Die Permeabilität kantonaler Wahlsysteme – oder: wenn Zürcher einfacher Nationalrat als Kantonsrat werden

Was ist einfacher: einen Kantonsrat zu stellen oder einen Nationalrat? Insbesondere für Zürich und einige weitere Kantone mag die Antwort verblüffen. Und irritieren.[1]

Naheliegenderweise würde man meinen, es sei für eine kleinere Partei einfacher, einen Vertreter ins lokale Kantonsparlament zu hieven, als gleich ins Bundesparlament einzuziehen. Schliesslich sind die hiesigen Kantonsparlamente und «Grands Conseils» um ein Vielfaches grösser als die Anzahl Nationalräte, die der jeweilige Kanton stellt.

Zürich beispielsweise beordert neuerdings 35 Volksvertreter nach Bern;[2] sein Kantonsrat umfasst ganze 180 Sitze. Der kleine Nachbarkanton Zug wiederum stellt bloss 3 Nationalräte, während sein Kantonsrat aus 80 Sitzen besteht. Doch erstaunlicherweise trifft nun die einleitend gemachte These gerade nicht zu, in beiden Kantonen sei es einfacher Kantonsrat zu werden als Nationalrat. In Zug kann das Wahlsystem als durchlässig bezeichnet werden, da für eine Partei der Einzug ins Kantonsparlament viel einfacher ist (Quorum: 3 %) als in den Nationalrat (25 %).

In Zürich indes – obschon hier grundsätzlich im gleichen System wie in Zug gewählt wird: im Doppelproporz[3] – herrscht eine paradoxe Situation vor: Will eine kleinere, im Kanton gleichmässig verteilte Partei[4] gesetzgeberisch aktiv werden, so wird sie sich eher um ein Nationalratsmandat bemühen (Quorum: 2.8 %) als um den Einzug in den Kantonsrat (5 %).

Durchlässige Wahlsysteme durch kaskadierende Quoren

Kantonale Wahlsysteme sollten jedoch aus Sicht der darüber liegenden Staatsebene, hier der Nationalratswahl, stets durchlässig sein. Das Kriterium der Permeabilität vergleicht daher die zwei Mindesthürden der beiden kongruenten Wahlgebiete: für die Wahl des Kantonsrats einerseits und diejenige des Nationalrats andererseits. Hierfür wird jeder Wahlkreis (des Kantonsrats) betrachtet und sein effektives Quorum berechnet.

Das effektive Quorum vergleicht das natürliche Quorum des jeweiligen Wahlkreises (abhängig von der Anzahl Sitze) mit einem eventuell vorhandenen direkten Quorum (Mindestquorum/Sperrquorum). Die schwieriger zu erreichende dieser beiden Hürden – also die höhere – entspricht sodann dem tatsächlichen, oder eben, dem effektiven Quorum dieses Wahlkreises.

Ein kantonales Wahlsystem kann nun genau dann als permeabel bezeichnet werden, wenn das effektive Quorum in keinem Kantonsrats-Wahlkreis höher liegt als das jeweilige natürliche Quorum für den Nationalrat. Um also für einen Kanton das Permeabilitätskriterium zu testen, betrachte man das effektive Quorum des kleinsten Wahlkreises. Schliesslich ist es dort am schwierigsten, ein Kantonsratsmandat zu erlangen. Und somit muss dort das maximale effektive Quorum des Kantons liegen:QuorumMaxEffOder, mit anderen Worten: Es soll in keinem Wahlkreis schwieriger sein, Kantonsrat zu werden als Nationalrat. Nicht nur, weil der Nationalrat eine Staatsebene höher angesiedelt ist als ein Kantonsrat und daher an ersteren höhere Hürden zu stellen sind. Sondern vor allem deshalb, weil in jedem Kanton um ein Vielfaches mehr Kantonsräte gewählt werden als Nationalräte. Daher erscheint es inkohärent, wenn den Parteien (künstlich!) höhere Hürden in den Weg gelegt werden, um in das lokale Parlament einzuziehen als in die nationale Volksvertretung. Quoren sollten also (von unten nach oben) kaskadierend ausgetaltet sein.

Denn erlangt eine kleinere Partei, wie etwa eine EVP-, BDP- oder GLP-Sektion, in einem Kanton ein Nationalratsmandat, so sollte diese Gruppierung auch mindestens die gleichen Chancen, mithin die wahlarithmetische Garantie haben, auch in die darunter liegende Legislative einziehen zu können. Falls sie – dies ist natürlich die Prämisse – bei den Kantonsratswahlen auf den mindestens gleichen Wähleranteil gelangt.

Acht Kantone verletzen Kriterium der Permeabilität

Schliesslich ist es den lokalen Parteien und politischen Gruppierungen gegenüber nicht korrekt, ja geradezu unverhältnismässig, wenn sie sich in gewissen Gebietskörperschaften konstituieren und engagieren müssen, lediglich um an den Nationalratswahlen teilnehmen zu können, ihnen aber die lokale Partizipation wahlrechtlich verwehrt, immerhin aber teilweise stark erschwert wird.

Ironischerweise verfügt gerade Zürich nicht nur über die grösste Anzahl Nationalräte, sondern ebenso über das grösste kantonale Parlament der Schweiz.[5] Damit fiele eigentlich das natürliche Quorum (aufgrund des virtuellen Einheitswahlkreises des Doppelproporzes, der Oberzuteilung) auf sehr tiefe 0.55 Prozent (= 1/[180+1]). Doch diese niederschwellige Hürde wurde wiederum mit einer verhältnismässig hohen Sperrquote von fünf Prozent vereitelt. Daher, um obige Formel auf Zürich anzuwenden, ergibt sich hier für das maximale effektive Quorum,QuorumMaxEffZHwährend für die Wahl in den Nationalrat bereits ein halb so grosser Wähleranteil von bloss 2.8 Prozent (= 1/[35+1]) genügt.

Die folgende Tabelle prüft nun das Kriterium der Permeabilität für alle kantonalen Wahlsysteme gegenüber der Nationalratswahl. Ist das maximale effektive Quorum (für den Kantonsrat) nicht höher als das natürliche Quorum für den Nationalrat, so ist diese Bedingung erfüllt (siehe letzte Spalte). Im Kanton Schwyz beispielsweise ist dies erfüllt, da eine Partei viel einfacher in den Kantonsrat ziehen wird (Quorum: 1 %) als in den Nationalrat (20 %). – Acht Kantone sind indes als nicht-permeabel zu bezeichnen, da ihre Quoren nicht kaskadieren:

Nationalrat (NR) Kantonsparlament (KR)
Kanton Sitze NR natürliches Quorum NR direktes Quorum KR kleinster Wahlkreis KR max. effektives Quorum KR Permea-bilität erfüllt?
Schwyz 4 20.0 % 1 % 100 1.0 % ja
Tessin 8 11.1 % 90 1.1 % ja
Nidwalden 1 50.0 % 60 1.6 % ja
Schaffhausen 2 33.3 % 60 1.6 % ja
Aargau 16 5.9 % 3 % 140 3.0 % ja
Zug 3 25.0 % 3 % 80 3.0 % ja
Thurgau 6 14.3 % 22 4.3 % ja
Luzern 10 9.1 % 21 4.5 % ja
Basel-Landschaft 7 12.5 % 17 5.6 % ja
Glarus 1 50.0 % 15 6.3 % ja
Genf 11 8.3 % 7 % 100 7.0 % ja
Solothurn 6 14.3 % 13 7.1 % ja
Jura 2 33.3 % 10 9.1 % ja
Neuenburg 4 20.0 % 10 % 8 11.1 % ja
Obwalden 1 50.0 % 4 20.0 % ja
Appenzell AI 1 50.0 % 1 50.0 % ja
Appenzell AR 1 50.0 % 1 50.0 % ja
Uri 1 50.0 % 1 50.0 % ja
Zürich 35 2.8 % 5 % 180 5.0 % nein
Bern 25 3.8 % 12 7.7 % nein
St. Gallen 12 7.7 % 9 10.0 % nein
Waadt 18 5.3 % 5 % 8 11.1 % nein
Freiburg 7 12.5 % 6 14.3 % nein
Wallis 8 11.1 % 8 % 2 33.3 % nein
Basel-Stadt 5 16.7 % 4 % 1 50.0 % nein
Graubünden 5 16.7 % 1 50.0 % nein

 

Von den acht Kantonen, dessen Wahlsysteme als nicht-permeabel bezeichnet werden müssen, sind derzeit Freiburg und Wallis daran, ihr Wahlrecht zu überarbeiten. Und in St. Gallen immerhin liegt das maximale effektive Quorum von 10.0 Prozent nicht sehr viel höher als die 7.7 Prozent für den Nationalrat.

Doch gerade hinter die künstlichen Hürden in den Kantonen Zürich, Bern, Waadt, Basel-Stadt und Graubünden, welche die jeweiligen natürlichen Quoren für die Nationalratswahl weit, ja gar um ein Vielfaches übersteigen, muss ein grosses Fragezeichen gesetzt werden. Symptomatisch seien hier etwa die Grünliberalen in Graubünden erwähnt: Zwar stellen sie mit Josias Gasser einen Nationalrat (von nur deren fünf). Doch im 120-köpfigen Bündner Grossen Rat stellt die GLP bloss zwei Parlamentarier (je einen aus den grösseren Wahlkreisen Chur und Davos), die somit nicht einmal Fraktionsstärke aufweisen. «Schuld» daran ist nicht die GLP – sondern das anachronistische Majorz-Wahlsystem, das selbst Parteien, die einen Nationalrat stellen, stark dezimiert.

Verletzt ein kantonales Wahlsystem das Permeabilitätskriterium, so tangiert dies schliesslich nicht nur die Partei, sondern ist auch aus Sicht der Wählerinnen und Wähler stossend: Denn hier ist das Elektorat gezwungen, die paradoxe Überlegung zu machen, ob tatsächlich eine Partei unterstützt werden soll, die zwar im Nationalrat vertreten ist, deren Chancen «zu Hause» aber womöglich minim bis aussichtslos sind. – Um das Bündner Beispiel wiederaufzugreifen: Ein Wähler kann zwar aussichtsreich die GLP-Nationalratsliste einwerfen, kaum jedoch diesselbe Partei bei den Grossratswahlen unterstützen (ausser er wohnt zufällig in Chur oder Davos).

Hors-sol-Nationalräte ohne lokales Biotop

Wahlsysteme, welche dieses Durchlässigkeitsprinzip verletzen, sind aber auch für die gewählten Repräsentanten, die Nationalräte, unbefriedigend. Letztere bedürfen doch eines lokalen, soziopolitischen Biotops, welches nun einmal kaum hinreichend gegeben ist, wenn die Partei des entsprechenden Nationalrats nicht einmal im «eigenen» Kantonsrat vertreten ist. Ein «Heimspiel vor leeren Rängen» sollte nicht leichtfertig hingenommen, und schon gar nicht wahlrechtlich – insbesondere durch kleinräumige Wahlkreiseinteilung, fehlendem wahlkreisübergreifenden Ausgleich und Sperrquoten – forciert werden.

Zwar sind die Kantone in der Ausgestaltung ihrer Wahlsysteme weitgehend frei.[6] Nichtsdestotrotz lässt sich das Erfordernis eines permeablen Wahlsystems durchaus auch bundesverfassungsrechtlich untermauern durch:

  • die Chancengleichheit (Art. 2 Abs. 3 BV);
  • das Verhältnismässigkeitsprinzip (Art. 5 Abs. 2 und 9 BV);
  • das Subsidiaritätsprinzip, das auch von Parteien verlangt, auf allen Staatsebenen, beziehungsweise auf der adäquaten Stufe präsent zu sein (Art. 5a i. V. m. Art. 137 BV);
  • die Rechtsgleichheit (Art. 8 Abs. 1 BV) und die sich daraus konkretisierende
  • Wahlrechtsgleichheit (Art. 34 und 136 BV);
  • das Demokratieprinzip (Art. 34 i. V. m. Art. 51 Abs. 1 BV);
  • die Mitwirkungspflicht der Kantone (und somit darauf fussend der kantonalen Parteien), insbesondere an der (nationalen) Rechtsetzung (Art. 45 i. V. m. Art. 137 BV);
  • die Mitwirkungspflicht der Parteien, welche die nationale wie auch kantonale Ebene beschlägt (Art. 137 BV; vgl. Überschrift des 4. Titels: «Volk und Stände»); und zuletzt
  • die Beziehungspflege zwischen Bund und Kantonen (Art. 172 Abs. 1 und 186 Abs. 1 BV).

 

Im 19. Jahrhundert bereits bezeichnete Alexis de Tocqueville «die Gemeinden als Schule der Demokratie». Genau dieses subsidiäre und stufengerechte Kaskadenprinzip wird durch nicht-permeable Wahlsysteme unterminiert. Den Vertretern von Kleinparteien wird in den genannten Kantonen sozusagen der Zugang zur «demokratischen Grundschule» erschwert bis verwehrt – sie müssen sich stattdessen gleich direkt an der «Universität immatrikulieren».

 


[1] Der Autor dankt Lukas Leuzinger, Daniel Bochsler und Andrea Töndury für ihre wertvollen und kritischen Kommentare. Der Beitrag gibt nur die Meinung des Autors wieder.

[2] Siehe zur neuen Verteilung der Nationalratssitze: Wieso Aargau, Wallis und Zürich 2015 mehr Nationalräte bekommen.

[3] Vgl. zum doppeltproportionalen Zuteilungsverfahren (Doppelproporz): Doppelproporz Schwyz: «Kuckuckskinder» nicht im Sinne der Erfinder; Funktioniert der Doppelproporz auch im Berner Jura?; Die Verlierer von heute sind die Gewinner von morgen und Neues Wahlsystem in Nidwalden: Die SVP büsst ihre Übervertretung ein; Zuger Kantonsrat nach «Lausanne»: Kommt es nun zum Erdrutsch?; «Die Wähler reagieren sehr sensibel auf das Wahlsystem» (Interview Friedrich Pukelsheim); Wenn der Proporz nicht proportional ist – oder: Eine Ode an Pukelsheim.

[4] Ist eine Partei eher ungleichmässig verteilt, ja stellt sie im einen oder anderen Wahlkreis sogar eine «Hochburg», so wird sie dennoch eher im entsprechenden Wahlkreis das 5%-Quorum erreichen als gesamtkantonal das natürliche Quorum für ein Nationalratsmandat. Dies dürfte in Zürich insbesondere für die Parteien AL (Stadt Zürich, Kr. 4+5), EDU (Hinwil) und EVP zutreffen (vgl. Diskriminierende Hausordnung am Limmatquai sowie Stefan Hotz (2015): Fällt die Guillotine?, NZZ, 20.03.2015).

[5] Vgl. zu den Parlamentsgrössen und weiteren statistischen Angaben zu den Wahlkreisen und Quoren: Adrian Vatter (2014): Das politische System der Schweiz, S. 75.

[6] Art. 39 Abs. 1 BV; so lautend auch die langjährige Rechtsprechung des Bundesgerichts in Wahlrechtssachen, vgl. nur BGE 136 I 376, E. 4.1.

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