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Das Volk als Risikofaktor

Mit seiner Ankündigung, ein Referendum über die Mitgliedschaft Grossbritanniens in der EU durchzuführen, hat David Cameron in ein Wespennest gestochen. Die europäischen Partner werfen dem britischen Premierminister vor, sich von Europa abzuwenden, reden gar von «Erpressung». Und auch im Inland muss sich Cameron Kritik anhören. Oppositionsführer Ed Miliband schlug die Option eines Referendums sogleich aus. Sogar Camerons Koalitionspartner und Vize-Premier Nick Clegg sprach sich gegen die Pläne aus und warnte, ein Referendum würde «Unsicherheit» bringen und der Wirtschaft schaden.[1]

Die Kritik aus dem In- und Ausland ist aufschlussreich, weil sie einiges über das Demokratieverständnis gewisser Politiker aussagt. Eines der Highlights im negativen Sinn markieren die Ausführungen von Tony Blair in der jüngsten Ausgabe des «Spiegels». Die Aussagen des ehemaligen Premierministers sind stellenweise so grotesk, dass sie eine genauere Betrachtung verdienen.

«Ein Referendum ist ein unberechenbares Instrument der demokratischen Willensbildung. Wenn man nicht dazu gezwungen ist, sollte man die Finger davon lassen.»

Jede demokratische Entscheidung ist unberechenbar. Auch Wahlen sind unberechenbar. Nach Blairs Logik dürften also auch keine Wahlen mehr stattfinden. Falls Blair ein Regierungssystem ohne Risiko wünscht, wäre die Rückkehr zur absoluten Monarchie wohl der richtige Weg.

«Ich habe Probleme damit, wenn wir ein Referendum mit der Ausstiegsoption auf den Weg bringen und riskieren, dass Grossbritannien die Europäische Union verlässt.»

Und wenn die Bevölkerung nun der Meinung ist, Grossbritannien sollte die EU verlassen? Was sagt uns, dass diese Meinung «falsch» wäre? Die Tatsache, dass sie nicht mit der Meinung von Herrn Blair übereinstimmt?

Blair fährt fort:

«Mit der Frage von Reformen innerhalb Europas hat das nichts zu tun.»

Es spricht einiges dafür, dass die wirtschaftlichen und politischen Fehlentwicklungen in der EU sehr viel mit institutionellen Faktoren und insbesondere mit dem Mangel an demokratischer Mitbestimmung zu tun haben. Während Jahrzehnten haben die Regierungen der EU-Staaten Gesetzgebungskompetenzen verschoben – an die EU und insbesondere an den Europäischen Rat, letztlich also an sich selbst. Der Einfluss der Bürger auf politische Entscheidungen ist immer indirekter geworden. Dabei wäre eben dieser Einfluss ein wichtiges Instrument demokratischer Kontrolle, weil damit Fehlentscheide korrigiert werden könnten. An dieser Kontrolle mangelt es in der EU.

«Ob Politiker mitreden oder nicht, die Bürger werden diskutieren.»

Diskutieren dürfen sie also, die Bürger. Nur entscheiden offenbar nicht.

«Alle entwickelten Staaten der Welt müssen sich radikal ändern, um mit der Globalisierung, der Technologisierung und den Folgen der zunehmenden Alterung Schritt zu halten.»

Die Staaten müssen sich radikal ändern, meint Blair. Nur das politische System sollte genauso bleiben wie es ist. Es sollte höchstens noch ein bisschen weniger demokratische Mitbestimmung geben.


[1] Ironischerweise hatte Cameron selbst genau dasselbe Wort benutzt, als er die Pläne der Scottish National Party kritisierte, ein Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands abzuhalten.

Politics of Pharaoh, Continued

Mohamed_Morsi

Jubelnde Anhänger von Mohamed Morsi nach seiner Wahl zum Präsidenten. Bild: Flickr

Im Februar 2011 hatten die Ägypter ihren Diktator Hosni Mubarak in die Wüste geschickt. Zurückgelassen hat er eine Verfassung, auf deren Grundlage er drei Jahrzehnte lang das Land beherrscht hatte.

Fast zwei Jahre lang zeigte die Politik keine grosse Eile, eine neue Verfassung zu verabschieden. Jetzt aber kann es den regierenden Muslimbrüdern plötzlich nicht schnell genug gehen: Vor zwei Wochen peitschten sie in der Verfassungsgebenden Versammlung einen eiligst fertiggestellten Entwurf durch. Bereits kommenden Samstag soll das Volk darüber abstimmen.[1] Eine Annahme ist so gut wie sicher – nicht nur weil die Muslimbruderschaft nach wie vor grosse Unterstützung in der Bevölkerung geniesst, sondern auch, weil unklar ist, was bei einer Ablehnung passieren würde. Von der Instabilität haben die Ägypter allmählich genug.

Im Internet macht gegenwärtig eine Karikatur die Runde. Darauf ist Präsident Mohamed Morsi zu sehen, der sich darüber empört, dass er mit Mubarak gleichgesetzt wird. «Das alte Regime war autokratisch, diktatorisch und säkular», erklärt er. «Wir sind nicht säkular.»

Tatsächlich sind die Befürchtungen vor einer neuen Diktatur nicht völlig unbegründet. Die Muslimbruderschaft sieht ihre Stunde gekommen. Sie hat das Amt des Präsidenten erobert, ihre eigenen Leute in der Armee eingesetzt und den Einfluss der Judikative beschränkt. Weil zudem das Parlament aufgelöst worden ist, besitzt die Bruderschaft eine einmalige Machtfülle, die sie nun über Jahre hinaus zu zementieren sucht. Der Kontrast zur politischen Bescheidenheit der Gruppe unmittelbar nach der Revolution – als sie immer wieder versprochen hatte, auf keinen Fall einen Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen aufzustellen – könnte grösser nicht sein.

Wer das Verhalten der Bruderschaft damals beobachtete, ist von den zunehmenden autoritären Tendenzen nicht überrascht. Es wäre allerdings zu einfach, die Schwächen der neuen Verfassung allein mit den Machtansprüchen der Islamisten zu erklären. Die Probleme sind grundsätzlicher Art.

Das politische System Ägyptens ist von einer ausserordentlichen Konzentration der Macht geprägt. Während Jahrhunderten wurde Ägypten von Alleinherrschern regiert – Pharaonen, Kalifen, Königen und Präsidenten. Der Politikwissenschafter Emad Gad verwendete den Begriff «politics of Pharaoh», um das politische System zu beschreiben, das auf einen einzigen starken Mann an der Spitze ausgerichtet ist.

Die neue Verfassung behält diese Tradition bei. Die Macht des Präsidenten wird gegenüber dem derzeit gültigen Grundgesetz nur minim eingeschränkt. Hingegen bleiben die Mittel, um Kritiker des Staatsoberhaupts mithilfe offen formulierter Verfassungsartikel zum Schweigen zu bringen, erhalten oder wurden gar noch ausgebaut.

In der verfassungsgebenden Versammlung wurde das Präsidialsystem, das die Macht auf eine einzelne Person konzentriert, nie grundsätzlich in Frage gestellt – selbst bevor die meisten säkularen Vertreter die Versammlung unter Protest verliessen. Auch in der breiten Bevölkerung ist diese Machtkonzentration allgemein akzeptiert. Nach gängiger Auffassung ist es gut, einen starken Mann an der Spitze des Staates zu haben, und das Problem bestand bisher bloss darin, dass der falsche Mann an der Macht war. Die grundsätzliche Gefahr, dass eine grosse Machtfülle ohne wirksame Kontrollmechanismen leicht zu Machtmissbrauch, Repression und Vetternwirtschaft führt, wird – bewusst oder unbewusst – verdrängt.

Die Revolution des 25. Januar hat in Ägypten zu einem Machtwechsel, nicht aber zu einer Reform des politischen Systems geführt. Die Menschen auf der Strasse haben einen Diktator zu Fall gebracht. Doch ohne wirklich pluralistische Institutionen besteht die ständige Gefahr, dass das Rad zurückgedreht wird und ein neues autokratisches System entsteht – ob ein Muslimbruder an der Spitze steht oder nicht, ist dabei zweitrangig.


[1] Wie in einem Land mit rund 50 Prozent Analphabeten in zwei Wochen eine vernünftige öffentliche Diskussion über eine neue Verfassung möglich sein soll, bleibt das Geheimnis der Muslimbrüder.

Wenn sich die direkte Demokratie selbst Grenzen setzt

An dieser Stelle sei auf meinen neusten Beitrag für direktedemokratie.com hingewiesen.

Der Artikel befasst sich anlässlich der anstehenden Abstimmung über die Staatsvertragsinitiative mit der Frage, weshalb die Schweizer Stimmbürger der Ausweitung direktdemokratischer Rechte im Allgemeinen skeptisch gegenüberstehen.

Kommentare sind wie immer willkommen.