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Direkte Wahl der Regierung: Die Erfahrungen von Indonesien und Israel

Die SVP will, dass die Schweizer Regierung künftig nicht mehr durch das Parlament, sondern direkt durch das Volk gewählt wird. Bei Annahme ihrer Volksinitiative würde der Bundesrat in Zukunft durch die Stimmbürger mittels Majorzwahl bestimmt.

Der Übergang von der indirekten zur direkten Wahl der Regierung würde das politische System der Schweiz grundsätzlich verändern. Der Einfluss des Bundesrats im politischen Prozess dürfte deutlich vergrössert werden, seine Macht gegenüber dem Parlament würde gestärkt, da er nicht mehr von ihm abhängig wäre.

Die konkreten Auswirkungen des Systemwechsels sind dennoch schwer abzuschätzen. Gibt es international vielleicht Beispiele von anderen Staaten, die einen solchen Wechsel vollzogen haben?

Es gibt sie – allerdings sind sie sehr spärlich gesät. Genaugenommen sind in der jüngeren Geschichte nur zwei Demokratien zu finden, die von der indirekten zur direkten Wahl der Regierung übergegangen sind: Indonesien und Isreal.

In Indonesien hat der Übergang zur Demokratie erst 1998 begonnen, als der langjährige Herrscher Suharto unter dem Druck von der Strasse abtrat. Aber bereits vier Jahre später vollzog die junge Demokratie den Wechsel vom parlamentarischen zum präsidentiellen System: Mit der Verfassungsänderung von 2002 wurde der Präsident nicht mehr durch das Parlament, sondern direkt durch das Volk gewählt.

Interessanterweise wurden in Indonesien damals ähnliche Argumente für den Systemwechsel vorgebracht wie heute in der Schweiz für die Volkswahl des Bundesrats: Viele Politiker und Bürger störten sich an den intransparenten Verhandlungen und Mauscheleien unter den Parteien im Parlament, welche die Wahl der Regierung zu einem unberechenbaren Theater machten. Von der direkten Wahl des Präsidenten erhoffte man sich einen transparenteren und berechenbareren Wahlprozess.

Diese Hoffnung erfüllte sich allerdings nicht wirklich. Die Verhandlungen unter den Parteien im Parlament gehörten mit der Verfassungsänderung zwar der Vergangenheit an. Sie setzten sich dafür vor den Präsidentschaftswahlen fort, wo es für die Parteien darum ging, die Unterstützung möglichst vieler anderer Parteien für den eigenen Kandidaten zu bekommen. Die Mauscheleien verschoben sich somit einfach auf eine andere Ebene des politischen Prozesses.[1]

Mit Blick auf die Schweiz ist eine weitere Veränderung interessant: In den ersten Jahren nach dem Fall Suhartos regierte in Indonesien jeweils eine grosse Koalition, es waren also mehr Parteien in der Regierung, als für eine Mehrheit im Parlament unbedingt nötig. Indonesien hatte damit eine Konsensregierung, wie sie bekanntlich auch in der Schweiz – in ausgeprägterer Form – existiert.

Mit dem Übergang zum Präsidialsystem fand die Ära der Konsensregierungen in Indonesien allerdings ein jähes Ende. Seit 2002 sitzen in der Regierung nur noch die Partei des Präsidenten bzw. jene Parteien, die unmittelbar zu seiner Wahl beitrugen.

Im Gegensatz zu Indonesien hat Israel kein Präsidialsystem eingeführt. Seit seiner Gründung 1948 ist der Staat eine parlamentarische Demokratie. Allerdings hinderte dies Israel nicht daran, während einigen Jahren seinen Regierungschef direkt zu wählen: 1992 verabschiedete die Knesset dazu eine Änderung der Verfassung. Bis dahin war der Ministerpräsident jeweils in Koalitionsverhandlungen bestimmt worden. In aller Regel wurde der Parteichef der grössten Partei auch Regierungschef. Viele Politiker befanden allerdings, dass dieses System keine stabilen Regierungen hervorbrachte, weil das israelische Parteiensystem stark zersplittert war.[2] Ein direkt gewählter Regierungschef, so die Idee der Reformer, würde gegenüber dem Parlament eine stärkere Stellung einnehmen, als einer, der vom Parlament selbst eingesetzt wurde.[3]

Was in der Theorie gut tönte, erwies sich in der Praxis bald als durchschlagender Misserfolg. Nicht ein einziger direktgewählter Ministerpräsident überstand eine volle Amtszeit von vier Jahren. Benjamin Netanyahu, 1996 zum Regierungschef gewählt, wurde 1999 nach einem Misstrauensvotum im Parlament abgewählt. Sein Nachfolger, Ehud Barak, trat nach zwei Jahren zurück und verlor anschliessend die Wahl gegen Ariel Sharon. Es war gleichzeitig die letzte Wahl eines Ministerpräsidenten durch das Volk: Die Israeli machten die Reform rückgängig und kehrten zum «gewöhnlichen» parlamentarischen System zurück.

Der Grund für das Scheitern der direkten Wahl des Regierungschefs lag vor allem in der inkonsequenten Ausgestaltung der Reform. Denn obwohl der Ministerpräsident vom Volk gewählt wurde, brauchte er eine Mehrheit im Parlament und konnte jederzeit mit einem Misstrauensvotum abgesetzt werden. Das untergrub natürlich das Ziel einer grösseren Unabhängigkeit des Regierungschefs vom Parlament.[4] Israel hatte ein System irgendwo zwischen einer reinen parlamentarischen und einer präsidentiellen Demokratie geschaffen, das die Nachteile beider Varianten vereinte.

Hinzu kam ein grundsätzliches Problem mit der Wahl des Regierungschefs, die nach dem Mehrheitsprinzip erfolgte. Mehrheitswahlen eignen sich generell schlecht für Gesellschaften wie die israelische, die von tiefen ideologischen Gräben (zwischen Religiösen und Säkularen, zwischen «Falken» und «Tauben» etc.) durchzogen sind. Eine stärkere Exekutive kann nur über die Schwächung kleinerer Parteien erreicht werden und gefährdet damit die Legitimität der Regierung. Das proportionale System mit vielen kleinen Parteien macht die Regierungsarbeit in Israel zwar kompliziert, ist aber immer noch die bessere Lösung als ein Mehrheitswahlsystem, das die ideologischen Gräben noch vertiefen würde.

Das Fazit aus den Erfahrungen der beiden einzigen Demokratien, die den Wechsel von der direkten zur indirekten Wahl der Regierung vollzogen haben, fällt ernüchternd aus. Weder in Indonesien noch in Israel hatte die Reform die erwünschte Wirkung. Allerdings lassen sich die Erfahrungen der beiden Länder nicht ohne Weiteres auf die Schweiz mit ihrem einzigartigen politischen System übertragen. Insbesondere der Umstand, dass in der Schweiz, anders als in Indonesien und Israel, nicht der Regierungschef, sondern die gesamte Regierung vom Volk gewählt würde, macht einen Vergleich schwierig. Auch bei der Volkswahl des Bundesrats stellt sich aber die Frage, ob die von den Initianten angestrebten Vorteile auch eintreten würden. Die Beispiele Indonesien und Israel zeigen, dass sich die tatsächlichen Wirkungen von Reformen des Regierungssystems stark von den ursprünglich beabsichtigten unterschieden können.


[1] Edward Aspinall (2005) «Elections and the normalization of politics in Indonesia», South East Asia research 13(2).

[2] 1992 lag die effektive Anzahl Parteien (nach Laakso/Taagepera) bei 4,39 [PDF]. Zum Vergleich: In der Schweiz liegt sie gegenwärtig bei 5,57.

[3] Avraham Brichta (2001): Political Reform in Israel: The Quest for a Stable and Effective Government, S. 101.

[4] Emmanuele Ottolenghi (2006): «Why direct election failed in Israel». In: Larry Jay Diamond, Marc F. Plattner: Electoral Systems And Democracy.

Das Steuerabkommen und das «paradox of weakness»

Wer sitzt am kürzeren Hebel? Die Schweizer Finanzministerin Eveline Widmer-Schlumpf und ihr deutscher Amtskollege Wolfgang Schäuble (Bild: Keystone)

Wir müssen wieder mal zusammenstehen. Im Steuerstreit mit Deutschland wird von allen Seiten nationale Einigkeit beschworen. In der gestrigen «NZZ am Sonntag» (Text nicht online verfügbar) mokiert sich Chefredaktor Felix E. Müller über die Konkurrenz, die seiner Meinung nach zu wenig stramm die offizielle Position der Eidgenossenschaft vertritt. Dem Tages-Anzeiger macht Müller zum Vorwurf, dass er «angebliche Schwachstellen» des Steuerabkommens mit Deutschland anprangert, während der Blick «primär den Standpunkt Deutschlands» transportiere. Eine breite öffentliche Diskussion, klärt uns Müller auf, sei «der grösste Nachteil» in zwischenstaatlichen Konflikten.

Offenbar vertritt Müller die Ansicht, dass Meinungs- und Pressefreiheit zugunsten höherer Ziele eingeschränkt werden sollten. Darüber kann man geteilter Meinung sein. Von dieser Frage einmal abgesehen lässt die These, eine offene Diskussion untergrabe die Verhandlungsposition eines Landes, mit Blick auf die Realität gewisse Zweifel aufkommen. Gerade das Beispiel des Steuerabkommens weist eher auf das Gegenteil hin. Wäre ganz Deutschland ohne wenn und aber hinter seiner Regierung gestanden, würde das im September 2011 unterschriebene Steuerabkommen wohl mit dem damaligen Wortlaut in Kraft treten. Aufgrund des ausgebauten Föderalismus braucht das Abkommen aber auch in der kleinen Parlamentskammer, dem Bundesrat, eine Mehrheit – und damit auch Stimmen der Opposition. Das erlaubte es der SPD, weitere Zugeständnisse von der Schweiz zu fordern, indem sie den Vertag scheitern zu lassen drohte. Der innenpolitische Widerstand brachte für Deutschland schliesslich ein besseres Verhandlungsergebnis.

In der Politikwissenschaft wird dieses Phänomen als «paradox of weakness» bezeichnet. Der Begriff geht auf Thomas Schelling zurück, der feststellte, dass Regierungen, die innenpolitisch schwach sind, in Verhandlungen oft erfolgreicher sind als vermeintlich stärkere Verhandlungspartner. Je mehr Widerstand im Innern eine Regierung glaubhaft machen kann, desto eher kommen ihr andere Regierungen entgegen – schliesslich wollen sie nicht riskieren, dass eine nach aufwendigen Verhandlungen gefundene Lösung bei der Ratifizierung scheitert.

Zu den Instrumenten des «paradox of weakness» kann auch die direkte Demokratie gezählt werden. Sie dürfte sogar ein besonders wirksames Mittel sein, ist das Stimmvolk doch noch wesentlich unberechenbarer als eine Oppositionspartei. Kann eine Regierung in Verhandlungen glaubhaft machen, dass die Bevölkerung eine Lösung versenken könnte, werden die Verhandlungspartner eher zu Konzessionen bereit sein.

Damit lässt sich auch erklären, dass die Schweiz in den Verhandlungen mit der EU im Grossen und Ganzen gute Resultate erzielt hat, obschon sie eigentlich die schwächere der beiden Parteien ist. Denn während seitens der EU ein Kopfnicken aller Kommissionsmitglieder genügte, mussten in der Schweiz regelmässig gut 4 Millionen Bürger überzeugt werden. Das Referendum hing wie ein Damoklesschwert über den Verhandlungen und drohte jahrelange Bemühungen zunichte zu machen. Auch das Steuerabkommen mit Deutschland untersteht dem (fakultativen) Referendum. Entsprechende Pläne hat die Auns, wie der SonntagsBlick berichtete. Möglicherweise wird das die Motivation der SPD, weitere Nachverhandlungen zu fordern, dämpfen.

Selbst im undemokratischen Theater innerhalb der EU um den Vertrag von Lissabon zeigt sich diese Wirkung der direkten Demokratie: Die Iren lehnten den Vertrag 2008 in einer Volksabstimmung zwar zunächst ab. Das Nein gab der Regierung in Dublin aber die Möglichkeit, in der EU zahlreiche Vorteile für ihr Land auszuhandeln. Brüssel gewährte Irland zähneknirschend eine Sonderbehandlung, damit die Bevölkerung dem Lissabonner Vertrag im zweiten Anlauf brav zustimmte.[1]

Zum bedingungslosen Zusammenstehen besteht im Steuerstreit mit Deutschland also kein Grund. Tages-Anzeiger und Blick sollen von der Meinungs- und Pressefreiheit ohne schlechtes Gewissen Gebrauch machen. Was die freisinnige Qualitätspresse aus Zürich angeht, so dürfte sie ihre Rolle durchaus über die Funktion als bundesrätliches Sprachrohr hinaus interpretieren. Demokratischer Pluralismus schwächt die Verhandlungsposition der Schweiz nicht – hingegen wird der demokratische Pluralismus durch Denk- und Schreibverbote gefährdet.


[1] Im Fall des Fiskalpakts, über den Irland am 31. Mai abstimmen wird, spielt der Vorteil der direkten Demokratie allerdings nicht im gleichen Masse: Der Vertrag wird in Kraft treten, ob die Iren mitmachen oder nicht.