Napoleon’s Nightmare-Buchempfehlungen 2022

Die Redaktion von Napoleon’s Nightmare stellt einen Strauss Neuerscheinungen des Jahrs 2022 vor: Unsere Empfehlungen drehen sich um Napoleon und Dufour, um die Abstimmungsforschung und Politikfinanzierung, um parlamentarische Begriffe und politischen Rechtsschutz.

Von Claudio Kuster und Lukas Leuzinger

Thomas Schuler: Napoleon und die Schweiz (NZZ Libro)
«Glückliche Ereignisse haben mich an die Spitze der französischen Regierung berufen, und doch würde ich mich für unfähig halten, die Schweizer zu regieren. Wäre der erste Landammann von Zürich, würden die Berner unzufrieden; wählt ihr einen Berner, so schimpfen die Zürcher. Wählt ihr einen Protestanten, so widerstreben alle Katholiken, und so wieder umgekehrt.» Mit diesen denkwürdigen Worten – auch der Name dieses Blogs Napoleon’s Nightmare geht auf dieses Bonmot zurück – empfing Napoleon Bonaparte im Dezember 1802 die Schweizer Delegierten in Paris, um ihnen nach der gescheiterten Helvetik einen neuen Verfassungsentwurf, die Mediationsakte, zu überreichen. Denn je mehr Napoleon nach den Erfahrungen der jahrelangen Bürgerkriege über die Beschaffenheit der Schweiz nachgedacht habe, desto stärker habe sich für ihn aus der Verschiedenheit ihrer Bestandteile die Überzeugung der Unmöglichkeit ergeben, das Land einer Gleichförmigkeit zu unterwerfen. Stattdessen könne die Grundlage des inneren Friedens in dem Alpenland nur ein dezentraler, föderalistischer Staatsapparat bilden.

Historiker Thomas Schuler, einer der führenden Napoleon-Experten Deutschlands, nimmt in seinem Buch «Napoleon und die Schweiz» ebendiese Phase nach der Französischen Revolution  – Helvetische Republik, Mediationszeit bis hin zum Wiener Kongress – in den Fokus, in welcher der Einfluss Napoleons kaum überschätzt werden kann. Die mit vielen Bildern und Karten ergänzten zwölf Kapitel drehen sich um Schauplätze und Schlachten wie den «Goldraub von Bern», das «Massaker von Stans» oder «Napoleon am Grossen St. Bernhard». Nicht alle Kapitel spielen indes in der Schweiz selbst: So ist Kapitel IX der Schlacht an der Beresina gewidmet, wo auch Schweizer Regimenter mitfochten – und daher bereits damals die Schweizer Neutralität nicht gerade sehr glaubwürdig erscheinen liessen.

Zwar war und ist das Bild Napoleons in der Schweizer Geschichtsschreibung bis heute umstritten. Schuler legt jedoch überzeugend dar, dass der weitere Verlauf der Schweizer Geschichte ohne die Helvetik und Mediation so nicht denkbar gewesen wäre. Die Überwindung der Aristokratie in den neuen Kantonen durch die französische Intervention 1798 und der Erhalt der Mediationskantone durch das russische Eingreifen 1814/15 ermöglichten 1830 die liberalen Verfassungen auf kantonaler und 1847 auf Bundesebene.

Joseph Jung (Hg.): Einigkeit, Freiheit, Menschlichkeit – Guillaume Henri Dufour als General, Ingenieur, Kartograf und Politiker (NZZ Libro)
Der Historiker Joseph Jung hat ein Faible für grosse Persönlichkeiten der Schweizer Geschichte. Als Direktor der Alfred Escher-Stiftung verfasste er eine Biografie und mehrere weitere Bücher über den einflussreichen Industriellen und Politiker. Auch mit Hans Künzi, Lydia Welti-Escher oder Rainer E. Gut beschäftigte er sich. Zum 150-Jahr-Jubiläum des Sonderbundskriegs von 1847 hat er sich mit einem Sammelband Guillaume Henri Dufour angenommen. Der Genfer hat als Anführer der eidgenössischen Truppen Ruhm und Ansehen erlangt, nicht nur durch militärische Taktik, sondern auch durch seine versöhnliche, integrative Haltung gegenüber den Verlierern der Sonderbundkantone. Wenig bekannt ist, dass der «Brückenbauer» der republikanischen Schweiz von Geburt her Franzose war, Napoleon Bonaparte bewunderte und dessen Neffen, den Diktator Napoleon III., unterstützte.

Solche Widersprüche sind Teil von Dufour, der eine grosse Vielfalt von Facetten in sich vereinigt. Er war nicht nur General, sondern auch Ingenieur, Kartograf, Politiker und Humanist. Das Buch widerspiegelt diese Vielfalt, indem zehn Autoren jeweils einen Aspekt aus Dufours Leben herausgreifen. Ein Kapitel widmet sich den Ingenieursleistungen Dufours, der nicht nur im übertragenen Sinne ein Brückenbauer war. Ein anderes Kapitel beschäftigt sich mit den wirtschaftlichen Bedingungen zur Zeit der Bundesstaatsgründung. Selbst die Leadership-Skills des Generals erhalten eine Würdigung. Nicht alle Kapitel sind gleichermassen spannend, doch zusammen ergeben sie ein lesenswertes und lehrreiches Ganzes. Guillaume Henri Dufour hat es auf die Zwanzigernote geschafft und ist Namensgeber des höchsten Gipfels des Landes geworden – mehr ist in der Schweiz, die bei der Verehrung einzelner Personen zurückhaltend ist, kaum möglich. (Neuere) Literatur über ihn ist hingegen dünn gesät. Jungs Buch ist da eine willkommene Ergänzung.

Andreas Gross: Landbote vs. NZZ – Die Auseinandersetzung zwischen den beiden Zeitungen um die Direkte Demokratie und deren Ausgestaltung in der demokratischen Zürcher Revolution von 1867–1869 (Editions le Doubs)
1869 gab sich der Kanton Zürich eine neue Verfassung, die in Sachen direkte Mitsprache der Bürger neue Massstäbe setzte. Volksinitiative (für Teilrevision der Verfassung und Gesetze), fakultatives Referendum, direkte Wahl von Regierungsrat und Ständeräten: Viele der Elemente wurden später von anderen Kantonen und auf Bundesebene übernommen.

Der Weg zu diesem Pionierwerk war nicht nur ein politischer Streit zwischen den herrschenden Liberalen und den aufstrebenden Demokraten, sondern auch ein publizistischer Kampf, in dem sich die Neue Zürcher Zeitung (auf der Seite der Liberalen) und der Winterthurer Landbote (als Sprachrohr der demokratischen Bewegung) gegenüberstanden. Im fruchtbaren Wettstreit zwischen den beiden Blättern wurden viele Fragen über die Ausgestaltung der Demokratie in der Schweiz erstmals in der breiteren Öffentlichkeit vertieft diskutiert.

Nun hat der Politologe und alt SP-Nationalrat Andi Gross die damalige Debatte aufgearbeitet und in Buchform herausgegeben. Dabei räumt er originalen Auszügen viel Platz ein. Die scharfzüngigen, mal spöttischen, mal polemischen Artikel sind beste Unterhaltung. Interessant ist aber vor allem, wie viele Argumente erstaunlich ähnlich jenen sind, die heute ausgetauscht werden, wenn es um den Ausbau oder die Einschränkung der direkten Demokratie geht. Auf der anderen Seite sind viele Erwartungen geäussert worden, die sich als übertrieben oder gar verfehlt erwiesen haben. So hoffte die demokratische Bewegung, dank der direkten Demokratie die eigenen (materiellen) Forderungen durchsetzen zu können, was sich nur zum Teil erfüllte. Zuweilen hätte man sich bei dem über 600 Seiten dicken Werk eine stärkere Fokussierung gewünscht. Gleichwohl ist es ein wertvoller und lehrreicher Beitrag zur Geschichte der Schweizer Demokratie.

Hans-Peter Schaub & Marc Bühlmann (Hrsg.): Direkte Demokratie in der Schweiz – Neue Erkenntnisse aus der Abstimmungsforschung (Seismo)
Die direkte Demokratie ist nicht nur politisch wertvoll. Dadurch, dass die ganze Nation alle drei Monate an die Urne gerufen wird, hat sich auch ein einzigartiger Schatz von Daten angesammelt. Die Politikwissenschaft hat bis jetzt aber nur einen kleinen Teil dieses Potenzials genutzt. Einen Beitrag, das zu ändern, leistet der Sammelband «Direkte Demokratie in der Schweiz», herausgegeben von Hans-Peter Schaub und Marc Bühlmann. Er enthält neun Kapitel, die unterschiedliche Themen von der Umweltpolitik über den Röstigraben bis zur Digitalisierung der Demokratie beleuchten.

Man erfährt etwa, dass eine stärkere Mobilisierung entgegen der landläufigen Meinung nicht zu einer schlechteren Entscheidqualität führt. Im Gegenteil: Eine höhere Stimmbeteiligung geht mit einer besseren Information der Abstimmenden einher. Auch die Idee, dass die Unterschriftenhürden für Volksinitiativen und Referenden zu tief seien, wird relativiert. Gerade bei fakultativen Referenden sagt die Zahl der gesammelten Unterschriften wenig darüber aus, wie viel Rückhalt ein Anliegen in der Bevölkerung hat – auch Referenden, die nur knapp zustande kommen, können an der Urne durchaus erfolgreich sein. Ein weiterer Beitrag untersucht, welcher Kanton bei Abstimmungen im Schnitt am nächsten beim nationalen Resultat liegt (Spoiler: Es ist nicht der vermeintlich durchschnittliche Aargau).

Zwar dürfte der praktische Nutzen nicht bei allen Untersuchungen gleichermassen hoch sein. Gleichwohl zeigt das Buch, dass es lohnenswert ist, den Schatz an Daten von Volksabstimmungen verstärkt anzuzapfen und zu nutzen.

Peter Buomberger & Daniel Piazza: Wer finanziert die Schweizer Politik? – Auf dem Weg zu mehr Transparenz und Demokratie (NZZ Libro)
Über Geld spricht man nicht in der Schweizer Politik. Man polemisiert lieber. Die Diskussion über Politikfinanzierung wird ideologisch und oft realitätsfern geführt. Die Studie von Peter Buomberger und Daniel Piazza ist da ein erfrischend nüchterner Kontrast – vielleicht weil die Autoren viel praktische Erfahrung mitbringen. Buomberger war bei zwei grossen Finanzfirmen für politische Spenden zuständig, Piazza war als Geschäftsführer der CVP auf der Empfängerseite tätig.

Zusammen zeichnen sie die Finanzflüsse in der Schweizer Politik auf Grundlage öffentlich zugänglicher Quellen sowie Schätzungen nach und zeigen, wer wem wie viel bezahlt. Der Belastbarkeit der Zahlen sind naturgemäss Grenzen gesetzt. Gleichwohl lassen sich einige Schlüsse ziehen: etwa, dass sich das Gewicht – auch finanziell – von Parteien hin zu Verbänden und anderen Organisationen verlagert hat. Überraschend ist dabei die Potenz links-grüner NGOs, die gemäss der Studie 20 bis 23 Millionen Franken pro Jahr zur Verfügung haben und damit mehr als Wirtschafts- und Branchenverbände (17 bis 20 Millionen). Auffallend ist, dass Geld vermehrt in monothematische Ad-hoc-Kampagnen und Pop-up-Organisationen fliesst (etwa die Konzernverantwortungsinitiative oder Autonomiesuisse), aber kaum längerfristige politische Aufbauarbeit geleistet wird. Der Qualität und Stabilität der Demokratie dürfte dies nicht förderlich sein.

Während Buombergers und Piazzas Analyse aufschlussreich ist, überzeugen ihre daraus abgeleiteten Vorschläge nicht alle gleichermassen. Zwar betonen sie zu Recht, dass die Politik zur Hauptsache von der Zivilgesellschaft und damit von privaten Geldgebern getragen werden sollte. Den seit Herbst geltenden neuen Transparenzregeln, wonach Spenden ab 15 000 Franken offengelegt werden müssen, stehen sie kritisch gegenüber, da sie einen Rückgang der Spenden und Bestrebungen hin zu staatlicher Finanzierung befürchten. Ihr Gegenmodell einer «funktionalen Transparenz» (gemäss dem sich die Schwelle der Offenlegung am Gesamtbudget einer Organisation bemisst) würde jedoch zu einer Bevorzugung grosser Organisationen führen – als ob 50 000 Franken an die SP mehr Privatsphäre rechtfertigten als 50 000 Franken an die GLP. Gleich lange Spiesse scheinen da sinnvoller, wie sie die Autoren zwischen Parteien und NGOs fordern.

Michael Strebel: Das schweizerische Parlamentslexikon (Helbing Lichtenhahn)
Gibt es hierzulande einen ausgewiesenen Experten der Schweizer, insbesondere der vielfältigen kantonalen und kommunalen Parlamentslandschaft, so ist dies zweifelsohne Michael Strebel. Strebel ist promovierter Politikwissenschaftler und arbeitete bereits für diverse Parlamentsdienste, zuletzt als Ratssekretär des Kantonsrats Solothurn. Seinen enormen legislativen Wissens- und Erfahrungsschatz hat Strebel nun im «schweizerischen Parlamentslexikon» zu Papier gebracht. – Im ersten Teil wird eine ausgedehnte «Tour d’Horizon durch die kommunalen Parlamente» unternommen: Für jeden Kanton werden die Gemeindeparlamente tabellarisch mit den wichtigsten Kennzahlen aufgeführt. Viel Raum widmet Strebel den Anläufen zur Einführung oder Auflösung der kommunalen Parlamente und listet die Pro- und Contra-Argumente der jeweiligen Befürworter und Gegnerschaft auf. Weiter werden diverse Spezialitäten der jeweiligen Einwohnerräte respektive Conseils municipals aufgezeigt. Bemerkenswert ist etwa, dass in den Aargauer Einwohnerräten nicht nur die Parlamentsmitglieder, sondern sämtliche Stimmbürger Motionen und Anfragen einreichen können – nur wird leider von dieser einzigartigen, niederschwelligen Form der Bürgerbeteiligung praktisch nie Gebrauch gemacht. Ein kurzer zweiter Teil «Bundesversammlung und Kantonsparlamente» skizzierte einige Charakteristika des politischen Systems der Schweiz.

Der Kern des Buchs ist aber das eigentliche Parlamentslexikon (427 Seiten), in dem über 600 parlamentarische Begriffe von A bis Z erläutert werden. Die Schlagworte werden gut verständlich und kompakt erklärt, mit vielen Beispielen versehen (freilich ohne Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu können) und mit Hunderten von übersichtlichen, ansprechend gestalteten Grafiken, Tabellen, Illustrationen und einigen Fotos ergänzt. Der Umfang und Detailierungsgrad der lexikalischen Einträge variiert natürlich erheblich, finden sich doch so allgemeine Begriffe wie «Kommission» oder «Parlamentssitzung» bis hin zu Instrumenten oder Gremien, die nur in einer einzelnen Legislative vorkommen. Viele Begriffserklärungen werden mit weiterführenden Rechtsquellen-, Literatur- und Materialienhinweisen ergänzt. – Ein kleiner vierter Teil «Fazit und Ausblick» rundet das Werk ab. Hier werden die aktuellen Herausforderungen des Parlamentarismus umrissen, von den Stellvertretungssystemen über die Digitalisierung bis hin zur Öffentlichkeitsarbeit.

Strebel hat keinen Aufwand gescheut, seine Summa der Schweizer Parlamentspraxis über alle drei Staatsebenen hinweg möglichst vollständig abzubilden, hat er doch an die 600 Personen um Auskünfte gebeten. Da und dort erscheint die Gewichtung der Relevanz aber noch unaustariert, etwa wenn sich die Beiträge «Parlamentarische Gruppe» oder «Kosten parlamentarischer Vorstösse» gleich über je acht Buchseiten hinwegziehen, während der kaum minder wichtigen «Entschädigung» der Parlamentsmitglieder gerade einmal eine halbe Seite gewidmet wird, ohne jegliche konkrete Beispiele. – Nichtsdestotrotz darf das Parlamentslexikon fortan in keinem politaffinen Haushalt fehlen, lädt es doch ebenso zum Schmökern wie Nachschlagen ein und trägt sicherlich bald zur Weiterentwicklung des hiesigen Parlamentarismus bei.

Luka Markić: Das kantonale Rechtsschutzverfahren im Bereich der politischen Rechte (Dike)
Fehlerhafte oder fehlende Wahlzettel, Abstimmungspropaganda des Gemeindepräsidenten oder die ausgebliebene Nachzählung trotz knappen Resultats: Regelmässig werden im Vorfeld oder Nachgang von Wahlen und Abstimmung solche und viele weitere Rügen erhoben und diese im Kleid der Stimmrechtsbeschwerde den Rechtspflegebehörden zugeführt. Damit sich die Rechtsmittelinstanz aber mit den vorgebrachten Mängeln inhaltlich auseinandersetzen kann, muss der Stimmberechtigte zuerst etliche verfahrensrechtliche Hürden meistern. Luka Markić (Universität Zürich) beschreibt in seiner Dissertation diesen dornenvollen Weg, das kantonale Rechtsschutzverfahren im Bereich der politischen Rechte.

Im einführenden, verfassungsrechtlichen Teil werden zunächst die grundsätzliche Rechtsnatur und die Justiziabilität der politischen Rechte erläutert, die insbesondere mit der Justizreform vor gut 15 Jahren gestärkt worden ist. Im Gegensatz zum vereinheitlichten Zivil- und Strafprozess ist das Verwaltungs- und Verwaltungsgerichtsverfahren aber weiterhin eine kantonale Domäne – genauso wie die kantonalen und kommunalen politischen Rechte selbst. Im Hauptteil seiner Arbeit hat Markić daher die Verfahrensgesetze aller 26 Kantone ausgewertet und systematisch dargelegt. Zunächst wird der sehr uneinheitlich ausgestaltete Verfahrensweg beleuchtet, schliesslich müssen regelmässig diverse innerkantonale Instanzen – hier Verwaltungsbehörden, dort Gerichte – angerufen werden, bevor sich letztinstanzlich das Bundesgericht mit einer Sache befassen darf. Weitere Kapitel betreffen das Anfechtungsobjekt (kann man eine Medienmitteilung anfechten?), die Legitimation (dürfen politische Parteien prozessieren?) oder die Form der Beschwerde (ist die Erhebung via E-Mail zulässig?). Die Beschwerdefrist und der Beginn des Fristenlaufs nehmen grösseren Raum ein, sind dies doch wahrscheinlich jene formellen Erfordernisse, die am häufigsten verletzt werden und damit zu einem Nichteintreten führen.

Markić beschränkt sich jedoch nicht auf die blosse deskriptive Darstellung des «trockenen» Verfahrensrechts. Ihm liegt genauso daran, den Rechtsschutz im Bereich der politischen Rechte pro futuro zu verbessern und wartet deshalb an etlichen Stellen mit kritischen Einwänden und konkreten Verbesserungsvorschlägen auf. So fordert er etwa, dass das Rechtsschutzverfahren kostenlos sein müsse (dies ist in der Mehrheit der Kantone, oftmals selbst vor unteren Instanzen, nicht der Fall), da die Beschwerdeführung nicht nur im individuellen Interesse erfolge, sondern auch als «Anwalt des Volkes» fungiere. Gerade auch diese rechtspolitischen Postulate Markićs tragen zur guten Lesbarkeit, Verständlichkeit und Praxisrelevanz dieses Buchs bei.

Steffen Klatt: Mehr Schweiz wagen – mehr Europa tun – Ein Kontinent zwischen Aufbruch und Abbruch (Zytglogge)
Nach dem Einfall Russlands in die Ukraine sahen und sehen viele einen neuen Aufbruch in der Europäischen Union. Angesichts der Krise werde den Europäern bewusst, wie wichtig es sei, nun zusammenzustehen. Die Realität ist allerdings, dass die Aussichten für die EU nicht eben rosig sind. Die Mitglieder sind sich in vielen Fragen uneins, wirtschaftlich hinkt der Kontinent anderen Regionen seit Jahren hinterher. Die politischen Eliten versuchen die Flucht nach vorne durch noch mehr Zentralisierung und Harmonisierung. Und lassen dabei ihre Bürger auf halber Strecke zurück.

Den Zustand der EU beschreibt auch der Journalist Steffen Klatt in «Mehr Schweiz wagen – mehr Europa tun» schonungslos. Der in der DDR aufgewachsene Klatt macht kein Geheimnis aus seiner Sympathie für das europäische Einigungsprojekt. Trotzdem oder gerade deshalb geizt er nicht mit Kritik an den bestehenden Institutionen. Er fordert mehr (direktdemokratische) Mitsprache der Bürger. Dies sei der einzige Weg hin zu einem geeinten Europa.

Man mag dem ebenso widersprechen wie den pauschalen Abgesang auf die nationalstaatliche Souveränität. Und zuweilen gefällt sich Klatt etwas zu sehr in grossen Worten und schreitet dabei über konkrete Fragen und Lösungen hinweg. Dennoch regt das Buch auf spannende Weise zum Nachdenken über die Zukunft Europas und die Rolle der Schweiz darin an.

 

Siehe auch:

Napoleon’s Nightmare-Buchempfehlungen 2021
Napoleon’s Nightmare-Buchempfehlungen 2020
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2019
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2018
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2017
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2016
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2015

Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2014

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