Funktioniert der Doppelproporz auch im Berner Jura?

Der Berner Regierungsrat meint, das faire doppeltproportionale Wahlverfahren funktioniere in Bern nicht gut – aufgrund der 12 Garantiesitze für den Berner Jura. Die exekutive Abwehrhaltung erweist sich jedoch als unbegründet.[1]

In der am kommenden Montag startenden Januarsession wird sich der Berner Grosse Rat über die Frage beugen, ob sein kantonales Wahlsystem reformiert werden soll. Zur Debatte steht eine Motion «Proporzgerechtigkeit bei Grossratswahlen» der beiden EVP-Grossräte Steiner-Brütsch und Löffel-Wenger. Sie verlangen, das doppeltproportionale Zuteilungsverfahren einzuführen, wie dies in den letzten Jahren bereits diverse Kantone (ZH, AG, SH, NW, ZG) taten und wohl demnächst noch einige (SZ und VS) dazustossen werden.

Die Motionäre fassen ihre Motivation wie folgt zusammen: «Das aktuell angewandte Sitzzuteilungsverfahren nach Hagenbach-Bischoff kann aus Sicht der Proporzgerechtigkeit gerade in kleineren Wahlkreisen zu verfälschten Ergebnissen führen.» Zu präzisieren ist sodann, dass die erwähnten Verfälschung stets zulasten der kleineren Gruppierungen und somit zugunsten der Grossparteien gehen. Politikwissenschafter Daniel Bochsler spricht gar von einer «Kopfsteuer», welche den Grossparteien zu entrichten ist – in Form von Sitzen.

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Die unfairen Verzerrungen zugunsten der grösseren Listen spielen auch innerhalb von Parteien – hier die SVP-Listen-verbindung im Wahlkreis «Biel/Bienne – Seeland».

Anhand der Resultate der Berner Grossratswahlen 2014 lässt sich diese Begünstigung eindrücklich veranschaulichen: Im Wahlkreis Biel/Bienne – Seeland wurden der SVP total acht Sitze zugewiesen. Da jener Wahlkreis, wie sein Name verlauten lässt, jedoch aus zwei benachbarten Verwaltungskreisen besteht, schlossen sich hier zwei SVP-Sektionen durch eine (Unter-)Listenverbindung zusammen. Die acht Sitze mussten daher noch auf die beiden Listen SVP Biel/Bienne beziehungsweise SVP Seeland weiterverteilt werden. Ein einfaches Spiel, sollte man meinen, kamen ersterer Sektion doch knapp 50’000 Stimmen zu, der zweiteren gut 180’000, also etwa 3.5-mal so viel. Die Sitze wurden indes – dank Hagenbach-Bischoff – im Verhältnis 1 zu 7 verteilt. Innerhalb der Volkspartei klauten dadurch die «grossen Seeländer» den «kleinen Bielern» einen Sitz.

Tückische bernjurassische Sitzgarantie

Selbst der Regierungsrat gibt in Beantwortung der Motion zu, dass «das Verfahren tendenziell grössere Parteien bevorzugt». Einer Wahlreform widersetzt er sich jedoch. Abgesehen von den üblichen Gegenargumenten («braucht Computer», «mit aktuellem Verfahren nur gute Erfahrungen gemacht») weist er auf einen bedenkenswerten Punkt hin: Gemäss Bevölkerung hätte der Wahlkreis Berner Jura eigentlich lediglich acht Sitze zugute. Die Verfassung weist dem französischsprachigen Arrondissement im Sinne eines Minderheitenschutzes jedoch gleich zwölf Parlamentssitze zu – also 50 Prozent mehr Sitze.

Würde nun der Berner Jura in einen kantonsweiten Doppelproporz eingebettet, so hätten tendenziell Parteien das Nachsehen, die exklusiv nur im Berner Jura antreten, etwa die Parti socialiste autonome (PSA). Holt die PSA heute 25 Prozent der Stimmen, so kann sie auch auf 25 Prozent der zwölf Sitze zählen, also auf deren drei. Innerhalb einer gesamtkantonalen Zuteilung sähe es jedoch anders aus: Die 25 Prozent PSA-Wähler werden in der Oberzuteilung um etwa 33 Prozent marginalisiert. Dies deshalb, weil für die zwölf Berner Jura-Sitze gewissermassen «zu wenig Leute wählen». In den gesamtkantonalen Topf flössen schliesslich total nur grob so viele Stimmen aus dem Berner Jura ein, als hätte es Wähler für grob acht Sitze. Denn die Wähler haben sich durch die Begünstigung ja nicht vermehrt, «nur» die zugeteilten (zwölf) Sitze. Daher erhielte die PSA in diesem Fall wahrscheinlich nur noch zwei (statt drei) Mandate.[2]

Nichtsdestotrotz besteht kein Grund für wahlrechtlichen Defätismus, wie ihn die Regierung übt. Drei Varianten, wie das doppeltproportionale Zuteilungsverfahren auch im Kanton Bern eingeführt werden könnte:

 

Variante 1: Doppelproporz mit ausgeglichenen Wählerzahlen für Berner Jura

Der Berner Jura ist, wie gezeigt, derzeit um 50 Prozent begünstigt. Dieser «Bonus» betrifft primär die Repräsentationsgleichheit, weil nicht acht, sondern gleich deren zwölf Grossrätinnen und Grossräte den Jura bernois geografisch repräsentieren. Doch darauf fussend ist heute auch die Erfolgswertgleichheit «verzerrt»: Bernjurassier haben (50 Prozent) mehr zu sagen als etwa Emmentaler, wie der 160-köpfige Berner Grosse Rat parteilich zusammengesetzt sein soll.

Soll nun der Berner Jura in eine gesamtkantonale Oberzuteilung eingebunden werden und will man an der geltenden Begünstigung der Repräsentations- und Erfolgswertgleichheit festhalten, so braucht es eine kleine Anpassung. Die bernjurassischen Wählerzahlen müssen hierbei mit einem Faktor von annäherungsweise p = 12 Sitze[effektiv] / 8 Sitze[gem. Bevölkerung] = 1.5 multipliziert werden.[3] Die Stimmen werden hierbei sozusagen den überproportionalen zwölf Sitzen angepasst. So wie es heute, wenngleich «unsichtbar», ebenso der Fall ist. Der Berner Grosse Rat sähe in dieser Variante wie folgt aus:

BE 2014 Biproporz (inkl. Ausgleich JuraBE)

Im Wahlkreis Berner Jura hätte also – trotz Ausgleich – die Parti socialiste autonome einen Sitz (neu: 2) abgeben müssen. Dieser wäre jedoch an die befreundete Liste La Gauche gegangen, mit welcher die PSA derzeit eine Listenverbindung unterhält und somit von den Stimmen der Linken profitieren konnte.

Die Vorteile dieser Variante stellen insbesondere die weitestgehend proportionale Abbildung der bernjurassischen Wählerstimmen auf die zwölf Sitze des Berner Juras dar. Zudem wird ein Traditionsanschluss hinsichtlich der «positiv diskriminierenden» Erfolgswert(un)gleichheit für ebendiese Minorität erreicht.

Als Nachteil könnte hervorgebracht werden, der Ausgleichsfaktor p sei kasuistisch und müsse vor jeder Wahl neu festgelegt werden. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass ohnehin vor jeder Wahl die 160 Grossratssitze von neuem auf die neun Wahlkreise verteilt werden müssen.[4] Und dass ursprünglich nicht der Ausgleichsfaktor p willkürlich ist, sondern – wenngleich politisch legitim – die statisch-diskretionäre Anzahl von zwölf bernjurassischen Sitzen in der Berner Verfassung.

 

Variante 2: Doppelproporz (ohne Repräsentations/Erfolgswert-Ausgleich)

Eine zweite Variante bestünde darin – trotz den Eingangs erwähnten Bedenken –, den Berner Jura ohne den oben eingeführten Repräsentations/Erfolgswert-Ausgleich in den Doppelproporz einzubeziehen. Die demokratietheoretische Begründung dahinter: Der Berner Jura ist bereits durch die überproportional zugeteilte Sitzzahl (zwölf statt acht) begünstigt; die intendierte geografische Repräsentation ist dabei gesichert. Dieser Einbruch in die Stimmkraftgleichheit ist gewollt und durchaus gerechtfertigt.

Doch muss hierauf zwingend gefolgert werden, dass für diesen Wahlkreis auch noch die Erfolgswertgleichheit ebenso stark (plus ungefähr 50 Prozent) verzerrt wird? Nicht zwingend. Man kann durchaus argumentieren, die parteipolitische Sitzverteilung des Grossen Rates soll dem gleichberechtigten gesamtkantonalen Willen gehorchen. Mit anderen Worten: Die Bernjurassier sollen zwar weiterhin mit 12 Grossräten vertreten sein. Bei der Frage, wie stark der (gesamte) Grossrat links oder rechts, liberal oder konservativ zu besetzen ist, sollen wiederum alle Berner genau gleich stark partizipieren. Hier sähe die Mandatsverteilung folgendermassen aus:

BE 2014 Biproporz

Hier tritt nun der prognostizierte Fall ein, dass Parteien, die exklusiv im Berner Jura antreten (PSA) oder zumindest dort verhältnismässig stark sind (PdA / La Gauche), Federn lassen müssen. Weil ihr vergleichsweise «kleines» Elektorat hier nicht mehr gegenüber der künstlich vergrössterten Sitzzahl «aufgebläht» wird.

 

Variante 3: Unabhängiger, separater Wahlkreis Jura bernois

Letztlich könnte der Berner Jura aber auch – wie bisher – separat und unabhängig vom Restkanton seine zwölf Vertreter wählen. Der Doppelproporz würde dabei einfach über die anderen acht Wahlkreise laufen. Dies ist problemlos möglich, da ein Doppelproporz nicht zwingend das gesamte Wahlgebiet umfassen muss. Im Kanton Wallis wird derzeit sogar über einen «dreifachen Doppelproporz» debattiert, also drei parallele Regionen, in denen jeweils via Doppelproporz gewählt werden soll.

Der Doppelproporz über den «restlichen» Kanton Bern, ohne Jura bernois, sähe vorab so aus…

BE 2014 Biproporz (ohne JuraBE)

…während im Berner Jura aus Kohärenzgründen die separate Auswertung mittels Divisorverfahren mit Standardrundung ermittelt werden sollte.[5] Hierbei würden auch in diesem separaten Wahlkreis alle Parteien, egal ob gross oder klein, gleich behandelt. Dabei stellt sich bloss noch die Frage, ob Listenverbindungen weiterhin erlaubt sein sollen oder nicht. Im Folgenden sind beide Möglichkeiten dargestellt:

BE 2014 JuraBE separat

Die Vorteile liegen auf der Hand: Die separate Auswertung des Berner Juras ist relativ simpel und knüpft weitestgehend am heutigen System an. Da in diesem Wahlkreis immerhin zwölf Sitze zu vergeben wären, würde doch noch ein einigermassen akzeptables natürliches Quorum resultieren – also die Mindesthürde für eine Partei, um wenigstens ein Mandat zu ergattern.

Als nachteilig könnte hervorgebracht werden, dass hier Kleinparteien (insbesondere falls keine Listenverbindungen erlaubt würden) leer ausgehen beziehungsweise ihre nicht-verwertete Stimmen (z.B. für die GLP oder die EDU) wirkungslos verpuffen. Da sie hier nicht in die gesamtkantonale Oberzuteilung einfliessen.

 

Schlussbemerkungen und Übersicht:

Prima vista erscheint die Variante 3 («Jura bernois separat») am einfachsten. Was sie wohl auch ist. Nichtsdestotrotz flüchtet man sich bei dieser Variante ein wenig vor der Diskussion über die Legitimation und Funktion der Bernjurassier Sonderregel, beziehungsweise davor, wie diese Minorität adäquat in den Doppelproporz eingebettet werden kann.

Dieser Minderheitenschutz, respektive seine konkrete Ausgestaltung ist letztlich nicht in Stein gemeisselt; die Politik, die entsprechende Region und schliesslich etwaig der Souverän sollen durchaus periodisch über diesen Sitzanspruch debattieren dürfen, was ihm letztendlich zur Legitimation gereicht.[6] Bei der Beantwortung dieser Frage kann man mit guten Gründen sowohl zur Variante 1 oder 2 gelangen, die in der Praxis ohnehin sehr ähnlich ausfallen:[7]

Übersicht Doppelproporz BE 2014

 


[1] Der Autor dankt Daniel Bochsler, Andrea Töndury und Lukas Leuzinger für ihre Kommentare.

[2] Es wird hier davon ausgegangen, dass die Wahlbeteiligung im Berner Jura nicht wesentlich von derjenigen im restlichen Wahlgebiet abweicht (Wahlbeteiligung 2014: Berner Jura 33 %; ganzer Kanton Bern 32 %).

[3] Die exakte Formel des Faktors p für den Repräsentations/Erfolgswert-Ausgleich lautet

Formel pJuraBE

, wobei bedeuten: GR_SitzeJuraBE die effektiv zugewiesenen Grossratssitze für den Wahlkreis Berner Jura (= 12); GR_SitzeKtBern die totale Anzahl Grossratssitze (= 160); Bevoelk.KtBern die Einwohnerzahl des gesamten Kantons Bern (= 985’046); Bevoelk.JuraBE die Einwohnerzahl des Wahlkreises Berner Jura (= 51’796). Die massgeblichen Einwohnerzahlen wurden dem Regierungsratsbeschluss über die Verteilung der Mandate auf die Wahlkreise für die Grossratswahlen vom 30. März 2014 entnommen.

[4] Artikel 64 des Gesetzes vom 5. Juni 2012 über die politischen Rechte (PRG). Vgl. dabei auch die Spezialregel in Art. 64 Abs. 3 für den zweisprachigen Wahlkreis Biel-Seeland, welche «der französischsprachigen Bevölkerung so viele Mandate garantiert, wie es ihrem prozentualen Anteil an der Gesamtbevölkerung des Wahlkreises entspricht».

[5] Das Divisorverfahren mit Standardrundung findet auch innerhalb des doppeltproportionalen Zuteilungsverfahrens (sowohl Oberzuteilung wie auch Unterzuteilung) Anwendung. Darüber hinaus wählt der Kanton Basel-Stadt sein Parlament mit dieser Methode («Sainte-Laguë»).

[6] Wenngleich die derzeitige Regelung noch nicht sehr lange in die Verfassung des Kantons Bern aufgenommen wurde: Der entsprechende Art. 73 Abs. 3 KV/BE wurde mit Volksabstimmung vom 22. September 2002 im Rahmen der Reduktion des Grossen Rates von 200 auf 160 Sitze angenommen.

[7] Beachtenswert ist letztlich noch, dass im Kanton Bern Listenverbindungen (und Unterlistenverbindung) erlaubt sind, die rege genutzt werden. Insbesondere die einparteiigen Listenverbindungen sollten auch im Doppelproporz erlaubt bleiben (was technisch problemlos möglich ist). Hierbei könnte auch die Sitzgarantie für den zweisprachigen Wahlkreis Biel-Seeland, welche «der französischsprachigen Bevölkerung so viele Mandate garantiert, wie es ihrem prozentualen Anteil an der Gesamtbevölkerung des Wahlkreises entspricht» (derzeit: drei), aufrecht erhalten werden.

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