungen bemüht sind und renitente Gemeinden vorgängig mit attraktiven Anreizstrukturen zu zähmen versuchen, verfährt das Tessin am resolutesten mit widerspenstigen Kommunen und schreckt bei ausbleibendem Erfolg auch vor Zwangsfusionen nicht zurück.

3. Argumente für Zwangsfusionen

Grundsätzlich sind die Gründe für Zwangsfusionen weitgehend identisch mit jenen regulärer Fusionen. Im Folgenden werden die wichtigsten drei resümiert.

3.1 Gewährleistung der Wirtschaftsentwicklung

Ein zentrales Argument für die (zwangsweise) Fusionierung von Gemeinden bilden Überlegungen wirtschaftsstruktureller und finanzpolitischer Art. Eine Gemeinde, die auf dem Autonomierecht pocht, muss einen wesentlichen Teil der öffentlichen Aufgaben in Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit erfüllen können.[31] Dies ist jedoch gerade in bevölkerungsarmen und entlegenen Gemeinden mit schlechten Entwicklungsaussichten wie etwa Ausserbinn VS (41 Einwohner) oder Vergeletto TI (65) nicht der Fall.

Bedingt durch die tiefen Steuereinkünfte können wesentliche öffentliche Dienstleistungen nicht oder nur unzureichend bereitgestellt werden. Solche Kleinstgemeinden befinden sich oftmals in finanzieller Abhängigkeit vom Kanton. Ausserbinn etwa bezog über einen Drittel seiner Einkünfte aus dem kantonalen Finanzausgleich.[32] Doch auch ein intakter Gemeindehaushalt schützt nicht zwingend vor einer Fusion. So fand im Rahmen eines Beschwerdegangs der Gemeinde Vergeletto beim Bundesgericht das Argument, finanziell auf den eigenen Beinen stehen zu können, bei den Richtern kein Gehör. Der Umstand, dass das gesamte Fusionsprojekt ohne die Gemeinde Vergeletto sinnlos gewesen wäre, wurde von den Richtern höher gewichtet als das Bedürfnis der Gemeinde nach Autonomie.[33] Diese auf das Gemeininteresse zielende Argumentation findet sich immer wieder bei Zwangsfusionen im Kanton Tessin.

3.2 Überwindung demokratischer Defizite

Oft werden demokratiepolitische Bedenken vorgebracht. Strukturschwache Kleinstgemeinden laufen mangels finanzieller Ressourcen, Verwaltungspersonal und Aspiranten für politische Ämter Gefahr, die lokale Demokratie zu unterhöhlen. Durch den Zusammenschluss mehrerer Gemeinden kann aus Sicht der Befürworter eine tragfähigere Grundlage für kommunales Handeln geschaffen werden: Nutzung von Skaleneffekten, Verbreiterung und Effizienzsteigerung des öffentlichen Angebots, Professionalisierung der Gemeindeverwaltung, Entschärfung des latenten Problems fehlenden politischen Wettbewerbs um Gemeindeämter, usw.

Ausserdem bestehen zwischen den involvierten Gemeinden oftmals Zweckverbände, die aus demokratischer Sicht nicht unproblematisch sind.[34] Durch die Fusion wird jene interkommunale Zusammenarbeit obsolet.

3.3 Selbstbehauptung im Wettbewerbsföderalismus

Daneben spielt auch die Erhaltung der Standortattraktivität eine wichtige Rolle bei Erwägungen von Zwangsfusionen. Die Kantone und Gemeinden stehen in einem wettbewerbsartigen Konkurrenzverhältnis zueinander. Von der öffentlichen Hand wird ein breit gefächertes Angebot zu günstigen Preisen erwartet (günstiges Bauland, gute öffentliche Schulen, intakte Infrastruktur, Arbeitsplätze, familienergänzende Strukturen usw.).

Diese Dynamik setzt insbesondere die Kantone unter Zugzwang, da von untätigen, strukturkonservativen und von Ausgleichszahlungen abhängigen Gemeinden die Gefahr ausgeht, dass sie die gesamte regionale Entwicklung hemmen. Zaudernde Fusionskandidaten respektive die Gemeindebevölkerung wird hierzu oftmals mit reizvollen Angeboten geködert. Die Gemeinde Ausserbinn versuchte man mit der Reduktion des Steuerfusses von 1.5 auf 1.3 doch noch in Fusionsstimmung zu bringen, jedoch ohne Erfolg.[35]

4. Argumente gegen Zwangsfusionen

Ungeachtet des stets individuellen Kontexts von Zwangsfusionen gibt auch einige wiederkehrende Contra-Argumentationsmuster.

4.1 Verletzung der Gemeindeautonomie und Demokratie

Einer Zwangsfusion geht notwendigerweise ein negativer Volksentscheid voraus. Die Missachtung des demokratischen Mehrheitswillens ist nicht nur ein herber Eingriff in das kommunale Selbstbestimmungsrecht, sondern stellt auch eine Verletzung der politischen Rechte der Stimmenden dar. Wenn ein Volksentscheid seine Rechtsverbindlichkeit verliert, dann wird dadurch das Vertrauen der Bürger in die lokale Demokratie unterminiert.

Dieser per se gewichtige Einwand findet indes bei Diskussionen rund um Zwangsfusionen kaum Resonanz, da nur dort zwangsfusioniert wird, wo die Rechtslage solche explizit gegen den Willen der betroffenen Gemeinden zulässt.

4.2 Verletzung justiziabler Verfahrensrechte

Trotzdem sind Gemeinden nicht komplett schutzlos übergeordneten Fusionsbestrebungen ausgeliefert. Diverse Kantone, in denen Zwangsfusionen möglich sind, sehen bestimmte Verfahrens- und Mitwirkungsrechte zugunsten der betroffenen Gemeinden vor. Diese Rechte sind überdies in der für die Schweiz im Juni 2005 in Kraft getretenen, teilweise unmittelbar anwendbaren Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung verbrieft.

Rechtlich bedeutsam wurde die Charta erstmals bei einer Verfassungsinitiative im Kanton Tessin, die den Zusammenschluss der Agglomerationsgemeinden um Locarno und um Bellinzona forderte. Der Grosse Rat erklärte die Initiative für ungültig, da sie alle Kantonsbewohner (also auch die nicht betroffenen) über das politische Schicksal dieser beiden Bezirke hätte entscheiden lassen, gegebenenfalls auch gegen deren Willen.[36] Die Initianten rekurrierten hiergegen vor dem Bundesgericht, das jedoch die Ungültigkeit bestätigte und zudem auf die Charta verwies,[37] die in Artikel 5 vorschriebt, dass «[b]ei jeder Änderung kommunaler Gebietsgrenzen die betroffenen Gebietskörperschaften vorher anzuhören [sind], gegebenenfalls in Form einer Volksabstimmung». Der fehlende oder ungenügende Einbezug betroffener Gemeinden und ihren Bevölkerungen kann folglich sehr wohl erfolgreich gerügt werden.

4.3 Entsolidarisierung, Entfremdung und politischer Kontrollverlust

Nebst diesen eher formellen Einwänden gibt es noch eine Reihe von Sorgen und Ängsten der Bevölkerung über den Fortbestand ihrer Gemeinschaft, die zwar kein justiziables Gewicht haben, erfahrungsgemäss dennoch oft den Kern des Widerstands bilden. Befürchtet wird der Verlust der kommunalen Identität oder der Zerfall des gemeinschaftlichen Gefüges und der inneren Solidarität infolge verstärkter Bevölkerungsbewegungen.

Gerade für «abgeschlossene Gemeinschaften» in der Peripherie kommen derartigen Überlegungen eine nicht zu vernachlässigende Bedeutung zu. Vorgebracht wird auch, dass aus dem Zusammenschluss eine Verringerung der politischen Einflussmöglichkeiten resultiert und dadurch die politische Kontrolle über das eigene Gemeindegebiet verloren geht.

5. Fazit

Seit den 1990er hat in der Schweiz ein veritables «Gemeindesterben» eingesetzt, der Gemeindebestand hat seither um über einen Viertel abgenommen. Doch einzelne Gemeinden bieten diesem Fusionstrend die Stirn und pochen auf ihre politische Eigenständigkeit. Oft tun sie dies erfolgreich, doch in einzelnen, wenigen Fällen greifen die kantonalen Behörden rigoros durch und zwingen Gemeinden zu Zusammenschlüssen. Dabei handelt es sich um schwerwiegende Eingriffe von grosser politischer Tragweite.

Aus staatspolitischer Sicht ist Zurückhaltung angezeigt, was die Verordnung solcher Zwangsmassnahmen anbetrifft. Denn Gemeinschaftsbildung setzt einen gemeinen Willen voraus, so wie auch eine Trauung die explizite Zustimmung von Braut und Bräutigam voraussetzt. Zum anderen beweisen nicht weniger als 22 Kantone, die bislang auf Zwangsfusionen verzichteten und stattdessen auf einen konsensuellen Lösungsweg sowie gezielte Anreizstrukturen setzen, dass es auch ohne geht.

 

Mitarbeit: Claudio Kuster

 


[1] Sandro Lüscher ist Politologe und Neuzeithistoriker, er arbeitet als Assistent und Doktorand am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich. Dieser Beitrag ist eine gekürzte Fassung seiner Arbeit im Rahmen des Seminars «Grösse und Demokratie: Territoriale Reformen und demokratische Legitimität».

[2] Stand 1. Januar 2019.

[3] Meyer, Kilian (2011): Gemeindeautonomie im Wandel. Eine Studie zu Art. 50 Abs. 1 BV unter Berücksichtigung der Europäischen Charta der Gemeindeautonomie (Dissertation). Norderstedt: Books on Demand GmbH: 389.

[4] Meyer, Kilian (2015): Verhältnis von Bund und Kantonen, Abschnitt 3 zu Gemeinden. In: Waldmann, Bernhard, Belser, Eva Maria und Epiney, Astrid (Hrsg.) Bundesverfassung. Basel: Helbing Lichtenhahn Verlag, 949-968: 952.

[5] Art. 50 Abs. 1 BV.

[6] Meyer 2011: 17.

[7] Art. 15 Abs. 1 KV/AI; Art. 2 KV/AR; § 57 Abs. 1 KV/BS; Art. 2 Abs. 1 KV/OW; § 24 Abs. 1 KV/ZG.

[8] Art. 99 Abs. 2 lit. b KV/SG.

[9] Von Rohr, Muriel (2018): Gemeindefusionen – Rechtliche Aspekte und bisherige Erfahrungen. Zürich: 20, 51 ff.

[10] Art. 108 Abs. 3 KV/BE; Art. 135 Abs. 4 KV/FR.

[11] § 74 Abs. 3 KV/LU.

[12] Art. 72 Abs. 1 Gemeindegesetz/GR.

[13] Von Rohr 2018: 23.

[14] Art. 112 Abs. 3 KV/JU, Art. 69b Loi sur les communes/JU.

[15] Bspw. Art. 108 Abs. 3 KV/BE; § 74 Abs. 3 KV/LU; Art. 112 Abs. 3 KV/JU; Art. 72 Abs. 1 Gemeindegesetz/GR. Vgl. Von Rohr 2018: 58.

[16] § 74 Abs. 3 KV/LU.

[17] Art. 118 Abs. 1 KV/GL.

[18] Meyer 2011: 354 f. und Schaub, Martin (2007): Verfassungsrechtliche Aspekte der Glarner Gemeindefusion. Aktuelle juristische Praxis AJP 10, 1299-1307.

[19] Vgl. Schaub 2007.

[20] Art. 118 Abs. 1 und 2 KV/GL in der Fassung bis zum 31. Dezember 2010: «1 Änderungen im Bestand der Gemeinden oder deren Grenzen müssen von den betroffenen Gemeinden beschlossen und vom Landrat genehmigt werden. 2 Kommt eine Einigung nicht zustande, kann die Landsgemeinde auf Antrag einer der betroffenen Gemeinden oder des Landrates eine solche Änderung beschliessen.»

[21] Jankovsky, Peter für Neue Zürcher Zeitung (2011): Nach der Zwangsfusion bleibt die Bitterkeit.

[22] Meyer 2011: 365.

[23] Vgl. § 98 Abs. 2 KV/TG: «Die Bildung der politischen Gemeinden hat innert zehn Jahren nach Inkrafttreten dieser Verfassung zu erfolgen. Danach bezeichnet das Gesetz die politischen Gemeinden, deren Bestand diese Verfassung gewährleistet.»

[24] Vgl. Steiner, Reto für Neue Zürcher Zeitung (2003): Gemeindezusammenschlüsse können Erwartungen nicht immer erfüllen; Duvillard, Laureline für swissinfo.ch (2010): Nicht alle Gemeinden haben «Fusionitis».

[25] § 58 Abs. 4 KV/TG.

[26] Die Zustimmung sank um über 30 Prozentpunkte auf 42.4 Prozent. Man muss jedoch anfügen, dass die Gemeinde nur 39 stimmfähige Bürger hat (Stand 2002), von denen immerhin 33 am Urnengang teilnahmen. Für weitere Informationen siehe Staatsrat des Kantons Wallis (2004): Botschaft zum Beschlussentwurf betreffend den Zusammenschluss der Munizipalgemeinden Ausserbinn, Ernen, Mühlebach und Steinhaus: 5-9.

[27] Die drei Voraussetzungen sind unter dem Art. 135 KV des kantonalen Gemeindegesetzes statuiert. Dort heisst es, dass eine Gemeinde zwangsfusioniert werden kann, a) wenn ein negativer Entscheid zu einem Fusionsprojekt ihren finanziellen Weiterbestand gefährdet; b) wenn eine einzige Gemeinde das Hindernis zu einer Fusion darstellt, währenddem die angrenzenden Gemeinden bereits ihre Zustimmung zu einer bedeutenden Fusion gegeben haben; c) wenn eine Gemeinde nicht mehr in der Lage ist, das Funktionieren der Institutionen zu gewährleisten, namentlich dann, wenn sie die freigewordenen Ämter aufgrund der beschränkten Einwohnerzahl nicht wiederbesetzen kann. In casu relevant war der Punkt b).

[28] BGE 131 I 91.

[29] Jankovsky, Peter für Neue Zürcher Zeitung (2014): Tessiner Regierung will den Kanton neu entwerfen.

[30] Dazu gehören Sala Capriasca zu Capriasca, Aquila zu Blenio, Bignasco zu Cevio, Muggio zu Breggia, San Nazzaro zu Gambarogno sowie Vergeletto und Onsernone zu Onsernone (dies war schweizweit der erste Fall einer doppelten Zwangsfusion). Vgl. Jankovsky, Peter für Neue Zürcher Zeitung (2013): Neue Unruhe in Tessiner Gemeinde; Lob, Gerhard (2015): Bundesgericht segnet doppelte Zwangsfusion ab. Schweizer Gemeinde 6, 13-15.

[31] Meyer 2011: 367 f.

[32] Vgl. BGE 131 I 91.

[33] Lob 2015.

[34] Meyer 2011: 369.

[35] Steuerfusssenkungen sind bei Fusionen durchaus üblich. In der Regel übernehmen die Fusionsgemeinden den zuvor tiefsten Steuerfuss unter den beteiligten Gemeinden (Steiner, Reto, Reist, Pascal und Kettiger, Daniel (2010): Gemeindestrukturreform im Kanton Uri. Analyse der Urner Gemeinden und mögliche Handlungsoptionen: 54).

[36] Tribune de Genève (2016): Pas de vote cantonal sur des fusions de communes.

[37] BGE 142 I 216.

Wer Briefmarke selber bezahlen muss, stimmt seltener ab

In Gemeinden, die Stimmcouverts nicht vorfrankieren, liegt die Beteiligung laut einer Studie 2 Prozentpunkte tiefer. Die Forscher glauben nicht, dass dies an den Kosten für eine Briefmarke liegt, sondern an der zusätzlichen Hürde.

Publiziert in der «Luzerner Zeitung» und im «St. Galler Tagblatt» am 5. September 2017.

Bald steht die wichtige Abstimmung über die Rentenreform an. In einer Umfrage von GFS Bern gaben indes lediglich 55 Prozent der Befragten an, am 24. September bestimmt teilnehmen zu wollen. Eine Studie der Universität Freiburg zeigt nun, dass die Beteiligung bei Abstimmungen auch davon abhängt, ob den Stimmbürgern ein vorfrankiertes Couvert vorliegt. Gemäss den Forschern steigt die Beteiligung um rund 2 Prozentpunkte, wenn dies der Fall ist.

porto-stimmcouvert

In welchen Kantonen der Staat das Porto fürs Abstimmen bezahlt (zum Vergrössern klicken).

Neun Kantone übernehmen derzeit bei Wahlen und Abstimmungen das Porto für die Rücksendung oder verpflichten die Gemeinden, dies zu tun, so etwa Zürich, St. Gallen oder Genf (siehe Soll der Staat pflichtbewussten Bürgern das Porto abnehmen?). In sieben Kantonen ist die Vorfrankierung für die Gemeinden optional (siehe Karte rechts). In den letzten Jahren gab es in verschiedenen Kantonen und Gemeinden Forderungen, diese Massnahme einzuführen, um die Stimmbürger zur Teilnahme an Urnengängen zu motivieren. Meist scheiterten sie aus Kostengründen. In der Stadt Luzern etwa rechnete die Regierung mit einem Aufwand von etwa 27’000 Franken pro Urnengang, wenn sich ein wenig mehr als 50’000 Stimmberechtigte beteiligen. Zudem weisen die Gegner regelmässig darauf hin, dass aufgrund der bisherigen Erfahrungen kein positiver Einfluss auf die Stimmbeteiligung festgestellt werden könne.

«Effekt ist grösser als erwartet»

Letzteres Argument hat nun allerdings an Überzeugungskraft verloren. In ihrer Studie haben die Ökonomen Mark Schelker und Marco Schneiter die Stimmbeteiligung in den Gemeinden des Kantons Bern über den Zeitraum von 1989 bis 2014 verglichen. Bern gehört zu jenen Kantonen, welche die Rücksendecouverts nicht vorfrankieren, den Gemeinden aber erlauben, dies zu tun.

18 der 325 untersuchten Gemeinden übernahmen zumindest zeitweise das Porto für die Rücksendung, wobei 6 die Massnahme wieder aufhoben (oft aus Kostengründen). Die Wissenschafter berücksichtigten weitere Faktoren, die einen Einfluss auf die Stimmbeteiligung haben könnten, etwa Durchschnittseinkommen oder Demografie, um die Auswirkung der Portoübernahme isolieren zu können. «Der Effekt ist grösser, als ich erwartet hätte», kommentiert Mark Schelker das Resultat der Untersuchung, die demnächst in der wissenschaftlichen Zeitschrift «Electoral Studies» veröffentlicht wird. Er geht davon aus, dass nicht in erster Linie die Kosten der Briefmarke die Leute vom Abstimmen abhält. «Es ist schlicht eine zusätzliche Hürde für die Stimmabgabe, wenn man eine Briefmarke bereithaben oder einkaufen muss.» Grundsätzlich sei die Beteiligung umso höher, je tiefer die Hürden lägen.
Soll die Post Stimmcouverts gratis verschicken?

Befürworter von vorfrankierten Stimmcouverts fühlen sich durch die Untersuchung in ihrem Anliegen bestärkt. Die Luzerner SVP-Nationalrätin Yvette Estermann sagt, das Resultat bestätige ihren persönlichen Eindruck. «Ich spreche immer wieder mit Leuten, die nicht abgestimmt haben, weil sie gerade keine Briefmarke zu Hause hatten.»

Estermann hatte vor vier Jahren in einer Interpellation angeregt, die Vorfrankierung schweizweit einzuführen. Der Bundesrat schrieb in seiner Antwort, aufgrund der Erfahrungen aus den Kantonen sei eine Erhöhung der Stimmbeteiligung durch die Massnahme «nicht zu erwarten». Weiter wies er auf die Bestrebungen der Regierung hin, die elektronische Stimmabgabe flächendeckend einzuführen. Damit könnten die Stimmberechtigten ihre Stimme ebenfalls ohne Zusatzkosten abgeben.

«Eine Investition, die sich lohnt»

Estermann plant nun, in der Herbstsession einen neuen Vorstoss einzureichen. Ihr geht es ­darum, möglichst viele Bürger einzubinden. «Ich denke, die Vorfrankierung würde das Bewusstsein der Leute für ihre politischen Rechte stärken», sagt sie. Der Bundesrat schätzte in seiner damaligen Antwort, dass es etwas über eine Million Franken pro Urnengang kosten würde, die Antwortcouverts aller Stimmberechtigten in der Schweiz vorzufrankieren. Estermann schlägt vor, dass die Post diesen Aufwand tragen soll – im Sinne eines Service public.

Nicht alle sind aber damit einverstanden, dass der Staat die Portokosten der brieflich Stimmenden übernehmen soll. In Obwalden schlug der Regierungsrat jüngst vor, die Vorfrankierung abzuschaffen. Die Anregung dazu kam von den Gemeinden, welche die Kosten für die Massnahmen tragen müssen. Der Kantonsrat entschied im Juni aber, die Regelung beizubehalten. Der zuständige Regierungsrat Christoph Amstad (CVP) findet, es sei zumutbar, dass die Stimmberechtigten das Porto selber bezahlen. «Es ist ein Privileg, dass die Bürgerinnen und Bürger abstimmen können», sagt er. «Das sollte jedem eine Briefmarke wert sein.» Wem die Kosten dafür zu hoch seien, könne das Couvert auch direkt bei der Gemeinde einwerfen.

Studienautor Mark Schelker hingegen hält es für sinnvoll, wenn der Staat die Portokosten übernimmt. «Die Vorfrankierung von Stimmcouverts ist eine Investition, die sich lohnt», sagt er. Zum einen sei es normativ wünschenswert, dass sich die Bürger möglichst frei von Hürden an der Demokratie beteiligten. «Zum anderen sind auch bessere Ergebnisse zu erwarten, wenn mehr Stimmbürger ihre Präferenzen an Abstimmungen ausdrücken – vorausgesetzt, sie beteiligen sich aus freien Stücken und nicht aus Zwang.»

Amtswürde wider Willen

In sieben Kantonen kann der Staat Bürger dazu zwingen, ein Amt zu übernehmen, in das sie gewählt worden sind. Die praktische Bedeutung des Amtszwangs schwindet jedoch.

Es mutet ziemlich absurd an, was sich jüngst in der Zürcher Oberländer Gemeinde Fehraltorf abspielte: Der langjährige Gemeindepräsident Wilfried Ott wollte – ein halbes Jahr vor Ende seiner Amtszeit – vorzeitig zurücktreten. Er begründete dies damit, dass er seinem Nachfolger Zeit geben wolle, sich einzuarbeiten, bevor die neue Legislatur beginnt.

Bloss: Aus Otts Plan wurde nichts. Der Bezirksrat liess den Gemeindepräsidenten wissen, dass er ihn nicht zurücktreten lasse. Er verwies auf den im Kanton Zürich geltenden Amtszwang: Laut dem Gesetz über die politischen Rechte ist jeder Bürger verpflichtet, ein Milizamt, in das er gewählt wird, auszuüben. Zwar kann sich davon befreien, wer dasselbe Amt bereits zwei Amtsperioden ausgeübt hat oder wer über 60 Jahre alt ist (was beides auf Ott zutrifft). Nach Interpretation des Bezirksrats gelten diese Ausschlussgründe jedoch nur bei Amtsantritt – wer einmal ein Amt akzeptiert hat, muss die ganze Amtsdauer durchhalten.

Sieben Kantonen kennen heute noch den Amtszwang (zum Vergrössern klicken).

Acht Kantone kennen heute noch den Amtszwang.

Das Milizsystem, so hört und liest man immer wieder, ist das Fundament des schweizerischen Staatswesens. Es baut darauf, dass sich die Bürger freiwillig und nebenamtlich für die Gemeinschaft engagieren, sei es im Bundesparlament, im Kantonsrat, in der Bezirksschulpflege oder eben im Gemeinderat. Aber was, wenn sich nicht genug Bürger finden, die ein solches Engagement auf sich nehmen? In sieben Kantonen heisst die Antwort auf diese Frage: Amtszwang – das heisst, die Bürger sind zur Übernahme des Amtes verpflichtet, in das sie gewählt werden.[1] Der Kanton Bern hat den Amtszwang im Prinzip abgeschafft, stellen es aber den Gemeinden frei, einen solchen einzuführen. Mindestens zwei Dutzend haben das gemacht. Zur Anwendung kam der Amtszwang 2002 in Finsterhennen. Dort wurde ein Bürger, der gegen seinen Willen in den Gemeinderat gewählt worden war, mit 4000 Franken Busse bestraft, weil er nicht an den Sitzungen des Gremiums teilnahm.

Hinsichtlich der Ausgestaltung des Amtszwangs gibt es grosse Unterschiede. Einige Kantone sehen diesen nur für die Gemeindeebene, andere auch für gewisse Ämter auf kantonaler Ebene vor, in anderen gilt er nur für ganz bestimmte Ämter. Fast ausschliesslich handelt es sich jedoch um Ämter, die mittels Wahl (durch das Volk oder eine Behörde) besetzt werden.[2] Ebenfalls ist unbestritten, dass der Amtszwang nur für Nebenämter gilt, da er sonst eine unverhältnismässige Einschränkung der persönlichen Freiheit darstellte.

Kanton Amts-
zwang?
Behörden Ausnahmen Sanktionen
Zürich Ja Gemeindevorsteherschaft, Rechnungsprüfungs-kommission, Kommissionen mit selbstständigen Verwaltungsbefugnissen, Wahlbüro, Beisitzende des Arbeitsgerichts und des Mietgerichts, Handelsrichter, Organe von Zweckverbänden Über 60-jährig, bereits anderes Amt, bereits zwei Amtsdauern absolviert, «andere wichtige Gründe» Weisungen, Ordnungsbussen möglich, werden in der Praxis aber «kaum» ausgesprochen
Luzern Ja Alle Nebenämter, die durch Wahlen besetzt werden Über 65-jährig, Amt bereits eine Amtsdauer ausgeübt, gesundheitliche oder wirtschaftliche Nachteile Nicht definiert
Uri Ja Regierungsrat, Landrat, Ständerat, Gemeinderat u.a. (alle Ämter, die durch das Volk, eine Gemeindeversammlung, eine Korporation oder das Volk der Landeskirchen gewählt werden) Über 65-jährig, bereits in anderem Amt, bereits einmal  zwei Amtsdauern im selben Amt oder drei Amtsdauern in einem anderen Amt absolviert, «andere wichtige Gründe» Bis zu 5000 Franken Busse
Nid-
walden
Ja Regierungsrat, Landrat, Ständerat, Obergericht, Kantonsgericht, Gemeinderat Über 60-jährig, Krankheit oder Gebrechen, schon in anderer Behörde oder drei Amtsdauern in einer Behörde absolviert, bereits einmal wegen Verweigerung einer Amtsausübung gebüsst, «andere wichtige Gründe» Bis zu 5000 Franken Busse (abhängig vom Amt)
Solo-
thurn
Ja Alle Nebenämter, die durch Wahlen besetzt werden «wichtige Gründe» Bis zu 3000 Franken Busse
Appen-
zell Inner-rhoden
Ja Standeskommission, Kantonsgericht sowie Ämter, welche durch den Grossen Rat, die Standeskommission, die Bezirks-, Kirchen- oder Schulgemeinde, ferner durch ein Gericht, den Bezirks-, Kirchen- oder Schulrat übertragen werden Über 65-jährig, Amt bereits vier Jahre ausgeübt, acht Jahre in einem Amt mit Amtspflicht absolviert Busse
Wallis Ja Gemeinderat, Gemeinderichter, Burgerbehörden, Wahlbüro «wichtige Gründe» keine Informationen
Bern Optional für Gemeinden Alle Organe der Gemeinde Über 60-jährig, Krankheit, «andere wichtige Gründe» Bis zu 5000 Franken Busse

Unterschiede gibt es auch in Bezug auf mögliche Sanktionen. In den meisten Kantonen droht unwilligen Gewählten eine Busse. In Uri und Nidwalden kann diese bis zu 5000 Franken betragen. Die Höhe ist aber abhängig davon, um welches Amt es sich handelt. Ein Nidwaldner, der sich dem Gemeinderatsamt verweigert, kann auch mit 500 Franken davonkommen. In Zürich wären nach Auskunft der Staatskanzlei Weisungen und Ordnungsbussen «denkbar», es komme aber «kaum» vor, dass Sanktionen ausgesprochen werden. Dem Amt für Gemeinden des Kantons Luzern sind keine Fälle bekannt, in denen der Amtszwang zur Anwendung kam. «Deshalb musste in der Praxis auch noch nie die Frage betreffend allfälliger Sanktionen gegen Personen, die ihr Amt verweigern, geklärt werden.» Fehlen Sanktionen, ist der Amtszwang eigentlich eine Amtspflicht, deren Nichtbeachtung keine Folgen hat.

In der Deutschschweiz stärker verbreitet

Früher war der Amtszwang noch stärker verbreitet. Anfang der 1940er Jahre galt er in 11 Kantonen generell und in 2 weiteren fakultativ für die Gemeinden.[3] In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwangen sogar «beinahe alle Kantone» ihre Bürger zur Übernahme von Ämtern.[4]

Ebenso wie die Stimmpflicht ist der Amtszwang heute vor allem in den Deutschschweizer Kantonen verbreitet, was möglicherweise mit dem genossenschaftlich-republikanischen Staatsverständnis zusammenhängt, das diesseits der Saane stärker verankert ist. Demnach geniesst der Einzelne eine Reihe von Bürgerrechten, ist im Gegenzug aber auch gewissen Bürgerpflichten unterworfen. Liberalen Vorstellungen läuft das Instrument dagegen zuwider. Dass jemand gegen seinen Willen dazu gezwungen werden kann, ein Amt zu übernehmen, erscheint als sehr weitgehender Eingriff in die persönliche Freiheit. Staatsrechtler sehen denn den Amtszwang auch nur als Ultima ratio gerechtfertigt, um die Funktionsfähigkeit des demokratischen Gemeinwesens aufrechterhalten zu können.[5]

Offenbar war es in der Vergangenheit noch öfter nötig, zu diesem Mittel zu greifen. Dass der Amtszwang an Beliebtheit eingebüsst hat, ist vor allem auf die schwindende praktische Bedeutung zurückzuführen. Im Jahr 1900 hatte die durchschnittliche Gemeinde in der Schweiz rund 1000 Einwohner. Weil die Anzahl Gemeinden seither abgenommen, die Bevölkerung sich hingegen mehr als verdoppelt hat, liegt der Wert heute bei rund 3600. Da sich besonders kleine Gemeinden zusammengeschlossen haben, ist der «Pool» an verfügbaren Kandidaten grösser geworden. Gleichzeitig deutet vieles darauf hin, dass die Leute im Allgemeinen weniger bereit sind, ein Milizamt zu übernehmen.

Kley (1989) nennt als weiteren Faktor die fast flächendeckende Einführung von Urnenwahlen, die dazu führte, dass Kandidaten früher selektioniert werden und auch früher kundtun können, dass sie ein Amt nicht wollen.[6] Hinzu kommt, dass bei der Rekrutierung von politischem Personal die Parteien eine wichtige Rolle spielen. Ihre Bedeutung ist heute gegenüber dem 19. Jahrhundert sicherlich auch in den Gemeinden höher.

Indirekte Wirkung

Jedenfalls teilen die Kantone mit Amtszwang auf Anfrage fast ausnahmslos mit, dieses Instrument komme kaum zur Anwendung, oder man kann sich gar nicht erinnern, wann zum letzten Mal jemand gegen seinen Willen in ein Amt gewählt wurde. Von praktischer Relevanz ist der Amtszwang eigentlich nur in sehr kleinen Gemeinden, bei denen sich ohnehin die Frage nach der Überlebensfähigkeit stellt. Natürlich hat der Amtszwang eine starke «präventive» beziehungsweise indirekte Wirkung, wie mehrere Kantone bestätigen: Leute sind eher bereit, ein Amt anzunehmen oder eine Kandidatur zu akzeptieren, wenn sie wissen, dass sie dazu gezwungen werden können, wenn sie es nicht tun. Ob das aber der sinnvollste Weg ist, um Menschen von einem Engagement im Gemeinwesen zu überzeugen, ist zu bezweifeln.

Es stellt sich denn auch die Frage, ob der Amtszwang tatsächlich (noch) notwendig ist, zumal eine Vielzahl von Gemeinden – auch kleine – ohne dieses Instrument auskommen, und offensichtlich noch nicht untergegangen sind. Zudem lässt sich selbst der strengste Amtszwang umgehen, wie der Fall der Urner Gemeinde Bauen gezeigt hat, wo sich 2008 drei Stimmbürger dem Amtszwang entzogen, indem sie das Dorf verliessen. Um dem Mangel an Kandidaten für Gemeindeämter beizukommen, kann der Amtszwang ohnehin nur das letzte Mittel sein. Wirksamer ist – neben allfälligen Fusionen –, die Posten attraktiver zu gestalten. Vielerorts wäre es auch angebracht, das Engagement für die Gemeinschaft finanziell etwas grosszügiger zu verdanken. Das ist zwar aufwändiger, als die Leute einfach dazu zu zwingen. Mittelfristig zahlt es sich aber aus, wenn Bürger aus eigenem Antrieb ein Amt übernehmen.

Tabellarische Übersicht über die Regelungen der einzelnen Kantone zum Download


[1] Im Kanton Tessin gilt rechtlich der Amtszwang, allerdings nur für offizielle Kandidaten, die zuvor eine schriftliche Erklärung abgegeben haben, dass sie das Amt annehmen werden. Von einem Amtszwang im herkömmlichen Sinne kann daher nicht gesprochen werden. Im Kanton Waadt gilt der Amtszwang nur für die Mitglieder des Wahlbüros und ist daher im Rahmen dieses Vergleichs vernachlässigbar.

[2] In Uri ist der Amtszwang ausdrücklich auf Ämter beschränkt, die durch das Volk (bzw. Korporationen und Angehörige der Landeskirchen) besetzt werden. Demgegenüber sieht die Kantonsverfassung von Appenzell-Innerrhoden den Amtszwang auch für Posten vor, die durch das Parlament oder die Regierung besetzt werden.

[3] Zaccaria Giacometti (1941): Das Staatsrecht der Kantone, S. 287.

[4] BGE 3 I 295, zitiert in: Werner Kuster (1947): Der Amtszwang im Kanton Zürich, Dissertation Universität Zürich.

[5] Siehe etwa Giacometti (1941), Yvo Hangartner und Andreas Kley (2000): Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Urs Flückiger (1947): Der Amtszwang : seine Stellung im liberal-demokratischen Staatsrecht und seine Ausgestaltung im Kanton St. Gallen, Dissertation Universität St. Gallen.

[6] Andreas Kley (1989): Grundpflichten Privater im schweizerischen Verfassungsrecht, Dissertation Universität St. Gallen, S. 219.

Tombola, Babysitter, Abfallsäcke: Halten Geschenke die Bürger von Gemeindeversammlungen fern?

Laut einer Umfrage wirken sich materielle Anreize negativ auf die Beteiligung an Gemeindeversammlungen aus. Ob dieses Ergebnis der Realität standhält, ist eine andere Frage.

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Mit Geschenken wird vermehrt an Gemeindeversammlungen gelockt.
(Illustration: Silvan Wegmann)

Während sich die Stimm- und Wahlbeteiligung in der Schweiz auf nationaler Ebene in jüngerer Vergangenheit wieder etwas erholt hat, ist die Lokalpolitik den Bürgern mehr und mehr egal. Diese Schlussfolgerung legen zumindest die Ergebnisse der Gemeindeschreiberbefragungen nahe, welche die Universitäten Bern und Lausanne in regelmässigen Abständen durchführen. Gemäss der jüngsten, im Jahr 2009 durchgeführten Befragung nehmen im Schnitt nur gerade 9.7 Prozent der Bürger an der Gemeindeversammlung teil. Das ist ein deutlicher Rückgang gegenüber der Befragung von 1998, die eine Beteiligung von 15.6 Prozent ergab. In kleineren Gemeinden ziehen die Versammlungen mit durchschnittlich knapp einem Viertel der Stimmberechtigten noch etwas mehr Leute an, während sich die Beteiligung in grösseren Gemeinden im tiefen einstelligen Prozentbereit bewegt.

Die Frage, wie man mehr Leute in die Säle und Turnhallen locken könnte, beschäftigt manch einen Gemeinderat. Eine Studie des Zentrums für Demokratie Aarau (ZDA) hat nun erstmals detailliert untersucht, welche Faktoren die Besucherzahlen von Gemeindeversammlungen beeinflussen. Grundlage ist eine Befragung von 1638 Stimmberechtigten der Zürcher Gemeinde Richterswil. Den Befragten wurden jeweils zwei fiktive Gemeindeversammlungen vorgelegt, die sich in bestimmten Aspekten unterschieden (Termin, Dauer, Themen etc.). Sie mussten sich dann entscheiden, an welcher der beiden Versammlungen sie eher teilnehmen würden. Aufgrund der Antworten ermittelten die Wissenschaftler, welche Faktoren die Teilnahmeabsicht am stärksten beeinflussten – und in welche Richtung. Wenig überraschend lässt die Umfrage beispielsweise weniger Besucher erwarten, je länger die Versammlung dauert. Den stärksten Einfluss haben aber die behandelten Geschäfte: Steuererhöhungen ziehen offenbar am meisten, während die Abnahme der Jahresrechnung relativ wenige Bürger aus dem Haus lockt. Dieses Ergebnis deckt sich wohl mit der Erfahrung in den meisten Gemeinden.

Ein anderes Resultat überrascht eher: Die Umfrage kommt zum Schluss, dass das Verteilen von Geschenken, etwa Gutscheine oder Gebührensäcke, die Beteiligung nicht zu steigern vermag. Jene, die heute nicht an Gemeindeversammlungen teilnehmen, fühlten sich durch eine solche «Belohnung» nicht zur Teilnahme motiviert; der Effekt auf die regelmässigen Teilnehmer wäre sogar negativ – sie würden abgeschreckt. Das Offerieren eines Apéros ergab eine leicht erhöhte Teilnahmebereitschaft bei den Nicht-Teilnehmern, der Effekt ist allerdings nicht signifikant.

Unehrliche Aussagen?

Dass Geschenke nicht mehr Leute an Gemeindeversammlungen locken, sondern weniger, ist ein interessantes Ergebnis. Aber hält es auch der Realität stand? Da es sich «nur» um eine Umfrage handelt, ist es denkbar, dass die Leute eine materielle Motivation bestreiten – man geht schliesslich aus staatsbürgerlichem Pflichtbewusstsein an die Gemeindeversammlung –, auch wenn sie sich in der Realität durch die Aussicht auf eine Belohnung beeinflussen liessen. In der Wissenschaft spricht man vom Effekt der «sozialen Erwünschtheit», wenn Leute in Umfragen bestimmte Aussagen machen, die (nach ihrem Empfinden) der gesellschaftlichen Erwartung entsprechen, und ihre tatsächliche Einstellung verschweigen. Dieser Effekt dürfte z.B. mitverantwortlich dafür sein, dass in Nachwahlbefragungen der Anteil jener, die angeben, abgestimmt zu haben, regelmässig deutlich höher liegt als die tatsächliche Stimmbeteiligung.[1]

Ob Geschenke die Stimmberechtigten wirklich von der Ausübung ihrer politischen Rechte abschrecken, lässt sich nur herausfinden, wenn man ihnen tatsächlich Geschenke anbietet. Entsprechende Studien fehlen zumindest für die Schweiz bislang. Wissenschaftliche Untersuchungen in den USA haben gezeigt, dass die Leute eher an Wahlen teilnehmen, wenn sie dafür eine finanzielle Belohnung erhalten.[2] Allerdings untersuchten die Studien ausschliesslich Urnenwahlen, Rückschlüsse auf Versammlungen können daraus nicht ohne weiteres gezogen werden.

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Locken Abfallsackrollen die Stimmbürger an die Gemeindeversammlung?

In der Schweiz gibt es einige Gemeinden, die mit materiellen Anreizen die Beteiligung an den Gemeindeversammlungen zu steigern versuchen. So verbindet die Gemeinde Fehraltorf die Versammlung mit einer Verlosung, bei der die Stimmbürger, die sich beteiligen, einen Preis gewinnen können. Ausserdem offeriert die Gemeinde einen Babysitter-Dienst für Eltern, die an die Gemeindeversammlung gehen wollen. Das Ziel, die Anzahl Teilnehmer von 70 bis 120 um mindestens 20 zu steigern, wurde 2015 erreicht, wie die Gemeinde Anfang dieses Jahres verkündete. Bei der letzten Gemeindeversammlung im Juni kamen aber wiederum nur knapp 60 Stimmbürger. Vom Babysitter-Dienst machten laut der Gemeinde bisher im Schnitt 5 Elternpaare Gebrauch.

Im aargauischen Olsberg erhalten teilnahmewillige Väter und Mütter ebenfalls einen Beitrag an die Babysitter-Kosten von der Gemeinde. Diesen beanspruchen nach Angaben der Gemeinde im Schnitt 3 bis 7 Elternpaare beziehungsweise  Alleinerziehende. Offen bleibt, viele von ihnen auch sonst kommen (und für den Babysitter alleine aufkommen) würden.

In anderer Form belohnt die Gemeinde Sisseln die Teilnehmer an der Gemeindeversammlung: Sie erhalten seit vergangenem Jahr eine Rolle Abfallsäcke. In Gansingen versuchte man es vor einiger Zeit mit Gutscheinen für die Dorfbeiz, die gewünschte Steigerung der Besucherzahl blieb laut Gemeindeschreiberin Patricia Bur jedoch aus.

Das Offerieren eines Apéros scheint ein beliebtes Mittel zu sein, um die Beteiligung zu steigern. In der Berner Oberländer Gemeinde Wimmis erhalten pflichtbewusste Bürger im Sommer Bratwurst und Bier, im Winter Züpfe und Hobelkäse. Seit dieses Angebot eingeführt wurde, stieg die Besucherzahl laut Gemeindeverwalter Beat Schneider von 40 bis 50 auf 60 bis 80 Personen, liegt also bis zu doppelt so hoch wie früher. Gemessen an der Gesamtzahl von 1800 Stimmberechtigten ist die Beteiligung aber auch mit Bier nicht gerade berauschend.[3]

Die praktischen Erfahrungen weisen nicht darauf hin, dass die Beteiligung an Gemeindeversammlungen durch materielle Anreize sinken würde – eher steigt sie leicht. Daniel Kübler, Leiter des ZDA und einer der Autoren der Studie, erklärt auf Anfrage, man habe die Möglichkeit einer Verzerrung durch soziale Erwünschtheit bei der Erarbeitung des Fragebogens bedacht. Um dieses Risiko möglichst klein zu halten, wurden die Umfrageteilnehmer nicht direkt nach den Auswirkungen verschiedener Anreize gefragt. Stattdessen versuchten die Forscher die Effekte durch Paarvergleiche und eine anschliessende «Conjoint Analysis» zu ermitteln.

«Ganz ausschliessen kann man natürlich dieses Problem der sozialen Erwünschtheit bei Befragungen nie», sagt Kübler. Definitive Klarheit könnte allenfalls ein kontrolliertes Experiment bringen, bei dem einem Teil der Stimmbürgern ein Geschenk offeriert wird und dem anderen nicht, was jedoch ethisch nicht ganz unproblematisch sei.

Grundsätzliche Fragen

Die Umfrage in Richterswil allein bietet nicht ausreichende Evidenz, dass Geschenke einen negativen Effekt auf die Beteiligung an Gemeindeversammlungen hätten. Hingegen lassen sowohl die wissenschaftlichen Untersuchungen als auch die Erfahrungen der Gemeinden den Schluss zu, dass materielle Anreize die Besucherzahlen nur geringfügig zu steigern vermögen, wenn überhaupt.[4] Ganz abgesehen davon lassen sich natürlich auch moralische Bedenken gegen derartige Anreize anbringen. Man kann sich fragen, was es rechtfertigt, Leute quasi durch amtliche Zückerchen zur Wahrnehmung ihrer demokratischen Rechte zu bewegen. Wenn es lediglich darum geht, die Hürden für die Teilnahme zu senken (etwa mit einem Babysitter-Dienst), ist dagegen wohl nichts einzuwenden. Auch die da und dort angebotenen Apéros fungieren letztlich weniger als Geschenk, sondern bieten den Bürgern – gerade auch Zugezogenen und Jungen – die unterschwellige Möglichkeit, ihr Dorf, seine Gemeinderäte, Parteienvertreterinnen usw. besser kennen zu lernen. Reine Belohnungen für die Ausübung eines Rechtes scheinen hingegen, selbst wenn sie wirksam sind, fragwürdig (zumal für die Kosten dafür die Steuerzahler, auch nicht-stimmberechtigte, aufkommen müssen).

 


[1] Einen Einfluss dürfte auch haben, dass jene, die ihre Stimme abgeben, anschliessend eher bereit sind, an der Umfrage teilzunehmen.

[2] Costas Panagopoulos (2013): Extrinsic Rewards, Intrinsic Motivation and Voting, The Journal of Politics, 75 (1), Victoria Shineman (2012): If You Mobilize Them, They Will Become Informed. Experimental Evidence that Information Acquisition is Endogenous to Costs and Incentives to Participate, APSA 2012 Annual Meeting Paper.

[3] Vor zwei Jahren sorgte Wimmis zudem für Aufsehen, als die Gemeinde bei den Grossratswahlen eine Verlosung unter den Wahlteilnehmern durchführte. Die Beteiligung lag mit 39 Prozent leicht über den Werten der zwei vorangegangenen Wahlen.

[4] Es ist natürlich auch denkbar, dass ein allfälliger positiver Effekt allein darauf zurückzuführen ist, dass die ergriffenen Massnahmen der Gemeinde die Stimmbürger auf das Problem der schwachen Beteiligung aufmerksam machen und diese an ihre demokratischen Rechte erinnert.