Monthly Archives: March 2022

Aufseher im Nebenamt

Die Parlamentarier haben zwar ein griffiges Instrumentarium für die Oberaufsicht über Bundesrat und Verwaltung. Oft fehlen ihnen aber die Ressourcen, um dieses tatsächlich zu nutzen.

Publiziert im «Schweizer Monat» März 2022.

Auf kommunaler Ebene ist die Kontrolle des Gemeinderats unmittelbar erlebbar – anlässlich der regelmässig stattfindenden Gemeindeversammlung. Hier können Stimmberechtigte ihrer Lokalregierung Fragen stellen zu hängigen Projekten, Kritik an der Geschäftsführung üben, Budgetpositionen streichen oder Verbesserungsvorschläge skizzieren. Auf Bundesebene ist demgegenüber die Verwaltung für den gemeinen Bürger weit entfernt, unnahbar und opak, und damit auch kaum einer Kontrolle durch ihn zugänglich. Hier springt die Bundesversammlung ein als oberste Behörde im Bund, der – nebst der Gesetzgebungs- und Wahlfunktion – die Oberaufsicht über die Regierung und die komplette Bundesverwaltung obliegt. Diese Funktion ist ein wichtiges Element der gegenseitigen Gewaltenhemmung. Welche Instrumente, Kompetenzen und Organe stehen Nationalrat und Ständerat konkret zur Verfügung? Und werden diese sinnvoll genutzt?

Aufseher an der Arbeit? (Foto: Christian Scheidegger)

 

Interpellation statt Telefon

Zunächst steht allen Parlamentarierinnen und Parlamentariern ein individuelles Informationsrecht gegenüber der Exekutive zur Verfügung, das sie mit der Interpellation und der Fragestunde einsetzen können. Im vergangenen Jahr wurden im Nationalrat und Ständerat 902 Interpellationen und 1254 Fragen im Rahmen der Fragestunde eingereicht. Der Bundesrat ist verpflichtet, die Antworten zügig zu liefern, womit aktuelle Probleme relativ schnell aufgegriffen werden können. Ein weiteres wichtiges, da ergebnisoffenes Instrument ist das Postulat, mit dem der Bundesrat zur Berichterstattung über ein spezifisches Thema oder heikle Vorkommnisse aufgefordert werden kann. Auf diese Weise werden jährlich grob 100 Berichte ausgelöst.

Diese Vorstossflut wird häufig kritisiert und den Urhebern andere Motive wie das Erheischen medialer Aufmerksamkeit unterstellt, schliesslich könnten die Ratsmitglieder ihre gewünschten Informationen auch oft direkt bei der zuständigen Verwaltungsstelle anfordern. Dieser Vorwurf verkennt einerseits, dass eine offizielle bundesrätliche Stellungnahme oder gar ein Bericht ein ganz anderes Gewicht hat als die telefonische Beantwortung durch eine Verwaltungsmitarbeiterin. Andererseits wird durch die Publizität von Anfrage und Antwort Öffentlichkeit geschaffen und Rechenschaft abgelegt. Gesamthaft ist die parlamentarische Kontrolle durch Vorstösse dennoch stark limitiert, da die Kontrollierte regelmässig das Amtsgeheimnis, andere überwiegende Interessen oder «laufende Arbeiten» vorschieben kann. Die häufig etwas verzettelten Parlamentarier lassen sich so meistens gut abwimmeln.

Kommission lädt Bundesräte vor

Tiefere Einsicht in den Verwaltungsapparat wird den parlamentarischen Sachkommissionen gewährt, so etwa der Sicherheitspolitischen Kommission (wenn sie das VBS und die Ruag unter die Lupe nimmt) oder der Urek (die sich um die Energieversorgung kümmert), denen hierfür Auskunfts- und Einsichtsrechte sowie Untersuchungsbefugnisse zustehen. Konkret fordern die Kommissionen häufig Berichte an, laden die Verantwortlichen sowie zuständigen Bundesräte vor, hören externe Expertinnen an und führen Augenscheine vor Ort durch. Die Erkenntnisse können in Empfehlungen zuhanden der Regierung münden, nötigenfalls aber auch in neue Vorstösse, wenn etwa gesetzgeberischer Handlungsbedarf geortet worden ist. Letztlich beschäftigen sich die «gewöhnlichen » Kommissionen aber nur nebenbei mit der Oberaufsicht, und auch sie sind weitgehend von den ihnen durch die Exekutive gewährten Informationen abhängig. Die Aufsicht erfolgt hier also nicht nur sehr punktuell, sondern zumeist auch erst nachträglich (statt begleitend) und ist damit eher schwach.

Detailliertere Einsichtsrechte kommen den Aufsichtskommissionen zuteil, insbesondere den zwei Geschäfts prüfungskommissionen (GPK) und den zwei Finanzkommissionen (FK) der beiden Kammern. Die GPK üben die ständige Oberaufsicht aus über die Geschäftsführung des Bundesrats, der Bundesverwaltung und anderer Träger von Aufgaben des Bundes. Hierzu obliegt ihnen traditionellerweise die Prüfung und Vorbereitung der Geschäftsberichte der Bundesbehörden zuhanden des Plenums, sie führen aber auch schwerpunktmässige Inspektionen durch. Sie erhalten Einblick in Unterlagen, die der unmittelbaren Entscheidfindung des Bundesrats dienen, etwa in die Mitberichte der Departemente. Wollen die GPK fehlbare beaufsichtigte Organe zur Remedur auffordern, so stehen ihnen politische Mittel zur Verfügung: Die GPK schliessen ihre Untersuchungen meistens mit einem öffentlichen Bericht ab, der Empfehlungen zuhanden des Bundesrats enthält. Jener muss zu den Verbesserungsvorschlägen Stellung nehmen, wodurch er zur Rechenschaft über seine Tätigkeiten verpflichtet wird.

Es erscheint jedoch äusserst fraglich, ob die «Miliz»- Parlamentarier, die in den Aufsichtskommissionen einsitzen, überhaupt die notwendigen Ressourcen – insbesondere Zeit und breites Fachwissen – aufbringen, die zahlreichen an sie herangetragenen Akten, Berichte und Studien vertieft zu lesen, zu hinterfragen und nachzuhaken, um gegebenenfalls nötige Korrekturen oder Verbesserungsmassnahmen zu veranlassen. Hält man sich vor Augen, dass etwa die Mitglieder der ständerätlichen GPK noch in vier weiteren, also in total je fünf (!) Parlamentskommissionen einsitzen, kann für die Aufsichtsfunktion von vornherein nur wenig Zeit übrigbleiben. Erstaunlich ist in dieser Hinsicht auch, dass derzeit sogar zwei vielbeschäftigte Parteipräsidenten – von der SVP und der FDP – in der GPK sitzen. Höchst fragwürdig mutet überdies an, wenn solche Parteipräsidenten gar noch zusätzlich jene FK- oder GPK-Subkommission präsidieren, die just «ihre eigene» Bundesrätin beziehungsweise Bundesrat beaufsichtigen sollte.

Einblick in Bundesratsprotokolle

An der Spitze der kaskadenhaften Ordnung der Informationsrechte stehen die Delegationen der GPK und FK, die Geschäftsprüfungsdelegation (GPDel) und die Finanzdelegation (FinDel), denen ein unbeschränktes verfassungsunmittelbares Informationsrecht zusteht, wobei die GPDel primär für den Staatsschutz und die Nachrichtendienste zuständig ist. Ihnen dürfen keinerlei Informationen aus dem Zuständigkeitsbereich der kontrollierten Organe vorenthalten werden, womit sie selbst Einblick in die Bundesratsprotokolle und andere hochsensible Akten erhalten. Fachliche, wissenschaftliche Unterstützung erhalten die GPK von der Parlamentarischen Verwaltungskontrolle (PVK), die in ihrem Auftrag Aufgabenüberprüfungen und Evaluationen durchführt. Aktuelle Studien untersuchen so unterschiedliche Bereiche wie die Offset-Geschäfte, die Covid-Kurzarbeitsentschädigung oder den Grundwasserschutz.

In seltenen, ausserordentlichen Fällen kann die Bundesversammlung überdies eine Parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) einsetzen, um «Vorkommnisse von grosser Tragweite» abzuklären. Dieses schillerndste aller Kontrollorgane hat zwar ebenfalls weitreichendste Kompetenzen und nötigenfalls gut ausgestattete personelle Ressourcen, ist aber ausschliesslich zur Klärung einer klar umrissenen Problematik befugt. Eine PUK wird im politischen Alltag häufig gefordert, aber praktisch nie eingesetzt, die letzte (zur Pensionskasse des Bundes) datiert von 1995.

Wie ist nun die Kontrolle über die Bundesverwaltung durch das Parlament in der gelebten Praxis gesamthaft zu bewerten? Es sind unterschiedliche Tendenzen auszumachen: Einerseits überrascht, wie viele institutionelle Akteure alleine des Parlaments parallel mit der Aufsicht, Kontrolle und Evaluation des Verwaltungshandelns betraut sind. Die Koordination ist anspruchsvoll und könnte womöglich noch verbessert werden, um etwaige Doppelspurigkeiten zu verhindern. Noch mehr Aufsichtsorgane, wie sie gerade seit der Pandemie gefordert werden, sind nicht nötig. Auch sind heute die rechtlichen Rahmenbedingungen und Einsichtsrechte griffig genug.

Dem Verfassungsauftrag («Die Bundesversammlung übt die Oberaufsicht aus über den Bundesrat und die Bundesverwaltung », Art. 169 BV) kommen die Volksvertreter aber kaum nach, denn faktisch sind es nicht sie, die die Kontrolle ausüben. Zumindest wäre eine umfassendere politische Verwertung der Resultate der Oberaufsichtstätigkeit angezeigt. Auch das wachsende Übergewicht von Regierung und Verwaltung gegenüber der Legislative verlangt nach einer Stärkung der Aufsicht.

Wenigstens die GPK-Mitglieder sollten sich daher exklusiv auf diese Funktion konzentrieren und vom Einsitz in anderen Kommissionen ausgeschlossen werden, so wie dies von städtischen Parlamenten bekannt ist. Kompensiert werden könnte dies, indem die GPK-Mitglieder Sukkurs von persönlichen Mitarbeitern erhielten, die sie in der Aufsicht unterstützen.

Napoleon’s Nightmare-Buchempfehlungen 2021

Die Redaktion von «Napoleon’s Nightmare» empfiehlt ein gutes Dutzend Neuerscheinungen aus dem vergangenen Jahr. Die Themen beschlagen das Frauenstimmrecht, Abstimmungsplakate, eine Aussensicht auf die Schweiz, den Föderalismus, Amerika, Bürgerpflichten sowie neue Grundrechte.

Von Claudio Kuster und Lukas Leuzinger

 

Conradin Cramer: In die Politik gehen – Tipps für den Nachwuchs (NZZ Libro)
Autobiografisches? Ratgeberliteratur? Jugendbuch? Organisation und Kommunikation? Selbstreflexion? Baselstädtische Lokalpolitik? Oder gar Humoristisches? – Conradin Cramers Neuerscheinung «In die Politik gehen» wäre in keiner dieser Abteilungen der Buchhaltung falsch einsortiert. Die «Tipps für den Nachwuchs» des Basler Regierungsrats (Liberal-Demokratische Partei, LDP) und Juristen sind eine äusserst anregende, unterhaltsame und lehrreiche Innensicht eines erfolgreichen Politikers, die letztlich den politischen Nachwuchs motivieren und begleiten will, in die Politik einzusteigen. «Es ist das Buch, dass ich vor 20 Jahren gerne gelesen hätte. Es enthält praktische Überlegungen eines Praktikers, nicht mehr und nicht weniger.»

Cramer beginnt bei der Suche nach der richtigen Partei, wobei er keiner Kleinpartei beitreten würde, sondern eine der sechs grössten (Bundesratsparteien plus Grüne/GLP) empfiehlt – der langfristigen Karriere zuliebe. Als Königsweg in die Politik skizziert er die klassische Ochsentour, so wie er als 20-Jähriger im Einwohnerrat Riehen BS begann, um später via Grosser Rat in die Kantonsregierung emporzusteigen. Politik ist Kommunikation: Daher werden natürlich Themen wie Social Media, Reden, Podiumsdiskussionen, Auftrittskompetenz, Interviews, Wahlkampf, Umgang mit Kritik usw. anschaulich abgehandelt. Hier überrascht Cramer immer wieder mit geradezu entwaffnender Ehrlichkeit. Etwa, wenn er einräumt, sich Namen schlecht merken zu können und daher mittels einer Handy-App sein Namensgedächtnis schärft. Oder wie seine Zeit während – manchmal vielleicht öden – Repräsentationspflichten effizient nutzt: Cramer nimmt «Probleme» mit an Veranstaltungen, denen er sich gedanklich widmen kann, während er äusserlich etwa einer Aufführung lauscht. Den schrillen Klang der in Basel beliebten Piccoloflöten mag der Erziehungsdirektor übrigens gar nicht – und hat deshalb stets Ohrstöpsel griffbereit. So offen gab sich ein hiesiger, zumal amtierender Exekutivpolitiker wohl noch nie.

Ein wenig aufgesetzt wirken einzig Cramers Bemühungen, das Buch gleich für den gesamten deutschsprachigen Raum anzupreisen, indem nebst Beispielen aus der Schweiz regelmässig auch ein gekünstelter Blick nach Deutschland (und selten nach Österreich) geworfen wird. Abgesehen hiervon ist das süffig verfasste Buch tatsächlich jedermann ans Herz gelegt, der mit dem Gang in die Politik liebäugelt – sei es für die lokale Schulpflege, den Kantonsrat oder gar höhere Weihen. Apropos, Basel-Stadt hat seit fast 50 Jahren keinen Bundesrat mehr!

Bettina Richter / Museum für Gestaltung Zürich (Hrsg.): Ja! Nein! Yes! No! – Swiss Posters for Democracy (Lars Müller)
Etwa die Hälfte aller Volksabstimmungen weltweit finden in der Schweiz statt. Diese Anomalie findet regelmässig unübersehbaren Niederschlag in unserem öffentlichen Raum, säumen, ja überwuchern doch in grob einem Drittel unserer Zeit zahlreiche Abstimmungsplakate dieser und jener Seite hiesige Strassenränder und Scheunentore. Viele dieser Plakate sind im Nu wieder vergessen, während sich einige geradezu ins kollektive Gedächtnis einbrennen und ikonografisch für eine bestimmte Partei oder Abstimmungsvorlage stehen. Prominentes und vielkopiertes Beispiel der letzteren Kategorie ist etwa das «Schäfchen-Plakat» zur Ausschaffungsinitiative (2010).

Das Museum für Gestaltung Zürich unterhält eine der weltweit umfangreichsten Plakatsammlungen, in welcher sich auch zahlreiche Abstimmungsplakate befinden. Bettina Richter, Kuratorin der Sammlung, hat sich der helvetischen «Bildergalerie der Strasse» angenommen und präsentiert 147 Plakatsujets, die in den vergangenen 100 Jahren eine nationale oder kantonale Abstimmungskampagne sekundierten. Einen Schwerpunkt setzt Richter beim aktuell omnipräsenten Thema «Frauenstimmrecht». Dieses Ansinnen gelangte im letzten Jahrhundert schliesslich nicht nur über 50-mal (!) an die kantonale oder nationale Urne, sie war von 1920 bis 1971 auch eine der umstrittensten Abstimmungsfragen. Einige dieser Abstimmungsplakate – vor allem seitens der Gegnerschaft– sind unterdessen gar als Ikonen der politischen Werbung bekannt, man denke nur an den überdimensionierten verwaisten Schnuller, auf dem eine eklige Fliege thront (1946).

Ergänzt wird der schön gestaltete Bilderband durch einen Essay von Historiker Jakob Tanner, der die Entstehung und Entwicklung des Kampagnenmittels politisches Plakat umreisst. Während sich das kommerzielle Plakat, ausgehend von Frankreich, um die Jahrhundertwende etablierte, wurde diese Kommunikationsform in der prekären Lage nach dem ersten Weltkrieg bald auch von den politischen Akteuren genutzt. Während damals oftmals Kunstschaffende und Autorendesigner für die Plakate zeichneten, die sich mit den politischen Botschaften unmittelbar identifizierten (Otto Baumberger, Hans Erni), wurden nach dem Zweiten Weltkrieg zusehends professionelle Grafikagenturen mit dem Design betraut. Und wie beurteilt die Herausgeberin die heutigen Affichen? «Neben vielen harmlosen, der Political Correctness verpflichteten Abstimmungsplakaten fallen im aktuellen Strassenbild jedoch auch Aushänge auf, die sich einer konsensorientierten Ästhetik verweigern und weiterhin politische Diskussionen auslösen.»

Clive H. Church & Randolph C. Head: Paradox Schweiz – Eine Aussensicht auf ihre Geschichte (Chronos)
Der Blick von aussen auf die Schweiz ist oft entweder von Romantik oder von Spott geprägt. Das hat wohl auch mit dem fehlenden historischen Verständnis zu tun. Der britische Historiker Clive Church und sein US-amerikanischer Kollege Randolph Head haben hier eine Lücke gefüllt und 2013 eine umfassende Geschichte der Schweiz in englischer Sprache publiziert. Nun ist das Werk in deutscher Übersetzung erschienen – ein Blick von aussen für Einheimische sozusagen. Dessen Funktion ist natürlich eine andere als jene des Originals, da es an deutschsprachigen Darstellungen der Schweizer Geschichte nicht fehlt. Hingegen vermögen die beiden Historiker als Aussenstehende eine andere Perspektive einzubringen.

In «Paradox Schweiz» zeichnen sie das Bild eines Landes, das sich seiner Besonderheit bewusst und zugleich stark in die Entwicklungen in Europa eingebunden ist. Natürlich wird die historische Einordnung umso schwieriger, je näher man an die Gegenwart rückt; ob die «ausgesprochen unschlüssige Haltung», die Church und Head der Schweiz attestieren, nicht auch ein bewusstes Abwägen, eine Balance zwischen Offenheit und Eigenständigkeit zum Ausdruck bringt, werden künftige Generationen besser beantworten können.

Urs Altermatt: Der lange Weg zum historischen Kompromiss – Der schweizerische Bundesrat 1874–1900. Referendumsstürme, Ministeranarchie, Unglücksfälle (NZZ Libro)
Die Konkordanz wird oft als ein zentraler Baustein des Erfolgs und der Stabilität der Schweiz angesehen. Vergessen geht dabei gerne, dass das konsensorientierte Regierungssystem nicht einfach in Stein gemeisselt ist, sondern sich in langwierigen Konflikten und Aushandlungsprozessen entwickelt hat. Eine der wichtigsten Phasen steht im Fokus des zweiten Bands von Urs Altermatts Geschichte des Bundesrats: die Phase von der Verfassungsrevision 1874 bis zur Jahrhundertwende, mit der erstmaligen Wahl eines katholisch-konservativen Bundesrats 1891 als Höhepunkt.

Die detailreiche Analyse des Bundesratshistorikers bestätigt, dass die Volksrechte entscheidenden Einfluss hatten, indem die Opposition den freisinnig dominierten Bundesrat mit Referenden immer wieder herausforderte und so schliesslich den «historischen Kompromiss» erzwang. Altermatt betont aber zugleich, dass auch der Freisinn keineswegs ein homogener Block war, sondern innerhalb der «freisinnigen Grossfamilie» teils erbitterte Machtkämpfe zwischen Radikalen, liberaler Mitte und Liberal-Konservativen tobten. Das Buch beleuchtet auch den Alltag der Bundesräte und schildert dabei immer wieder Überraschendes und Unterhaltsames. Es verdeutlicht dabei Kontinuitäten (z.B. wie sich das Kollegialitätsprinzip entwickelte) wie auch Unterschiede (z.B. die zum Teil sehr starke Stellung einzelner Bundesräte, die sich etwa darin zeigte, dass sie viel öfter als andere das Bundespräsidium übernahmen).

Alfonso C. Hophan: Die Verfassungsrevolution an der Glarner Landsgemeinde von 1836 – Ein Beitrag zur Glarner Demokratie- und Verfassungsgeschichte (Dike)
Die Liberalen haben im Zuge der Regeneration die überkommenen vormodernen Strukturen in der Schweiz überwunden und der freiheitlichen Demokratie zum Druckbruch verholfen. So lautet die «liberale Meistererzählung», die in der Geschichtsschreibung und der öffentlichen Wahrnehmung lange dominant war. Dass die Realität komplizierter war, zeigt Alfonso Hophan am Beispiel des Kantons Glarus. Dort beschloss die Landsgemeinde 1936 eine neue Verfassung, welche die weitgehende konfessionelle Trennung des Kantons aufhob und dafür individuelle Freiheitsrechte festschrieb. Der entscheidende Streitpunkt war damals, ob die Landsgemeinde überhaupt berechtigt war, die seit dem 16. Jahrhundert zwischen Katholiken und Reformierten geschlossenen Verträge einfach aufzuheben.

Hophan analysiert die Frage aus rechtshistorischer und rechtstheoretischer Sicht. Er kommt zum Schluss, dass die Annahme der neuen Verfassung gegen den Widerstand von Katholisch Glarus tatsächlich eine Revolution und nicht eine Revision darstellte – dass sie die damals geltenden Regeln also verletzte.

Darüber hinaus macht Hophan deutlich, dass die Landsgemeinde als Institution beibehalten wurde, das Demokratieverständnis dahinter aber nun ein grundlegend anderes war, ja, die Verfassung von 1936 «vielleicht den grössten» Schritt auf dem Weg von der vormodernen zur modernen Landsgemeindedemokratie darstellte. In diesem Sinn war die Glarner Verfassungsrevolution ein Vorbote der Bundesstaatsgründung zwölf Jahre später.

Jörg Paul Müller: Dialog als Lebensnerv der Demokratie – Vom Athen des Sokrates zur Politik der Gegenwart (Schwabe)
Das griechische Modell der Demokratie habe bisher keine vertiefte Beachtung gefunden. Weder die historische noch die heutige Staatsrechtswissenschaft und politische Theorie hätten sich hinreichend mit der Ausgestaltung, den Errungenschaften und Schwachstellen der frühen griechischen Demokratie auseinandergesetzt, so Jörg Paul Müller, emeritierter Professor für Verfassungs- und Völkerrecht sowie politische Philosophie an der Universität Bern. In seinem Essay «Dialog als Lebensnerv der Demokratie» fragt Müller daher, welche Erfahrungen der attischen Polis für die gegenwärtige Ausgestaltung und Praxis der Demokratie aufschlussreich sein könnten.

Die Probleme – damals wie heute – sind schnell verortet: autoritäre Strukturen, intransparente Machtansammlungen, geschickte Manipulation, ungleicher Zugang und insbesondere populistische Politiker, welche die echte Mitbestimmung der Bevölkerung verhinderten. Nachdem Müller die Grundzüge der griechischen Demokratie kurz umrissen hat, wendet er sich den beiden Philosophen Sokrates und Habermas und ihren jeweiligen Kommunikationslehren (Sokratisches Gespräch respektive Diskurstheorie) zu. Charakteristisch für das Sokratische Gespräch sei, dass es mit der Einsicht beginne, dass kein Mensch ein gesichertes, sprachlich fassbares und mitteilbares Wissen für die richtige Ordnung des gemeinsamen Lebens in der Polis besitze, das nicht hinterfragt werden könnte. Sowohl in der sokratischen Dialogpraxis (wie sie uns überliefert ist) wie in der modernen Diskurstheorie wird von den Gesprächsteilnehmern Aufgeschlossenheit und eine gegenseitige Anerkennung ihrer Gleichberechtigung erwartet, um daraus eine gemeinsame Problemsicht und rationale Basis für gemeinsames Handeln und politisches Wirken zu gewinnen. Gefordert seien da wie dort eine Fähigkeit und Bereitschaft, sowohl sich selbst einzubringen als auch die Perspektiven der anderen aufzunehmen und zu verstehen.

Demokratien, so Müller, seien Kulturleistungen, die sich durch eine hohe Fähigkeit und Bereitschaft von Bürgern wie Amtsträgerinnen zu Reflexion und Deliberation auszeichneten, zu Gespräch, Verständigung und Akzeptanz gemeinsamer Entscheidungen. Diese Befähigungen seien nicht selbstverständlich und nicht naturgegeben, sie müssten wie andere kulturelle Errungenschaften angeeignet, weitervermittelt, überdacht, erneuert und gepflegt werden. Doch solche Bedingungen stellten sich nicht von selber ein, sondern bedürften der Unterstützung durch gesellschaftliche und staatliche Kräfte. Dabei denkt Müller zu Recht an die Demokratiekompetenz durch politische Bildung, die selbst in der «Musterdemokratie» noch vielerorts ein Mauerblümchendasein fristet. – Müller versteht es, historische, (grund-)rechtliche, politologische, philosophische und kommunikationstheoretische Aspekte zu einer gut lesbaren, gehaltvollen und engagierten Schrift zu verweben.

Richard David Precht: Von der Pflicht – Eine Betrachtung (Goldmann)
Der Begriff der «Pflicht», so räumt Deutschlands bekanntester Philosoph Richard David Precht ein, fühlt sich an wie Zähneputzen, Spülen und Aufräumen – angestaubt, ein Wort gar aus einem anderen, dem «bürgerlichen» 19. Jahrhundert. Die Pandemie wirkt nun wie ein Brennglas auf unser heutiges Verhältnis zur Pflicht, dem Precht in seinen «Betrachtungen» nachgeht: Wie werden Rechte und Pflichten, seit jeher ein grosses Thema der Philosophie, heute wahrgenommen? Was denken Menschen, was ihnen zusteht, und worin sehen sie ihre staatsbürgerliche Pflicht? Wie gestaltet sich das Spannungsfeld von Pflicht und Recht, Gefahr und Massnahme, Leben und Tod? Und was verrät uns die Krise über den diesbezüglichen Zustand der Gesellschaft? Um sich den Antworten darauf zu nähern, wendet sich Precht der Philosophie der Pflicht zu, von Cicero über Kant bis Foucault und Böckenförde, rekapituliert die Entstehung des modernen Wohlfahrtsstaats, skizziert die Geschichte der Seuchenbekämpfung. Weiter weist er auf ein gewandeltes Grundrechtsverständnis hin. Galten die Grundrechte früher als Schutz des Individuums vor dem Staat, so trete im heutigen Vorsorgestaat eine zweite Verpflichtung hinzu: Die Bürger sollen nun zudem durch den Staat geschützt werden.

Warum aber tun sich viele Menschen mit ihren Pflichten so schwer? Unsere Gesellschaft sei darauf konditioniert, «Probleme durch Technik zu lösen», und nötige ihren Bürgern daher gemeinhin keine kollektiven Verhaltensänderungen ab. Ja man habe begonnen, den Staat als Dienstleister zu sehen und sich selbst als Kunden, der stets eines wolle: für sich selbst das Beste. «Tut der Staat nicht das, was ich von ihm erwarte, kündige ich meinen inneren Vertrag mit ihm und entpflichte mich vom Gemeinwohl.» Die Leistungen des Staates wurden selbstverständlich, die Anspruchshaltung des Bürgers auf freie Entfaltung höher und die Reizschwelle gegenüber empfundener Ungerechtigkeit niedriger.

Die Haltung, die wir im Umgang mit dem Virus einnehmen, sei keine reine Privatangelegenheit mehr. Die Abwehrreflexe und Entsolidarisierung, wie wir sie gerade bei den Massnahmengegnern erleben, seien Ausdruck eines befremdlichen Verhältnisses nicht weniger Menschen zum Thema Rechte und Pflichten. Der liberal-demokratische Staats habe «nicht nur das Recht, Regeln und Massnahmen zum Schutz von Millionen Schwacher und Gefährdeter zu verordnen, sondern – die Pflicht!» Es wäre jedoch ein Missverständnis, Pflichterfüllung mit Kritiklosigkeit und Konformismus gleichzusetzen. Jeder Staatsbürger habe das moralische Recht, ja sogar die moralische Pflicht, sich zu entpflichten, wenn die angewiesene Pflicht in staatliche Willkür, grosses Unrecht oder die Gefahr einer Tyrannis abgleite. Zuletzt wirft Precht den Vorschlag ein, zwei soziale Pflichtjahre für alle Bürger einzuführen, um den Bürger- und Gemeinsinn zu stärken. Ein soziales Pflichtjahr wäre für alle jungen Menschen nach dem Schulabgang zu leisten und ein zweites für alle Menschen im Renteneintrittsalter. Dadurch würde dem sozialen Frieden, der Toleranz, der Sinnstiftung, der Entlastung der Sozialausgaben und dem Verständnis der Generationen füreinander gedient.

Ferdinand von Schirach: Jeder Mensch (Luchterhand)
Der umtriebige deutsche Schriftsteller und Jurist Ferdinand von Schirach legt mit «Jeder Mensch» ein kleines, unscheinbares, gerade einmal 32 Seiten dünnes Büchlein vor. Zwischen den zwei Buchdeckeln wartet von Schirach aber keineswegs mit Belanglosem auf. Er will mit der Schrift die Saat einer – wie er selber einräumt – geradezu utopischen Idee streuen: Als 1776 die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und 1789 die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte proklamiert wurden, so wurde damit keineswegs beschreiben, was damals war, sondern allgemeingültige Grundrechte beschreiben, die erst grob zwei Jahrhunderte später mehr oder weniger entfaltet wurden.

Heute stünden wir jedoch vor ganz neuen Herausforderungen. Die damaligen Autoren und Unterzeichner der Menschenrechtserklärungen hätten das Internet und die Sozialen Medien nicht gekannt, nichts von der Globalisierung, den Algorithmen, der künstlichen Intelligenz oder dem Klimawandel gewusst. Die Gefahren, denen wir heute ausgesetzt sind, seien damals noch nicht einmal zu erahnen gewesen. Von Schirach entwirft daher flugs sechs neue Grundrechte, quasi eine «Grundrechte-Charta fürs 21. Jahrhundert», welche die tradierten Menschenrechte ergänzen und insbesondere die zukünftigen Risiken einhegen sollen. Ein Artikel will etwa der künstlichen Intelligenz wie folgt begegnen: «Jeder Mensch hat das Recht, dass ihn belastende Algorithmen transparent, überprüfbar und fair sind. Wesentliche Entscheidungen muss ein Mensch treffen.»

Wenngleich überzeugend motiviert, kommt der von Schirach’sche «Grundrechtskatalog 2.0» leider völlig unkommentiert daher. Dabei hätte doch interessiert, wieso er gerade diese neuen Rechte als die essenziellsten betrachtet, wie ihnen klarere Konturen verliehen werden und sie letztlich justiziabel ausgestaltet werden könnten. Doch – vielleicht gerade deshalb? – von Schirachs Saat ist derweil schon aufgegangen, er konnte damit in Deutschland eine Debatte auslösen. Und im neuen Koalitionsvertrag der «Ampel»-Regierung wurden die meisten seiner Menschenrechte aufgegriffen. Einzig Artikel 4 («Wahrheit») scheint zu visionär zu sein, ihn wollten die Politiker partout nicht übernehmen: «Jeder Mensch hat das Recht, dass Äusserungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen.»

Harriet Taylor Mill: Zur Erteilung des Frauenwahlrechts (Limbus)
Während John Stuart Mill als einer der einflussreichsten und bekanntesten liberalen Denker des 19. Jahrhunderts gilt, dürfte seine Gemahlin Harriet Taylor Mill den wenigsten ein Begriff sein. Zu Unrecht, denn ihr Einfluss auf das Denken und Wirken ihres Ehemannes darf nicht unterschätzt werden: Unbestritten ist ihr Beitrag zum philosophischen Werk «On Liberty» (1859) ebenso wie ihr Einfluss auf den frühfeministischen Essay «The Subjection of Women» («Die Hörigkeit der Frau», 1869). John Stuart Mill verstand die gemeinsame wissenschaftliche Arbeit gar als «Fusion zweier Geister».

Harriet Taylor Mill, die keine höhere Ausbildung genoss, publizierte aber auch diverse eigene Texte, erst anonym, dann unter ihrem eigenen Namen. Ihr vielleicht wichtigster Essay, «The Enfranchisement of Women» von 1851, ist nun neu übersetzt und herausgegeben worden. Anlass waren damalige Versammlungen in den Vereinigten Staaten (Women’s Rights Conventions), die sich der Frauenfrage und der Gleichstellung annahmen, über die Taylor Mill berichtete. Interessant sind die bereits damals vorgebrachten Argumente gegen die Gleichstellung der Geschlechter in der Familie, Politik und Wirtschaft, die die radikal-liberale Frauenrechtlerin darauf mit Verve zerpflückt: die Unvereinbarkeit des aktiven Lebens mit Mutterschaft und Haushaltsführung, der «verhärtende Einfluss auf den Charakter» der Frau, die Erhöhung des bereits übermässigen Wettbewerbs- und Lohndrucks auf dem Arbeitsmarkt sowie das angeblich mangelnde Verlangen, ja gar die Ablehnung von Emanzipationsforderungen seitens der Frauen selber. Argumente also, die noch über 100 Jahre später zu hören sein sollen.

Taylor Mill indes war «fest davon überzeugt, dass die Aufteilung der Menschheit in zwei Gesellschaftsklassen – die eine dazu geboren, über die andere zu herrschen – ein uneingeschränkter Missstand ist.» Sie sei «eine Quelle der Pervertierung und Demoralisierung sowohl für die bevorzugte Klasse als auch für jene, auf deren Kosten sie bevorzugt wird.» Politische Erziehung tue Not, Gewohnheiten und Machtstrukturen müssten hinterfragt und aufgebrochen werden, um die Freiheit des Individuums zu gewährleisten und damit den Weg zu einer solidarischen Gemeinschaft zu ebnen. Das Gleichheitsprinzip zwischen Mann und Frau sei die Basis für soziale Entwicklung. – Informative Annotationen, ein Nachwort des Übersetzers sowie eine Zeittafel Taylor Mills Leben runden das schmale Büchlein ab.

Brigitte Studer / Judith Wyttenbach: Frauenstimmrecht – Historische und rechtliche Entwicklungen 1848 – 1971 (Hier und Jetzt)
Zum 50-jährigen Jubiläum der Einführung des Frauenstimmrechts auf Bundesebene sind 2021 zahlreiche Publikationen erschienen. So etwa der von den Politologinnen Marlène Gerber und Anja Heidelberger herausgegebene Sammelband über Frauenforderungen im Parlament oder die Studie von Werner Seitz zum Kampf um die politische Gleichstellung seit 1900. Die wohl umfassendste historische Untersuchung zum Thema stammt von der Historikerin Brigitte Studer und der Staats- und Völkerrechtlerin Judith Wyttenbach. In ihrem Werk zeichnen sie akribisch die politische Debatte ums Frauenstimmrecht seit 1848 nach, beleuchten die massgebenden Akteure sowie ihre Argumente und die Entwicklung des rechtlichen Rahmens.

Dabei zeigen sich viele überraschende und unterbeleuchtete Aspekte. Etwa, dass die Schweiz 1848 das Land mit den wohl am breitesten verteilten demokratischen Rechte in Europa war und die Diskussion über deren Ausdehnung auf die weibliche Hälfte der Bürgerschaft im gleichen Zeitraum aufkam wie in anderen Ländern des Kontinents – und sie dennoch als einer der letzten Staaten das Frauenstimmrecht einführte. Die Gründe dafür sind laut Studer und Wyttenbach vielfältig. Aufgrund der direkten Demokratie war die Hürde für die Einführung natürlich höher als in anderen Staaten. Doch es spielten auch soziale und politische Faktoren eine Rolle. So stellen die Autorinnen fest, dass im Verlauf des 20. Jahrhunderts das Frauenstimmrecht in der bürgerlichen Wählerschaft an Zuspruch gewann, während es in der nach links tendierenden Arbeiterschaft an Sukkurs verlor. Deutlich wird auch die Bedeutung der Rolle der politischen Eliten: Hätte sich der Bundesrat nicht erst Ende der 1960er Jahre klar zum Frauenstimmrecht bekannt, hätte sich dieses womöglich schon früher durchgesetzt.

Simon Geissbühler: Amerika – Die politische Idee (Stämpfli)
Europäer haben oft ein schizophrenes Verhältnis zu den USA. Zwar amüsieren wir uns gerne über die amerikanische Konsumsucht oder empören uns über die neueste Absurdität aus Washington. Zugleich übt die amerikanische Idee eine grosse Anziehungskraft auch diesseits des Atlantiks aus. Was aber ist die Essenz der amerikanischen Idee und welche Bedeutung hat sie heute? Simon Geissbühler geht in seinem Buch «Amerika. Die politische Idee» (die Selbstverständlichkeit, mit der die USA mit Amerika gleichgesetzt werden, hat vielleicht auch mit dieser Idee zu tun) diesen Fragen nach. Es ist kein wissenschaftliches Buch, sondern verbindet historische Erzählung mit persönlichen Eindrücken von Reisen und Gesprächen. Der Diplomat, der in den USA studiert und gearbeitet hat, sieht Freiheit, Individualismus, Gleichheit (der Ausgangsbedingungen, nicht der Ergebnisse) und Demokratie als Kern der amerikanischen Idee. Ihre Entstehung ist laut Geissbühler nur aus dem historischen Kontext zu erklären: aus Protestantismus und Aufklärung als geistigen Quellen, aber auch aus der Entwicklung ­einer Nation in einem kaum kontrollierten Gebiet und einer Gesellschaft ohne feudale Tradition. Interessant ist, dass auch die Kritik an den USA viel über die jeweiligen gesellschaftlichen Hintergründe aussagt. Während der Antiamerikanismus heute vor allem im linken Spektrum en vogue ist, waren es im 19. Jahrhundert vor allem Konservative, denen die radikale Auffassung von individueller Freiheit und Chancengleichheit suspekt war.

Idee und Realität klafften und klaffen in den USA immer wieder auseinander, sei es unter der Sklaverei oder in den herunter­gekommenen Industriegebieten, wo die Opioid-Krise für Stagnation und Hoffnungslosigkeit steht. Doch für Geissbühler haben die USA auch immer wieder den ­Optimismus und die Kraft zur Erneuerung bewiesen. Obwohl die amerikanische Idee in den letzten Jahren an Dynamik verloren hat, namentlich aufgrund gesellschaftlicher Spaltung und abnehmender sozialer Mobilität, mag er deshalb nicht in den Chor jener einstimmen, die den Niedergang der USA predigen. «Die Vitalität und Resilienz und der Optimismus Amerikas bleiben – trotz der realen Probleme und Herausforderungen – bewundernswert und ansteckend.»

Jürg Marcel Tiefenthal: «Vielfalt in der Einheit» am Ende? – Aktuelle Herausforderungen des schweizerischen Föderalismus (EIZ)
«Der Bund übernimmt nur die Aufgaben, welche die Kraft der Kantone übersteigen oder einer einheitlichen Regelung durch den Bund bedürfen», verlangt Artikel 43a der Bundesverfassung seit geraumer Zeit, der damit das Föderalismus- und Subsidiaritätsprinzip umschreibt. Der Bund ist verpflichtet, den Kantonen ausreichend eigene Aufgaben zu belassen und einer schleichenden Aushöhlung der kantonalen Aufgabenverantwortung entgegenzuwirken. Doch in der gelebten Praxis werden diese Maximen oft ignoriert und verletzt, wie Staatsrechtler und Bundesverwaltungsrichter Jürg Marcel Tiefenthal in seinem anschaulichen Buch mit dem aufrüttelnden Titel «‹Vielfalt in der Einheit› am Ende?» anhand vier konkreter Bereiche darlegt.

Kompetenzielle Spannungs- und Konfliktfelder, die zwischen Bund und Kantonen zunehmend akzentuiert auftreten, ortet der Autor in so unterschiedlichen Materien wie der individuellen Prämienverbilligung, der Finanzierung der höheren Berufsbildung oder der territorialen bundesstaatliche Organisation (insbesondere Fusion und Abspaltung von Kantonen). Tiefenthal, Experte für Polizei- und Sicherheitsrecht, widmet der inneren Sicherheit ein besonders ausführliches Kapitel. Denn die kantonale Polizeihoheit, eigentlich eine klassische kantonale Domäne, ist bei genauerer Betrachtung unter starkem Druck. Die Gründe hierfür sind äusserst zahlreich und vielfältig: Zentralisierung polizeilicher Aufgaben (Staatsschutz, Nachrichtendienst, Informationssysteme), das Grenzwachtkorps, «Schengen», die extensive Auslegung der Kompetenzen von Militärpolizei und Zivilschutz, die Internationalisierung der polizeilichen Zusammenarbeit bis hin zur Wahrnehmung von Sicherheitsaufgaben durch Private. Akzentuiert werde das problematische «Outsourcing» dieser fundamentalen Staatsaufgabe durch die personellen Unterbestände vieler Polizeikorps.

Nebst der Internationalisierung und der Bundespolitik, die zusehends Kompetenzen an sich ziehe, sieht Tiefenthal aber interessanterweise noch einen weiteren Treiber der kontinuierlichen Aushöhlung des Föderalismus: Die Intensivierung und Institutionalisierung der interkantonalen Zusammenarbeit während der letzten rund 25 Jahren. Interkantonale Konkordate und Konferenzen hätten die Position der Kantone eigentlich stärken sollen, doch die Regierungen hätten sich nur ungenügend für ihre ureigenen Zuständigkeiten stark gemacht. Allzu oft hätten sich die politischen Verantwortungsträger in ihren Entscheidungen von praktischen Zweckmässigkeitsüberlegungen leiten lassen oder auf opportunistische Art gehandelt. – Der Föderalismus findet nur wenige engagierte Fürsprecher in der Wissenschaft (und das kantonale Pandemie-Management dürfte hieran kaum etwas geändert haben). Tiefenthal, der nebst juristischen Argumenten auch die politisch-ökonomische Föderalismusforschung berücksichtigt, legt gerade deshalb ein wichtiges und lesenswertes Plädoyer für die Revitalisierung des Föderalismus vor.

Kilian Meyer / Oliver Herrmann / Stefan Bilger (Hrsg.): Kommentar zur Schaffhauser Verwaltungsrechtspflege (EIZ)
Das Schaffhauser Verwaltungsrechtspflegegesetz (VRG) aus dem Jahr 1971 ist ein wenig in die Jahre gekommen. Dieses «Flickwerk» regelt das Verfahren und das Formelle vor den kommunalen und kantonalen Verwaltungsbehörden – von der Schulbehörde und der Steuerverwaltung bis hin zum Regierungsrat und dem Obergericht. Um das wichtige Verfahrensrecht dennoch heutigen Rechtsuchenden näherzubringen, haben die beiden Oberrichter Kilian Meyer und Oliver Herrmann sowie Staatsschreiber Stefan Bilger erstmals einen «Kommentar zur Schaffhauser Verwaltungsrechtspflege» herausgegeben. Während entsprechende Werke in grösseren Kantonen wie Zürich, Bern oder St. Gallen längst existieren, sind sie für Kleinkantone selten. Wie üblich in Gesetzeskommentaren wird Artikel für Artikel ausführlich erläutert, manchmal die Entstehungsgeschichte skizziert, die Auslegung durch die Gerichte beschrieben, Praxisfälle dokumentiert.

In einem Kleinkanton von einiger Relevanz sind etwa die Ausstandsgründe für Behördenmitglieder. So muss jemand das Entscheidorgan zu verlassen, wenn begründete Bedenken gegen seine Unbefangenheit sprechen. Persönliche Bekanntschaft («Facebook-Freundschaft» oder Duzen), nachbarschaftliche Beziehungen, regelmässige berufliche Kontakte oder das Tragen desselben Parteibuchs genügen hierzu allerdings noch nicht. Eine «Schaffhauser Spezialität» ist die Minderheitsmeinung: Normalerweise sprechen Gerichte in der Schweiz mit einer Stimme. Am Schaffhauser Obergericht dürfen jedoch abweichende Meinungen im Entscheid wiedergegeben werden, was auch einige Male im Jahr vorkomme und für Transparenz in der Rechtsprechung sorge. – Ein besonderes, schillerndes verwaltungsrechtliches Rechtsmittel stellt die abstrakte Normenkontrolle dar. Dank ihr können Betroffene direkt beim Obergericht verlangen, ein Erlass sei zu überprüfen, ob er dem übergeordneten Recht entspreche. Hierdurch können alle Normen der Gemeinden sowie kantonale Verordnungen (nicht aber Gesetze) einer Verfassungsgerichtsbarkeit unterzogen werden.

In den «Perspektiven der Schaffhauser Verwaltungsrechtspflege» schliesslich blickt Kilian Meyer in die Zukunft und skizziert rechtspolitische Reformmöglichkeiten. So könnte das konsensuale Verwaltungshandeln gestärkt werden, indem vermehrt auch mündliche Verhandlungen durchgeführt würden. Andererseits könnte die Kommunikation von Verwaltung und Justiz verbessert werden, von der Publikation der Entscheide bis hin zu einer zugänglicheren Onlinegesetzessammlung. Einige weitere Postulate wie die Ombudsstelle als Vermittlungsstelle zwischen Bürgern und Behörden, die Meldestelle für Whistleblowing sowie die Digitalisierung der Justiz wurden bereits aufgegleist. Einzig das derzeit virulente Thema «Rechtsschutz in Krisenzeiten» wird erstaunlicherweise fast gänzlich ausgespart. – Hinsichtlich Zugänglichkeit und Transparenz beschreitet das gelungene Werk neue Wege: Als schweizweite Premiere wird erstmals ein Gesetzeskommentar nebst der gedruckten Variante auch «open access» publiziert (siehe auch: Von Ausstand bis Zustellung: Schaffhauser Verwaltungsverfahren neu kommentiert).

 

Siehe auch:

Napoleon’s Nightmare-Buchempfehlungen 2020
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2019
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2018
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2017
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2016
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2015

Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2014