Der Kanton Obwalden ist traditionell eine CVP-Hochburg. Während Jahrzehnten besetzten die Christlichdemokraten durchgehend den einzigen Nationalratssitz des Kantons. Und vor den Eidgenössischen Wahlen 2007 sah es nicht danach aus, als ob sich daran etwas ändern würde. Dann aber betrat Luke Gasser die Politbühne des Innerschweizer Kantons: Der Filmemacher bewarb sich als unabhängiger Kandidat um den Obwaldner Nationalratssitz. Neben ihm traten Patrick Imfeld (CVP), Christoph von Rotz (SVP) und Beat von Wyl (SP) zur Wahl an.
Mit seiner Kandidatur veränderte Gasser die Ausgangslage für die Wahl entscheidend. Denn im Vorfeld der Wahl gab Gasser bekannt, dass er im Fall einer Wahl der CVP-Fraktion beitreten würde. Bei der Wahl am 21. Oktober dürfte er daher viele Stimmen von CVP-Wählern erhalten haben – sehr zum Leidwesen des offiziellen Kandidaten der Partei, Patrick Imfeld: Dieser erreichte 32.5 Prozent der Stimmen und lag damit wenige Stimmen hinter Christoph von Rotz, der die Wahl mit 32.9 Prozent gewann. Gasser kam auf 23 Prozent der Stimmen, Beat von Wyl auf 11.6 Prozent.
Der Wahlausgang sorgte für viel böses Blut in Obwalden: Die CVP warf Gasser vor, seine Kandidatur habe der Partei ihren Sitz gekostet. Ob der Vorwurf berechtigt war oder nicht, ist sekundär. Doch wie ist es möglich, dass ein Kandidat mit nicht einmal einem Drittel der Stimmen eine Majorzwahl gewinnt? Der Grund dafür liegt im speziellen Wahlsystem für die Nationalratswahlen: Jene Kantone, die nur einen Sitz in der grossen Kammer haben (Obwalden, Nidwalden, Uri, Glarus sowie die beiden Appenzell), besetzen diesen nach dem Majorzverfahren. Dabei gibt es allerdings keinen zweiten Wahlgang: Gewählt wird nach dem relativen Mehrheitssystem oder First-Past-The-Post-System, das in diesem Blog bereits mehrmals thematisiert worden ist, zuletzt im Zusammenhang mit dem Schwyzer Wahlrecht.
Die Kantone mit nur einem Nationalratssitz besetzen diesen bereits seit 1919 nach dem relativen Mehr. Bei den Beratungen zum Bundesgesetz über die politischen Rechte (BPR) 1976 schlug der Bundesrat vor, in diesen Kantonen nach dem absoluten Mehr zu wählen und damit zweite Wahlgänge zu ermöglichen. Die Einerwahlkreis-Kantone wollten aber an der relativen Mehrheitswahl festhalten und brachten den Vorschlag der Regierung zum Scheitern, wie die Bundeskanzlei auf Anfrage schreibt.
Die Einerwahlkreis-Kantone haben sich also bewusst entschlossen, an der relativen Mehrheitswahl festzuhalten, trotz der offensichtlichen Nachteile dieses Systems. Wie das Beispiel von Obwalden zeigt, kann das Wahlergebnis allein durch das Auftreten eines zusätzlichen Kandidaten vollkommen auf den Kopf gestellt werden. Die relative Mehrheitswahl verzerrt den Wählerwillen, weil ein Kandidat gewählt werden kann, obwohl ein anderer möglicherweise von einer Mehrheit der Bevölkerung bevorzugt worden wäre (und deshalb einen zweiten Wahlgang gewonnen hätte).[1]
Das Wahlergebnis in Obwalden ist kein Einzelfall: Es kommt häufig vor, dass bei Nationalratswahlen in Einerwahlkreisen ein Kandidat mit weniger als 50 Prozent der Stimmen gewinnt. Allein bei den letzten vier eidgenössischen Wahlen trat dieser Fall fünf Mal auf: 1999 wurde Arthur Löpfe (CVP) in Appenzell-Innerrhoden mit 46.3 Prozent gewählt, 2003 Gabi Huber (FDP) in Uri mit 36.6 Prozent sowie Marianne Kleiner (FDP) in Appenzell-Ausserrhoden mit 41.1 Prozent, 2007 Christoph von Rotz in Obwalden mit 32.9 Prozent und schliesslich im vergangenen Jahr Peter Keller (SVP) in Nidwalden mit 45.2 Prozent.
Es gibt kein vernünftiges Argument dafür, solche Resultate zuzulassen. (Es sei denn, man möchte unbedingt ein Zwei-Parteien-System schaffen, was allerdings der politischen Kultur in der Schweiz völlig widersprechen würde.) Das relative Mehrheitswahlsystem führt nicht selten zu einer vollkommen willkürlichen Sitzverteilung. Wenn ein Kanton schon nur einen Nationalrat stellt, sollte dieser wenigstens die Mehrheit der Stimmbürger vertreten. Es wäre technisch problemlos möglich, einige Wochen nach dem ersten Wahlgang eine Stichwahl durchzuführen. Und selbst wenn das das Problem sein sollte, könnte man immer noch auf das Alternative-Vote-System zurückgreifen, das den Bürgern erlaubt, eine Rangfolge der Kandidaten zu erstellen, und damit im Prinzip einen zweiten Wahlgang gleichzeitig mit dem ersten ermöglicht (deshalb auch «Instant Runoff Voting» genannt).
Besonders stossend ist, dass neben den Nationalratswahlen (in den meisten Kantonen gleichzeitig) auch noch Ständeratswahlen stattfinden, die wiederum nach dem in der Schweiz üblichen Majorzsystem mit zweitem Wahlgang durchgeführt werden. So wählen die Bürger in Obwalden einen Nationalrat und einen Ständerat, aber nach zwei gänzlich unterschiedlichen Verfahren. Das schafft zusätzliche Verwirrung, weil der Bürger bei der relativen Mehrheitswahl strategisch wählen muss, um seine Stimme nicht zu verschenken, bei der Mehrheitswahl mit zweitem Wahlgang jedoch nicht (bzw. in sehr viel geringerem Ausmass). Um auf das eingangs beschriebene Beispiel zurückzukommen: Wäre es bei dieser Wahl nicht um den Nationalrats-, sondern um den Ständeratssitz Obwaldens gegangen, hätten die CVP-Wähler Luke Gasser problemlos ihre Stimme geben können, ohne den offiziellen Kandidaten ihrer Partei zu schädigen. Denn in der Stichwahl hätten sie diesem immer noch zum Sieg verhelfen können.
Angesichts der schwerwiegenden Nachteile der relativen Mehrheitswahl drängt sich eine Anpassung der gesetzlichen Grundlagen der Nationalratswahlen auf. Eine Möglichkeit wäre der Wechsel zum Pukelsheim-System, durch den das relative Mehrheitswahlsystem obsolet würde. Allerdings hat der Ständerat diese Option erst vor Kurzem wieder einmal verworfen. Die einfachste Lösung wäre daher, durch eine Änderung des BPR die in der Schweiz gebräuchliche und in der Bevölkerung akzeptierte absolute Mehrheitswahl mit Stichwahl endlich auch bei Nationalratswahlen zu ermöglichen. Nach den Erfahrungen der letzten Jahre sollten eigentlich auch die Einerwahlkreis-Kantone dazu Hand bieten.
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