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Vom «Bicameralismo perfetto» zum «Bicameralismo light»?

Am Sonntag entscheiden die Italiener, ob das Zweikammersystem faktisch abgeschafft werden soll. Ob diese Reform die gewünschte Stabilität und Effizienz bringt, ist fraglich.

«Eine Reform pro Monat!» – Das war das Ziel, das sich der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi bei seinem Amtsantritt 2014 gesetzt hat. Bislang bleibt das Reformtempo indes hinter den Vorgaben des ambitionierten Regierungschefs zurück. Abgesehen von einer Arbeitsmarktreform und die Einführung der eingetragenen Partnerschaft für Homosexuelle hat die Mitte-links-Regierung wenig erreicht.

Dass Reformen in  Italien einen so schweren Stand haben, hat laut Renzi mit dem politischen System zu tun: Es stehe einer effizienten Regierungsführung im Weg. Deshalb will er es mittels Verfassungsreform ändern. Am Sonntag gilt es ernst: Dann findet die Volksabstimmung über die Vorlage statt.

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Bald nur noch ein Abnickergremium? Der Senat in Rom. (Bild: flickr/agenziami)

Die wichtigste Änderung[1] betrifft den Senat: Er soll deutlich verkleinert und von einer gleichberechtigten Parlamentskammer zu einem Anhängsel des Abgeordnetenhauses degradiert werden. Der «Bicameralismo perfetto» würde sozusagen zu einem «Bicameralismo light».

Schweiz und Italien als Ausnahmen

Ist die kleine Kammer verantwortlich für den Reformstau in Italien? Um diese Frage zu beantworten, hilft es, die Eigenschaften des italienischen Bikameralismus mit denen anderer Zweikammersysteme zu vergleichen.

Der Politikwissenschaftler Arend Lijphart hat zwei Dimensionen vorgeschlagen, um die «Stärke» des Bikameralismus (d.h. wie bedeutend die zweite Kammer im politischen Prozess ist) in einem Land zu bewerten.[2] Einerseits unterscheidet er zwischen symmetrischem Bikameralismus (beide Kammern haben die gleichen Kompetenzen) und asymmetrischem Bikameralismus (die erste Kammer hat mehr Kompetenzen), wobei ersterer tendenziell «stärker» ist.[3] Unter den Ländern mit zwei Kammern ist der asymmetrische Bikameralismus die Regel. Dass beide Kammern die gleichen Kompetenzen haben, wie das in Italien der Fall ist, kommt selten vor. Das einzige andere Land in Europa mit solch einem System ist die Schweiz.[4]

Andererseits unterscheidet Lijphart zwischen kongruentem und inkongruentem Bikameralismus, wobei letzterer tendenziell «stärker» ist. Als inkongruent bezeichnet Lijphart ein Zweikammersystem, in welchem beide Kammern auf einer unterschiedlichen Repräsentationsbasis beruhen. Dies ist etwa in der Schweiz der Fall, wo der Nationalrat die Bevölkerung möglichst genau abbilden soll, während im Ständerat alle Kantone unabhängig von ihrer Einwohnerzahl gleichberechtigt[5] vertreten sind.

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Grafik 1: Typologisierung von Bikameralismus gemäss Lijphart.

Dagegen ist der italienische Bikameralismus laut Lijphart kongruent. Zwar werden die Mitglieder des Senats in den einzelnen Regionen gewählt; die Sitzverteilung richtet sich aber nach den Bevölkerungszahlen der Regionen. Dies begünstigt – wenigstens in der Theorie – eine relativ ähnliche Zusammensetzung der beiden Kammern. Relativiert wird diese Kongruenz indes durch das Wahlsystem: Während im Abgeordnetenhaus die stärkste Partei automatisch eine Mehrheit der Sitze erhält, ist dies im Senat (weil die Mitglieder in den Regionen gewählt wird) nicht möglich.

Generell gilt also nach Lijphart, dass der Bikameralismus umso stärker ist, je symmetrischer und inkongruenter er ist. Grafik 1 veranschaulicht diesen Zusammenhang.

Sagen die Stimmbürger am Sonntag Ja zur Verfassungsreform, würde Italien vom zweiten in den dritten Quadranten rutschen, der Bikameralismus würde also deutlich geschwächt – genau das ist es ja auch, was Renzi will.

Machtkonzentration zugunsten Beppe Grillo?

Doch wäre es für den Regierungschef in einem «Bicameralismo light»-System einfacher, zu regieren? Drei Überlegungen lassen Zweifel aufkommen:

Erstens: Wenn der Bikameralismus tatsächlich schuld sein soll am Reformstau in Italien (wie Renzi sagt), müsste die Schweizer Politik nicht noch dysfunktionaler sein als die italienische? Schliesslich ist der Bikameralismus hierzulande noch stärker. Natürlich gibt es auch in der Schweiz genug Bereiche, wo sich Reformen aufdrängen, namentlich bei der Altersvorsorge. Ein eigentlicher Reformstau lässt sich jedoch nicht feststellen. Das ist ein Hinweis darauf, dass die Stärke der zweiten Kammer nicht das einzige Kriterium für eine effiziente Regierungsführung ist. Eine Rolle spielt etwa auch die konkrete Ausgestaltung des politischen Prozesses im Zweikammersystem. Während in Italien Gesetzesänderungen so lange zwischen den beiden Kammern hin- und hergeschickt werden, bis beide den gleichen Text verabschieden, gibt es in anderen Ländern (so auch in der Schweiz) ein formelles Verfahren zur Auflösung von Uneinigkeiten. Im eidgenössischen Parlament wird nach drei Runden im Differenzbereinigungsverfahren eine Einigungskonferenz einberufen, die sich aus Mitgliedern beider Kammern zusammensetzt. Über ihren Vorschlag stimmen anschliessend beide Kammern verbindlich ab. Dann besteht keine Möglichkeit mehr für taktische Spielchen.

Zweitens: Beim Vergleich zwischen der Schweiz und Italien fällt weiter auf, dass unterschiedliche Zusammensetzung er beiden Kammern in der Schweiz viel weniger ein Problem zu sein scheint. Das dürfte mit der politischen Kultur zusammenhängen, die in der Schweiz stärker auf Konsens angelegt ist. Institutionen sind zwar wichtig, aber eben nicht allein entscheidend in der Politik.

Drittens birgt die Machtkonzentration, die Renzi mit seiner Reform anstrebt, auch beträchtliche Risiken. Die Idee hinter dem Zweikammersystem ist ja nicht zuletzt, zu verhindern, dass eine Institution im Staat zu viel Macht auf sich vereinigt. Nicht ohne Grund fürchteten einige Leute in Italien, dass die Verfassungsreform für Renzi zum Eigentor werden könnte: Dann nämlich, wenn bei den nächsten Wahlen das «Movimento Cinque Stelle» von Komiker Beppe Grillo die meisten Stimmen holen würde (was gemäss Umfragen ein realistisches Szenario ist), den Mehrheitsbonus einstreichen und ohne Opposition aus dem Senat regieren könnte.

Nicht nur könnten also die beabsichtigten Folgen der Reform sich nicht im von Renzi erhofften Mass erfüllen. Die Verfassungsänderung könnte auch unbeabsichtigte Konsequenzen haben, die nicht im Sinne des Regierungschefs wären. Zwar sagen Befürworter der Reform, dass diese vor allem symbolisch wichtig wäre – ein Bekenntnis zu Renzis Reformkurs. Nicht zuletzt deshalb, weil ein Nein auch das Ende des grossen Reformators Renzi als Ministerpräsident bedeuten könnte. (Renzi hatte ursprünglich angekündigt, im Falle eines Neins zurückzutreten; Inzwischen ist er davon aber abgerückt.) Allerdings stellt sich die Frage, ob man als Wähler eine Verfassungsänderung auch dann unterstützen soll, wenn man sie für schlecht hält, nur um der Regierung symbolisch den Rücken zu stärken.

Ohne Zweifel hat Italien ein Governance-Problem. Renzi weist gerne darauf hin, dass das Land in den letzten 70 Jahren 63 Regierungen erlebte. Ob jedoch eine faktische Abschaffung des Zweikammersystems und eine damit einhergehende Machtkonzentration der richtige Weg hin zu mehr Stabilität ist, darf bezweifelt werden. Um die Lebensdauer von Regierungen zu verbessern würde es eher helfen, wenn Regierungschefs davon absehen würden, ihre persönliche Zukunft an Abstimmungen über Sachfragen zu knüpfen.

 


[1] Weitere Punkte sind eine Neuaufteilung der Kompetenzen zwischen Zentralregierung und Regionen sowie eine Reform der Volksrechte, mit der einerseits das Quorum (unter gewissen Umständen) leicht gesenkt und andererseits das Instrument der Volksinitiative etwas verbindlicher gemacht wird (bisher war dieses eine Art Petitionsrecht, künftig wäre das Parlament verpflichtet, über Volksinitiativen zu beraten; dafür wird das Unterschriftenquorum auf 150’000 erhöht). Nicht zur Reform gehört die (bereits beschlossene) Reform des Wahlsystems, die bereits einmal Thema in diesem Blog war.

[2] Arend Lijphart (1999): Patterns of Democracy. Government Forms and Performance in Thirty-Six Countries.

[3] Lijphart sieht ausserdem die direkte Wahl der Mitglieder der zweiten Kammer als Voraussetzung für einen symmetrischen Bikameralismus, da der Kammer sonst die demokratische Legitimität fehlt, um sich auf Augenhöhe mit dem Unterhaus zu bewegen. So gesehen könnte die Bundesversammlung in den Anfangszeiten des schweizerischen Bundesstaats als asymmetrischer Bikameralismus bezeichnet werden, da die Ständeräte in den meisten Kantonen nicht vom Volk gewählt, sondern von der Kantonsregierung oder dem -parlament ernannt wurden.

[4] Ausserhalb Europas sind die USA das bekannteste Beispiel eines symmetrischen Bikameralismus.

[5] Mit der Spezialität der Kantone, die nur einen Ständerat haben.

Renzis teuer erkaufte Stabilität

Italien hat ein neues Wahlgesetz. Doch die «Reform» verschärft nur die Nachteile des bestehenden Gesetzes.

Bald ein Hort der Stabilität? Die Abgeordnetenkammer des italienischen Parlaments in Rom. Bild: Palazzo Chigi (Flickr)

Bald ein Hort der Stabilität? Die Abgeordnetenkammer des italienischen Parlaments in Rom. Bild: Palazzo Chigi (Flickr)

Vorletzte Woche hat das italienische Abgeordnetenhaus ein neues Wahlgesetz beschlossen. In den Augen von Premierminister Matteo Renzi ist das neue Gesetz ein wichtiger Schritt auf seinem Reformkurs. «Mut zahlt sich aus, die Reformen gehen voran», kommentierte er bereits nach der Abstimmung im Senat im Januar. Was genau «mutig» sein soll am neuen Gesetz, bleibt allerdings ebenso offen wie die Frage, was damit «reformiert» werden soll. Das unfaire italienische Wahlsystem kann jedenfalls nicht gemeint sein. Denn die Gesetzesänderung zementiert im Grunde nur das bisherige System und verstärkt dessen verzerrende Auswirkungen.

Bekanntlich ist das Wahlsystem für das italienische Abgeordnetenhaus dem Namen nach ein Proporzsystem. Es hat allerdings einen so genannten «Mehrheitsbonus» eingebaut. Dieser gibt dem Parteienbündnis mit den meisten Stimmen automatisch 55 Prozent der Sitze.[1]

Bei den letzten Wahlen 2013 erhielt das Mitte-links-Bündnis unter Führung des Partito Democratico mit nur gerade 29.5 Prozent der Stimmen 55 Prozent der Sitze, bekam also mehr als 150 ihrer 340 Sitze «geschenkt».

Mehrheitsbonus in Athen wie in Rom

Ein ähnliches System kennt übrigens Griechenland: Dort erhält die grösste Partei 50 zusätzliche Sitze (d. h. ein Sechstel der total 300 Sitze im Parlament). Dies geht leicht vergessen, wenn im Zusammenhang mit dem Wahlsieg der Linksaussen-Partei Syriza davon die Rede ist, «das griechische Volk» habe der Sparpolitik eine Absage erteilt. Tatsächlich hat Syriza auch zusammen mit ihrem Koalitionspartner, den rechtskonservativen Unabhängigen Griechen, nicht die Mehrheit der Wähler hinter sich – dank dem Wahlsystem aber die Mehrheit der Sitze.

Die Verzerrungen, die durch einen solchen Mehrheitsbonus entstehen, waren auch dem italienischen Verfassungsgericht ein Dorn im Auge. Dieses hatte das bisherige Wahlgesetz Ende 2013 für verfassungswidrig erklärt. Eine Reform wurde somit notwendig.

Was ändert sich nun mit dem neuen Wahlgesetz? Zunächst nicht viel: Der Mehrheitsbonus bleibt bestehen. Neu ist lediglich, dass für den Fall, dass kein Parteienbündnis mehr als 37 Prozent der Stimmen holt, ein zweiter Wahlgang zwischen den beiden stärksten Gruppierungen um den Mehrheitsbonus stattfindet. Zudem wird die Hürde für Parteien, um ins Parlament einzuziehen, auf 4.5 Prozent erhöht.[2] Ob das Wahlsystem durch diese Anpassung verfassungskonform wird, bleibt offen.

Abschied vom perfekten Bikameralismus

Neben der Änderung des Wahlrechts plant Renzi auch eine Reform des Senats. Bisher war die kleine Kammer als Vertretung der Regionen der Abgeordnetenkammer gleichgestellt. Diesen «bicameralismo perfetto» kennen neben Italien nur wenige Länder (unter ihnen die Schweiz). Künftig soll der Senat hingegen weniger Befugnisse haben. Zudem sollen die Senatoren nicht mehr vom Volk gewählt, sondern von Bürgermeistern und Vertretern der Regionalregierungen entsandt werden. Diese Gesetzesänderung ist aber vom neuen Wahlgesetz entkoppelt.

Von den Reformen erhofft sich Renzi stabilere Regierungen. Auf der Strecke bleiben dabei die italienischen Wähler. Denn sie sind die Hauptgeschädigten des Mehrheitsbonus und des höheren Quorums – weil dadurch der Wählerwille massiv verzerrt werden kann. Der ehemalige Minister Corrado Passera warnte hierzu kürzlich treffend: «Das neue Wahlgesetz wird in Kombination mit der Senatsreform dazu führen, dass künftig die ganze Macht in der Hand eines einzigen Mannes vereinigt ist, ohne jedes Gegengewicht. Ausserdem werden die meisten Parlamentarier wie bisher von den Parteichefs ausgewählt. In einer echten Demokratie können sich die Bürger ihre Vertreter selber aussuchen.»

Der Mehrheitsbonus ist im Prinzip eine Imitation des Mehrheitswahlsystems, wie es Grossbritannien kennt. Dessen Stärke besteht darin, dass es grosse Parteien bevorteilt und so tendenziell für stabilere Regierungen sorgt. (Dass es dieses Versprechen in Grossbritannien selbst immer weniger einlösen kann, ist eine andere Geschichte.)

Repräsentanten ohne Rechenschaft

Das Problem mit dem Mehrheitsbonus ist bloss, dass die Imitation unvollständig ist. Das Wahlverfahren trägt noch immer den Mantel eines Proporzsystems, die Verzerrung des Wählerwillens ist tendenziell aber viel grösser als in Mehrheitswahlsystemen. Zugleich fehlt in Italien der grösste Vorteil des Majorzsystems: die persönliche Verbindung zwischen Wähler und Kandidaten. In den Einerwahlkreisen Grossbritanniens können die Wähler ihre Vertreter im Parlament direkt zur Rechenschaft ziehen.

In Proporzsystemen ist diese direkte «Accountability» viel weniger ausgeprägt.[3] Das ist der Preis dafür, dass das Parlament die Stärke der Parteien und damit den Wählerwillen relativ genau abbildet.

Das italienische Wahlsystem vereinigt die Nachteile von Majorz- und Proporzsystem: Der Wählerwille wird verzerrt, ohne dass eine direkte Rechenschaft der Abgeordneten ermöglicht wird.

Immerhin, so argumentieren die Befürworter der Reform, wird Italien künftig von stabileren Regierungen regiert werden. Man kann sich indes fragen, wie viel Stabilität es bringt, wenn eine Minderheitspartei im Alleingang Gesetze beschliessen kann, die nach den nächsten Wahlen von einer anderen Minderheitspartei wieder umgestossen werden.

 


[1] Es sei denn, das Bündnis holt ohnehin bereits mehr als 55 Prozent der Stimmen.

[2] Bislang lag das Quorum bei 4 Prozent für Parteien ausserhalb eines Bündnisses bzw. bei 2 Prozent für Parteien in einem Bündnis.

[3] Eine Ausnahme sind «offene Listen», durch welche die Wähler also die Reihenfolge der Kandidaten auf einer Parteiliste beeinflussen können. Italien kennt (im Gegensatz zur Schweiz) keine offenen Listen.

Wäre eine Wahlrechtsreform die Lösung für Italiens Probleme?

«Mamma mia» – das ist wohl der geeignete Kommentar zur gegenwärtigen Situation in Italien. Das Land kämpft mit massiven wirtschaftlichen Problemen: Die Wirtschaftsleistung sinkt, Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung steigen an. Doch anstatt sich diesen Problemen zu widmen, beschäftigt sich die Politik seit Wochen vorwiegend mit sich selbst. Seit den Wahlen Ende Februar herrscht politischer Stillstand. Immerhin hat das Land seit heute wieder eine Regierung, wenn auch deren Lebensdauer allgemein als begrenzt eingeschätzt wird.

UBS-Chefökonom Andreas Höfert hat im jüngsten Podcast [MP3] der Grossbank Interessantes zur Situation in Italien zu sagen. Auf die Herausforderungen der neuen Regierung angesprochen, nennt er als Erstes nicht etwa die Senkung der Staatsverschuldung oder die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit, sondern die Reform des Wahlsystems:

«Was diese Koalition machen soll, ist, eine Wahlreform einführen. […] Diese Wahlreformen werden vor allem dazu dienen, dass es nicht zu einer Pattsituation kommt, wo die beiden Kammern nicht die gleiche Mehrheit haben. Momentan hat das Parlament[1] eine leicht linke Mehrheit, aber der Senat hat eine rechte Mehrheit. Diese Form von geteiltem Parlament, wo das Unterhaus und das Oberhaus sich nicht einigen können, ist das, was Italien stets blockiert hat.»

Tatsächlich hat das Wahlrecht massgeblich zur politischen Blockade in Italien beigetragen. In einem Ranking der kompliziertesten Wahlsysteme der Welt wäre dem italienischen ein Spitzenplatz garantiert. Aus unerfindlichen Gründen wird das System als proportional bezeichnet, obschon es mit einer proportionalen Verteilung nicht viel gemein hat.

Die wichtigste Eigenschaft des italienischen Wahlsystems ist, dass bei den Wahlen für das Abgeordnetenhaus die grösste Partei automatisch die Mehrheit der Sitze erhält: So holte die Mitte-Links-Koalition bei den letzten Wahlen 29.6 Prozent der Stimmen, erhielt dafür aber 345 der 630 Sitze (54.8 Prozent) – nicht einmal im britischen Mehrheitssystem wird die grösste Partei derart bevorzugt.

Bei diesem «Mehrheitsbonus» scheint es sich um eine mediterrane Spezialität zu handeln, denn Griechenland und Malta sind die einzigen Staaten, die ein ähnliches System anwenden.[2] Man könnte an diesem System loben, dass es stabile Mehrheiten erzeugt. Schade nur, dass Italien – im Gegensatz zu Griechenland und Malta – noch eine zweite Parlamentskammer hat – den Senat –, wo sich das System nicht anwenden lässt, weil die Senatssitze nicht national, sondern (analog zum Schweizer Ständerat) in den einzelnen Regionen verteilt werden.[3] Und die Regierung muss in beiden Parlamentskammern eine Mehrheit haben.

Es ist also durchaus plausibel, dass das italienische Wahlsystem für die politische Blockade verantwortlich ist. Doch ist die Erklärung wirklich so einfach? Gibt es nicht auch in der Schweiz zwei Parlamentskammern? Und werden nicht beide von unterschiedlichen Mehrheiten dominiert? Trotzdem haben wir eine einigermassen funktionierende Regierung und eine politische Blockade ist nicht auszumachen.

Möglicherweise spielt die politische Kultur eine Rolle. In seinem Buch über die Konkordanz schrieb der Politologe Michael Hermann, diese sei in die «politische DNA» der Schweiz eingeschrieben. Hierzulande bilden die Parteien ganz selbstverständlich grosse Koalitionen, weil sie nichts anderes gewohnt sind. Die direkte Demokatie und die Heterogenität hatten irgendwann zu der Einsicht geführt, dass stabile Regierungen nur möglich sind, wenn alle politischen Kräfte daran beteiligt sind. In Italien scheint man vom exakten Gegenteil überzeugt zu sein. Die italienischen Parteien sträuben sich mit Händen und Füssen dagegen, mit ihren Gegnern eine Regierung zu bilden.

Ob eine Wahlrechtsreform die Lösung für das Schlamassel in Italien wäre, kann denn auch bezweifelt werden. Dadurch, dass mit der Fünf-Sterne-Bewegung von Beppe Grillo eine dritte grosse Kraft (neben der Rechten und der Linken) ins Parlament eingezogen ist, ist eine Mehrheit im Senat noch schwerer zu erreichen. Die Bildung von Koalitionen dürfte daher schwierig bleiben, selbst wenn der «Mehrheitsbonus» im Abgeordnetenhaus dereinst wegfallen sollte. Abgesehen davon ist es ohnehin ungewiss, ob sich die Parteien überhaupt auf eine Reform einigen können. Denn wie Andreas Höfert feststellt:

«[Eine Wahlrechtsreform] wird sehr schwierig sein: Es ist klar, dass jede Wahlreform die eine oder andere Partei schwächen könnte.»


[1] Gemeint ist wohl das Abgeordnetenhaus, die grössere der beiden Parlamentskammern.

[2] Im Unterschied zu Italien besteht der Bonus in diesen Ländern aber nicht in einer garantierten Mehrheit, sondern einer fixen Zahl von zusätzlichen Sitzen.

[3] Die meisten Regionen kennen zwar ebenfalls einen «Mehrheitsbonus», damit über das ganze Land hinweg eine absolute Merheit zu bekommen, ist allerdings ziemlich schwierig.