(S)Wis(s)consin – wo Schweizer Pioniergeist bis heute zu spüren ist

Zwischen den USA und der Schweiz gibt es manche Ähnlichkeiten im Staatsaufbau, etwa den ausgeprägten Föderalismus oder die direkte Demokratie auf Ebene der Gliedstaaten. Ein Augenschein im Parlament von Wisconsin zeigt aber auch einige Besonderheiten – und beständigen Pioniergeist.

Ein Gastbeitrag von Rahel Freiburghaus[*]

Für rund 1600 Dollar erwarben Richter Nicklaus Dürst und Goldschmied Fridolin Streiff am 17. Juli 1845 gut fünf Quadratkilometer Landflächen am «Little Sugar River» in der Gegend um die Grossen Seen im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten.[1] Dabei handelten die beiden Kundschafter im Auftrag der Glarner Kantonsregierung: Ihnen wurde der «ehrenvolle wie schwierige Auftrag zu Theil»[2], einen Ort der Niederlassung für die Hunger leidende, verarmte Glarner Bevölkerung zu suchen. Dürst und Streiff waren in ihrer Wahl keineswegs frei; vielmehr wurden sie von der Kantonsregierung genau instruiert, «in Bezug auf Klima, Boden und allgemeine Beschaffenheit der heimathlichen möglichst ähnlich[e]»[3] Landen auszuwählen. Schliesslich sollten die Auswanderungswilligen in der Neuen Welt so weit wie möglich ihrer angestammten Lebensweise – etwa Korn- und Gemüsebau oder Viehzucht – nachgehen können; die baum- und wiesengesäumte, sanfte Hügellandschaft sollte an die zurückgelassene, ferne Heimat erinnern.

Wisconsin State Capitol, Madison/Wisconsin (Vereinigte Staaten)
Baujahr 1917
Legislatives System bikameral
Sitze 99 (State Assembly) / 33 (Senate)
Wahlsystem First Past the Post in Einerwahlkreisen
Wahlkreise 99 (State Assembly), wobei für die Wahlen in den Senat je drei «Assembly districts» zu einem Senatswahlkreis zusammengefasst werden.
Legislaturperiode 2 Jahre (State Assembly) bzw. 4 Jahre (Senate)
Parteien 2

An der «geweihten» Stätte sollten im besagten Jahr schliesslich rund 150 Glarner die Gemeinde («village») New Glarus gründen. Bis heute besticht die einstige «Swiss Colony» (John Luchsinger, 1879)[4] beziehungsweise die «Schweizer Mustersiedlung in den USA» (Walter Bosshard, 1933)[5] mit gelebter folkloristischer Tradition. Unter dem Motto «America’s Little Switzerland»[6] lassen sich Fahnenschwinget, Alphörner und Chaletarchitektur kommerziell einträglich vermarkten. Aufgrund der starken Immigration aus der Schweiz wird Wisconsin auch «Swissconsin» genannt.

Klingende Schweizer Namen und drei Gewalten unter einer Kuppel

Ein Blick auf die Namen von Unterhausabgeordneten wie Barbara Dittrich (R – Oconomowoc), Greta Neubauer (D – Racine), David Steffen (R – Green Bay), Shannon Zimmerman (R – River Falls) oder auch jenen von J. Annette Ziegler, Richterin am Wisconsin Supreme Court, belegt: Auch gut 170 Jahre nach der Gründung der «Schweizerkolonie» und knapp 150 Jahre nach dem Einzug des ersten «Neuglarner» Repräsentanten[7] gehen im Wisconsin State Capitol in Madison, der Hauptstadt des Bundestaates Wisconsin, Abgeordnete sowie Richterpersonal ein und aus, deren Namen auf eine schweizerische Herkunft schliessen lassen. Architektonisch dem «grossen Bruder» – dem zwischen 1793 und 1823 erbauten Kapitol in Washington, D.C. – nachempfunden, beherbergt das Wisconsin State Capitol unter seiner 87 Meter hohen Kuppel[8] alle drei Gewalten des Bundesstaates.

Aussenansicht des Wisconsin State Capitol aufseiten W Main St & Martin Luther King Jr Blvd. (Foto: Eigene Aufnahme)

 

Die vier Staatsgewalten («Legislation», «Government», «Justice») sowie das Volk als Urheberin aller Staatsgewalt («Liberty») wurden vom amerikanischen Künstler Kenyon Cox (1856–1919) als separate Glasmosaikkacheln mit je rund 100’000 Glasfliesen in den vier Bögen der Rotunde eingelassen. Auf die mosaikgesäumte Rotunde laufen in Madison acht Strassen radial zu.

Im Ostflügel, 1. Stock, liegen die in venezianischem Renaissance-Stil gehaltenen, vom Dogen-Palast in Venedig inspirierten Räumlichkeiten des Gouverneurs, der die Exekutive verkörpert. Aktuell hält der Demokrat Tony Evers den Posten inne; er hat seine erste vierjährige Amtszeit anfangs 2019 angetreten.[9]

Rotunde: Blick auf die Kuppel (oben) und die Glasmosaikkachel «Government», die die ausführende Staatsgewalt repräsentiert. (Foto: Eigene Aufnahme)

 

Die beiden Plenarsäle der bikameralen Legislative befinden sich im West- bzw. Südflügel des 2. Stocks.[10]

Zur Behandlung von jährlich rund 1000 Fällen tritt der Wisconsin Supreme Court – die Judikative des Bundesstaates – im 2. Stock des Ostflügels zusammen. Die sieben Richterinnen und Richter werden in direkter Volkswahl auf eine Amtszeit von 10 Jahren gewählt. Wie in 13 weiteren Staaten geht das Richterpersonal des höchsten Gerichtes des Bundesstaates in nichtparteilichen Wahlen («nonpartisan election») hervor.[11]

Assembly Chamber – der Plenarsaal des 99-köpfigen Unterhauses. (Foto: Legis Wisconsin)

Während in den USA auf nationaler Ebene keine direktdemokratischen Instrumente vorsehen, bestehen in den Bundesstaaten vielfältige Beteiligungsformen. Wie 48 weitere Bundesstaaten sieht auch die Verfassung von Wisconsin die Möglichkeit eines Parlamentsreferendums vor (Dazu kommt das insgesamt in 18 Bundesstaaten bestehende Recht auf «Recall», d.h. auf Abberufung einer gewählten Amtsträgerin beziehungsweise eines gewählten Amtsträgers.[12])

US-amerikanische Normalität…

In vielerlei Hinsicht entspricht die institutionelle Ausgestaltung der Wisconsin State Legislature der US-amerikanischen Normalität. Augenfällig ist das in den Vereinigten Staaten auch auf subnationaler Ebene dominierende Zweikammersystem (zu den Gründen siehe Infobox): Wie 49 der insgesamt 50 Bundesstaaten verfügt auch Wisconsin über ein bikamerales legislatives System.[13] Mit 99 Sitzen liegt die Grösse des Unterhauses – der «Wisconsin State Assembly» – etwas unter dem Durchschnitt von rund 108 «Representatives» pro Bundesstaat. Gleiches gilt für den 33-köpfigen «Wisconsin Senate», dem Oberhaus, das bei durchschnittlich etwa 39 «Senators» pro Bundesstaat ebenfalls eher klein bemessen ist. Auch die jeweiligen Legislaturperioden entsprechen dem gängigen Muster: Die Abgeordneten des Unterhauses sind auf zwei; jene des Oberhauses auf vier Jahre gewählt.[14]

Senate Chamber – der Plenarsaal des 33-köpfigen Senats. (Foto: Legis Wisconsin)

Ebenfalls typisch für die Vereinigten Staaten sind das (perfekte) Zweiparteiensystem sowie die Wahlkreise beziehungsweise das Wahlsystem: Wisconsin miteingeschlossen, kommt in total 40 Bundesstaaten eine einfache Mehrheitswahl zum Tragen («plurality vote»). Jeder Distrikt entsendet genau eine Abgeordnete beziehungsweise einen Abgeordneten – nämlich diejenige Person, die am meisten Stimmen erhält. Dabei dürfen die Wählenden allesamt nur eine Stimme abgeben.[15] Um sich in diesem majoritären Kontext möglichst günstige Ausgangsbedingungen zu verschaffen, liegt – wie in den USA ebenfalls üblich – Wahlkreisgeometrie («gerrymandering» beziehungsweise politisch motiviertes «redistricting») nicht weit. Die Kompetenz, die Wahldistrikte festzulegen, ist in Wisconsin und 36 weiteren Bundesstaaten denn bei der Legislative selbst angesiedelt.[16] Immer wieder führt die so vorgenommene Wahlkreiseinteilung zu Kontroversen, die juristische Streitereien nach sich ziehen.[17]

…und beständiger Pioniergeist

Bikameralismus in den US-Bundesstaaten:
Institutionelle Machtteilung statt blindes Vertrauen in die Weisheit der Einzelnen
Die Gründe für den in den USA auch auf subnationaler Ebene dominierenden Bikameralismus sind sowohl in der geschichtlichen Entwicklung als auch in der staatsphilosophischen Tradition zu suchen. Bereits vor der Verabschiedung der Verfassung der Vereinigten Staaten dominierten in den Dreizehn Kolonien Zweikammersysteme, die dem British Parliament nachempfunden waren. Während das Oberhaus («The Council») die Interessen der Krone bzw. der Besitzenden sichern sollte, waren die einfachen Siedler im Unterhaus («The Assembly») repräsentiert. Nach dem Intermezzo der Konföderationsartikel («Articles of Confederation and Perpetual Union»; 1781–1789»), die für die Dreizehn Kolonien einen unikameralen Kongress vorsahen, setzte sich im Zuge der «Constitutional Convention» (1787) der für die US-Amerikanische Verfassung prägende «checks-and-balances»-Gedanke auch bei der Ausgestaltung der nationalen Legislative durch. Dieser Staatsphilosophie lag ein tiefes Misstrauen gegenüber dem ungebremsten Machtmissbrauch der Abgeordneten zugrunde: «In a single house there is no check but the inadequate one of the virtue and good sense of those who compose it»[20], wurde in den Verhandlungen über die US-Amerikanische Verfassung im Rahmen der «Constitutional Convention» geltend gemacht. Die Ansicht, dass die Macht innerhalb der Legislative institutionell – d.h. durch zwei unabhängige, sich gegenseitig kontrollierende Kammern – und nicht personengebunden – d.h. durch (blindes) Vertrauen in die Fähigkeit beziehungsweise Bereitschaft der einzelnen Abgeordneten, weitsichtige, nicht bloss eigennützige Entscheidungen zu treffen – sollte sich auch in den Bundesstaaten durchsetzen.[21]

Die Legislative von Wisconsin gleicht also in vielen Aspekten jenen anderer US-Gliedstaaten. Allerdings war der «Badger State» («Dachs-Staat»), der auch als «America’s Dairyland» («Amerikas Molkereiland») bekannt ist, in der Geschichte auch wiederholt ein staatspolitischer Vorreiter. Zwei Belange illustrieren den beständigen und im Staatsmotto «Forward» angelegten Pioniergeist Wisconsins.

So führte die Wisconsin State Assembly bereits im Jahre 1917 – als erstes Unterhaus weltweit! – ein elektrisches Abstimmungsgerät ein (auch: Wahlmaschine; «electric voting machine»). Es folgten Texas (1919) und Virginia (1923), womit eine Entwicklung ihren Lauf nahm, die erst 1996 (Wyoming) einen vorläufigen Abschluss finden sollte. 1939 musste das ursprüngliche System Wisconsins durch zwei Stimmtafeln ersetzt werden, ehe ab 1975 schliesslich eine computergestützte Lösung angewandt wurde. Das heutige Auszählungssystem wurde 1999 installiert; es bietet unter anderem in Echtzeit internetbasierten Zugriff auf das Stimmverhalten der Abgeordneten.[18]

Auch bei der Umsetzung des Frauenwahlrechts ging Wisconsin voran. Als erster Bundesstaat stimmte die Wisconsin State Legislature am 10. Juni 1919 dem «19th Amendment» der US-Amerikanischen Verfassung zu (so genannte Ratifizierung). Der besagte Zusatzartikel verbat es der Bundesregierung und den Bundesstaaten der Vereinigten Staaten explizit, US-Bürgerinnen und US-Bürgern das Wahlrecht aufgrund des biologischen Geschlechts («on account of sex») zu versagen. Obwohl die Opposition gegenüber dem Frauenwahlrecht gerade bei den Demokraten in den Südstaaten gross war, folgten in regelmässigen Abstand weitere Bundesstaaten dem wegweisenden Beispiel Wisconsins, so dass das für die Verfassungsänderung damals nötige Quorum von 36 ratifizierenden Bundesstaaten im August 1920 dank Tennessee erreicht wurde. So wurde die Präsidentschaftswahl von 1920 die erste Wahl, bei der Frauen in allen Gliedstaaten teilnahmeberechtigt waren.[19]

Und wer weiss, vielleicht haben diese Innovationen auch etwas mit dem Pioniergeist jener zu tun, welche in (S)Wis(s)consin die ersten schweizerischen Siedlungen in der Neuen Welt gegründet haben.

 

Dieser Gastbeitrag ist Teil der Serie «Parliamenthopping», in der Napoleon’s Nightmare Parlamente rund um die Welt porträtiert.

 


[*] Rahel Freiburghaus arbeitet seit Juni 2018 als Assistentin und Doktorandin am Lehrstuhl für Schweizer Politik von Prof. Adrian Vatter an der Universität Bern. In ihrem Dissertationsvorhaben befasst sie sich mit subnationaler Interessenvertretung in der Schweiz. Zuvor absolvierte sie ihr Masterstudium in Schweizer und vergleichender Politik und arbeitete von September 2014 bis Mai 2018 als Hilfsassistentin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern.

[1] Seit dem 29. Mai 1848 ist Wisconsin als 30. Bundesstaat Teil der Union.

[2] Hense-Jensen, Wilhelm und Ernest Bruncken (1902). Wisconsin’s Deutsch-Amerikaner bis zum Schluss des neunzehnten Jahrhunderts (Bd. 1). Milwaukee, WI: Verlage der Deutschen Gesellschaft. S. 43.

[3] Hense-Jensen/Bruncken, S. 43.

[4] Luchsinger, John (1892). The Planting of the Swiss Colony at New Glarus, WI. Madison, WI: State Historical Society of Wisconsin. Volltext: https://archive.org/details/plantingofswissc00luch/page/n2.

[5] Bosshard, Walter (1933). «New Glarus: die Schweizer Mustersiedlung in den U.S.A». Zürcher Illustrierte 9(26): 820–821.

[6] Die Losung «America’s Little Switzerland» findet sich auf dem offiziellen Tourismusauftritt von New Glarus: https://www.swisstown.com.

[7] Es handelte sich um den im Kanton Glarus geborenen John Luchsinger (1839–1922), der 1872 in die «Wisconsin State Assembly» gewählt wurde (vgl. https://www.swisshistoricalvillage.org/new-glarus-history-timeline).

[8] Inklusive der 4.7m hohen Statue namens «Wisconsin» des US-amerikanischen Bildhauers Daniel Chester French (1850–1931), die auf der Kuppel thront.

[9] Wisconsin Constitution, Article V. Executive.

[10] Wisconsin Constitution, Article IV. Legislative.

[11] Auch die Supreme Courts der Bundesstaaten Arkansas, Georgia, Idaho, Kentucky, Michigan, Minnesota, Mississippi, Montana, Nevada, North Dakota, Ohio, Oregon und Washington werden in «nonpartisan elections» bestellt. Eine Übersichtstabelle findet sich unter: https://ballotpedia.org/State_supreme_courts. Für Details zur Judikative vgl. Wisconsin Constitution, Article VII. Judiciary.

[12] Wisconsin Constitution, Article XII. Amendments (Section 2) bzw. Wisconsin Constitution, Article XIII. Miscellaneous Provisions (Section 12). Für eine Übersichtstabelle über die direktdemokratischen Instrumente in den 50 Bundesstaaten vgl. https://ballotpedia.org/Forms_of_direct_democracy_in_the_American_states.

[13] Einzig Nebraska verfügt über ein unikamerales Parlament (vgl. Nebraska Constitution, Art. III. Legislative authority (Section 1)).

[14] Sämtliche Zahlen zu den Sitzzahlen und den Amtsperioden in den 50 Bundesstaaten wurden der Zusammenstellung der «National Conference of State Legislatures» (NCSL) entnommen: http://www.ncsl.org/research/about-state-legislatures/number-of-legislators-and-length-of-terms.aspx.

[15] Erläuterungen und eine Übersicht über die in den 50 Bundesstaaten bei «state-level elections» zur Anwendung kommenden Wahlsysteme finden sich unter https://ballotpedia.org/Electoral_system.

[16] Wisconsin Constitution, Article IV. Legislative (Section 3).

[17] Für eine aktuelle Zusammenstellung über die hängigen Fälle vgl. https://ballotpedia.org/Redistricting_in_Wisconsin.

[18] NCSL (n.a.). «Roll Call Voting Machines and Practices». http://www.ncsl.org/documents/legismgt/ILP/96Tab5Pt3.pdf.

[19] National Park Service (2019). «Wisconsin and the 19th Amendment». https://www.nps.gov/articles/wisconsin-women-s-history.htm.

[20] Zitiert nach: Barnett, James D. (1915). «The Bicameral System in State Legislation». American Political Science Review 9(3): 449–466 (S. 455).

[21] Barnett (a. a. O.), passim bzw. Moschos, Demitrios M. und David L. Katsky (1965). «Unicameralism and Bicameralism: History and Tradition». Boston University Law Review 45(1): 250–270.

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