Monthly Archives: March 2017

5 Jahre EU-Bürgerinitiative: Ein Papiertiger auf Sinnsuche

Vor fünf Jahren wurde die EU-Bürgerinitiative ins Leben gerufen. Nach anfänglicher Euphorie ist sie zu einem Ladenhüter geworden. Der Grund: Gemessen am sehr aufwendigen Verfahren für das Zustandekommen ist die Wirkungskraft sehr bescheiden.

Gross war die Euphorie, als die Europäische Bürgerinitiative am 1. April 2012 offiziell ins Leben gerufen wurde. Von einem «riesigen Schritt für die EU-Bürger» war die Rede, vom «ersten grenzüberschreitenden direkt-demokratischen Projekt überhaupt». EU-Kommissar Maroš Šefčovič verkündete «ein neues Kapitel im demokratischen Leben der EU».

Dass das Instrument wenig mit direkter Demokratie zu tun hat, übersah man geflissentlich. Stattdessen sprachen die Politiker in Brüssel vollmundig von «Bürgernähe» und «Mitbestimmung».

Bloss: Offenbar haben die Bürger wenig Lust, sich mithilfe dieses Instruments zu beteiligen. Vergangenes Jahr wurden nur gerade 3 Bürgerinitiativen gestartet. Zum Vergleich: Im Geburtsjahr 2012 waren es noch 23 gewesen (siehe Diagramm).

Hohe Hürden und Gültigkeitsvoraussetzungen

Ein Grund für den massiven Rückgang liegt darin, dass die Hürden für Initiativen sehr hoch sind. Eine Million Unterschriften aus mindestens sieben Mitgliedsländern müssen gesammelt werden, damit sich die EU-Kommission mit einem Anliegen befasst. Bevor die Unterschriftensammlung gestartet werden kann, prüft die Kommission das Begehren schon einmal vor. Abgelehnt werden Initiativen, wenn ihr Anliegen nicht in den Kompetenzbereich der EU fällt, sie gegen «europäische Grundwerte» verstossen oder gewisse formale Kriterien nicht erfüllen. Die Prüfung der Kommission ist ziemlich streng: Ein Drittel der bis 2016 lancierten Bürgerinitiativen scheiterten bereits an dieser Hürde.

lancierte-ebi-2012-2016

Die zweite, noch höhere Hürde ist die Unterschriftensammlung: Eine Million Bürger innerhalb von einem Jahr zur Unterzeichnung zu bewegen, ist eine Herausforderung, die nur wenige, gut organisierte Interessengruppen stemmen können.

Das eigentlich Abschreckende an der Bürgerinitiative ist aber, dass, gemessen an diesen Hürden, die Wirkungskraft sehr bescheiden ist. Hat eine Initiative nämlich den Hindernislauf von Vorprüfung und Unterschriftensammlung gemeistert, ist das einzige, was sie damit erreicht hat, dass sich die Kommission mit dem Anliegen auseinandersetzen muss. Diese kann eine Gesetzesänderung vorschlagen, der allerdings der EU-Rat und allenfalls das EU-Parlament als gesetzgebende Behörden zustimmen müssen. Die Initianten können weder Einfluss auf den Prozess nehmen noch beim Inhalt der Vorlage mitreden.

Die Kommission kann nach der Prüfung des Anliegens einer erfolgreichen Initiative aber auch beschliessen, in dieser Sache nichts zu unternehmen. Nach dem Motto: Danke für den Input, aber wir lassen lieber alles, wie es ist.

Diese Antwort gab die Kommission auf zwei der drei Bürgerinitiativen, die bislang zustandegekommen sind (in der einen ging es um eine Verhinderung der Privatisierung der Wasserversorgung, in der anderen um einen Stopp von EU-Fördergeldern für Stammzellenforschung). Im Fall der dritten, die ein Verbot von Tierversuchen anstrebte, prüft sie derzeit strengere Auflagen für Tierversuche, hat aber bereits klargemacht, dass ein absolutes Verbot nicht in Frage kommt. Die Initianten scheinen mit diesem Ergebnis nicht wirklich zufrieden zu sein: Sie haben eine Beschwerde beim EU-Bürgerbeauftragten gegen die Kommission eingereicht.

Reform gefordert

Somit ist die Europäische Bürgerinitiative nicht mehr als ein besseres Petitionsrecht.[1] Kein Wunder, dass kaum noch jemand den Aufwand dieses Instruments auf sich nimmt, wenn die Wirkung am Ende etwa gleich gross ist, wie wenn man einen Brief an Jean-Claude Juncker schreiben würde.

Das hat man inzwischen offenbar auch in Brüssel gemerkt. Jedenfalls sprechen sich namhafte EU-Politiker für eine Reform der Bürgerinitiative aus. In welche Richtung diese gehen soll, ist noch ziemlich schwammig. Möglich, dass der Papiertiger Bürgerinitiative etwas schärfere Zähne erhalten wird. Klar scheint aber schon jetzt, dass ein wirklich direktdemokratisches Instrument auf EU-Ebene auch in Zukunft fehlen wird.


[1] Den besten Beweis dafür lieferten die Initianten der Bürgerinitiative gegen das Freihandelsabkommen TTIP: Nachdem die Kommission ihrem Begehren die Registrierung verweigerte (mit der wenig überzeugenden Begründung, dass die Autorisierung von Verhandlungen bzw. der Rückzug einer solchen Autorisierung nicht in die Kompetenz der Kommission falle), wandelten sie dieses kurzerhand in eine Petition um und sammeln nun für diese Unterschriften.

Wolf Linder über Cleavages und Konkordanz

Im zweiten Napoleon’s Nightmare Roundtable vom 23. März 2017 spricht der emeritierte Professor Wolf Linder über gesellschafltiche Konflikte und Konkordanzdemokratie in der Schweiz.

Ihm zufolge spielen traditionelle Gegensätze etwa zwischen Stadt und Land weiterhin eine Rolle in der Schweizer Politik. Zugleich seien neue Konflikte entstanden, etwa jener zwischen Öffnung und Bewahrung, der sich in Fragen rund um die Globalisierung zeigt. Die Konkordanz vermöge indes Konflikte zu überbrücken. Allerdings hat sich laut Linder die politische Kultur zulasten von Kompromisslösungen gewandelt. Trotzdem sieht er die Konkordanz nicht gefährdet: Denn die direkte Demokratie zwinge die Parteien auf Regierungsebene quasi zur Zusammenarbeit.

Das Gespräch an der Universität Bern wurde per Livestream auf Facebook übertragen. Hier können Sie das Video nachsehen. Oder hier das Gespräch hier als MP3 downloaden.

Majorz für Kantonsparlamente: Immer rechtens? Manchmal rechtens? Nie rechtens?

Parlamente im Majorz zu wählen, verträgt sich schlecht mit dem Recht auf freie und gleiche Wahl. Das Bundesgericht erlaubt dieses System bisher Kantonen und Gemeinden, in denen die Wählenden nicht primär nach Parteizugehörigkeiten entscheiden. Aber selbst für solche Politkulturen gäbe es verfassungskonformere Alternativen.

Ein Gastbeitrag von Julian Marbach (Jurist MLaw).[*]

Avers GR: Der kleinste Majorz-Wahlkreis der Schweiz. (Foto: balu51)

Sie gehören zum Standardinhalt des Staatskundeunterrichts: Die beiden Wahlverfahren Proporz und Majorz. Das Proporzsystem teilt die zu vergebenden Mandate im Verhältnis der auf die einzelnen politischen Gruppierungen abgegebenen Stimmen auf. Im Majorzsystem ist dagegen schlicht gewählt, wer am meisten Stimmen erhält. Die meisten Kantonsparlamente werden inzwischen proportional gewählt. Kann das kantonale Recht aber nach wie vor Majorz vorsehen?

Das Bundesgericht stellte sich in den letzten Jahren dreimal genau diese Frage. Auf eine Beschwerde gegen die Bündner Grossratswahlen von 2014 trat das Bundesgericht nicht ein, da die Majorzgegnerinnen und -gegner bereits die Anordnung der Wahlen und nicht erst deren Ergebnis hätten anfechten müssen (Urteil 1C_100/2016 vom 4. Juli 2016). In Fällen aus Ausserrhoden (1C_59/2012, 26. September 2014) und Uri (1C_511/2015, 12. Oktober 2016) äusserte es sich dagegen inhaltlich: Die höchsten Richter hielten es beide Male für verfassungskonform, dass in einzelnen Gemeinden Majorz gilt. Für Aufregung sorgte aber weniger diese Gutheissung des Majorz, sondern dass das Bundesgericht sie mit bestimmten lokalen Verhältnissen begründete. Im Klartext: Unter anderen Verhältnissen wäre der Majorz nicht verfassungsmässig gewesen. Im Ausserrhoder Urteil beauftragte das Bundesgericht die Kantonsbehörden sogar explizit, die weitere Entwicklung im Auge zu behalten.

Die Erfolgswertgleichheit als Knackpunkt

Wieso steht die Verfassungsmässigkeit des Majorz aber überhaupt zur Diskussion? Ist es nicht eine rein politische Frage, welches System man besser findet?

Grund ist das Recht auf gleiche Wahl gemäss Art. 34 der Bundesverfassung. Dieses umfasst drei Aspekte: Die Zählwertgleichheit (jede Stimme wird innerhalb des Wahlkreises gleich gezählt), die Stimmkraftgleichheit (in allen Wahlkreisen ist das Verhältnis von Bevölkerungszahl und zu vergebenden Sitzen vergleichbar) sowie die Erfolgswertgleichheit. Letztere ist vorliegend entscheidend.

Das Konzept der Erfolgswertgleichheit besagt, dass sich jede Stimme gleich auf das Wahlergebnis auswirken soll. Das Wahlresultat soll den Willen aller Wählenden widerspiegeln, nicht bloss denjenigen eines Teils. Es gilt als problematisch, wenn jemand wählt, diese Willensäusserung jedoch ohne Einfluss bleibt.

Der Majorz ist nicht mit der Erfolgswertgleichheit vereinbar: Bei Mehrheitswahlen könnten nämlich alle, die unterlegene Kandidierende wählen, ebenso gut auf die Stimmabgabe verzichten, und das Ergebnis würde sich nicht ändern. Unter gewissen Umständen bleiben so weit mehr als die Hälfte der abgegebenen Stimmen bedeutungslos.[1]

Somit ist zweifelhaft, ob Majorzwahlen genügend gleich, aber auch, ob sie genügend frei sind. Da Stimmen für unterlegene Kandidierende im Majorz wirkungslos sind, müssen die Wählenden nämlich die Erfolgschancen der Kandidierenden berücksichtigen. Damit sie ihre Stimme nicht «vergeuden», können sie gezwungen sein, anstelle ihrer Lieblingskandidierenden das «kleinere Übel» zu wählen. Dies gefährdet das Recht auf freie Willensbildung und unverfälschte Stimmabgabe, welches Art. 34 Abs. 2 Bundesverfassung garantiert.

Argumentieren mit dem Mehrheitsprinzip: Sind Wahlen nur spezielle Abstimmungen?

Majorzanhängerinnen und -anhänger können bestreiten, dass die Erfolgswertgleichheit überhaupt verfassungsrechtlich geboten ist. So wird geltend gemacht, dem Prinzip der Erfolgswertgleichheit stehe das Mehrheitsprinzip als gleichberechtigte Alternative gegenüber. Die Kantone könnten frei entscheiden, an welchem der beiden sie sich ausrichten möchten.[2]

Das Mehrheitsprinzip setzt den Volkswillen mit dem Mehrheitswillen gleich. Es nimmt in Kauf, dass eine Mehrheitsstimme anders behandelt wird als eine Minderheitsstimme. Dies steht aber in einem grundsätzlichen Spannungsfeld zur Rechtsgleichheit: Gemäss dieser sind politische Mehrheit und Minderheit nach Massgabe ihrer (zahlenmässigen) Ungleichheit ungleich zu behandeln, aber nicht ungleicher.

Wenn das Mehrheitsprinzip bei Wahlen trotzdem intuitiv einleuchtet, dann, weil man es von Abstimmungen kennt. Abstimmungen und Parlamentswahlen sind jedoch nicht vergleichbar: Bei ersteren entscheiden die Stimmenden eine konkrete Sachfrage, bei letzteren bestimmen sie eine Vertretung, die an ihrer statt über eine Vielzahl von Sachfragen zu befinden hat. In Sachentscheiden kann sich naturbedingt nicht das gesamte Meinungsspektrum abbilden. Von allen denkbaren Gesetzestexten kann letztlich nur ein einziger rechtskräftig werden, von allen denkbaren Raumordnungen nur eine einzige gebaut. Bei Mehrpersonenwahlen besteht diese Beschränkung nicht.

Persönlichkeit statt Gleichheit?

Eine zweite Strategie zur Verteidigung des Majorz besteht darin, grundsätzlich zu akzeptieren, dass die Bundesverfassung erfolgswertgleiche Wahlen verlangt, aber zu argumentieren, der Majorz stelle (mindestens unter gewissen Umständen) eine zulässige Ausnahme oder Abweichung von diesem Prinzip dar.

So wird der Majorz häufig damit gerechtfertigt, dass er eine Personenwahl sei. Das Problem dieser Argumentation: Im in der Schweiz üblichen Proporz können die Wählenden streichen, kumulieren und panaschieren und damit ihre personalen Präferenzen mindestens so differenziert ausdrücken wie im Majorz. International gilt das schweizerische Proporzmodell gar als eines der Wahlsysteme mit der höchsten Voter choice überhaupt – deutlich vor den verschiedenen Mehrheitswahlverfahren.[3] Dagegen schränkt der Majorz die Freiheit der Personenwahl ein, indem die Wählenden das «kleinere Übel» unter den aussichtsreichen Kandidierenden wählen müssen, wollen sie ihre Stimmen nicht vergeuden. Die personale Auswahl ist im Schweizer Proporz somit eher grösser als im Majorz.

Majorz zum Wohl der Regionen?

Ein anderes beliebtes Argument majorzfreundlicher Politikerinnen und Politiker ist die regionale Vertretung. Sie argumentieren, der Majorz benachteilige vielleicht bestimmte politische Kräfte, dafür seien dank ihm auch kleine Gemeinden oder Talschaften im Parlament vertreten.[4]

Dafür ist der Majorz aber schlicht nicht erforderlich. Mit dem «doppelten Pukelsheim» oder Wahlkreisverbänden kann die Erfolgswertgleichheit auch bei kleinen und kleinsten Wahlkreisen eingehalten werden. Das Bundesgericht hat denn auch zu Recht seine frühere Rechtsprechung aufgegeben, wonach gewichtige «historische, föderalistische, kulturelle, sprachliche oder religiöse» Gründe auch grössere Eingriffe in die Erfolgswertgleichheit zu rechtfertigen vermögen.[5]

Zwei Schwächen des Proporzes…

Weniger einfach zu widerlegen sind zwei weitere Argumente. Beide haben mit Schwächen und Grenzen des Proporzsystems zu tun.

Das erste Argument macht den wahren Kern des Gemeinplatzes «Majorz als Persönlichkeitswahl» aus: Im in der Schweiz üblichen Proporz ist eine Stimme für eine Person gleichzeitig eine Stimme für deren Partei. Dies erhöht die faktische Freiheit der Wählenden, da sie auch mit Stimmen für persönlich (vermeintlich) chancenlose Kandidierende etwas bewirken. In anderer Hinsicht beschränkt es ihre Freiheit jedoch auch: Eine Stimme nützt nicht nur der gewählten Person, sondern auch allen anderen Kandidierenden der Liste, bei Listenverbindungen sogar Kandidierenden «fremder» Listen. Wählende verhelfen somit unter Umständen Personen zur Wahl, die sie lieber nicht im Parlament gesehen hätten. Der Majorz hat dagegen für die Wählenden den Vorteil, dass sie ohne lästige Nebenwirkungen für eine bestimmte Person und nur für diese bestimmte Person stimmen können. Die Erfolgswertgleichheit und der Schutz der unverfälschten Stimmabgabe stehen insofern in einem gewissen Spannungsverhältnis.

Das zweite Argument ist dasjenige des Bundesgerichts: Dieses berief sich in seinen Urteilen zu Uri und Appenzell Ausserrhoden auf eine Politkultur, in der Parteizugehörigkeit für die Wählenden von untergeordneter Bedeutung ist.[6] Grundsätzlich ist die Argumentation gerechtfertigt: Es ist denkbar, dass die Politik an einem Ort weder von Parteien noch von sonstigen fixen Gruppierungen geprägt wird, sondern «Einzelkämpferinnen und Einzelkämpfer» dominieren (auch wenn sie formell ein Parteibuch haben, wie in den kleinen Urner Gemeinden). Unbestrittenermassen ist dies etwa in Appenzell Innerrhoden der Fall. Das Wahlrecht soll in solchen Gemeinwesen Politisierende nicht künstlich zur Blockbildung zwingen.

… und ihrer beider Lösung

Dies bedeutet aber noch nicht, dass der Schluss des Bundesgerichts korrekt und der Majorz in parteilosen Politikkulturen ohne Weiteres verfassungsgemäss wäre. Tatsächlich kann die Erfolgswertgleichheit auch anders garantiert werden als im Listenproporz: durch das System Single transferable vote (STV, auf Deutsch: übertragbare Einzelstimme).

Ein STV-Wahlzettel aus Irland. (Foto: Cedar Lounge)

STV wird in Irland, Nordirland und Malta sowie für den australischen Senat angewendet. Dabei erstellen die Wählenden eine Rangliste aller Kandidierenden ihres Mehrpersonenwahlkreises. Die Sitzverteilung erfolgt anschliessend gemäss dem Grundgedanken, dass nachgeordnete Präferenzen zählen, soweit vorgeordnete Präferenzen nicht zur Wahl eines Kandidierenden beigetragen haben. Ein Beispiel, wie dieser «Proporz ohne Parteien» funktioniert, findet sich im entsprechenden Wikipedia-Eintrag.

Die Berechnungsmodalitäten mögen STV kompliziert erscheinen lassen. Aus Sicht der Wählenden ist es dies aber nicht: Man muss nur das simple Prinzip einer Rangliste verstehen. Ein Wahlzettel ist unter STV schneller ausgefüllt als im Nationalratsproporz.

Bei STV bleiben einerseits sehr viel weniger Stimmen einflusslos als im Majorz. Anderseits entgeht es den beiden oben erwähnten Einwänden gegen den Proporz: Es benötigt keine organisierten Gruppierungen und man unterstützt nicht via Parteistimmen ungewollt Parteikolleginnen und Parteikollegen der von einem Gewählten. Auch wenn die Schlussfolgerung auf den ersten Blick radikal erscheinen mag, gilt: Kantone, die keinen Proporz wollen (z.B. weil die Parteizugehörigkeit bei ihnen nicht so wichtig ist), müssen STV (oder ein Alternativsystem mit vergleichbarer Wirkung) einführen.

Trotz seiner vielen Vorteile kann STV allerdings nicht schrankenlos empfohlen werden. Damit die Anzahl Kandidierender übersichtlich bleibt, müssen Wahlkreise unter STV nämlich eher klein sein (als optimale Grösse gilt fünf Sitze). Dies verzerrt die parteipolitische Zusammensetzung des Parlamentes. Für parteipolitisch polarisierte Politkulturen (etwa in den grossen Schweizer Städten) wäre STV daher ungeeignet.

Fazit: Kein Platz mehr für die Mehrheitswahl

Politik, Rechtswissenschaft und die Rechtsprechung diskutieren auch noch weitere Vorteile des Majorz (wobei manche Argumente früherer Jahrzehnte heute ziemlich exotisch anmuten). Keiner von ihnen vermag jedoch die Einschränkung des Rechts auf gleiche Wahl zu rechtfertigen. Letztlich bleibt es dabei: Das Majorzsystem kann die Erfolgswertgleichheit nicht garantieren und verletzt somit die politischen Rechte. Will ein Kanton keinen klassischen Proporz, stehen ihm Systeme wie Single transferable vote zur Verfügung.

 


[*] Dieser Beitrag ist die Zusammenfassung des ausführlichen Artikels Ist der Majorz für kantonale Parlamentswahlen verfassungsgemäss? in der juristischen Online-Zeitschrift «Jusletter» vom 28. November 2016 (kostenpflichtig), der seinerseits auf der Masterarbeit des Autors basiert.

[1] So wurde im zweiten Wahlgang der Schwyzer Ständeratswahlen vom 27. November 2011 Peter Föhn mit nur 37.4 % gewählt, 62.6 % der Stimmabgaben blieben somit wirkungslos.

[2] Auf diese Weise begründet das Verfassungsgericht Nidwalden in einem Urteil vom 15. März 2013 die Gültigkeit eines (letztlich erfolglosen) Volksbegehrens zur Wiedereinführung des Majorz.

[3] David M. Farrell, Electoral Systems. A Comparative Introduction, 2. Aufl., Palgrave Macmillan 2014, S. 86 und 170.

[4] Man vergleiche nur die Wortmeldung im Bündner Grossen Rat anlässlich der letzten Proporz-Initiative.

[5] Urteil 1C_59/2012 vom 26. September 2014, Erwägung 12.3 (mit weiteren Hinweisen).

[6] Ob in allen Ausserrhoder Majorzgemeinden auch tatsächlich eine solche herrscht, ist zweifelhaft.

Die Demokraten: Die andere Geschichte der SVP

Die SVP, deren Vorläuferin, die Bauernpartei, vor 100 Jahren in Zürich gegründet wurde, hat noch eine andere, weniger bekannte Wurzel: die Demokratische Bewegung des 19. Jahrhunderts. Diese setzte sich für die direkte Demokratie ein – und für eine sozialistische Wirtschaftspolitik.

Eine gekürzte Fassung dieses Artikels erschien am 16. März 2017 in der «Luzerner Zeitung».

Es könnte der Titel einer Albisgüetli-Rede sein. «Alles für das Volk! Alles durch das Volk!» Nein, die Losung stammt nicht von einem SVP-Politiker. Aber weit daneben liegt die Vermutung nicht. Immerhin waren diese Worte die Losung der demokratischen Bewegung, und die ist eine der Vorläuferinnen der SVP, die 1971 gegründet wurde.

An der Parteigründung beteiligt war einerseits die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB). Sie setzte sich aus verschiedenen kantonalen Parteien zusammen, die im frühen 20. Jahrhundert gegründet worden waren – angefangen mit der Zürcher Bauernpartei, deren Gründung vor 100 Jahren dieses Wochenende mit einem Fest gefeiert wird. Die zweite Wurzel ist heute weniger bekannt, obwohl sie für die Schweizer Politik mindestens so bedeutend war wie die BGB: die Demokratische Bewegung.

Vorkämpfer für direkte Demokratie

Die Demokraten formierten sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts, kurz nach der Gründung des Bundesstaats 1848. Wie die BGB waren sie ein Kind des Freisinns. Sie standen dem neuen Staat positiv gegenüber (im Gegensatz zu den Katholisch-Konservativen), waren aber mit der Politik der freisinnigen Machtelite unzufrieden.

Eigentlich ist es nicht ganz korrekt, von einer «Demokratischen Bewegung» zu sprechen, weil es in Tat und Wahrheit verschiedene Bewegungen in mehreren Kantonen waren. Die generelle Stossrichtung war aber überall die gleiche: Einerseits wollten die Demokraten die «aristokratische» Herrschaft des freisinnigen Establishments brechen und die demokratischen Rechte des Volkes ausweiten. Man muss sich vor Augen halten, dass die meisten Kantone wie auch der Bund im Wesentlichen repräsentative Demokratien waren. Die demokratische Opposition forderte direktdemokratische Ergänzungen dieser Systeme: Referendum, Volksinitiative und Abberufungsrecht für Regierung und Parlament.

Andererseits waren die Demokraten die ersten, welche die aufkommende soziale Frage wirklich thematisierten. Sie sprachen sich für Arbeitnehmerschutz, die Einrichtung von Sozialsystemen und staatliche Eingriffe in die Wirtschaft aus. Postulate in diese Richtung waren zuvor bereits von einzelnen Radikalen gemacht worden, so etwa den aus Deutschland in die Schweiz geflohenen Brüdern Wilhelm und Ludwig Snell. «Ausländische Einflüsse, die von Flüchtlingen ausgingen», hätten bei der Entstehung der Bewegung mitgewirkt, schreibt Peter Gilg in seiner Dissertation zum Thema von 1951.

Dieses Programm kam vor allem bei der Landbevölkerung und bei den Arbeitern gut an. Um ihren Forderungen Gehör zu verschaffen, führten die Demokraten grosse Volksversammlungen durch. Nach heutigen Massstäben könnte man die Bewegung als linkspopulistisch bezeichnen.

Friedrich Locher, Anführer der Demokraten, gegen Alfred «System» Escher (Karikatur: Stadtarchiv Zürich)

Gegen das «System Escher»

Die machthabenden Freisinnigen empfanden die Forderungen der Demokraten als Provokation. Sie sahen in der direkten Demokratie eine Gefahr für den Fortschritt des Landes, dessen Richtung sie klar zu erkennen glaubten, dasselbe aber offenbar dem Volk nicht zutrauten.

Symbolfigur des liberalen Establishments war Alfred Escher. Der Zürcher Unternehmer, National- und Regierungsrat vereinigte so viel Macht auf sich wie wohl kein Schweizer Politiker vor oder nach ihm. Er zog im Bundeshaus die Fäden, stellte ein Grossprojekt nach dem anderen auf die Beine – von der Polytechnischen Hochschule (heute ETH) über die Schweizerische Kreditanstalt (heute Credit Suisse) bis zum Gotthardtunnel –, finanzierte sie mit und profitierte als Unternehmer davon.

Doch schon bald wuchs der Widerstand gegen die kompromisslose Politik Eschers, der keinen Widerstand und keine Mitsprache wünschte. Die Demokraten prangerten Korruption und Vetternwirtschaft im «System Escher» an. Im Kanton Zürich wurde der Ruf nach einem Machtwechsel, nach mehr direkter Demokratie lauter. Nachdem die Demokraten in Baselland bereits 1863 eine neue Verfassung mit weitgehenden direktdemokratischen Instrumenten durchgebracht hatten, stellten ihre Mitstreiter in Zürich ähnliche Forderungen. Als diese zunehmend lauter und drängender wurden, willigte die Zürcher Regierung schliesslich in eine Totalrevision der Kantonsverfassung ein. 1869 stimmten die Zürcher Stimmbürger der neuen Verfassung zu, die mit der Volksinitiative und dem Referendum die zentralen Anliegen der Demokraten aufnahm.

Soziale Reformen

In den folgenden Jahren feierten die Demokraten in anderen Kantonen ähnliche Erfolge. In jenen Kantonen, in denen die direkte Demokratie bereits etabliert war, namentlich in den Landsgemeindekantonen, fokussierte die Bewegung auf soziale Reformen. So etwa in Glarus, das mit dem Fabrikgesetz 1864 als erster Kanton die Arbeitszeit auf zwölf Stunden pro Tag begrenzte. Das Gesetz wurde zum Vorbild für das eidgenössische Fabrikgesetz von 1877 – genauso wie das fakultative Referendum, dem die Demokraten in vielen Kantonen zum Durchbruch verholfen hatten, Pate stand für die Einführung dieses Instruments auf Bundesebene 1874.

Nachdem viele ihrer Forderungen erfüllt waren, bekamen die Demokraten Mühe, ihre Daseinsberechtigung weiter unter Beweis zu stellen, obschon sich die einstige Bewegung unterdessen zu einer ordentlichen Partei umformiert hat. Hinzu kam zunehmende Konkurrenz: zunächst durch die Sozialdemokraten, die um die Stimmen der Arbeiter buhlten; später durch die BGB, welche die Landbevölkerung – ein wichtiges Wählersegment der Demokraten – ansprach. Während die BGB nach der Einführung des Proporzsystems bei den Nationalratswahlen 1919 abräumten, verlor die Demokratische Partei die Hälfte ihrer Sitze und konnte nur 6 halten. Sie wurde national weitgehend unbedeutend. Lediglich in einigen Kantonen (Glarus, Graubünden, Thurgau) konnte sie sich als relevante Kraft behaupten.

Ein letzter Versuch für einen neuen Aufschwung scheiterte 1964, als die Partei eine Initiative gegen Überfremdung lancierte, die aber wegen interner Streitigkeiten versandete. 1971 schlossen sich die Glarner und Bündner Sektion mit der BGB zur Schweizerischen Volkspartei zusammen. Die Zürcher Demokraten wurden von der einstigen Erzfeindin FDP geschluckt.

BDP sieht sich als Erbin

Lange wehte der demokratische Geist noch in der SVP. Die Glarner und Bündner Sektionen standen deutlich links des konservativen «Zürcher Flügels», der unter der Führung von Christoph Blocher in den 1990er Jahren die Oberhand gewann. Der letzte Rest des Erbes der Demokraten verabschiedete sich bei der Parteispaltung 2008 zur BDP. Deren Präsident Martin Landolt sieht seine Partei als die einzige legitime Erbin der Demokraten: «bürgerlich, aber fortschrittlich denkend und mit einem Herz für die Schwächeren der Gesellschaft», wie er deren Gedankengut beschreibt.

Einzig die Anti-Establishment-Rhetorik scheint bei der SVP verblieben zu sein. «Alles für das Volk! Alles durch das Volk!» ist jedenfalls kein oft gehörter Slogan an BDP-Wahlkampfveranstaltungen.

 

Siehe auch den Beitrag Der Aufstieg der Bauern

Der Aufstieg der Bauern

Vor 100 Jahren wurde in Zürich die Bauernpartei gegründet und damit der Grundstein zur heutigen SVP gelegt. Die Partei pflügte die politische Landschaft um – und setzte neue Massstäbe in Sachen Polit-Marketing.

Publiziert in der Luzerner Zeitung und im St. Galler Tagblatt am 16. März 2017.

SVP-Nationalrat Albert Rychen fiel aus allen Wolken. «Sehr aussergewöhnlich» und «hochproblematisch» sei das Vorgehen seiner Zürcher Parteikollegen, kritisierte der Berner am 3. Juli 1992. Was war passiert? Die SVP-Sektion des Kantons Zürich hatte soeben mit überwältigendem Mehr die Nein-Parole zum Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) beschlossen – noch bevor das Vertragswerk ins Parlament gekommen war. Rychen, Präsident der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats und EWR-Befürworter, sah die Partei vor einer Zerreissprobe. Noch im Vorjahr hatte sich die SVP in ihrem Parteiprogramm im Grundsatz für den Vertrag ausgesprochen. In der Bundeshausfraktion waren die Meinungen geteilt. Besonders die Berner und Westschweizer Vertreter sprachen sich für eine Annäherung der Schweiz an die damalige EG aus.

Doch Christoph Blocher hatte andere Pläne. Nachdem er sich das Präsidium der Zürcher Kantonalpartei gesichert und sie auf seine Seite gebracht hatte, weibelte er auf nationaler Ebene für ein Nein – mit Erfolg. Während die Berner und Waadtländer SVP die Ja-Parole beschlossen, folgten die Delegierten der SVP Schweiz mehrheitlich dem Zürcher Flügel. Der Rest ist bekannt: Am 6. Dezember 1992 lehnten die Stimmberechtigten den EWR-Beitritt mit 50,3 Prozent Nein-Stimmen ab. Die SVP, bis dahin eine eher unscheinbare bürgerliche Partei, stand plötzlich als grosse Siegerin da.

Bauern fühlten sich vom Freisinn vernachlässigt

Es war nicht das erste Mal, dass die Zürcher SVP innerhalb der eigenen Reihen eine Pionierrolle einnahm. Vor 100 Jahren, im März 1917, wurde in Zürich die «Bauernpartei» gegründet, als Abspaltung vom Freisinn. Es war die erste kantonale Sektion der späteren Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB), aus der 1971 die SVP wurde. Ein Jahr nach Zürich wurde auch in Bern eine Bauernpartei aus der Taufe gehoben. Diesen Sonntag feiert die Zürcher SVP ihr 100-jähriges Bestehen mit einem grossen Fest.

Den Ausschlag für die Gründung gaben im Wesentlichen zwei Entwicklungen. Zum einen fühlten sich viele Bauern von den Freisinnigen vernachlässigt. Sie warfen ihnen eine industrie- und konsumentenfreundliche Politik vor und machten sie für die tiefen Preise verantwortlich. Die Parteigründungen wurden zudem erleichtert durch den Wechsel zum Proporzsystem, der auf Bundesebene 1918 beschlossen wurde. Das bis dahin bei Nationalratswahlen und in den meisten Kantonen geltende Majorzsystem bevorzugte grosse Parteien. Das änderte sich 1919, als der Nationalrat erstmals im Proporz gewählt wurde. Die neugegründeten Bauernparteien räumten ab: Aus dem Stand holten sie 29 von 189 Sitzen – und waren als ernstzunehmende politische Kraft etabliert.

Zehn Jahre später eroberten sie mit Rudolf Minger den ersten Bundesratssitz. Am stärksten war die neue Partei, die erst 1936 offiziell als nationale Partei gegründet wurde, im Kanton Bern. Dieser stellte noch 1979 fast die Hälfte aller Nationalräte der SVP und sämtliche Bundesräte, welche die Partei bis dahin gestellt hatte. Während Jahrzehnten war die Partei fast ausschliesslich in den ländlichen, protestantischen Gebieten der Deutschschweiz präsent. Durch den Fokus auf die Vertretung der Bauern und ländlichen Gewerbetreibenden war ihr Wählerpotenzial allerdings beschränkt. Das änderte sich Ende der 1980er-Jahre. Unter Christoph Blocher wurde der Zürcher Flügel stärker. Er positionierte sich klar rechts, konservativ, zuwanderungskritisch und gegen eine aussenpolitische Öffnung der Schweiz. Das EWR-Nein war die Sternstunde dieses neuen Kurses.

Provokative Forderungen, zugespitzte Slogans

Damit einher ging ein neuer Stil, den Blocher bereits mit der Zürcher SVP kultiviert hatte und den die nationale Partei bis heute pflegt: provokative Forderungen, zugespitzte Slogans, um die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Bekanntheit erlangte etwa das sogenannte «Schlitzer»-Inserat: Im August 2011 wurde im Berner Oberland ein Schweizer von einem Kosovaren mit einem Messer schwer verletzt. Die SVP schaltete daraufhin ein Wahlkampfinserat mit dem Titel: «Das sind die Folgen der unkontrollierten Masseneinwanderung: Kosovaren schlitzen Schweizer auf!»

Sinnbild des Stilwechsels: Das sogenannte «Schlitzer»-Inserat, das die SVP im Wahlkampf 2011 einsetzte.

Als Folge davon wurden der Generalsekretär und seine Stellvertreterin vom Berner Obergericht wegen Rassendiskriminierung verurteilt; der Fall ist vor Bundesgericht hängig. Nicht nur gegen Ausländer, auch gegen die anderen Parteien schiesst die SVP scharf: Als «Linke und Nette», «heimatmüde» und «Volksverräter» wurden sie schon bezeichnet, welche die Schweiz in die EU führen wollten und das Land in Richtung einer «Diktatur» steuerten.

Zudem hat die SVP auch die direkte Demokratie für sich entdeckt. 1992 lancierte sie – zum ersten Mal in ihrer Geschichte – eine Volksinitiative, die eine drastische Einschränkung des Asylrechts forderte. Das Begehren scheiterte an der Urne, ebenso wie die meisten der folgenden Initiativen der SVP. Doch sie halfen und helfen der Partei, Wähler zu gewinnen und zu mobilisieren.

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«Giftmischer im Bundeshaus»: Plakat zur Abstimmung über Schengen/Dublin (2005).

Die SVP habe sich zu einer rechtspopulistischen Partei gewandelt, sagt der Historiker Damir Skenderovic. «Sie führt einen Diskurs, der vom Gegensatz zwischen ‹Volk› und ‹Eliten› geprägt ist.» Dabei mache sie sich ihre Wurzeln als Bauernpartei zunutze und pflege das rückwärtsgewandte Bild der bäuerlich-ländlichen Schweiz. SVP-Nationalrat Alfred Heer kann mit dem Begriff Populismus dagegen wenig anfangen: «Wenn man sich für die Interessen der Schweiz einsetzt, bin ich gerne ein Populist.»

Populismus oder nicht: Die neue Strategie der SVP hatte Erfolg. Zwischen 1991 und 1999 konnte sie ihren Wähleranteil von 11,9 auf 22,5 Prozent beinahe verdoppeln, seither konnte sie nochmals fast so stark zulegen. Die SVP wuchs insbesondere auch ausserhalb ihrer traditionellen Wählerbasis: Sie wurde plötzlich auch von Arbeitern gewählt, die bis dahin mehrheitlich sozialdemokratisch gestimmt hatten. Sie gründete zahlreiche neue Sektionen, die «ganz auf der Linie des Zürcher Flügels lagen», sagt Skenderovic. Dieser wurde damit zunehmend dominanter.

Stärken sind auch die grössten Hindernisse

Seit sich die moderateren Teile der SVP in Form der BDP abspalteten, sind die Flügelkämpfe innerhalb der Partei Geschichte. Sie tritt heute ausserordentlich geschlossen auf. Auch Alfred Heer sagt, dass die SVP homogener sei als andere Parteien. «Das liegt an unserem klaren Profil: Wenn jemand der SVP beitritt, teilt er unsere Werte.»

Die Stärke der SVP bei Wahlen – das trennscharfe Profil und der wenig kompromissbereite Stil – ist zugleich ihr grösstes Hindernis im politischen Alltag: Sie kann ihre Wahlerfolge nur eingeschränkt in politischen Einfluss ummünzen. In National- und Ständerat ist sie regelmässig isoliert, auch wenn seit Allianzen mit der FDP etwa in Wirtschaftsfragen öfter von Erfolg gekrönt sind. In der Migrations- oder der Aussenpolitik dagegen steht die SVP oft auf verlorenem Posten, wie etwa die Umsetzung der Zuwanderungs-Initiative gezeigt hat.

Die Partei reagierte darauf mit dem Rückgriff auf Bewährtes: Sie kündigte eine weitere Volksinitiative an. Das Begehren zur Kündigung der Personenfreizügigkeit soll im Sommer lanciert werden. Damit dürfte die Partei eines der wichtigsten innenpolitischen Themen der nächsten Jahre weiter prägen.

Siehe auch den Beitrag Die Demokraten: Die andere Geschichte der SVP

Neues Lobbyisten-Akkreditierungssystem: Kein Ende des Badge-Basars

Morgen soll im Ständerat die parlamentarische Initiative Berberat zur Einführung eines Lobbyisten-Akkreditierungssystem beerdigt werden. Wie jenes konkret aussehen würde. Und weshalb ohnehin bald mehr Lobby-Transparenz Einzug halten wird.

«Lobbying im Bundeshaus: Politiker sind gegen mehr Transparenz», titelte kürzlich die «NZZ» und ähnlich enttäuscht der «Tages-Anzeiger», als die staatspolitische Kommission des Ständerats (SPK-S) die Abschreibung einer parlamentarischen Initiative Didier Berberats beantragte. Jene, eine Restanz der Vorstossflut im Nachgang zur «Kasachstan-Affäre» 2015, intendiert, die Bundeshaus-Lobbyisten nicht mehr im heutigen «Götti-System» (die Parlamentarier können je zwei Zutrittsbadges frei vergeben), sondern durch ein Akkreditierungsverfahren zu küren. Damit soll insbesondere mehr Transparenz bei der Interessenvertretung in der Wandelhalle ermöglicht werden. Prima vista also verständlich, wenn die definitive Abschreibung dieses Vorstosses durch den Ständerat – sie ist, etwas verschämt, morgen als letztes Geschäft der Session traktandiert – durch die Öffentlichkeit nicht eben beklatscht wird. Und die Plattform Lobbywatch inständig dazu aufruft, bei den Damen und Herren Ständeräten gegen dieses Ansinnen zu lobbyieren («Das darf nicht sein! Die heutige Regelung ist veraltet, untauglich und intransparent.»).

Lobbyisten, die Zugang ins Bundeshaus begehren, müssen bald mehr Informationen preisgeben.
(Foto: Lukas Nussbaum)

 

Und doch: Diese Befürchtungen und der Alarmismus sind kaum angebracht. Im Folgenden sei vorab der Entwurf des neuen Lobbyisten-Gesetzes skizziert, das die SPK-S zwar vorbereitet, sie aber nicht wirklich zu überzeugen vermocht hat:

1. Online-Registrierung der Lobbyisten
Alle Personen, welche Zugang zum Parlamentsgebäude wünschen, um dort Parlamentariern ihre Anliegen zu unterbreiten, müssen sich vorab in einem Online-Register eintragen. Mitarbeiter und Vertreter von Verbänden, Unternehmen, öffentlichen Verwaltungen oder ähnlichen Organisationen, die quasi für sich selbst respektive die Anliegen ihres Arbeitgebers lobbyieren, müssen ihren Arbeitgeber und ihre berufliche Funktion nennen. Mitarbeiter von Agenturen oder Anwaltskanzleien sowie selbständige Berater müssen demgegenüber (nebst ihrer etwaigen Agentur/Kanzlei) ihre Auftraggeber bekannt geben, für deren Interessen sie in der Wandelhalle aktiv werden wollen. Offen lässt der Entwurf, ob sie zusätzlich die einzelnen Aufträge eintragen müssen, denen sie nachgehen.

2. Ausstellung eines Lobbyistenausweises
Lobbyisten, die sich mit den genannten Angaben registriert haben, erhalten hiernach gegen die Gebühr von 50 Franken einen Zutrittsausweis. Bis hierhin findet weder eine Selektion noch eine eigentliche Prüfung der Angaben statt: Das Online-Formular darf grundsätzlich jedermann ausfüllen, der irgendeine noch so unbedeutende Interessengruppe vertritt; es sind keine Begrenzungen vorgesehen. Die eingetragenen Informationen müssen weder belegt werden noch werden sie von jemandem kontrolliert.

3. Aktivierung des Zutritts für eine Session
Der nun ausgehändigte Lobbyistenausweis alleine vermag die Türen unter der Bundeshauskuppel jedoch noch nicht zu öffnen – hierfür muss er erst aktiviert werden. Zur Aktivierung soll eine simple Anmeldung in der Woche vor Sessionsbeginn genügen. Das «Bundeshaus GA» wird damit für die kommenden drei Sessionswochen freigeschaltet.

4. Limitierung auf 300 Lobbyisten
Auf eine qualitative Beschränkung gewisser Interessenvertreter wurde also verzichtet, etwa analog zu den akkreditierten Journalisten, die zu mindestens 60 Prozent über das Geschehen im Bundeshaus berichten müssen. Beschränkt werden soll hingegen der Zugang ins Bundeshaus: auf höchstens 300 Zutritte je Session. Werden mehr Begehren gestellt, so werden die 300 Badges nach dem Prinzip «first come, first served» aktiviert.

5. Transparentes Online-Register
Das Lobbyisten-Register ist öffentlich zugänglich, alle dort getätigten Angaben können online eingesehen werden. Die registrierten Lobbyisten sind dabei gehalten, etwaige Änderungen sofort im Register nachzuführen. Es ist anzunehmen, dass hier auch eingesehen werden kann, welche jener (bis zu 300) Interessenvertreter aktuell ihren Zugangsbadge aktiviert haben.

6. Keine Dauerzutrittskarten mehr für Lobbyisten
Im neuen Zugangsregime erübrigt sich das bisherige «Götti-System», in welchem alle Ständeräte und Nationalrätinnen je zwei Dauerzutrittskarten frei vergeben konnten – jenes, Stichwort «Schlepperwesen», soll ja gerade abgelöst werden. Ganz aufgegeben werden sollen sie aber dennoch nicht, jedoch dürfen diese fortan nur noch an persönliche Mitarbeiter oder Gäste vergeben werden, die nicht als Lobbyisten tätig sind.

7. Sanktionen bei Verstössen
Der Entzug des Lobbyistenausweises durch die parlamentarische Verwaltungsdelegation droht einzig im Fall eines schwerwiegenden Missbrauchs. Falsche, fehlende oder veraltete Angaben im Online-Register haben daher wahrscheinlich keine Konsequenzen. Rügen, wie sie etwa die Lobbyistin Marie-Louise Baumann aufgrund ihres Verhaltens im Fall «Kasachstan» von der SPAG einstecken musste, sind keine vorgesehen.

 

Von einem eigentlichen «Akkreditierungssystem» kann also zunächst keine Rede sein, da grundsätzlich keine Kriterien oder Bedingungen aufgestellt werden, die ein Interessenvertreter erfüllen müsste. Akkreditiert würde niemand, registrieren und aktivieren lassen könnte sich jeder. Als problematisch beurteilt die Kommission aber zu Recht das doch eigenwillige Wettrennen am Montagmorgen um 8.00 Uhr, sieben Tage vor Sessionsbeginn. Welche Kreise dort zuvorderst am Start wären, ist offensichtlich: die Profi-Agenturen und die grossen Verbände. Ihr Personal würde im Dutzend in Lauerstellung sein und auf den Stundenschlag das Begehren um Aktivierung anklicken. Die 300 Badges wären so im Nu weg wie warme Semmeln, und gingen vor allem Session für Session an die mehr oder weniger gleiche Klientel. Was vielleicht als fair, transparent und chancengleich gemeint war, würde sich in der Praxis als schlicht dysfunktionales Auswahlprozedere entpuppen.

Nebst den qualitativen Unzulänglichkeiten bestäche der Systemwechsel aber auch in quantitativer Hinsicht nicht. In der SPK-S wird befürchtet, dass trotz der Beschränkung unter dem Strich weit mehr Lobbyisten in den Katakomben wuseln würden als heute. Denn die aktuell grob 300 Inhaber der Dauerzutrittskarten strömen nicht allesamt Tag für Tag in die Wandelhallen, einige davon sieht man selten bis nie. Im neuen Regime würden die 300 Schnellsten jedoch sicherlich von ihrem aktivierten Zugangsrecht Gebrauch machen – sonst hätten sie schliesslich für die fragliche Session keine Aktivierung beantragt und dafür eine Gebühr bezahlt.

Das durchaus berechtigte Anliegen nach mehr Transparenz beim Lobbying wiederum wird in der Kommission kaum bestritten. Die Initiative Berberat jedoch ist hierfür gar nicht vonnöten, haben doch letztes Jahr bereits die SPK beider Räte eine andere parlamentarische Initiative Caroni/Moret «Transparenz über die Mandate von Lobbyisten im Bundeshaus» gutgeheissen (die angeblich sich der Lobby-Transparenz widersetzende SPK-S mit 10 zu 1 Stimmen). Jener Vorstoss wird Ende April von der SPK des Nationalrats beraten und bald dafür sorgen, dass Lobbiysten nicht nur ihre Public-Affairs-Firma, sondern auch die Auftraggeber und Mandate angeben müssen, für die sie engagiert sind.