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Was ist neu bei den Wahlen 2019? (Teil I: Bundesrecht)

Rechtzeitige Zustellung der Wahlunterlagen, veränderter Zeitplan für Volksinitiativen im Wahlherbst oder neue Regeln beim Bereinigen der Wahlzettel: Bei den anstehenden eidgenössischen Wahlen gibt es einige rechtliche Änderungen. Wir geben einen Überblick über die wichtigsten.

In diesem Blog wurde das Proporzwahlsystem für die Nationalratswahlen schon öfters kritisiert: Es feiert heuer sein 100-jähriges Jubiläum und sollte endlich fairer ausgestaltet werden (siehe 100 Jahre Nationalrats-Proporz: Wenig Auswahl trotz Listenflut). Diese Fundamentalkritik lässt indes ausser Acht, dass das Wahlrecht – im Bund als auch in den Kantonen – durchaus immer wieder Änderungen erfährt. Wir beleuchten die wichtigsten davon im Hinblick auf die Wahlen 2019. Im vorliegenden ersten Teil werden die bedeutenden Novellen des Bundesrechts erläutert, die erstmals auf die aktuellen Wahlen in den National- und Ständerat Geltung erlangen.

 

Rechtzeitige Zustellung des Wahlmaterials

Bis zu den letzten Nationalratswahlen konnten die Kantone vorsehen, dass die Parteien ihre Listenvorschläge erst bis Ende September einreichen durften. Solche Spätkandidaturen führten jedoch dazu, dass auch die Wähler ihre Wahlunterlagen erst sehr spät zugesandt erhielten – so war es erlaubt, dass die Wähler erst zehn Tage vor dem Wahltag die Wahlzettel erhielten.

Neu müssen die Kandidaturen zwingend bereits einen Monat früher eingereicht werden, bis Ende August.[1] Dadurch haben die Kantone genügend Zeit für die Kontrolle und Bereinigung der Wahlvorschläge. Und damit erhalten nun auch alle Wähler schweizweit die Wahlzettel mehr oder weniger gleichzeitig und vor allem rechtzeitig: mindestens drei und frühestens vier Wochen vor dem Wahltermin.[2] Diese Frist vor Wahlen ist nunmehr also dieselbe wie jene für die Zustellung der Abstimmungsunterlagen vor (nationalen) Volksabstimmungen.[3] Der Bundesrat begründete diese Neuregelung auch dahingehend, «weil die zunehmende Gewohnheit, im Herbst Ferien zu machen, andernfalls erhöhte Wahlabstinenz hervorzurufen droht».[4]

Befreiung der Unterschriftensammlung für Wahlvorschläge etablierter Parteien

Wer einen Wahlvorschlag für die Nationalratswahlen einreichen will, muss hierfür grundsätzlich eine gewisse Anzahl Unterschriften sammeln – von 100 in den kleineren Kantonen bis zu deren 400 in den grössten Kantonen Bern und Zürich. Die in der Bundesversammlung vertretenen Parteien wurden bisher von dieser Pflicht befreit, wenn sie nur einen einzigen Wahlvorschlag einreichten.

Diese Erleichterung ist den «etablierten» Parteien jedoch nicht genug, schliesslich wollen sie oftmals auch eine Nebenliste für die Jungen, die Senioren, die Frauen und die Unternehmer anbieten. Vor ein paar Jahren haben sie daher beschlossen, dass die mühsame Unterschriften-Hürde für sie selber nicht mehr gelten soll.[5] Seit diesen Wahlen gilt daher, dass Parteisektionen, die bei den letzten Wahlen in ihrem Kanton einen Nationalratssitz oder drei Prozent Wähleranteil erlangt haben, von der Unterschriftensammlung dispensiert werden – egal, ob sie eine, zwei, drei oder sogar neun Nebenlisten einreichen (siehe Die neunköpfige CVP-Hydra – ein Gesetzgebungs-Flop führt zu einer Listenflut bei den Nationalratswahlen).

Neue Streichregel für überzählige Namen

Wählerwille verfälscht: Bisher wurden überzählige Namen von unten her gestrichen.

Stehen – aufgrund handschriftlichem Kumulieren/Panaschieren – auf einem Proporzwahlzettel mehr Namen als Sitze zu vergeben sind, so müssen diese bereinigt werden: Bisher wurde einfach die überzählige Anzahl Namen von unten nach oben gestrichen. Damit wurden jedoch oftmals just die unten handschriftlich angefügten Ergänzungen des Wählers vom Wahlbüro wieder gestrichen.

Aus Sicht der Wähler überzeugte diese traditionelle wie plumpe Streichregel also nicht. Denn werden auf vorgedruckten Wahlzetteln Namen handschriftlich ergänzt oder abgeändert, so muss diesem individuellen Willen höhere Beachtung eingeräumt werden als den vorgedruckten Namen. Jeglichem explizit feststellbaren Willen des Wählers ist nicht nur Beachtung zu zollen, sondern Priorität einzuräumen.

Neue Streichregel: handschriftlichen Änderungen wird nun Vorrang eingeräumt.

Die neue Streichregel verlangt daher, dass die handschriftlichen Ergänzungen grundsätzlich belassen und stattdessen – soweit es überhaupt nötig ist – die vorgedruckten Namen gestrichen werden. Die Reihenfolge der Streichungen ist wie gehabt von unten nach oben. Beim Streichen von vorgedruckten Namen ist aber zusätzlich zu beachten, dass diese nicht irgendwo auf dem Wahlzettel handschriftlich kumuliert worden sind. Ist dies aber der Fall, so muss dieser vorgedruckte Name dennoch unangetastet bleiben, weil auch hier ein expliziter Wille manifest ist: Der Wähler wollte hier offensichtlich gerade einen Kandidaten mittels Kumulation besonders unterstützen.[6]

Keine Abstimmung über Volksinitiativen im Wahlherbst

Haben National- und Ständerat eine Volksinitiative fertig beraten, so muss sie innert zehn Monaten der Volksabstimmung unterbreitet werden.[7] Wurden bisher Volksinitiativen in der Frühjahrssession (März) oder Sommersession (Juni) eines Wahljahrs zuhanden der Volksabstimmung verabschiedet, so wurde der Spielraum für die Festsetzung des Abstimmungsdatums stark eingeschränkt. Denn am Datum der Gesamterneuerungswahlen dürfen nicht auch noch (nationale) Sachvorlagen unterbreitet werden.[8] Auch am nächstfolgenden Abstimmungstermin im Wahljahr (Ende November) werden in der Regel keine Sachabstimmungen anberaumt, schliesslich finden im November bereits regelmässig zweite Wahlgänge der Ständeratswahlen statt. Und die Kräfte und Kassen der Parteien sind zu diesem Zeitpunkt ohnehin relativ leer, als dass sie auch noch Abstimmungskämpfe betreiben könnten.

Die neue Fristenregelung verlängert daher die erwähnte 10-Monats-Frist auf 16 Monate für solche Volksinitiativen, die im ersten Halbjahr eines Wahljahrs vom Parlament verabschiedet werden.[9] Dadurch kann die Abstimmung problemlos auf einen späteren Termin im Jahr nach den Wahlen verschoben werden.[10]

Einen ersten konkreten und aussergewöhnlichen Anwendungsfall dieser Fristverlängerung stellt die CVP-Volksinitiative «Für Ehe und Familie – gegen die Heiratsstrafe» dar: Nachdem das Bundesgericht im letzten April die Abstimmung über diese Initiative aufgehoben hat, hat der Bundesrat im Juni auch den Erwahrungsbeschluss über diese Abstimmung aufgehoben. Damit ist die Volksinitiative wieder aufgelebt und muss nun innert der verlängerten Frist von 16 Monaten, also bis am 27. September 2020 erneut zur Abstimmung gebracht werden (Rückzug vorbehalten).

Auslandschweizer: Fixe Festlegung der Stimmgemeinde, keine periodische Wiederanmeldepflicht

Kurz nach den letzten Wahlen, per 1. November 2015, ist das neue Auslandschweizergesetz in Kraft getreten, welches alle Belange der Auslandschweizer in einem Erlass regelt. Im Bereich der politischen Rechte brachte es insbesondere folgende zwei Neuerungen:

Auslandschweizer konnten nach altem Recht ihre Stimmgemeinde, in der sie wählten und abstimmten, zwischen irgendeiner früheren Wohnsitzgemeinde und ihrer Heimatgemeinde frei auswählen. Dadurch konnten die Auslandschweizer auch regelmässig zwischen einigen Kantonen und damit Wahlkreisen für den Nationalrat (und gegebenenfalls Ständerat) wählen. Im neuen Gesetz werden die Auslandschweizer den Schweizern im Inland gleichgestellt. Letztere können auch nicht auswählen, wo sie ihre politischen Rechte ausüben wollen. – Die Auslandschweizer werden daher neuerdings ins Stimmregister der letzten Wohnsitzgemeinde in der Schweiz eingetragen.[11] Falls die stimmberechtigte Person nie Wohnsitz in der Schweiz hatte, so wird sie ins Stimmregister ihrer Heimatgemeinde eingetragen.[12] Diese Neuregelung wirkt sich indes nur auf Neuanmeldungen aus, die bestehenden Eintragungen im Stimmregister werden nicht angepasst.[13]

Zweitens entfällt die bisherige periodische Wiederanmeldepflicht für Auslandschweizer Stimmberechtigte. Diese mussten sich bisher alle vier Jahre erneut ins Stimmregister eintragen lassen. Damit sollte verhindert werden, dass veraltete, inaktive oder unzustellbare Adressen im Register verbleiben. Um dennoch die Aktualität der Stimmregistereinträge zu gewährleisten, wurden die Gründe für eine Streichung erweitert. Wessen Stimmmaterial beispielsweise drei Mal in Folge als unzustellbar zurückgeschickt wird, wird von Amtes wegen aus dem Register gestrichen.[14]

Beschwerdewesen: keine Gerichtsferien, kein Einschreiben

Im Beschwerdeverfahren in Stimmrechtssachen sind zwei kleine formelle Adaptionen zu erwähnen: Einerseits ist der allgemeine Fristenstillstand beim Bundesgericht für Stimmrechtssachen ausgeschlossen worden.[15] Insbesondere die Gerichtsferien vom 18. Dezember bis 2. Januar sind damit für Wahlbeschwerden nicht mehr anwendbar. Andererseits müssen Stimmrechtsbeschwerden nicht mehr zwingend per Einschreiben eingereicht werden, wenn sie ansonsten die Fristen wahren.[16]

 

Im zweiten Teil dieses Beitrags werden die Neuerungen der Wahlen 2019 dargelegt, die sich aufgrund Änderungen des kantonalen Wahlrechts ergeben.

 


[1] Art. 21 Abs. 1 BPR.

[2] Art. 33 Abs. 2 und Art. 48 BPR.

[3] Art. 11 Abs. 3 BPR.

[4] BBl 2013 9257.

[5] Art. 24 Abs. 3 BPR.

[6] Art. 38 Abs. 3 BPR.

[7] Art. 75a Abs. 1 BPR.

[8] Art. 2a Abs. 3 VPR.

[9] Art. 75a Abs. 3bis BPR.

[10] Für fakultative und obligatorische Referenden gibt es keine Abstimmungsfrist (Art. 58 und 59c BPR), weshalb hier ohnehin kein zeitlicher Druck entsteht.

[11] Art. 18 Abs. 1 ASG.

[12] Art. 18 Abs. 2 ASG.

[13] Kreisschreiben vom 7. Oktober 2015 der Bundeskanzlei betreffend die Ausübung der politischen Rechte der Auslandschweizerinnen und -schweizer (BBl 2015 7501).

[14] Art. 19 Abs. 3 ASG.

[15] Art. 46 Abs. 2 BGG.

[16] BGer, 10. November 2015, 1C_581/2015 (in: ZBl 117/2016, 52 ff.), trotz anderslautendem Wortlaut in Art. 77 Abs. 2 BPR.

«Die Strategie der FDP funktioniert nur begrenzt»

Mit ihrem Klimakurs riskierten die Freisinnigen ein Thema zu bewirtschaften, das vor allem anderen Parteien nütze, sagt der Politikwissenschafter Simon Lanz. Im Gespräch erklärt er, welche Rolle Themen für den Wahlentscheid spielen und warum das gute Nachrichten für die Demokratie sind.

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Simon Lanz.

Simon Lanz, im Frühjahr ist die FDP mit grossem Rumoren auf einen klimafreundlicheren Kurs eingeschwenkt. Wird ihr das bei den Wahlen helfen?

Simon Lanz:[*] Wenn es darum geht, welchen Einfluss Themen auf die Wahl haben, muss man zwei Dimensionen unterscheiden: die Themenkompetenz und die Themenkonjunktur. Die Wähler haben in der Regel eine relativ klare Vorstellung davon, welche Partei bei welchen Themen kompetent ist. Beispielsweise wird die SVP im Allgemeinen als Migrationspartei angesehen. Bei der Themenkonjunktur geht es darum, welche Themen die Wähler als wichtig betrachten und welche als weniger wichtig. Die Wähler stellen sich also zwei Fragen: Wie kompetent ist eine Partei bei einem bestimmten Thema? Und wie wichtig ist dieses Thema aus meiner Sicht? Die Antworten auf erstere Frage sind über die Zeit relativ stabil – jene auf die zweite können hingegen ziemlich schnell ändern.

Gibt es hierzu ein konkretes Beispiel?

Nehmen wir das Beispiel Fukushima: Die Grünen galten schon lange als kompetent bei Umweltfragen – in der Politikwissenschaft redet man von «issue ownership» –, bloss war dieses Thema auf der Agenda ziemlich weit unten, im Fokus stand eher die Wirtschaft und der starke Franken. Nach der Reaktorkatastrophe in Japan erlebten die Grünen einen regelrechten Boom – nicht weil sie plötzlich als kompetenter erachtet wurden, sondern weil «ihr» Thema nun zuoberst auf der Agenda stand.

Und was macht eine Partei, deren Kernkompetenz nicht die Umweltpolitik ist?

Wenn ein Thema zuoberst auf der Agenda steht, bei dem man wenig Kompetenz besitzt, gibt es zwei Strategien. Entweder man versucht, die «eigenen» Themen wieder wichtiger zu machen. Das ist die Strategie der SVP: Sie redet konsequent über Migration und Europapolitik, weil sie weiss: Wenn die Leute darüber reden, steigt die Bedeutung dieser Themen und damit die Partei in der Wählergunst. Die zweite Strategie ist, dass man als Partei versucht, sich Kompetenz in einem Thema zu erarbeiten, das in der Themenkonjunktur oben steht. Das ist es, was die FDP versucht. Diese Strategie funktioniert aber nur begrenzt. Vereinfacht gesagt: Nur weil die FDP seit zwei Monaten über Klimapolitik spricht, heisst das noch lange nicht, dass bei den Wahlen die Leute das Gefühl haben, die Partei sei kompetent. Reputation ist etwas, das über eine längere Zeit aufgebaut werden muss als über einen Wahlkampf.

Für die FDP geht es vielleicht weniger darum, neue Wähler zu gewinnen, als zu verhindern, dass FDP-Wähler, denen das Klimathema wichtig ist, zu anderen Parteien abwandern. Gemäss Umfragen tickt die freisinnige Basis grüner als die Parteielite.

Es mag diesen Graben tatsächlich geben, und es ist legitim, dass die Partei diesen zu schliessen versucht. Die Frage ist, ob sie das derart medienwirksam machen soll. Die FDP hat in der jüngeren Vergangenheit öffentlich extrem viel über die Klimapolitik gesprochen. Es ist das Thema, das ich von der Partei im Wahlkampf bisher am meisten wahrgenommen habe. Bloss: Für die wenigsten FDP-Wähler ist die Umwelt das absolut wichtigste Thema. Und die Gefahr, wenn man ständig über ein Thema redet, ist, dass man das Thema noch wichtiger macht, ohne als kompetent darin angesehen zu werden, denn Kompetenz muss man sich wie gesagt langfristig erarbeiten. Im aus freisinniger Sicht schlechtesten Fall sorgt die FDP mit ihrem Diskurs dafür, dass die Wähler denken: «Wenn sogar die FDP darüber spricht, muss das Thema wichtig sein!» – dann aber nicht die FDP wählen, sondern jene Parteien, die in Umweltfragen als kompetent gelten, etwa die Grünen oder die Grünliberalen.

Generell: Welche Rolle spielen Themen beim Wahlentscheid?

Eine klassische Erklärung des Wahlverhaltens ist der sozioökonomische Hintergrund. Gemäss dieser Auffassung wählt man die CVP, weil man katholisch ist, die SP, weil man aus einer Arbeiterfamilie kommt, und so weiter. Welche Positionen die Parteien vertreten, spielt dabei keine grosse Rolle. Inzwischen geht die Wissenschaft davon aus, dass die traditionellen Parteibindungen mehr und mehr verschwinden. In meiner Forschung zu «issue ownership» habe ich 24 etablierte Demokratien angeschaut und anhand von Umfragen die Faktoren analysiert, die den individuellen Wahlentscheid beeinflussen. Dabei hat sich gezeigt, dass «issue ownership» in sämtlichen Fällen einen signifikanten Einfluss hat. Über alle Länder gesehen hat ein Wähler eine um 17 Prozentpunkte höhere Wahrscheinlichkeit, eine Partei zu wählen, wenn er diese bei dem für ihn wichtigsten Thema als kompetenteste erachtet. Die Bedeutung der Themenkompetenz ist damit ähnlich gross wie jene der Parteiidentifikation. Oder anders gesagt: Wenn ich mich mit einer bestimmten Partei identifiziere, sie aber nicht als kompetent beim wichtigsten Thema betrachte, geht ihr ganzer «Bonus» der Parteiidentifikation verloren.

Bedeutet das, dass der eigene Hintergrund, die politische Sozialisation keine Rolle mehr spielt?

Keineswegs. Ein grosser Teil des Wählerverhaltens wird immer noch durch Faktoren erklärt, die sich nicht verändern von einer Wahl zur nächsten. Aber zur Erklärung der kurzfristigen Volatilität bei Wahlen sind Themen und Themenkompetenz viel entscheidender.

Für die Demokratie sind das eigentlich gute Nachrichten: Die Bürger wählen auf der Grundlage von Inhalten, und die Kompetenz der Parteien ist entscheidend.

Etwas, was für die Qualität einer Demokratie wichtig ist, ist, dass die politischen Akteure Änderungen in den Präferenzen der Wähler aufnehmen. Ein System, wie wir es in der Schweiz lange Zeit hatten, in dem die eigene Religion oder der Beruf die Wahl entschied, erfüllt dieses Kriterium nicht. In einem solchen System können die Parteien mehr oder weniger machen, was sie wollen, und müssen nicht auf Veränderungen der Präferenzen reagieren. Ein System, in dem Themen eine Rolle spielen, garantiert, dass die Parteien und Politiker die Präferenzen ihrer Wähler wahrnehmen und auf sie reagieren müssen, um Erfolg zu haben.

 


[*] Simon Lanz ist Politikwissenschafter und arbeitet bis Oktober als Politikstipendiat bei den Parlamentsdiensten. Seine Dissertation wird Ende 2019 in Buchform unter dem Titel «No Substitute for Competence. On the Origins and Consequences of Individual-Level Issue Ownership» bei ECPR Press erscheinen.

Steigern Wahlen die Aktivität von Parlamentariern?

Je näher die Wahlen rücken, desto mehr Vorstösse werden im Parlament eingereicht. Allerdings ist die Zunahme nicht gleichmässig.

Zumindest wenn es ums Aufstellen von Forderungen geht, kann man unseren Parlamentariern keinen mangelnden Arbeitseifer vorwerfen. Die Zahl der eingereichten Vorstösse steigt seit Jahren an. In der zu Ende gehenden Legislatur zeichnet sich ein weiterer Rekord ab: Bereits 8298 Motionen, parlamentarische Initiativen, Postulate, Interpellationen, Anfragen und Fragen für die Fragestunde sind seit Ende 2015 eingegangen, und die laufende Herbstsession wird die Zahl weiter ansteigen lassen. Den Höhepunkt setzte die diesjährige Frühjahrssession, in der nicht weniger als 704 Vorstösse deponiert wurden.

Bei der Suche nach den Gründen für den Anstieg stellt sich die grundsätzliche Frage, warum Parlamentarier überhaupt Vorstösse einreichen. Zweifellos geben Forderungen und Anfragen im Parlament Hinweise auf existierende Probleme. Die Professionalisierung spielt sicherlich ebenfalls eine Rolle. Wer mehr Zeit mit Politik verbringt, erspäht mehr (vermeintlichen) Handlungsbedarf für die Politik und hat mehr Zeit, sich damit in Vorstössen zu beschäftigen.

Darüber hinaus dienen Vorstösse Parlamentariern aber auch dazu, sich zu profilieren und im Gespräch zu bleiben. Sie eignen sich gut, zu Präsenz in den Medien zu kommen, was für die eigene Wiederwahl nicht schaden kann. Entsprechend könnte man erwarten, dass Politiker umso mehr Vorstösse einreichen, je näher die Wahlen rücken.

Zurückhaltung zum Auftakt

Um zu klären, ob ein solcher Zusammenhang tatsächlich besteht, haben wir eine statistische Auswertung aller in der Geschäftsdatenbank Curia Vista dokumentierten Vorstösse vorgenommen. Der Untersuchungszeitraum reicht von der 45. Legislatur (1995–1999) bis heute (50. Legislatur). In dieser Periode wurden gesamthaft 38’419 Vorstösse seitens der Bundesparlamentarier eingereicht.

Die erste Auswertung zeigt zunächst generell ein starkes Wachstum der Zahl der Vorstösse im Zeitverlauf (siehe Grafik 1). Waren es in der 45. Legislatur noch 3656, hat sich die Anzahl seither mehr als verdoppelt:

 

Zum zweiten lässt sich auch innerhalb der einzelnen Legislaturen eine Zunahme feststellen (Grafik 2). Allerdings ist dieser Anstieg nicht gleichmässig. Bei der ersten Session nach den Wahlen liegt die Zahl der Vorstösse tendenziell sehr tief. Möglicherweise sind neue Ratsmitglieder dann noch damit beschäftigt, den Ratsbetrieb kennenzulernen, so dass sie noch nicht dazu kommen, viele Vorstösse zu deponieren. Zudem absorbieren die in dieser Session stattfindenden Gesamterneuerungswahlen des Bundesrats nicht nur Zeit, sondern auch öffentliche Aufmerksamkeit. Wer also auf einen Auftritt in den Medien spekuliert, wartet mit der Einreichung eines Vorstosses besser noch eine Session. Hinzu kommt, dass das Einholen von Unterschriften allfälliger Mitunterzeichner Zeit braucht.

Eingereichte Vorstösse im zeitlichen Verlauf, aufgeschlüsselt nach Legislatur. Die horizontale Achse unten gibt die Nähe zu den nächsten Wahlen an (in Sessionen).

 

Die Kunst der Aufmerksamkeitsökonomie

Doch auch wenn man die erste Session weglässt, nimmt die Zahl der Vorstösse zu, je näher der Wahltermin rückt. Um zu untersuchen, ob die Nähe der Wahlen eine Rolle spielt, haben wir die Zahl der Vorstösse je Session für Nichtwahljahre jenen in Wahljahren gegenübergestellt. Das Ergebnis ist interessant: Die Zahl der Vorstösse liegt in Wahljahren tatsächlich deutlich höher – bis auf die Herbstsession. Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass ein Vorstoss spätestens in der Sommersession eingereicht werden muss, damit er noch vor den Wahlen vom Bundesrat beantwortet und allenfalls im Rat behandelt werden kann.

Aufmerksamkeitsökonomisch gesehen ist die Herbstsession also trotz der unmittelbaren Nähe zu den Wahlen nicht ideal, zumal parlamentarische Aktivität im allgemeinen Wahlkampfgetöse unterzugehen droht. Hinzu kommt, dass abtretende Parlamentarier in ihrer letzten Session kaum noch Vorstösse einreichen, da sie deren weiteres Schicksal nicht mehr beeinflussen können. Würde man die letzte Session ausklammern, würde der festgestellte Anstieg der Anzahl Vorstösse noch steiler ausfallen.

Weiterführende Fragen

Eine einfache statistische Auswertung mittels linearer Regression bestätigt den Blick auf die Zahlen.[1] Der relevanteste Faktor zur Erklärung der Zahl der Vorstösse in einer Session ist die Legislatur. Die Nähe zu den Wahlen hat einen signifikanten Einfluss. Bezieht man die erste Session aufgrund ihrer speziellen Umstände als separate (Dummy-)Variable mit ein, ist die Nähe zu den Wahlen knapp nicht mehr signifikant (auf dem 90%-Niveau). Dennoch lässt es unsere Auswertung durchaus plausibel erscheinen, dass die Nähe der Wahlen die parlamentarische Aktivität der Politiker beeinflusst, auch wenn der Anstieg nicht übermässig stark ist.

Diese erste Auswertung löst weitere Fragestellungen aus. Zum Beispiel könnte man analysieren, ob sich die Erfahrung eines Ratsmitglieds, die Ankündigung des Rücktritts oder auch der elektorale Wettbewerb, dem ein National- oder Ständerat ausgesetzt ist, auf die Vorstossaktivität auswirkt. Auch Auswertungen nach Art der Vorstösse oder Fraktionen wären sicherlich aufschlussreicht. Dazu wären allerdings detailliertere Daten nötig.

 

Mitarbeit: Claudio Kuster

Rohdaten zum Download

 


[1] Konkret wurden drei Modelle getestet: Modell 1 berücksichtigt nur die Variablen «Legislatur», «Nähe zu den Wahlen» sowie «Session nach einer Sondersession» (Dummy-Variable). Modell 2 bezieht zusätzlich die Dummy-Variable «Wahljahr» ein. Modell 3 berücksichtigt ausserdem «Erste Session der Legislatur» (Dummy-Veriable).