Monthly Archives: March 2015

Politische Desinformation vor Wahlen: die politischen Landkarten von Smartvote

Seit einigen Jahren erfreuen sich die politischen Landkarten von Smartvote vor Wahlen grosser Beliebtheit. Gerade die Konservativ-Liberal-Achse der zweidimensionalen «Smartmaps» indes trägt mehr zur Verwirrung denn zur Aufklärung bei.

Ein Gastbeitrag von Micha Germann (Politikwissenschaftler am Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA), Universität Zürich sowie am Zentrum für vergleichende und internationale Studien (CIS), ETH Zürich).[1]

Seit nunmehr fast zwölf Jahren gibt es die Online-Wahlhilfe Smartvote. Immer mehr wird sie zum festen Bestandteil von Schweizer Wahlen, sei es auf Bundesebene, Kantonsebene oder zum Teil sogar auf Gemeindeebene. Die Online-Applikation erfreut sich steigender Popularität: Nutzten gemäss der vierjährlich anlässlich der National- und Ständeratswahlen durchgeführten SELECTS-Umfrage 2007 noch schätzungsweise knapp 9 Prozent aller Schweizer StimmbürgerInnen Smartvote[2], waren es 2011 bereits mehr als 10 Prozent[3]. Zudem werden Smartvote-Infografiken wie der «Smartspider» zunehmend auch vor Wahlen in Zeitungen oder Magazinen diskutiert und abgedruckt. Nicht immer aber mag das von Smartvote bereitgestellte Material auch zu überzeugen. Insbesondere betrifft dies die zweidimensionalen politischen Landkarten («Smartmaps»).

Ein aktuelles Beispiel liefern die Zürcher Wahlen vom 12. April. Am 7. März wurde in der NZZ eine politische Landkarte publiziert, welche die Zürcher Kantons- und RegierungsratskandidatInnen auf Basis ihrer Antworten zu den total 59 Fragen der Smartvote-Umfrage im zweidimensionalen Raum verordnet (links vs. rechts sowie liberal vs. konservativ). Die Karte kann auch online auf smartvote.ch eingesehen werden, wobei sich hier NutzerInnen zudem die Gelegenheit bietet, sich selbst darauf zu projizieren und so mit den KandidatInnen zu vergleichen. Von allzu starken Schlüssen sollte man dabei allerdings absehen. Denn die Smartvote-Karte bringt, gelinde gesagt, Überraschendes zutage.

Das Problem betrifft in erster Linie die vertikale Konservativ-Liberal-Achse. Denn die Karte suggeriert, dass Rot-Grün in etwa gleich konservativ sei wie die SVP, während die FDP als liberaler Pol des Parteienspektrums obenaus schwinge. Diese Darstellung widerspricht der politikwissenschaftlichen Lehrmeinung klar. Die konservativ-liberal-Achse sollte Themen wie Migration, europäische Integration und offene Gesellschaft (Toleranz gegenüber Minderheiten wie Homosexuellen) repräsentieren. Offensichtlich aber unterscheiden sich die Positionen der SVP bei all diesen Themen deutlich von denjenigen Rot-Grüns. Demnach sollten Rot-Grün und die SVP keineswegs auf derselben Position stehen, sondern eher an den entgegengesetzten Enden des Spektrums. Auch die FDP wäre bei genannten gesellschaftlichen oder kulturellen Themen kaum am liberalen Pol anzusiedeln, sondern eher am moderaten Ende der SVP beziehungsweise am konservativen Ende der CVP.

Woran liegt’s?

Es ist nicht das erste Mal, dass politische Landkarten basierend auf Smartvote-Daten publiziert wurden, die solche oder ähnlich überraschende Erkenntnisse implizierten. In der NZZ vom 9. Januar 2014 etwa findet sich eine ähnliche Karte zu den Zürcher Gemeinde- und Stadtratswahlen, in der «Schweiz am Sonntag» vom 18. Mai 2014 eine zu den Glarner Landratswahlen und im «Landboten» vom 17. Januar 2014 eine zu den Winterthurer Gemeinde- und Stadtratswahlen. Darüber hinaus sind ähnliche Karten zu einer Vielzahl an Wahlen auf smartvote.ch einzusehen. Woran liegt’s?

Ein erster möglicher Einwurf wäre, dass die Karten auf Antworten von Politikern gründen und diese einen Anreiz haben, ihre Positionen zu verschleiern, um so ihre Wahlchancen zu verbessern. Schliesslich ist Smartvote in erster Linie eine Wahlhilfe, bei der sich WählerInnen mit KandidatInnen vergleichen lassen können. Dieser Einwand erscheint jedoch wenig stichhaltig. Es ist zwar durchaus möglich, dass KandidatInnen zuweilen etwas schummeln. Insgesamt weisen bisherige Erkenntnisse aber klar darauf hin, dass die KandidatInnen grosso modo bei der Wahrheit bleiben. Jedenfalls wird keinesfalls in einem Ausmass geflunkert, das KandidatInnen der SP und der SVP gleich konservativ erscheinen lassen könnte.

Der Schuh drückt anderswo. Seit 2011 definiert das Smartvote-Team die zweidimensionalen politischen Landkarten mittels einer statistischen Methode, der Korrespondenzanalyse. Diese Wahl der Methode ist eher unglücklich, denn die Korrespondenzanalyse eignet sich nur bedingt für das von Smartvote verfolgte Ziel: der möglichst vereinfachten Darstellung der Positionen von KandidatInnen auf einer oder mehrerer latenter Dimensionen wie zum Beispiel der Links-Rechts-Achse. Zwar ist es durchaus möglich, mittels Korrespondenzanalyse dahingehende Informationen zu gewinnen. Jedoch gibt es hierfür wesentlich effizientere und deshalb geeignetere Methoden.

Ein wesentliches Problem ist, dass die Korrespondenzanalyse immer auch Dimensionen ausgibt, die keine inhaltliche Bedeutung haben. Typischerweise etwa identifiziert die Korrespondenzanalyse eine rein methodologische Dimension, die Personen mit extremen Antwortstilen (im Falle Smartvotes also KandidatInnen, die oft mit «Ja» oder «Nein» antworten) von solchen separiert, die oft die mittleren Antwortkategorien wählen («Eher ja» und «Eher nein»). Auf einer solchen Antwortstil-Dimension wären dann die KandidatInnen der SVP und von Rot-Grün auch tatsächlich etwa gleich anzusiedeln, denn beide Lager wählen oft extreme Positionen (wenn auch natürlich in der Regel die jeweils entgegengesetzten). Möchte man also, wie Smartvote, mittels Korrespondenzanalyse Informationen zur substantiellen latenten Datenstruktur sammeln, bedarf es aufwändiger Interpretationsleistungen – insbesondere um zu vermeiden, rein methodologischen Dimensionen wie der ebengenannten Antwortstil-Dimension eine inhaltliche Bedeutung zuzuschreiben. Andere, alternative Methoden liefern einfacher zu interpretierende Resultate.

Zur Definition des zweidimensionalen politischen Raums würde Smartvote also mit Vorteil auf andere Methoden als die Korrespondenzanalyse zurückgreifen. Allerdings ist im vorliegenden Fall das Hauptproblem noch grundsätzlicherer Natur. Denn das Smartvote-Team wendet die Korrespondenzanalyse schlichtweg falsch an. Im Vergleich zu vielen anderen statistischen Verfahren bedarf die von Smartvote verwandte Form der Korrespondenzanalyse nämlich einer eher unüblichen Form der Dateneingabe. Das Smartvote-Team scheint dies jedoch nicht beachtet zu haben.[4] Bei Missachtung der Vorgaben zur Dateneingabe können die resultierenden Karten nicht sinnvoll interpretiert werden. Deshalb sollte man von einer Interpretation der Smartvote-Karten am besten ganz absehen. Insbesondere legt dies den Schluss nahe, dass Smartvotes vertikale Achse gar nicht den Unterschied zwischen liberal und konservativ darstellt.

Andere Methode, andere Resultate

Es stellt sich die Frage, wie eine auf Basis einer alternativen, geeigneteren Methode gefertigte Karte aussehen würde. Leider stellt Smartvote die Antworten von Kandidaten und Kandidatinnen jeweils erst nach der Wahl öffentlich zur Verfügung (aus dem durchaus verständlichen Grund, dass Medienpartner wie die NZZ oder der «Tages-Anzeiger» für die Nutzung der Daten bezahlen). Deshalb ist eine Evaluation der eingangs erwähnten Karte zu den Zürcher Wahlen vom 12. April (noch) nicht möglich. Wie bereits erwähnt hat Smartvote aber anlässlich anderer Wahlen ähnliche Karten publiziert. Im Folgenden präsentiere ich deshalb eine Re-Analyse der von Smartvote für die National- und Ständeratswahlen 2011 angefertigten Karte.

Abbildung 1

Abbildung 1: Die von Smartvote angefertigte Karte zu den National- und Ständeratswahlen 2011. (Die Ellipsen bilden die Positionen der KandidatInnen für die jeweiligen Parteien ab. Der Mittelpunkt indiziert den Durchschnittswert aller KandidatInnen einer Partei, währenddem die Grösse der Ellipsen Auskunft über die Streuung innerhalb der jeweiligen Parteien gibt.)

 

Abbildung 1 zeigt die Karte in der damals von Smartvote bereitgestellten Version, wobei ich aus Copyright-Schutz-Gründen eine leicht andere Darstellungsform gewählt habe. Die Karte ist mit derjenigen zu den Zürcher Wahlen durchaus vergleichbar. Zwar erscheint Rot-Grün hier immerhin etwas weniger konservativ als die SVP, aber auch hier werden etwa die CVP und insbesondere die FDP deutlich liberaler dargestellt. Nota bene bezieht sich der Gegensatz zwischen liberal und konservativ gemäss Smartvotes Methodenbeschreibung auch hier auf kulturelle und gesellschaftspolitische Themen wie Migration, europäische Integration oder Toleranz gegenüber Minderheiten.

Eine Re-Analyse der Antworten von Kandidaten und Kandidatinnen basierend auf dem Mokkenskalierungsverfahren, einer für das vorliegende Ziel besser geeigneten statistischen Methode[5], führt zu einem deutlich anderen Bild. Zunächst zeigt sich, dass eine einzelne Achse für die Beschreibung der politischen Positionen der KandidatInnen im Prinzip genügt. Diese einzelne Achse repräsentiert den generellen Links-Rechts-Gegensatz und ordnet die KandidatInnen von links (für Staatsinterventionen und einen starken Wohlfahrtsstaat, aber auch für die Integration von Ausländern und anderen Minderheiten und für die europäische Integration) nach rechts (für einen kleinen Staat mit relativ geringen Wohlfahrtsstaatsleistungen, für eine restriktive Haltung gegenüber Ausländern und anderen Minderheiten und gegen die europäische Integration).

Abbildung 2

Abbildung 2: Alternative (eindimensionale) Karte zu den National- und Ständeratswahlen 2011. (Die Linien bilden die Positionen der KandidatInnen für die jeweiligen Parteien ab. Der Mittelpunkt indiziert den Durchschnittswert aller KandidatInnen einer Partei, währenddem die Länge der Linien Auskunft über die Streuung innerhalb der jeweiligen Parteien gibt.)

 

Die resultierende Abbildung 2 zeigt ein kaum überraschendes Bild: Rot-Grün befindet sich klar im linken Spektrum und KandidatInnen der FDP und insbesondere der SVP im rechten. Die KandidatInnen der CVP und anderer Mitteparteien befinden sich irgendwo dazwischen. Dabei fällt auf, dass die eindimensionale Darstellung im Wesentlichen der horizontalen Achse von Smartvote entspricht. Warum dem so ist, kann nicht klar beantwortet werden, denn aus obengenannten Gründen hat die Smartvote-Karte keine eindeutig definierte statistische Interpretation.

Natürlich kann eine einzelne Dimension immer auch in zwei (Sub-)Dimensionen unterteilt werden. Ich habe die Fragen deshalb im Sinne von Smartvote so aufgeteilt, dass auf der horizontalen Achse der Links-Rechts-Gegensatz im engeren Sinn dargestellt wird – also Fragen zur Grösse des Staats, zu Umverteilung und Staatsinterventionen (bspw. Einheitskrankenkasse, Mindestlohn und die «1:12»-Initiative) – und auf der vertikalen Achse kulturelle wie gesellschaftspolitische Fragen (bspw. die Masseneinwanderungsinitiative, Adoption durch Homosexuelle, EU-Beitritt oder Armeeverkleinerung).

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Abbildung 3: Alternative (zweidimensionale) Karte zu den National- und Ständeratswahlen 2011. (Die Ellipsen bilden die Positionen der KandidatInnen für die jeweiligen Parteien ab. Der Mittelpunkt indiziert den Durchschnittswert aller KandidatInnen einer Partei, währenddem die Grösse der Ellipsen Auskunft über die Streuung innerhalb der jeweiligen Parteien gibt.)

 

Die resultierende Abbildung 3 weicht deutlich von der von Smartvote gefertigten Karte ab. Wichtiger noch, im Gegensatz zur von Smartvote bereitgestellten Karte stimmt sie wohl deutlich besser mit den Erwartungen überein. So befindet sich Rot-Grün hier nicht mehr fast auf Augenhöhe mit der SVP bezüglich gesellschaftspolitischer Themen, sondern klar am liberalen Ende. Deutliche Veränderungen gibt es auch bei den KandidatInnen der FDP: Statt am rechts-liberalen Ende des Spektrums befinden sie sich nun näher am rechts-konservativen Pol, wenn auch (wiederum kaum überraschend) mit einer etwas liberaleren Position als die KandidatInnen der SVP.

Übrigens zeigt Abbildung 3 auch, warum eine eindimensionale Darstellung genügt: Die Ellipsen reihen sich einigermassen klar entlang der Diagonale auf, was auf eine starke Korrelation zwischen den beiden Achsen hinweist. Die zweidimensionale Darstellung ist zumindest im vorliegenden Fall also in einem hohen Masse redundant.

Keine Fundamentalkritik

Dies soll ausdrücklich keine Fundamentalkritik an Smartvote sein. Die von Smartvote bereitgestellten Leistungen stellen in vielen Belangen eine Bereicherung der Wahlkampfphase dar. Insbesondere erlauben sie WählerInnen, sich effizient über die Positionen der KandidatInnen und Parteien zu informieren und Gemeinsamkeiten wie Unterschiede zu ihnen zu entdecken. Untersuchungen suggerieren gar, dass Smartvote einen (kleinen) Beitrag zur Mobilisierung der Wähler leistet.[6] Zudem haben die von Smartvote generierten Daten einen hohen Wert für die Wissenschaft.

Zu wünschen wäre aber, dass Smartvote in Zukunft auf irreführende räumliche Darstellungen des ideologischen Spektrums verzichtet. In der momentanen Form tragen die zweidimensionalen «Smartmaps» wohl mehr zu politischer Des- denn Information bei. Eine mögliche Variante, wie man zu einer überzeugenderen tiefdimensionalen Darstellung kommen könnte, wurde hier dargelegt.

 


[1] Der Autor hat mehrfach zu Online-Wahlhilfen wie Smartvote und insbesondere zur räumlichen Darstellung politischer Präferenzen in Online-Wahlhilfen publiziert:

[2] Georg Lutz (2008): Eidgenössische Wahlen 2007: Wahlteilnahme und Wahlentscheid, Lausanne: Selects-FORS.

[3] Georg Lutz (2012): Eidgenössische Wahlen 2011: Wahlteilnahme und Wahlentscheid, Lausanne: Selects-FORS.

[4] Für die Statistik-Freaks: Smartvote analysiert die KandidatInnenantworten mittels der einfachen Korrespondenzanalyse. Deshalb müsste Smartvote eine Indikatorenmatrix eingeben. Tatsächlich gibt Smartvote aber die Antwortmustermatrix ein. Möchte Smartvote trotz Nachteilen bei der Korrespondenzanalyse bleiben, sollten sie zumindest auf die multiple Korrespondenzanalyse umsteigen, die ähnlich wie die «normale» Faktorenanalyse die Eingabe der Antwortmustermatrix erlaubt.

[5] Dies insbesondere aus zwei Gründen. Zum einen sind die Resultate im Vergleich zur Korrespondenzanalyse deutlich einfacher zu interpretieren und lassen stärkere Schlüsse bezüglich der Dimensionalität zu. Zum anderen macht die Mokkenskalierung keine unrealistischen Annahmen bezüglich der Datengrundlage, anders etwa als die besser bekannte Methode der Faktorenanalyse. Anzumerken ist, dass hier nur 64 der total 75 Fragen berücksichtigt wurden. Die 11 ausgelassenen Fragen beziehen sich alle auf Präferenzen zum Ausgabeverhalten in verschiedenen Bereichen staatlichen Handelns (etwa «öffentliche Sicherheit» oder «Landesverteidigung»). Dies im Wesentlichen aus zwei Gründen. Zum einen ist bekannt, dass Fragen zum Ausgabenverhalten ohne Präsentation eines Trade-offs zu inkonsistenten Antworten führt. Zum anderen weisen die Fragen zum Ausgabeverhalten ein anderes Antwortformat auf (fünf statt vier Antwortmöglichkeiten), was die Analyse für den gegebenen Zweck unnötig verkomplizieren würde. Das Resultat bleibt indes stabil, wenn alle 75 Fragen berücksichtigt werden.

[6] Siehe Germann/Gemenis (2014).

Renzis teuer erkaufte Stabilität

Italien hat ein neues Wahlgesetz. Doch die «Reform» verschärft nur die Nachteile des bestehenden Gesetzes.

Bald ein Hort der Stabilität? Die Abgeordnetenkammer des italienischen Parlaments in Rom. Bild: Palazzo Chigi (Flickr)

Bald ein Hort der Stabilität? Die Abgeordnetenkammer des italienischen Parlaments in Rom. Bild: Palazzo Chigi (Flickr)

Vorletzte Woche hat das italienische Abgeordnetenhaus ein neues Wahlgesetz beschlossen. In den Augen von Premierminister Matteo Renzi ist das neue Gesetz ein wichtiger Schritt auf seinem Reformkurs. «Mut zahlt sich aus, die Reformen gehen voran», kommentierte er bereits nach der Abstimmung im Senat im Januar. Was genau «mutig» sein soll am neuen Gesetz, bleibt allerdings ebenso offen wie die Frage, was damit «reformiert» werden soll. Das unfaire italienische Wahlsystem kann jedenfalls nicht gemeint sein. Denn die Gesetzesänderung zementiert im Grunde nur das bisherige System und verstärkt dessen verzerrende Auswirkungen.

Bekanntlich ist das Wahlsystem für das italienische Abgeordnetenhaus dem Namen nach ein Proporzsystem. Es hat allerdings einen so genannten «Mehrheitsbonus» eingebaut. Dieser gibt dem Parteienbündnis mit den meisten Stimmen automatisch 55 Prozent der Sitze.[1]

Bei den letzten Wahlen 2013 erhielt das Mitte-links-Bündnis unter Führung des Partito Democratico mit nur gerade 29.5 Prozent der Stimmen 55 Prozent der Sitze, bekam also mehr als 150 ihrer 340 Sitze «geschenkt».

Mehrheitsbonus in Athen wie in Rom

Ein ähnliches System kennt übrigens Griechenland: Dort erhält die grösste Partei 50 zusätzliche Sitze (d. h. ein Sechstel der total 300 Sitze im Parlament). Dies geht leicht vergessen, wenn im Zusammenhang mit dem Wahlsieg der Linksaussen-Partei Syriza davon die Rede ist, «das griechische Volk» habe der Sparpolitik eine Absage erteilt. Tatsächlich hat Syriza auch zusammen mit ihrem Koalitionspartner, den rechtskonservativen Unabhängigen Griechen, nicht die Mehrheit der Wähler hinter sich – dank dem Wahlsystem aber die Mehrheit der Sitze.

Die Verzerrungen, die durch einen solchen Mehrheitsbonus entstehen, waren auch dem italienischen Verfassungsgericht ein Dorn im Auge. Dieses hatte das bisherige Wahlgesetz Ende 2013 für verfassungswidrig erklärt. Eine Reform wurde somit notwendig.

Was ändert sich nun mit dem neuen Wahlgesetz? Zunächst nicht viel: Der Mehrheitsbonus bleibt bestehen. Neu ist lediglich, dass für den Fall, dass kein Parteienbündnis mehr als 37 Prozent der Stimmen holt, ein zweiter Wahlgang zwischen den beiden stärksten Gruppierungen um den Mehrheitsbonus stattfindet. Zudem wird die Hürde für Parteien, um ins Parlament einzuziehen, auf 4.5 Prozent erhöht.[2] Ob das Wahlsystem durch diese Anpassung verfassungskonform wird, bleibt offen.

Abschied vom perfekten Bikameralismus

Neben der Änderung des Wahlrechts plant Renzi auch eine Reform des Senats. Bisher war die kleine Kammer als Vertretung der Regionen der Abgeordnetenkammer gleichgestellt. Diesen «bicameralismo perfetto» kennen neben Italien nur wenige Länder (unter ihnen die Schweiz). Künftig soll der Senat hingegen weniger Befugnisse haben. Zudem sollen die Senatoren nicht mehr vom Volk gewählt, sondern von Bürgermeistern und Vertretern der Regionalregierungen entsandt werden. Diese Gesetzesänderung ist aber vom neuen Wahlgesetz entkoppelt.

Von den Reformen erhofft sich Renzi stabilere Regierungen. Auf der Strecke bleiben dabei die italienischen Wähler. Denn sie sind die Hauptgeschädigten des Mehrheitsbonus und des höheren Quorums – weil dadurch der Wählerwille massiv verzerrt werden kann. Der ehemalige Minister Corrado Passera warnte hierzu kürzlich treffend: «Das neue Wahlgesetz wird in Kombination mit der Senatsreform dazu führen, dass künftig die ganze Macht in der Hand eines einzigen Mannes vereinigt ist, ohne jedes Gegengewicht. Ausserdem werden die meisten Parlamentarier wie bisher von den Parteichefs ausgewählt. In einer echten Demokratie können sich die Bürger ihre Vertreter selber aussuchen.»

Der Mehrheitsbonus ist im Prinzip eine Imitation des Mehrheitswahlsystems, wie es Grossbritannien kennt. Dessen Stärke besteht darin, dass es grosse Parteien bevorteilt und so tendenziell für stabilere Regierungen sorgt. (Dass es dieses Versprechen in Grossbritannien selbst immer weniger einlösen kann, ist eine andere Geschichte.)

Repräsentanten ohne Rechenschaft

Das Problem mit dem Mehrheitsbonus ist bloss, dass die Imitation unvollständig ist. Das Wahlverfahren trägt noch immer den Mantel eines Proporzsystems, die Verzerrung des Wählerwillens ist tendenziell aber viel grösser als in Mehrheitswahlsystemen. Zugleich fehlt in Italien der grösste Vorteil des Majorzsystems: die persönliche Verbindung zwischen Wähler und Kandidaten. In den Einerwahlkreisen Grossbritanniens können die Wähler ihre Vertreter im Parlament direkt zur Rechenschaft ziehen.

In Proporzsystemen ist diese direkte «Accountability» viel weniger ausgeprägt.[3] Das ist der Preis dafür, dass das Parlament die Stärke der Parteien und damit den Wählerwillen relativ genau abbildet.

Das italienische Wahlsystem vereinigt die Nachteile von Majorz- und Proporzsystem: Der Wählerwille wird verzerrt, ohne dass eine direkte Rechenschaft der Abgeordneten ermöglicht wird.

Immerhin, so argumentieren die Befürworter der Reform, wird Italien künftig von stabileren Regierungen regiert werden. Man kann sich indes fragen, wie viel Stabilität es bringt, wenn eine Minderheitspartei im Alleingang Gesetze beschliessen kann, die nach den nächsten Wahlen von einer anderen Minderheitspartei wieder umgestossen werden.

 


[1] Es sei denn, das Bündnis holt ohnehin bereits mehr als 55 Prozent der Stimmen.

[2] Bislang lag das Quorum bei 4 Prozent für Parteien ausserhalb eines Bündnisses bzw. bei 2 Prozent für Parteien in einem Bündnis.

[3] Eine Ausnahme sind «offene Listen», durch welche die Wähler also die Reihenfolge der Kandidaten auf einer Parteiliste beeinflussen können. Italien kennt (im Gegensatz zur Schweiz) keine offenen Listen.

Von romanischen Schweizern und deutschen Rumänen

Institutionen können nicht Eins zu Eins auf andere Länder übertragen werden. Die Vorteile des schweizerischen Modells der Einbindung von Minderheiten sollten jedoch nicht unterschätzt werden.

Candinas und Semadeni – in der „Partida rumantsch“ besser aufgehoben als in CVP und SP? Bild: srf.ch

Die Bündner Nationalräte Silva Semadeni und Martin Candinas – in der «Partida rumantsch» besser aufgehoben als in SP und CVP? (Bild: srf.ch)

In der Schweiz scheint die Debatte um ihre Mythen voll entbrannt. Das jüngste Buch von Thomas Maissen, in dem der Historiker die Heldengeschichten von Morgarten bis Marignano kritisch beleuchtet, hat prompt scharfe Reaktionen aus dem rechtskonservativen Lager hervorgerufen.

Der Politikwissenschaftler Daniel Bochsler führt die Entzauberung der Helvetischen Mythen nun im Bereich des politischen Systems fort. In einem Beitrag im «Tages-Anzeiger» hinterfragt er scheinbar heilige Institutionen wie Ständemehr und Konkordanz – oder zweifelt zumindest ihre Wirksamkeit für andere Länder an.

In einem Punkt hat Bochsler Recht: Institutionen lassen sich nicht Eins zu Eins auf andere Länder übertragen. (Es ist ja nur schon fraglich, ob Institutionen wie die Konkordanz in der Schweiz selbst noch zeitgemäss sind. Siehe Entzauberte Konkordanz und Die Bürger nicht erst am Schluss fragen.)

Die Kritik an vier Mythen (wieso genau diese vier ausgewählt wurden, erschliesst sich nicht unmittelbar) bietet aber auch Gründe, ihrerseits hinterfragt zu werden.

Erster Mythos: Grenzüberschreitende Parteien

«Die Minderheiten fahren am besten, sobald sie sich in eigenen Minderheitsparteien organisieren. Ein Minderheitenvertreter kann aus einer Minderheitspartei mehr erreichen denn als Parlamentarier einer Mehrheitspartei. »

Dass Minderheiten eigene Parteien bilden, könnte auch mit dem Umgang der Mehrheit mit ihnen zusammenhängen. In der föderalistischen Schweiz, wo Minderheiten in Parteien, aber auch in Regierung und Verwaltung freiwillig eingebunden werden, haben sie wenig Grund, ihre Interessen in einer eigenen Partei zu verfolgen.

In anderen Ländern, mitunter auch in Osteuropa, sehen sich Minderheiten oft schlechter gestellt, beispielsweise weil ihre Sprache nicht als Amtssprache anerkannt wird oder sie weniger staatliche Unterstützung erhalten. Dies dürfte den Anreiz erhöhen, eigene Parteien zu gründen.

Zu bedenken ist allerdings, dass Minderheitsparteien bestehende Gräben tendenziell noch vertiefen, anstatt den nationalen Zusammenhalt zu fördern. In Belgien waren Liberale, Sozialisten, Christdemokraten usw. jeweils in einer einzigen nationalen Partei organisiert. In den 1960er und 1970er Jahren spalteten sich diese jeweils in eine flämische und eine wallonische Partei. Heute scheint jede politische Frage in Belgien zuerst unter dem sprachlichen Aspekt betrachtet zu werden – kein Wunder, wenn sich die Parteien über die Sprache definieren. Das hat jedoch zur Folge, dass die Spannungen zwischen den Landesteilen zunehmen.

In der Schweiz sind praktisch alle Parteien nach wie vor landesweit verankert. Entsprechend stehen sprachliche Konflikte in der politischen Debatte im Hintergrund. Die meisten Tessiner und Rätoromanen entscheiden bei Wahlen nicht nach dem Kriterium, welche Partei ihrer Sprachgemeinschaft die meisten Vorteile bringt, sondern danach, wie die nationale Politik am besten ausgerichtet werden sollte. (Voraussetzung ist, wie gesagt, dass sie erwarten können, von nationalen Parteien fair behandelt zu werden.) Als Folge davon steht die Schweiz im Gegensatz zu Belgien nicht am Rande der Teilung.

Zweiter Mythos: Vetorecht durch Ständemehr und Ständerat

«Vetorechte, wie etwa das Ständemehr, können manchmal Kompromisse erzwingen, aber häufig blockieren sie auch die Politik, gerade dort, wo die Fronten verhärtet sind.»

Dass Vetorechte für einzelne Gruppen zu Blockaden führen können, ist unbestritten. Allerdings können die katholischen Kantone – im Gegensatz zu den drei Staatsvölkern in Bosnien-Herzegowina – nicht alleine eine Vorlage zu Fall bringen. Sie brauchen Unterstützung aus anderen Kantonen. Allgemein ist das Schweizer Ständemehr mit einem Vetorecht im Parlament nur beschränkt vergleichbar. (Mangels ausgebauter direktdemokratischer Institutionen ist es ohnehin wenig zielführend, das Ständemehr exportieren zu wollen.)

Dennoch bildet die Macht der Kantone einen Anreiz, Minderheiten einzubinden und Kompromisse zu finden. Der Wahl des ersten katholisch-konservativen Bundesrats war eine Reihe von Abstimmungsniederlagen des freisinnigen Bundesrats vorausgegangen, die zu einer weitgehenden Blockade führte (siehe Vom Gegner zur prägenden Figur des Bundesstaats).

Es scheint also nicht zuletzt von der konkreten Ausgestaltung solcher «Vetorechte» abzuhängen, ob sie in der Praxis funktionieren (siehe zur hiesigen Föderalismus-Reformdebatte Legitimeres Ständemehr durch stetige Standesstimmen).

Dritter Mythos: Fremde Vögte

«Seine Dekretsmacht setzte [der Hohe Repräsentant Wolfgang Petritsch] dafür ein, Kompromisse durch die Institutionen [Bosnien und Herzegowinas] zu boxen, gegen widerspenstige Einzelinteressen.»

Einerseits sollen Minderheiten also Minderheitsparteien bilden, um ihre Interessen durchzusetzen, andererseits sollen fremde Vögte solche «widerspenstige Einzelinteressen» abwehren?

Vierter Mythos: Konkordanz

«Solche dauerhaften Konkordanzformeln sind kein Königsweg. Nach anfänglichen Erfolgen der ungarischen Regierungspartei wendete sich das Blatt, die Partei erschien als machtverliebt, klientelistisch, zahm. Darauf folgte die politische Spaltung der rumänischen Ungarn, und sobald mehrere Parteien um die gleichen Wähler rivalisieren, setzt bald eine Radikalisierungsspirale ein.»

Mit dem Beispiel aus Rumänien zeigt Bochsler, dass Minderheitsparteien durchaus nicht nur Vorteile bieten. Das Problem des Klientelismus ist ihnen zwar nicht alleine vorbehalten. Hat eine Partei ein Monopol innerhalb einer bestimmten Gruppe inne, begünstigt dies solche Strukturen jedoch tendenziell.

Nicht nur aus dieser Überlegung heraus scheint es seltsam, in der Monopolstellung einer Partei den Königsweg für eine funktionierende Demokratie zu sehen. Politische Konkurrenz ist ein Wesensmerkmal eines jeden offenen demokratischen Systems. Deshalb sollte die Konkurrenz nicht nur innerhalb einer bestimmten Sprachgemeinschaft oder ethnischen Gruppe bestehen, sondern im Idealfall darüber hinausreichen.

Ein jüngeres Beispiel aus Rumänien zeigt, wie das funktionieren kann: Vergangenen November wurde Klaus Johannis zum Präsidenten des Landes gewählt. Johannis entstammt der deutschsprachigen Minderheit in Rumänien. Diese macht nicht einmal ein halbes Prozent der Einwohner Rumäniens aus. Bei der Stichwahl zum Staatspräsidenten erhielt Johannis 54.5 Prozent der Stimmen. Er wurde nicht als Vertreter einer Minderheitspartei und nicht in erster Linie von deutschsprachigen Rumänen gewählt, sondern als Kandidat der Nationalliberalen Partei von Stimmbürgern aus allen Teilen der Bevölkerung.

Da sage noch einer, Minderheitsvertreter könnten in einer Mehrheitspartei nichts erreichen.

Mangelhafte Nachwuchsförderung für das politische Milizsystem

Während der Staat viel in die sportliche oder kulturelle Förderung von Jugendlichen investiert, ist das in der Politik kaum der Fall. Dabei liesse sich das leicht und unbürokratisch ändern.

Ein Gastbeitrag von Patrick Müntener (Co-Präsident des Jugendparlaments Schaffhausen).

DSJ

DV 2014 des Dachverbands Schweizer Jugendparlamente DSJ. (Foto: DSJ)

Um die milizpolitische Kultur steht es nicht besonders gut. Vor allem in den Gemeinden lassen sich zu wenig interessierte oder kompetente Kandidatinnen und Kandidaten für milizpolitische Ämter finden. Die Gründe dafür sind namentlich Zeitmangel, kein Interesse oder auch Überforderung. Eine bessere Bezahlung oder gar eine Pflicht für politische Ämter stellen aktuell die Autoren von zwei Publikationen (Zentrum für Demokratie Aarau[1] und Avenir Suisse[2]) als Lösungsvorschläge vor.

Doch gäbe es eine unbürokratische und kostengünstige Lösung, die am Prinzip des Nebenamts und der Freiwilligkeit festhält: Die Nachwuchsförderung für das politische Milizsystem, wie es etwa Jugendparlamente sind.

Im sportlichen und im kulturellen Bereich gibt es sehr breit angelegte Fördermassnahmen für Jugendliche.[3] In der Politik ist dies aber keineswegs so. Der Bund gibt für die Nachwuchsförderung im Sport pro Jahr 75 Millionen Franken aus. Für Nachwuchsförderung in der Politik ist es weniger als eine Million.[4] In den Kantonen sieht es nicht besser aus. Der Staat und somit das politische System fördert und subventioniert alles Mögliche, nur nicht sich selber. Gerade im milizbasierten und direktdemokratischen System der Schweiz, welches eine breite, politisch aktive Gesellschaft erfordert, ist eine aktive Nachwuchsförderung aber unumgänglich.

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Übersicht über die kantonalen Jugenparlamente. (Grafik: DSJ)

Jugendparlamente als bewährte Nachwuchsförderung

Schweizweit bestehen über 60 Jugendparlamente – davon über 15 auf kantonaler Ebene –, die in einer bewährten Form der überparteilichen politischen Nachwuchsförderung dienen. Dabei engagieren sich Jugendliche für Jugendliche und können etwas bewirken. In Jugendparlamenten lernen Jugendliche früh, direkt und nachhaltig am politischen Leben teilzunehmen und ihr unmittelbares Lebensumfeld mitzugestalten. Sie erhalten in ihrer Freizeit nebenbei eine praxisnahe, unbürokratische und jugendgerechte politische Ausbildung sowie einen Bezug zum Milizsystem.

Unsere Erfahrungen zeigen zudem, dass bei Personen, die sich in ihrer Jugendzeit in der lokalen Politik engagieren, die Chance viel grösser ist, dass sie später ein politisches Amt übernehmen werden.

Das frühere Jugendparlament Berner Oberland Ost ist eines der Beispiele für die positiven Auswirkungen von Jugendparlamenten auf das politische Milizsystem der Schweiz. So sind in Interlaken unterdessen drei ehemalige Jugendparlamentarier Mitglied der Exekutive. In den letzten zehn Jahren wurden zudem zehn Ehemalige aus dem Jugendparlament in die Legislative gewählt.

Vom Jugendparlament in den Bundesrat? (Bild: DSJ)

Vom Jugendparlament in den Bundesrat? (Bild: DSJ)

Wirkliches Mitspracherecht statt inszenierter Partizipation

Das Potenzial und die Notwendigkeit für die Nachwuchsförderung sind also vorhanden. Die Gemeinden und die Politik haben es selbst in der Hand, es zu nutzen. Mit einem Jugendparlament können die Gemeinden einfach, kostengünstig und unbürokratisch Jugendförderung für politische Ämter betreiben. Dafür braucht es bloss bescheidene finanzielle Mittel, ein Mitspracherecht und die Offenheit von Politik und Verwaltung, auf die Jugendlichen einzugehen.

Da Jugendparlamente auch die Anliegen der Jugendlichen gegenüber den Behörden und Politikern vertreten können, funktioniert dies am besten, wenn sie über rechtlich verankerte Pflichten und Rechte verfügen. Dies ist momentan bei 25 Jugendparlamenten in der Schweiz der Fall. In Schaffhausen ist ein entsprechender Vorstoss geplant; der Kanton Zürich sieht im neuen Gemeindegesetz bereits die Möglichkeit für politische Rechte für Jugendparlamente auf Gemeindeebene vor.[5] Damit ist gewährleistet, dass es sich weder um eine «inszenierte Partizipation» handelt, noch dass die Jugendparlamente von Erwachsenen abhängig sind.[6]

Zahlreiche Beispiele zeigen, dass wenn man den Jugendlichen verbindliche, selbständige Entscheidungen zugesteht, kreative und sinnvolle Ideen entstehen können. Dies geht von einer Offenen Sporthalle am Freitagabend (Köniz) über die Einführung von Nachtbussen (Luzern) bis zur Mitwirkung bei einer Schulgesetzrevision (Kanton Waadt).

Wie gezeigt können die Gemeinden und Kantone dank Jugendparlamenten ihre Nachwuchsförderung und damit die Stärkung des Milizsystems selbst in die Hand nehmen.

 


[1] Oliver Dlabac, Andreas Rohner, Thomas Zenger, Daniel Kübler (2014): Die Milizorganisation der Gemeindeexekutiven im Kanton Aargau – Rekrutierungsprobleme und Reformvorschläge, Studienberichte des Zentrums für Demokratie Aarau, Nr. 4, Oktober 2014.

[2] Andreas Müller (Hrsg.) (2015): Bürgerstaat und Staatsbürger – Milizpolitik zwischen Mythos und Moderne, Zürich 2015 und darin insb. Martin Heller (2015): Miliz macht Mühe, Sarah Bütikofer (2015): Fiktion Milizparlament, Andreas Ladner (2015): Die Abhängigkeit der Gemeinden von der Milizpolitik sowie Andreas Müller (2015): Schwächen des Milizsystems und Vorschläge zur Revitalisierung. Vgl. hierzu auch unser Beitrag Wenn sich Parlamentarier selbst zu Berufspolitikern machen.

[3] Die Schweizer Bundesverfassung erwähnt immerhin den «Jugendsport […] und den Sportunterricht an Schulen» (Art. 68 Abs. 3 BV) sowie neuerdings gar einen eigenen Artikel 67a zur «musikalischen Bildung, insbesondere von Kindern und Jugendlichen».

[4] Samuel Thomi (2015): Politikförderung für Junge? Nicht einmal Zahlen gibt es, in: Schweizer Gemeinde, 2/2015, 18.

[5] Gem. Vorlage vom 20. Februar 2015 des Gemeindegesetzes sollen Gemeinden ein Kinder- und Jugendparlament einführen können und ihm insbesondere das Recht einräumen, dem Gemeindevorstand Anfragen oder dem Gemeindeparlament Postulate einzureichen (§ 37 E-GG/ZH).

[6] Vgl. zu den verschiedenen Formen der Partizipation: Stefan Wittwer (2014): Politische Partizipation von Kindern und Jugendlichen in der Schweiz, SAJV/DSJ, Bern 2014, 15 ff.

Doppelproporz Schwyz: «Kuckuckskinder» nicht im Sinne der Erfinder

Auch im Kanton Schwyz könnte alsbald der Doppelproporz eingeführt werden. Leider aber ohne die vorhersehbaren heiklen Sitzverschiebungen in den 17 Kleinstwahlkreisen zu beachten, wie es von seinen «Erfindern» empfohlen wird.

Zwar zählt im Gegenvorschlag «Kantonsproporz» tatsächlich jede Stimme in Schwyz, doch…

Am kommenden Wochenende stimmt der Kanton Schwyz über die Volksinitiative «für ein einfaches und verständliches Wahlsystem» der Schweizerischen Volkspartei ab. Wie vor kurzem in diesem Blog beleuchtet, würde dadurch ein einphasiges Mehrheitswahlverfahren (ohne absolutes Mehr) eingeführt, wie es insbesondere in Grossbritannien Tradition hat – und dort just dieser Tage aufgrund seiner augenscheinlicher Mängel unter Druck steht (siehe Majorz: Revival in Schwyz, Katerstimmung in Grossbritannien).

Die Regierung und der Kantonsrat empfehlen daher den Schwyzerinnen und Schwyzern diese angelsächsische Importsendung zu refüsieren und stattdessen auf heimischere Qualitätsware zu setzen. Doch bei genauerer Betrachtung erweist sich auch dieser direkte Gegenvorschlag «Kantonsproporz mit Sitzgarantie» als nicht gänzlich unproblematisch. Er würde zwar die Kantonsverfassung lediglich mit einem unspektakulären neuen Absatz ergänzen: «Der Kantonsrat wird nach dem Verhältniswahlverfahren (Proporz) gewählt.»[1]

Die einzelnen Wahlkreise dieses Proporzes entsprächen aber wie bisher den 30 politischen Gemeinden des Kantons. Während dem alten Schwzyer «Mischsystem Majorz/Proporz» 2013 die Gewährleistung durch die Bundesversammlung versagt wurde, konnte diese Verfassungsbestimmung ins Trockene gerettet werden.[2] Obschon hierdurch teilweise sehr kleine Wahlkreise entstehen, die eigentlich nur Anrecht auf einen kleinen Bruchteil eines Kantonsratssitzes hätten, so symptomatisch die 56-Stimmbürger-Gemeinde Riemenstalden, der kleinste Wahlkreis der Schweiz. Eigentlich ist das Dorf 17-mal zu klein für einen ganzen Kantonsratssitz.

Um dennoch in diesen althergebrachten, kleinräumigen Stukturen im Proporz wählen zu können, träte nach erfolgreicher Volksabstimmung zusätzlich automatisch ein neues Wahlgesetz in Kraft.[3] Wie kürzlich in den Nachbarkantonen Nidwalden und Zug gelangte auch am Fusse der Mythen ein Doppelproporz zur Anwendung, der die 100 Kantonsratsmandate zuerst fair auf gesamtkantonaler Ebene auf die Parteilisten verteilen würde. Damit auch kleinere bis mittelgrosse Parteien gleichwertige Chancen auf das eine oder andere Mandat haben.

«Da wird geschoben, was das Zeug hält!»

Bekanntlich birgt dieses Verfahren aber den Nachteil, dass der Proporz gesamtkantonal zwar perfekt abgebildet wird, aber innerhalb der einzelnen Wahlkreis nicht zwingend. Mit lokalen Sitzverschiebungen da und dort ist zu rechnen, weil letztlich die Korrekturen, die zur optimalen kantonsweiten Repräsentation führen, irgendwo getätigt werden müssen. Solche potentiellen «gegenläufigen Sitzverschiebungen»[4] – dass also Partei A mehr Mandate erhält als Partei B, obschon A weniger Stimmen erzielte als B – werden von den Gegnern des Doppelproporz-Gegenvorschlags denn auch genüsslich ausgebreitet, um diese Methode zu diskreditieren.

Im Duktus der Majorz-Freunde wird unter dem Stichwort «Kuckuckskinder» im aktuellen Abstimmungsbüchlein gewarnt: «Ein Teil der Stimmen aus einem Wahlkreis wirkt sich mitunter massiv in anderen Wahlkreisen aus. In nicht unwahrscheinlichen Fällen verfälschen alle Stimmen für eine Partei in einer anderen Gemeinde das Resultat. Somit können die grösseren Wahlkreise […] das Bild in Einerwahlkreisen zu 100 % verfälschen. Dann nämlich, wenn nicht diejenigen gewählt werden, die vom Gemeindebürger am meisten Stimmen erzielt haben, sondern dank Fremdstimmen Kandidaten mit (deutlich) weniger Zustimmung.» Xaver Schuler, Präsident der SVP Schwyz, sekundiert im Abstimmungs-Flyer: «Da wird geschoben, was das Zeug hält!»

Wie wahrscheinlich und wie störend sind derlei Sitzverschiebungen in der antizipierten Schwyzer Praxis tatsächlich? Um die Tendenzen abschätzen zu können, haben wir für Schwyz den Doppelproporz modelliert, jedoch nicht – wie dies bisher naheliegenderweise getan wurde[5] – anhand der Stimmenzahlen der letzten Kantonsrats-, sondern der Nationalratswahlen 2011. Denn bei den kantonalen Wahlen traten gerade in den (diese Analyse betreffend heiklen) sehr kleinen 17 Wahlkreisen mit bloss einem oder zwei Sitzen oftmals nur wenige Gegenkandidaten an: In 10 der 13 Einerwahlkreise gab es sogar überhaupt keine (!) Konkurrenz, weshalb hiermit das effektive Wählerverhalten nicht adäquat nachgebildet werden kann.

Anders bei den letzten Nationalratswahlen: Alle 17 Wahllisten, auch kleinere wie jene von Gewerkschaftsbund, BDP oder Junge SVP, konnten von allen Stimmbürgern eingeworfen werden – auch in Riemenstalden:[6]

NR 2011 SZ als KR-BiProp

 

Wie stark würde nun «geschoben», wie die SVP warnt? In der Tat wären etwa eine Hand voll gegenläufige Sitzverschiebungen innerhalb der 30 Wahlkreise aufgetreten. Dass also beispielsweise die EVP in Arth einen Sitz erhält, ist (speziell aus Sicht der dortigen BDP-Sektion) zwar unschön, doch irgendwo muss der EVP nun einmal ihr (einziges) Mandat zugewiesen werden, auf das sie gemäss Oberzuteilung Anrecht hat. Und in Arth liegt die EVP eben einem Kantonsratsmandat am nächsten – daher erhält sie es dort.

Doch diese kleineren Verschiebungen sind nicht tragisch, ja gerade dem Wahlsystem inhärent. Sie treten denn übrigens nicht nur im Doppelproporz auf, sondern ebenso in Wahlkreisverbänden (also in BL und LU), ja selbst im herkömmlichen Verfahren «Hagenbach-Bischoff» mit Listenverbindungen (AR, BE, GE, GL, LU, NE, OW, SG, TG, UR sowie Nationalrat). – Dort merkt und stört es interessanterweise aber kaum jemanden.[7]

Majorzbedingung für Kleinstwahlkreise vergessen

Mehr als unschön erscheinen aber jene drei Sitzverschiebungen, in denen der jeweils bestgewählten Partei im Wahlkreis ein Mandat verlustig geht, ja diese – zum Kuckuck! – gar mit völlig leeren Händen da steht. Hier wird das so genannte Mehrheitskriterium verletzt.[8] Dieses Paradoxon kann praktisch nur in Kleinstwahlkreisen auftreten – wie sie gerade in Schwyz stark verbreitet sind. Und, als hätte es die SVP geahnt: In allen drei Fällen (Illgau, Innerthal und Rothenthurm) müsste die SVP das lokale, einzige Mandat an eine schwächere Partei abgeben.

Muss nun, wer auf den Doppelproporz setzt, zwangsläufig mit letzteren, groben Anomalien leben? Im Gegenteil. Die Mitentwickler Friedrich Pukelsheim und Christian Schuhmacher hielten schon vor Jahren in einem Aufsatz fest: «[Es] kann in Wahlkreisen zu gegenläufigen Sitzzuteilungen kommen. Angesichts der hohen Abbildungsgenauigkeit des Doppelproporzes ist es zwar eher unwahrscheinlich, aber eben doch möglich, dass der einzige vorhandene Sitz an die zweitstärkste Liste geht oder eine andere, aber eben nicht an die stärkste. Der Aufschrei bei der betroffenen Partei und in der Bevölkerung wäre dann wohl laut gewesen.» Der Unmut der Wähler müsse aber nicht hingenommen werden, da sich das Problem beheben lasse. «In der Tat lässt sich der Majorz in den Doppelproporz einbetten. Es reicht, im Gesetz bei der Festlegung der Unterzuteilung eine ‹Majorzbedingung› […] hinzuzufügen. […] Die Majorzbedingung klingt sehr allgemein, bewirkt aber für die Einerwahlkreise das Gewünschte: Der eine Sitz geht an die stärkste Liste.»[9]

Dieses wahlrechtliche Essentialium wurde immerhin in der Vernehmlassung von einigen aufmerksamen Akteuren eingebracht[10], jedoch weder von Regierung (aus ausweichenden Gründen), noch Kommission oder Parlament aufgegriffen. Der Regierungsrat schrieb, «der vorgeschlagene Doppelproporz [entspricht] dem Wahlsystem des Kantons Nidwalden, das keine Majorzbedingung kennt»[11] – Nidwalden kennt aber auch nur einen einzigen Kleinwahlkreis; ausser Emmetten (zwei Sitze) erhalten alle Wahlkreise drei oder mehr Sitze. Auch hätte man statt über den Vierwaldstättersee einen Blick über den nächsten Hügel nach Nordwesten werfen dürfen: Zug wählt ebenso im Doppelproporz – aufgrund seiner beiden Zwei-Sitz-Wahlkreise inklusive Majorzbedingung.[12]

Wie weiter mit den «Kuckuckskindern»?

Was könnte Schwyz nun tun? Das Kind mit dem Bade ausschütten und tatsächlich zurück zum «einfachen und verständlichen Majorz»? Oder doch in den sauren Proporz-Apfel beissen?

Die eleganteste Möglichkeit wäre wohl, es dem Kanton Schaffhausen gleich zu tun. Auch dieser wählt im kommenden Jahr seinen Kantonsrat im Doppelproporz. Und auch er hat einen kleinen Einerwahlkreis – und unterliess bisher die Implementierung der Majorzbedingung. Doch heuer will die Regierung diesen Makel noch rechtzeitig beheben.[13]

Eine zweite Variante bestünde darin, das Grundproblem zu beheben, welches den gezeigten verletzten Mehrheitsbedingungen zugrunde liegt: die 17 Miniwahlkreise, insbesondere die viel zu kleinen Einerwahlkreise. Hier setzt genau die Volksinitiative «Für gerechte Proporzwahlen» der kleinen Parteien und der SP an, die vom Parlament bereits durchberaten und somit abstimmungsreif ist, aber erst zu einem späteren Zeitpunkt vors Volk gelangen soll (sofern sie nicht zurückgezogen wird). Zwar schreibt dieses Volksbegehren kein bestimmtes Proporzwahlsystem vor, geschweige denn eine konkrete neue Wahlkreiseinteilung. Jedoch würde sie die geltende Sitzgarantie für alle 30 Schwyzer Gemeinden aus der Verfassung streichen, was als Signal interpretiert werden müsste, diese aufzulockern.

Drittens schliesslich könnten die ersten Wahlen im neuen doppeltproportionalen Zuteilungsverfahren einfach mal abgehalten werden, im Wissen, dass mit einiger Wahrscheinlichkeit noch die eine oder andere Kinderkrankheit auftreten wird. Diese könnten während der nächsten Legislatur in Ruhe analysiert und durch eine nachhaltigere Lösung behoben werden.

Letztendlich entbehrt die «ewige» Schwyzer Wahlrechtsreform nicht einer gewissen Ironie: Die Stimmbürger können nun zwischen einem etwas unausgereiften Proporz und einem radikal-anachronistischen Majorz auswählen – optimal wäre ein kluger Mix zwischen beiden gewesen.

 


[1] § 48 Abs. 3 KV/SZ. Dazu stiesse noch ein zweiter Satz: «Das Gesetz kann Mindestquoren vorsehen.» Im ausführenden revidierten Kantonsratswahlgesetz (§ 16 Abs. 3 KRWG; siehe Fn. [3]) würde ein Quorum von 1 Prozent vorgesehen, das genau dem Idealanspruch eines Mandats entspricht.

[2] § 48 Abs. 2 KV/SZ wurde gewährleistet, womit die Mindestsitzgarantie für alle 30 Gemeinden erhalten bleiben konnte (BBl 2013 2621). Zur Vorgeschichte der Schwyzer Wahlreform siehe BGE 1C_407/2011, 1C_445/2011, 1C_447/2011 vom 19. März 2012 sowie Yvo Hangartner (2012): Entscheidbesprechung 1C_407/2011, 1C_445/2011, 1C_447/2011, AJP 6/2012, 846 ff.; Verzerrte Sicht auf das Schwyzer Wahlsystem und Der lange Schatten des Schwyzer Wahlsystems. Vgl. zur Verfassungsreform im Allgemeinen: Paul Richli (2012): Zur neuen Schwyzer Kantonsverfassung – Mehr als eine Kopie oder ein Verschnitt, ZBl 113/2012, 391 ff.; Kulturkommission Kanton Schwyz (Hrsg.) (2013): Die neue Schwyzer Kantonsverfassung, Schwyzer Hefte, Bd. 99. Vgl. zur Gewährleistungdebatte: Pierre Tschannen (2014): Die Schwyzer Kantonsverfassung, das Bundesgericht und die Bundesversammlung – Ein Lehrstück, in: Berner Gedanken zum Recht – Festgabe der Rechtswisschenschaftlichen Fakultäten der Universität Bern für den Schweizerischen Juristentag 2014, 2014, 405 ff.

[3] Kantonsratswahlgesetz vom 17. Dezember 2014 (KRWG) (publ. im Amtsblatt Nr. 51 vom 19. Dezember 2014, S. 2822 ff.)

[4] Vgl. Friedrich Pukelsheim/Christian Schuhmacher (2004): Das neue Zürcher Zuteilungsverfahren für Parlamentswahlen, AJP 5/2004, 519; dies. (2011): Doppelproporz bei Parlamentswahlen – ein Rück- und Ausblick, AJP 12/2011, 1589.

[5] Zwar hat Regierungsrat Rüegsegger in der Kantonsratsdebatte verlauten lassen: «Wichtig ist auch noch, dass bis jetzt bewusst darauf verzichtet worden ist, irgendwelche Modellrechnungen anzustellen. Wir haben weder innerhalb von der Regierung, der Verwaltung aber auch nicht mit der Kommission irgendwelche hypothetische Modellrechnungen gemacht, mit welchen wir einschätzen könnten, bei welchem System wer wieviel gewinnt oder verliert. […] Ich bin Ihnen letztlich dankbar, dass dies von Ihnen so akzeptiert worden ist und wir nicht mittels parlamentarischem Vorstoss dazu genötigt worden sind, irgendwelche hypothetischen Modellrechnungen abzugeben.» (Verhandlungsprotokoll, ao. Sitzung vom 19.11.2014, S. 994) Jedoch haben diverse Akteure sehr wohl Berechnungen angestellt, aber so weit ersichtlich nur mit den (unzulänglichen) Daten der Kantonsratswahlen: Vgl. Schwyzer Volksblatt der SVP, Februar 2015, S. 4 («[…] wir haben mit den Wahlstimmen von 2012 die Wahl nach den Regeln des Doppelten Pukelsheim simuliert.»); ebenso eine Maturaarbeit des späteren Beschwerdeführers vor Bundesgericht (1C_445/2011) sowie Parteisekretärs der FDP Schwyz für die Kantonsratswahlen 2008: Flavio Kälin (2008): Kanton Schwyz – Wahlsysteme für Kantonsratswahlen, Kantonsschule Kollegium Schwyz, Anhang 1.

[6] Bei der Zuhilfenahme der Daten der Nationalratswahlen stellt sich aber die Frage, wie mit den damaligen Kleinparteien und Nebenlisten umzugehen sei. Würden auch die Jungparteien JSVP, JCVP und JUSO mit eigener Liste(ngruppe) antreten? Selbst ob die im Kantonsrat bisher gar nicht vertretenen BDP und EVP sowie die Grünen (1 Mandat) je eigene Listen aufstellen würden, ist unklar. Wir haben daher vier Varianten untersucht, ausgehend von 17 parallelen Listen gemäss Nationalratswahl bis hin zu relativ kompakten, konsolidierten Listengruppen gemäss den damaligen Listenverbindungen:

  • Variante A: alle 17 Listen gemäss NR 2011, je separat
  • Variante B: Listen mit Wähleranteil <1 % zu Stammliste addiert (aufgrund des vorgesehenen Mindestquorums von 1 %)
  • Variante C: alle Listen zu einparteiigen Listengruppen addiert
  • Variante D: Listengruppen gemäss Listenverbindungen NR 2011; ausser BDP separat

Letztendlich wird Variante C, die oben präsentierte Variante, wohl der Realität am nächsten kommen. Die anderen Varianten A, B und D wie auch Variante C inklusive der hier vorgestellten Majorzbedingung können hier betrachtet werden. Letztlich finden die verletzten Mehrheitskriterien in ähnlicher Form und Anzahl auch bei den anderen Varianten statt.

[7] Die mathematischen Gegebenheiten anerkennend, hat denn auch das Bundesgericht gegenläufige Sitzverschiebungen (hier noch Wahlkreisverbände betreffend) als zulässig taxiert: BGE vom 09.12.1986, ZBl 1987, 367 ff.; BGE 1P. 671/1992 vom 08.12.1993, ZBl 10/1994, 483 ff.

[8] Das Mehrheitskriterium (auch: Mehrheitsbedingung, Majority criterion) verlangt, dass aus einer (bestimmten) Mehrheit an Stimmen eine Mehrheit an Sitzen resultiert. Vgl. auch (die absolute Mehrheit betreffend) Pukelsheim/Schuhmacher (2004), 520.

[9] Pukelsheim/Schuhmacher (2011), 1597 (Hervorhebungen durch den Verfasser).

[10] Den majorzbedingten Doppelproporz regten die Vernehmlassungsantworten an von: FDP des Kantons Schwyz, Gemeinde Sattel sowie diejenige des Verfassers dieses Beitrags.

[11] Beschluss Nr. 659/2014 des Regierungsrat des Kantons Schwyz, Initiative «Für ein einfaches und verständliches Wahlsystem» mit Gegenvorschlag, 17. Juni 2014, S. 13. Die dort skizzierte, theoretisch mögliche Diskrepanz zwischen (zu geringer) Oberzuteilung und (zu zahlreicher) via Majorzbedingung zugewiesener Mandate wäre durchaus zu beheben, bspw. durch eine nur subsidiäre Majorzbedingung, siehe Claudio Kuster (2014): Vernehmlassungsantwort: Kantonsratswahlen: Verfassungs- und Gesetzesvorlagen des Kantons Schwyz, S. 8 ff.

[12] Aus dem Zuger Wahlgesetz sollte man die Majorzbedingung indes besser nicht abschreiben. Denn wird dort nicht nur das Mindestquorum falsch berechnet, sondern auch die Majorzbedingung fehlerhaft legiferiert, vgl. Claudio Kuster (2014): Kritik: Doppelproporz im Wahlgesetz Zug, S. 1

[13] Kanton Schaffhausen: Schwerpunkte der Regierungstätigkeit 2015, vom Regierungsrat beschlossen am 06.01.2015, S. 16.