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Brexit: Raus aus der Bredouille – rein ins Dilemma?

Ein zweites Referendum könnte Klarheit über den Austritt Grossbritanniens aus der EU bringen. Die praktische Umsetzung ist allerdings knifflig.

An diesem Dienstag kommt es zum Showdown in London: Das Abkommen über den EU-Austritt des Landes, das Premierministerin Theresa May mit Brüssel ausgehandelt hat, wird dem Unterhaus zur Abstimmung vorgelegt (nachdem die Regierungschefin eine erste Abstimmung im Dezember in Erwartung einer Niederlage abgesagt hatte). Die Chancen auf eine Annahme des Deals sind auch diesmal nicht gerade rosig.

Sollten die Commons Nein sagen, droht die britische Politik (noch weiter) im Chaos zu versinken. Angesichts dieser Aussichten erhält eine Idee Rückenwind, die bereits seit der Brexit-Abstimmung 2016 im Gespräch ist: ein zweites Referendum. So wie es aussieht, scheint keine der Optionen, die auf dem Tisch liegen – May’s Deal, No-Deal Brexit, No Brexit – eine Mehrheit des Parlaments zu überzeugen. Warum also nicht den Ball zurück ans Volk spielen?

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Das britische Unterhaus tut sich schwer damit, eine Lösung für den Brexit zu finden. Sollte es den Ball zurück ans Volk spielen? Bild: UK Parliament (Flickr)

Verschiedene Bewegungen haben genau das im Sinn. Interessanterweise fordern jene, die vor der Abstimmung von 2016 Referenden generell als Teufelszeug brandmarkten, nun mitunter am lautesten ein weiteres Referendum. Offensichtlich spielen hier politische Überlegungen eine wichtige Rolle.

Staatspolitisch gibt es sowohl Argumente für wie auch gegen eine neue Volksabstimmung. Auf der einen Seite kann man argumentieren, dass nun Klarheit über die konkreten Optionen für einen Austritt sowie die entsprechenden Vor- und Nachteile herrscht, und die Bürger nun en connaissance de cause entscheiden könnten. Auch spricht einiges dafür, wichtige internationale Verträge dem Stimmvolk vorzulegen – und der Austrittsvertrag gehört ohne Zweifel in diese Kategorie. Auf der anderen Seite hat niemand den Bürgern im Vorfeld der Brexit-Abstimmung 2016 versprochen, dass sie sich später nochmals äussern könnten. Man könnte also argumentieren, dass das Volk sich im Bewusstsein aller Unsicherheiten und Risiken für den Austritt aus der EU entschieden habe – und der Entscheid nun zu akzeptieren sei (auch wenn es sich rechtlich um ein unverbindliches Plebiszit handelte).

Keine Methode ohne Schwäche

Abgesehen davon stellt sich eine andere Frage: Wie sollte ein allfälliges zweites Referendum überhaupt durchgeführt werden? Welche Frage soll den Bürgern gestellt werden? Dieser Punkt wurde bisher noch kaum angesprochen. Dabei ist er durchaus entscheidend, wie sich zeigen wird.

Grundsätzlich sind folgende Varianten denkbar:

Auf den ersten Blick die einfachste Möglichkeit wäre eine simple Ja/Nein-Abstimmung. Bloss: Zu was soll man konkret Ja oder Nein sagen können? Nochmals über die Grundsatzfrage (Brexit Ja oder Nein?) abzustimmen, macht wenig Sinn, weil im Fall eines erneuten Ja unklar bliebe, welche Form von Brexit das Stimmvolk bevorzugt. Eine Abstimmung über das konkrete Abkommen, das auf dem Tisch liegt, würde möglicherweise ebenfalls kein befriedigendes Resultat liefern. Denn sowohl «Remainers» als auch Anhänger eines «hard Brexit» lehnen den Deal ab. Bei einem Nein wäre somit nicht klar, was die Bürger stattdessen wollen.

Sinnvoller wäre es, den Stimmbürgern zwei Fragen vorzulegen: In einer ersten können sie sich zwischen dem Austritt und dem Verbleib in der EU entscheiden. In einer zweiten über den Deal Mays (oder der dannzumal amtierenden Regierung) befinden. Würde eine Mehrheit sich bei der ersten Frage gegen den Brexit aussprechen, wäre die zweite Frage irrelevant. Andernfalls würden bei der zweiten Frage alle Stimmen zählen (also auch jene der Brexit-Gegner).

Das Problem bei dieser Variante wäre, dass sie manche Stimmbürger in ein taktisches Dilemma stürzen könnte. Nehmen wir als Beispiel einen überzeugten Brexit-Befürworter, der am liebsten einen möglichst klaren Bruch mit der EU hätte. Mays weiche Variante findet er hingegen schlecht – so schlecht, dass er ihr den Verbleib in der EU vorziehen würde. Rechnet dieser Bürger nun damit, dass Mays Deal sich beim Stichentscheid durchsetzen würde, müsste er bei der ersten Frage eigentlich contre coeur für den Verbleib in der EU stimmen. (Wer glaubt, eine solche Präferenzordnung gebe es in der Praxis nicht, irrt. Der Brexit-Vordenker Daniel Hannan etwa sähe den Verbleib in der EU lieber als das vorliegende Abkommen.)[1]

Alternativ könnten die Bürger zunächst über das ausgehandelte Abkommen befragt werden und (im Falle eines Neins) über die Grundsatzfrage des Austritts. Das Problem des taktischen Abstimmens würde dieser Wechsel der Reihenfolge indes nicht aus der Welt schaffen.

Eine weitere Variante wäre jene mit Stichfrage. Diese kommt in der Schweiz bei Abstimmungen über Initiativen mit direkten Gegenvorschlägen zur Anwendung. Im vorliegenden Fall würden die Stimmbürger zunächst parallel über das ausgehandelte Austrittsabkommen und über einen harten bzw. ungeregelten Brexit befragt, wobei sie jede der beiden Fragen entweder mit Ja oder Nein beantworten könnten. Für den Fall, dass beide eine Mehrheit finden, könnte ausserdem bei der Stichfrage angekreuzt werden, welcher der beiden Austrittsvarianten den Vorzug gegeben werden soll. Sollte keine von beiden bei der Ja/Nein-Frage eine Mehrheit erreichen, wäre dies als Votum für den Verbleib in der EU zu interpretieren.

Taktisches Wählen bleibt aber auch hier möglich. So könnten Befürworter eines harten Brexit, die aber in der Stichfrage einen Sieg von May’s Deal erwarten, geneigt sein, letzteren in der ersten Frage abzulehnen, selbst wenn sie ihn dem Verbleib in der EU vorziehen (sie würden damit aber auch das Risiko eingehen, dass am Ende keine der beiden Optionen eine Mehrheit erreicht).

Schliesslich wäre eine Frage mit drei Antwortmöglichkeiten (Mays Deal, Verbleib in der EU oder No Deal bzw. neue Verhandlungen mit Brüssel[2]) möglich. Der Teufel steckt aber auch hier im Detail: Lässt man jeden Bürger nur eine Option auf seinen Stimmzettel schreiben bzw. ankreuzen, müsste das relative Mehr zur Anwendung kommen. Dieses Verfahren verzerrt das Resultat schon bei Wahlen – und bei Abstimmungen erst recht.

Sinnvollerweise müssten die Bürger die drei Optionen nach Präferenzen ordnen können. Ein Bürger könnte also beispielsweise neben No Deal eine 1 schreiben, neben den ausgehandelten Deal eine 2 und neben Remain eine 3. Ausgezählt würde nach dem Verfahren der Single Transferable Vote bzw. Alternative Vote: Zunächst werden die ersten Präferenzen addiert; wenn keine Variante eine Mehrheit findet, wird die unpopulärste Option eliminiert und die Stimmen der Wähler mit dieser als erster Präferenz gemäss deren zweiter Präferenz den anderen beiden Optionen zugeteilt; die Option, die dann auf eine Mehrheit kommt, gewinnt. Freilich sind taktische Überlegungen auch hier nicht ausgeschlossen, jedoch hätten sie im Vergleich zur Variante mit zwei Fragen einen kleineren Einfluss.

Die beliebteste Option verliert

Ein anderes Problem bleibt jedoch: Es ist möglich, dass in einem solchen Verfahren eine Option, die beide anderen Optionen in der direkten Gegenüberstellung schlagen würde, bereits in der ersten Runde rausfällt. Nehmen wir folgende fiktiven Präferenzordnungen:

Anteil der Stimmberechtigten 1. Präferenz 2. Präferenz 3. Präferenz
30 % No Deal Mays Deal Kein Brexit
5 % No Deal Kein Brexit Mays Deal
15 % Mays Deal Kein Brexit No Deal
10 % Mays Deal No Deal Kein Brexit
35 % Kein Brexit Mays Deal No Deal
5 % Kein Brexit No Deal Mays Deal

 

Betrachtet man die erste Präferenz, würde «No Deal» auf 35 Prozent der Stimmen kommen, Mays Deal auf 25 und «Kein Brexit» auf 40. Mays Deal würde also eliminiert, die Stimmen dieser Wähler würden zu drei Fünfteln dem Verbleib in der EU und zu zwei Fünfteln «No Deal» zugewiesen. «Kein Brexit» käme so auf 55 Prozent und würde als Sieger aus der Abstimmung hervorgehen.

Die Anhänger von Mays Deal könnten nun allerdings argumentieren, dass ihre Präferenz eigentlich die beliebteste wäre – und sie hätten recht! Stellt man nämlich Mays Deal dem Verbleib in der EU gegenüber, siegt erstere Option mit 55 zu 45 Prozent. Stellt man ihn «No Deal» gegenüber, gewinnt er mit 60 zu 40 Prozent. Im direkten Duell gewinnt Mays Deal gegen alle anderen Varianten[3] – und geht in einer Abstimmung mit drei Varianten doch hoffnungslos unter. Der Grund liegt darin, dass in diesem Beispiel zwar viele Bürger Mays Deal als hinnehmbaren Kompromiss sehen, aber nur wenige als oberste Priorität.

Nun könnte man dieses Problem lösen, indem man zunächst paarweise abstimmen lässt, und erst wenn es keinen eindeutigen Sieger gibt, STV anwendet. Dieses Verfahren würde aber das taktische Abstimmen wieder zurück ins Spiel bringen. Denn nun könnten einige Anhänger des Verbleibs in der EU (bzw. eines hard Brexit) contre coeur «No Deal» (bzw. «Kein Brexit») als zweite Präferenz auf ihren Zettel schreiben. Damit würde die direkte Ausmarchung keinen Sieger ergeben (Condorcet Paradoxon) und STV müsste entscheiden, wo ceteris paribus Mays Deal wiederum als erste Option ausschiede.[4]

Wie könnte das Dilemma aufgelöst werden? Die Antwort ist einfach: gar nicht. Den Beweis dazu lieferte der Ökonom Kenneth Arrow mit seinem Unmöglichkeitssatz. Er zeigte auf, dass es keine Methode gibt, die die Präferenzen bzw. die Nutzenfunktionen von Individuen zu einer gesamtgesellschaftlichen Nutzenfunktion aggregieren kann und dabei fünf einfache logische Grundbedingungen einhält.[5]

Auf ein zweites Brexit-Referendum übertragen heisst das, dass es keine Fragestellung gibt, die mit 100-prozentiger Sicherheit das Resultat liefert, das den gesamtgesellschaftlichen Nutzen maximiert, oder nur schon jenes, das von einer Mehrheit gegenüber den anderen Optionen bevorzugt würde, wie wir gesehen haben.

Das bedeutet natürlich nicht, dass ein zweites Referendum bzw. Referenden im Allgemeinen unnütz wären – tatsächlich schlägt sich die repräsentative Demokratie gegenwärtig ja mit den genau gleichen Dilemmata herum. Bloss ist es, sobald mehr als zwei Optionen im Spiel sind, ziemlich anspruchsvoll, in Volksabstimmungen den «Willen des Volkes» «richtig» zu ermitteln. Es geht somit oft nicht darum, das perfekte Verfahren zu finden, sondern eher, das am wenigsten schlechte.

 

Weiterführende Artikel:

 


[1] Das Beispiel zeigt ein grundsätzliches Problem derartiger Präferenzordnungen. Bestehen solche, ist es möglich, dass von drei Optionen keine als eindeutige Gewinnerin resultiert – das so genannte Condorcet-Paradoxon. Der Politikwissenschafter Simon Kaye kam in einem kürzlich publizierten Beitrag zum Schluss, dass ein solches Condorcet-Paradoxon beim Brexit vorliegen könnte.

[2] Der Einfachheit halber bezeichnen wir die letzte Version im Folgenden als «No Deal».

[3] Technisch gesprochen handelt es sich um einen Condorcet-Gewinner.

[4] Keine Lösung wäre auch die Durchführung einer so genannten Borda-Wahl. Bei diesem Modell können die Wähler Punkte vergeben (2 Punkte an die erste Präferenz, 1 an die zweite Präferenz), die dann addiert werden. Auch hier gibt es aber Anreize für taktisches Wählen.

[5] George Szpiro (2011): Die verflixte Mathematik der Demokratie, Kapitel 11.

5 Jahre EU-Bürgerinitiative: Ein Papiertiger auf Sinnsuche

Vor fünf Jahren wurde die EU-Bürgerinitiative ins Leben gerufen. Nach anfänglicher Euphorie ist sie zu einem Ladenhüter geworden. Der Grund: Gemessen am sehr aufwendigen Verfahren für das Zustandekommen ist die Wirkungskraft sehr bescheiden.

Gross war die Euphorie, als die Europäische Bürgerinitiative am 1. April 2012 offiziell ins Leben gerufen wurde. Von einem «riesigen Schritt für die EU-Bürger» war die Rede, vom «ersten grenzüberschreitenden direkt-demokratischen Projekt überhaupt». EU-Kommissar Maroš Šefčovič verkündete «ein neues Kapitel im demokratischen Leben der EU».

Dass das Instrument wenig mit direkter Demokratie zu tun hat, übersah man geflissentlich. Stattdessen sprachen die Politiker in Brüssel vollmundig von «Bürgernähe» und «Mitbestimmung».

Bloss: Offenbar haben die Bürger wenig Lust, sich mithilfe dieses Instruments zu beteiligen. Vergangenes Jahr wurden nur gerade 3 Bürgerinitiativen gestartet. Zum Vergleich: Im Geburtsjahr 2012 waren es noch 23 gewesen (siehe Diagramm).

Hohe Hürden und Gültigkeitsvoraussetzungen

Ein Grund für den massiven Rückgang liegt darin, dass die Hürden für Initiativen sehr hoch sind. Eine Million Unterschriften aus mindestens sieben Mitgliedsländern müssen gesammelt werden, damit sich die EU-Kommission mit einem Anliegen befasst. Bevor die Unterschriftensammlung gestartet werden kann, prüft die Kommission das Begehren schon einmal vor. Abgelehnt werden Initiativen, wenn ihr Anliegen nicht in den Kompetenzbereich der EU fällt, sie gegen «europäische Grundwerte» verstossen oder gewisse formale Kriterien nicht erfüllen. Die Prüfung der Kommission ist ziemlich streng: Ein Drittel der bis 2016 lancierten Bürgerinitiativen scheiterten bereits an dieser Hürde.

lancierte-ebi-2012-2016

Die zweite, noch höhere Hürde ist die Unterschriftensammlung: Eine Million Bürger innerhalb von einem Jahr zur Unterzeichnung zu bewegen, ist eine Herausforderung, die nur wenige, gut organisierte Interessengruppen stemmen können.

Das eigentlich Abschreckende an der Bürgerinitiative ist aber, dass, gemessen an diesen Hürden, die Wirkungskraft sehr bescheiden ist. Hat eine Initiative nämlich den Hindernislauf von Vorprüfung und Unterschriftensammlung gemeistert, ist das einzige, was sie damit erreicht hat, dass sich die Kommission mit dem Anliegen auseinandersetzen muss. Diese kann eine Gesetzesänderung vorschlagen, der allerdings der EU-Rat und allenfalls das EU-Parlament als gesetzgebende Behörden zustimmen müssen. Die Initianten können weder Einfluss auf den Prozess nehmen noch beim Inhalt der Vorlage mitreden.

Die Kommission kann nach der Prüfung des Anliegens einer erfolgreichen Initiative aber auch beschliessen, in dieser Sache nichts zu unternehmen. Nach dem Motto: Danke für den Input, aber wir lassen lieber alles, wie es ist.

Diese Antwort gab die Kommission auf zwei der drei Bürgerinitiativen, die bislang zustandegekommen sind (in der einen ging es um eine Verhinderung der Privatisierung der Wasserversorgung, in der anderen um einen Stopp von EU-Fördergeldern für Stammzellenforschung). Im Fall der dritten, die ein Verbot von Tierversuchen anstrebte, prüft sie derzeit strengere Auflagen für Tierversuche, hat aber bereits klargemacht, dass ein absolutes Verbot nicht in Frage kommt. Die Initianten scheinen mit diesem Ergebnis nicht wirklich zufrieden zu sein: Sie haben eine Beschwerde beim EU-Bürgerbeauftragten gegen die Kommission eingereicht.

Reform gefordert

Somit ist die Europäische Bürgerinitiative nicht mehr als ein besseres Petitionsrecht.[1] Kein Wunder, dass kaum noch jemand den Aufwand dieses Instruments auf sich nimmt, wenn die Wirkung am Ende etwa gleich gross ist, wie wenn man einen Brief an Jean-Claude Juncker schreiben würde.

Das hat man inzwischen offenbar auch in Brüssel gemerkt. Jedenfalls sprechen sich namhafte EU-Politiker für eine Reform der Bürgerinitiative aus. In welche Richtung diese gehen soll, ist noch ziemlich schwammig. Möglich, dass der Papiertiger Bürgerinitiative etwas schärfere Zähne erhalten wird. Klar scheint aber schon jetzt, dass ein wirklich direktdemokratisches Instrument auf EU-Ebene auch in Zukunft fehlen wird.


[1] Den besten Beweis dafür lieferten die Initianten der Bürgerinitiative gegen das Freihandelsabkommen TTIP: Nachdem die Kommission ihrem Begehren die Registrierung verweigerte (mit der wenig überzeugenden Begründung, dass die Autorisierung von Verhandlungen bzw. der Rückzug einer solchen Autorisierung nicht in die Kompetenz der Kommission falle), wandelten sie dieses kurzerhand in eine Petition um und sammeln nun für diese Unterschriften.

Der Bürger als störendes Element

Nachdem sich die Briten für den Austritt entschieden haben, steht die EU am Scheideweg. Die Idee, eine politische Union unter Ausschluss der demokratischen Öffentlichkeit zu schaffen, ist kolossal gescheitert. Es wäre an der Zeit, dass die europäischen Politiker damit beginnen, ihre Bürger ernst zu nehmen.

Angesichts der gegenwärtigen Wehklagen vergisst man leicht, dass die EU eine beeindruckende Erfolgsgeschichte ist. Seit ihrer Entstehung gab es keinen Krieg mehr unter ihren Mitgliedstaaten – alles andere als eine Selbstverständlichkeit, wenn man die Jahrhunderte davor betrachtet. Der Abbau von Handelshemmnissen, der freie Verkehr von Waren, Kapital und Personen brachte den Bürgern Wohlstand und machte ihnen das Leben leichter. Das Problem ist nicht, was die EU erreicht hat, sondern wie sie es erreicht hat. Und dieses Problem liegt auch dem Dilemma zugrunde, in dem sich die Union heute befindet.

EU-Parlament

Welche EU wollen die Bürger? Blick auf das EU-Parlament in Brüssel. Bild: EU

Der Traum von der «entpolitisierten» Integration

Die europäische Integration war von Beginn weg ein Elitenprojekt. Das ist keine Kritik, sondern schlicht eine Beschreibung der Tatsachen. Dass internationale Verträge primär von Regierungen abgeschlossen werden und keine breiten innenpolitischen Debatten über ihre Inhalte geführt werden, ist der Normalfall. Die Gründerväter des europäischen Einigungsprojekts haben aber nicht einfach das gemacht, was sie schon immer gemacht haben. Vielmehr war dieser Ansatz ein bewusster Entscheid.

Die Idee war, das Projekt möglichst nicht zum Spielball der Politik in den Mitgliedsstaaten werden zu lassen. Nur eine entpolitisierte europäische Integration, so glaubte man, werde gelingen. Das Problem ist, dass sich die Politik nicht aufhalten lässt. So sehr man sich auch von ihr abzuschotten versucht, dringt sie doch durch alle Ritzen, die sie findet.

Solange es «nur» um Freihandel und wirtschaftliche Zusammenarbeit ging, was das Interesse der Bürger an der europäischen Politik wunschgemäss begrenzt, weil sie davon zwar betroffen waren, den Einfluss der europäischen Integration in der Regel aber nicht sahen. Die Politikwissenschaft spricht von «permissive consensus»: Die nationalen Regierungen handelten untereinander immer weitere Integrationsschritte aus, und die Bürger liessen sie machen und sagten nichts. Die immer weitergehende Regulierung auf europäischer Ebene veränderte die Situation. Von gemeinsamen Produktregulierungen, Landwirtschaftssubventionen oder dem freien Personenverkehr sind die Leute sehr direkt betroffen. Sie nehmen die EU in ihrem Alltag wahr, reden über sie und bilden sich eine Meinung. Das ist es, was Politik ausmacht.

Grossbritannien ist ein aussergewöhnlicher Fall, da dort das Verhältnis zu Europa schon früh zu breiten Diskussionen Anlass gab. Insofern gibt die britische Abstimmung über den Austritt aus der EU jedoch einen Vorgeschmack darauf, was der Union in den nächsten Jahren in den verbleibenden Mitgliedsländern bevorstehen könnte.

Falsche Grundannahmen

Die europäischen Politiker haben falsch auf die «Politisierung» der europäischen Integration reagiert. Anstatt sich der öffentlichen Debatte zu stellen und andere Meinungen über Vor- und Nachteile weitergehender Integrationsschritte anzuhören, ja vielleicht sogar nützliche Inputs und neue Ideen daraus zu gewinnen, verfuhren sie nach der Devise «weiter wie bisher». Auf keinen Fall, so die allgemeine Überzeugung, dürfen die Errungenschaften der europäischen Einigung «gefährdet» werden durch die Stimmbürger, die in die internationale Politik dreinreden. Die nationale Demokratie würde die nötigen Fortschritte blockieren oder gar verhindern. Dieser Haltung liegen zwei Annahmen zugrunde, die beide falsch sind. Erstens: Die Integration muss notwendigerweise immer weitergehen.[1] Und zweitens: Demokratie ist ein Risiko, weil sie den richtigen Weg gefährdet.

Die erste Annahme ist falsch, weil die Verschiebung von Kompetenzen von einer politischen Ebene auf die nächsthöhere nicht zwingend besser ist, oft genug schadet sie mehr als sie nützt. In der Tendenz hat die Globalisierung zwar zur Folge, dass der Regelungsbedarf auf internationaler Ebene steigt. Nicht in allen Bereichen ist es aber sinnvoll und effizient, dass eine supranationale Instanz entscheidet anstatt der National- oder ihrer Gliedstaaten. Dass eine europäische Behörde einheitliche Effizienzstandards für Elektrogeräte festlegt, kann Effizienz bringen, während es möglicherweise ineffizient ist, wenn eine europäische Behörde die Währungspolitik für alle Mitgliedsländer festlegt.

Die zweite Annahme ist falsch, weil die Demokratie nicht gute Lösungen verhindert, sondern oft genug überhaupt erst ermöglicht. Im demokratischen Wettbewerb ist das Ziel nicht fix vorgegeben, sondern kristallisiert sich erst im Laufe des Prozesses heraus und kann immer wieder in Frage gestellt werden. Wer den öffentlichen Diskurs scheut, geht davon aus, dass er die einzig richtige Lösung kennt und folglich jede Diskussion reine Zeitverschwendung ist. Oft stellt man im Verlauf einer Debatte jedoch fest, dass die Nachteile einer Massnahme grösser sind als anfangs gedacht, oder dass eine andere Massnahme, über die man sich gar keine Gedanken gemacht hatte, besser geeignet ist, um das angestrebte Ziel zu erreichen. Eine Reihe von Fehlleistungen der EU (wie etwa die Einführung einer gemeinsamen Währung) wären womöglich nie erfolgt, wenn darüber nicht nur Regierungspolitiker und Beamte mit ähnlichen Hintergründen und ähnlichem Denken, sondern auch die Stimmbürger hätten diskutieren und entscheiden können. Die zweite Annahme hat einen kausalen Zusammenhang zur ersten. Nur wer nicht an die Kraft des demokratischen Wettbewerbs glaubt, kann zur Überzeugung gelangen, dass es nur einen richtigen Weg für Europa gibt.

Aushöhlung der Demokratie

Die gegenwärtige Krise der EU steht für ein grundsätzliches Dilemma: Globalisierung, wirtschaftlicher und technischer Fortschritt höhlen die nationale Politik aus. Eine wachsende Zahl von Problemen, aber auch Chancen, betreffen nicht mehr den einzelnen Staat, sondern eine ganze Region, einen ganzen Kontinent, die ganze Welt. Diese Fragen müssen auf internationaler Ebene angegangen werden. Kein Land kann die Klimaerwärmung alleine aufhalten. Es ist sinnvoller, Regeln über den Welthandel oder das internationale Seerecht in einer gemeinsamen Organisation festzulegen als in 50’000 einzelnen Verträgen zwischen jeweils zwei Staaten. Es braucht eine gewisse Koordination unter den Staaten. Damit einher geht jedoch eine Kompetenzverlagerung von den nationalen Gesetzgebern hin zu Regierungen und internationalen Behörden. Die demokratische Kontrolle geht zunehmend verloren. Und weil die EU ein Beispiel besonders weitgehender zwischenstaatlicher Kooperation darstellt, ist diese Tendenz dort besonders ausgeprägt. Wurde irgendein Wähler gefragt, ob er den Rettungspaketen zugunsten Griechenlands zustimmt?

Natürlich konnten sie die Parlamente wählen, die sich zu den Massnahmen äussern konnten. Die «Entscheide» der Gesetzgeber waren aber reine Formalität. Faktisch können die nationalen Parlamente nur noch absegnen, was ihre Regierungen ausgehandelt haben. Die demokratische Kontrolle findet also höchstens sehr indirekt statt. Und wenn die Bevölkerung in einem Land einmal direkt über einen Vertrag befinden kann, lässt man sie so oft abstimmen, bis sie «richtig» entscheidet (wie im Fall von Irland beim Lissabonner Vertrag). Oder man überträgt nach einem Nein den Inhalt in einen anderen Vertrag, der dann aber nicht einer Volksabstimmung unterliegt (wie im Fall der geplanten EU-Verfassung).

Was auch sonst? Schliesslich, so denken die europäischen Eliten, ist ja klar, welcher Weg der richtige ist. Es gibt somit keinen Grund, davon abzuweichen, bloss weil die Wähler das nicht sehen. Oft wird dann erklärt, das demokratische Verdikt sei ein Ausdruck des Protests gegen die Regierung gewesen, eine symbolische Unmutsäusserung des Volkes. Das mag in vielen Fällen sogar richtig sein. Wer nie nach seiner Meinung über die fortschreitenden Souveränitätstransfers nach Brüssel gefragt wird, der nutzt eben den Kanal, der sich ihm bietet, sei es eine Abstimmung über ein harmloses Assoziierungsabkommen oder die nächste Parlamentswahl. Die Politik findet in der Demokratie stets Ritzen, durch die sie dringen kann.

Zwei Alternativen

Wie kann man den Konflikt zwischen Demokratie und internationaler Kooperation auflösen? Denkbar sind zwei Alternativen. Entweder man stärkt die nationale Demokratie im Bereich der Aussenpolitik. Beispielsweise indem man wie in Irland oder in den Niederlanden Volksabstimmungen über die Ergebnisse von internationalen Verträgen ermöglicht. Damit würde gewährleistet, dass die Wähler tatsächlich einverstanden sind mit den Lösungen, die ihre Regierungen in ihrem Namen aushandeln. Im Falle der EU würde diese Variante wohl zu einer Verlangsamung der Integration oder zu einem Rückbau führen, allein schon deshalb, weil es einfacher ist, unter 27 Regierungschefs einen Vertrag auszuhandeln, als 27 Länder dazu zu bringen, zu diesem Vertrag Ja zu sagen.

Man könnte auch eine europäische Perspektive einnehmen und argumentieren, dass auf EU-Ebene getroffene Entscheide nicht von den Bevölkerungen der Nationalstaaten, sondern in erster Linie von der Bevölkerung Europas getragen werden müssen. Die Konsequenz wäre eine stärkere demokratische Kontrolle auf EU-Ebene, etwa, indem man die Kompetenzen des Europäischen Parlaments ausbaut, oder durch EU-weite Volksabstimmungen[2]. Welche Kompetenzen auf EU-Ebene und welche auf nationaler Ebene angesiedelt sind, wäre damit letztlich ein demokratischer Entscheid.

Analog zum Nationalstaat können Entscheide entweder auf einer tieferen Ebene angesiedelt werden, wo man die lokalen Verhältnisse und Bedürfnisse besser kennt, oder auf einer höheren Ebene, wo Effizienzgewinne erzielt werden können.[3] Auch in diesem Fall wäre eine Verlangsamung der Integration denkbar und angesichts des verbreiteten Unmuts über die fortschreitende Zentralisierung der letzten Jahre auch wahrscheinlich. Voraussetzung für ausgebaute demokratische Rechte auf EU-Ebene wäre allerdings, dass so etwas wie ein «Demos» existiert, also ein europäisches Staatsvolk, das nicht homogen ist, aber ein Zusammengehörigkeitsgefühl, eine gemeinsame Identität besitzt. Ob dies heute der Fall ist, ist eine andere Frage, die an dieser Stelle offengelassen werden muss.

Klar ist hingegen, dass ein «weiter wie bisher» für die EU nicht in Frage kommt. Die Vorstellung, dass die europäische Integration naturgesetzgleich immer weitergehen müsse, gleichgültig, was die Bevölkerungen davon halten, hat sich nicht nur als problematisch, sondern auch als gefährlich für die Zukunft der EU und Europas herausgestellt. Es ist zu hoffen, dass der Brexit ein Weckruf für die europäischen Politiker ist. Ihnen sollte nun endgültig klar geworden sein, dass man, wenn man die Stimmbürger als störende Elemente betrachtet, die europäische Einigung nicht vorantreibt, sondern verunmöglicht. Und damit eine einmalige Erfolgsgeschichte aus Arroganz und ideologischer Verblendung auf den Müllhaufen der Geschichte bugsiert.

 


[1] Sinnbildlich dafür ist der Ausspruch, der dem ersten Kommissionspräsidenten der EWG, Walter Hallstein, zugeschrieben wird: «Die europäische Integration ist wie ein Fahrrad: Wenn es nicht weiterfährt, fällt es um.»

[2] Um das nationalstaatliche Element nicht ganz zu begraben, könnte man analog zum Ständemehr in der Schweiz eine Regel schaffen, dass nicht nur die Zustimmung der Mehrheit der Stimmberechtigten, sondern auch der (qualifizierten) Mehrheit der Mitgliedstaaten nötig ist.

[3] Es wäre übrigens falsch, eine Kompetenzverlagerung hin zur EU als Souveränitätsverlust zu bezeichnen. Denn was EU-Skeptiker gerne ausser Acht lassen, ist, dass jedem Souveränitätsverlust des Nationalstaats ein Souveränitätsgewinn auf einer anderen Ebene gegenübersteht (man spricht auch von «pooled sovereignty»). Es geht also vielmehr darum, eine Konvergenz zwischen Souveränität und demokratischen Rechten zu erreichen: Die Souveränität ist zwischen EU, Nationalstaat und unteren Staatsebenen aufgeteilt, aber auf jeder dieser Ebene sollten die Bürger entsprechende demokratische Kontrollmöglichkeiten haben.

Was das Referendum in den Niederlanden über die direkte Demokratie in der EU aussagt

Eine Mehrheit der Niederländer hat gegen das EU-Assoziationsabkommen mit der Ukraine gestimmt. Anstatt sich über das Verdikt der Stimmbürger zu enervieren, sollten sich europäische Politiker besser fragen, welche Lehren sie aus dem Referendum ziehen können. Wir präsentieren vier Vorschläge.

Ob «Referèndum» oder «Folkeafstemning», ob «Plebiscito», «Vóta» oder «Bürgerentscheid»: Wann immer irgendwo in Europa eine Volksabstimmung abgehalten wird, sind die Reaktionen vorhersehbar: Entscheiden die Stimmbürger «richtig» (aus Sicht des jeweils Schreibenden), werden die Segnungen der Bürgerbeteiligung und die Weisheit, Vernunft und Weitsicht des Volkes gelobt. Fällt das Ergebnis indes «falsch» aus, schimpfen die Kommentatoren über «Populismus» und «Verführung», über «Demagogie», «Komplexität» und «Überforderung» und weisen darauf hin, wie unverantwortbar gross die Risiken sind, wenn den Bürgern eine Entscheidung abverlangt wird.

Niederländische «Nee»-Aktivisten gegen das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine. Foto: SP Groningen

So lief dieses übliche Spiel auch nach dem Nein der Niederländer zum Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine. Geert Wilders und seine Anti-EU-Partei PVV hätten aus der Abstimmung über ein Abkommen eine Grundsatzfrage über die EU gemacht, lautete der Tenor unter europäischen Politikern und in den  Medien (zumindest in den deutschsprachigen). Dadurch sei ein an sich gutes Projekt durch populistische Aufwiegelung zu Fall gebracht worden. Quod erat demonstrandum: Die Bürger stimmen falsch ab. Man sollte solche Fragen besser den Experten überlassen. (Jenen Experten, die die Idee hatten, eine europäische Einheitswährung zu schaffen, die das Dublin-System ersannen und die Geld drucken, um damit Anleihen überschuldeter Staaten zu kaufen?)

Das Referendum in den Niederlanden und die Reaktionen darauf bringen zum Ausdruck, was in der EU alles falsch läuft, wenn es um die direkte Demokratie geht:

1. Die Angst vor dem Volk
Die Niederländer hätten ihrer Regierung einen «Denkzettel» verpasst, hiess es. Dass die Bürger einen aussenpolitischen Vertrag dazu nutzten, ihre Meinung zur EU abzugeben, ist zwar unschön. Es ist jedoch nur die logische Konsequenz daraus, dass sie zuvor noch nie ihre Meinung über die EU-Mitgliedschaft ihres Landes abgeben konnten. Tatsächlich war die Europapolitik vieler Länder geprägt von einem so genannten «permissive consensus»: Die Bürger wurden nicht nach ihrer Meinung zur fortschreitenden europäischen Integration befragt, störten sich aber auch nicht wirklich daran, solange diese sie nicht viel mehr betraf, als dass der Abbau von Handelshemmnissen ihren Wohlstand steigerte. Die fehlende demokratische Legitimation in den Mitgliedsländern erleichterte die zunehmende politische Verflechtung, doch als die Kritik am Souveränitätsverlust und Zentralismus lauter wurde, wurde sie zu einem Bumerang. Diesem können Regierungen auch nicht ausweichen, indem sie auf Referenden verzichten. In diesem Fall erhalten sie Denkzettel einfach bei den nächsten Wahlen.

Stattdessen sollten die Regierungen mehr Volksabstimmungen zulassen. Dann ginge es auch wieder vermehrt um Sachfragen.

2. Bürgerbeteiligung, von oben angeordnet
Das Referendum in den Niederlanden wurde möglich durch eine Gesetzesänderung, mit der Bürger Volksabstimmungen auslösen können, wenn sie innerhalb von sechs Wochen mindestens 300’000 Unterschriften zusammenbringen. Das ist europaweit allerdings eher die Ausnahme als die Regel. Das Referendum über den EU-Austritt in Grossbritannien etwa wurde nur möglich, weil die Regierung sich dazu entschied – also ein Plebiszit «top-down» anordnete. Die Ausrufung war in erster Linie ein taktischer Entscheid David Camerons, um mit einem Sieg (mit dem er offenbar rechnete) seine Position zu stärken und die Euroskeptiker in den eigenen Reihen in Schach zu halten.

Direkte Demokratie sollte jedoch nicht von der «Grosszügigkeit» der Herrschenden abhängig sein. Vielmehr sollten die Bürger selber darüber entscheiden, welche Fragen wichtig genug sind, um einer Abstimmung unterstellt zu werden.

3. Abstimmungen, nicht Umfragen
Das Ergebnis des Referendums in den Niederlanden ist rechtlich nicht bindend, es war eine blosse Konsultativabstimmung. Das macht es für die Bürger einfacher, Denkzettel abzugeben, weil die Verantwortung letztlich bei der Regierung bleibt. Zugleich wird die demokratische Entscheidung dadurch zur Farce. Es gibt genug Forschungsinstitute, die Meinungsumfragen durchführen können.

Wer den Aufwand betreibt, eine landesweite Volksabstimmung zu veranstalten und die Organfunktion der Stimmberechtigten anruft, der sollte das Volk und seine Mehrheitsmeinung auch ernst nehmen. Volksabstimmungen als autoritative Willensäusserungen sind grundsätzlich als bindend zu betrachten.

4. Die Widersinnigkeit von Quoren
Wer bei der Abstimmung in den Niederlanden ein Ja in die Urne legte, verlor gleich doppelt: Denn damit das Ergebnis (trotz des ohnehin nur konsultativen Charakters!) gültig war, musste die Stimmbeteiligung mindestens 30 Prozent betragen. Mit 32 Prozent wurde dieses Quorum ziemlich knapp überschritten. Das bedeutet: Wären 290’000 der 1.5 Millionen Ja-Stimmenden zu Hause geblieben, hätte ihr Lager gewonnen. Solche paradoxen Ergebnisse sind Gift für die Akzeptanz demokratischer Entscheidungen.

In Italien führt das Beteiligungsquorum von 50 Prozent bei regelmässig zur absurden Situation, dass die Gegner des Referendums (d.h. die Befürworter eines Gesetzes) ihre Anhänger «demobilisieren» (oder zumindest nicht aktiv mobilisieren). So können sie verhindern, dass die 50 Prozent erreicht werden. Der ehemalige Ministerpräsident Silvio Berlusconi trieb diese Taktik auf die Spitze, indem er vor einem Referendum über die Atomkraft seinen Bürgern riet, doch lieber an den Strand statt an die Urnen zu gehen. Je erfolgreicher die Referendumsgegner die Bürger von der Ausübung ihrer demokratischen Rechte abhalten, desto schwieriger wird es für die Befürworter, die im Extremfall 50 Prozent der Stimmberechtigten (nicht der Stimmenden!) überzeugen müssen, um gewinnen zu können. Diese Strategie funktionierte auch bei der jüngsten Abstimmung über die Öl- und Gasförderung vor der italienischen Küste: Ministerpräsident Matteo Renzi versuchte das anstehende Referendum so weit als möglich zu ignorieren und rief die Stimmberechtigten indirekt dazu auf, nicht daran teilzunehmen – mit Erfolg: Das Referendum scheiterte an der zu geringen Stimmbeteiligung (nur 31 Prozent), obwohl 86 Prozent der Stimmenden ein Ja (zur Abschaffung des Gesetzes) einlegten.

Abstimmungsquoren (insbesondere Beteiligungsquoren) widersprechen der unverfälschten Stimmabgabe und dem Mehrheitsprinzip, sie begünstigen den Status quo gegenüber dem Änderungsantrag. Sie haben deshalb in einer chancengleichen direkten Demokratie nichts verloren.

Leider dürfte das Referendum in den Niederlanden kaum zu einer grösseren Offenheit gegenüber der direkten Demokratie in der EU beigetragen haben. Dabei wäre diese dringend nötig angesichts des Zustands der Union.

Und was wollen die Europäer?

Die Krise der EU lässt sich nicht lösen, wenn man die Bürger als unselbständige Wesen betrachtet, die vor dem Gespenst des Nationalismus gerettet werden müssen.

Die jüngste Ausgabe des «Club» auf SRF zum Thema «Wie angeschlagen ist die EU?» war nicht arm an Kontroversen. In einem Punkt schienen sich die Gesprächsteilnehmer indes einig zu sein: dass sich die Mitglieder der EU stärker integrieren sollen, oder zumindest nicht weniger stark als heute. Der flammendste Verfechter einer völligen und undifferenzierten europäischen Integration war dabei der österreichische Autor Robert Menasse. Sein Weltbild ist simpel: Die Nationalstaaten sind per se schlecht und gehören abgeschafft, die EU ist gut und soll möglichst alles und jeden Lebensbereich einheitlich umschliessen – von Athen bis Helsinki. Die Nationalstaaten müssten überwunden werden, dozierte er, denn sie führten nur zu Nationalismus und zu neuen Konflikten. Dass auch ein europäischer Nationalismus zu Konflikten führen kann, übersah er dabei geflissentlich. Ebenso, dass gerade die Währungsunion als vermeintlich krönender Höhepunkt der europäischen Integration in die jüngsten Konflikte mündete. Und ironischerweise dazu beigetragen hat, dass in den letzten Jahren in ganz Europa nationalistische Parteien Aufwind bekommen haben.

In den Augen Menasses sind jegliche einzelstaatliche Interessen des Teufels. Zur Griechenland-Krise erklärte er: «Das Problem ist inexistent.» Denn die griechischen Staatsschulden beliefen sich auf lediglich 2 Prozent des Bruttoinlandprodukts der EU. Dass es den Griechen nicht besser geht, wenn sie wissen, dass ihre Schulden 2 Prozent der EU-Wirtschaftsleistung ausmachen, blendete Menasse aus. Denn wenn man alles «durch die europäische Brille betrachtet», wie er es fordert, lassen sich alle Probleme ganz klein reden.

Gemäss Menasse können die Herausforderungen der EU nur bewältigt werden, wenn die Europäer aufhören, auf das eigene Land zu achten, und stattdessen einen paneuropäischen Demos bildeten. «Wir wissen, dass es demokratisch katastrophal ist, ökonomisch katastrophal ist und sozial katastrophal ist, wenn mächtige Nationen beginnen, wieder nationale Interessen zu verteidigen», erklärte er und führte das Beispiel Deutschlands an. Offenbar ist es also eine Katastrophe, dass gewählte Politiker die Interessen ihrer Wähler vertreten (während andere lieber Geld ausgeben, das sie nicht haben, und die Wähler in anderen Staaten dafür bezahlen lassen).

Europäischer Einheitsstaat oder loser Staatenbund?

Aufhorchen lässt demgegenüber Menasses Vision eines «Europa der Regionen», in welchem die Nationalstaaten aufgelöst sind und stattdessen «Regionen» gebildet werden, welche die Bürger im grossen Gebilde EU vertreten sollen. Diese Entitäten böten genug Identität, findet Menasse, und da sie von Natur aus etwa gleich gross seien, werde damit auch – im Gegensatz zur heutigen Übermacht Deutschlands und der wandelnden Rolle Frankreichs und Grossbritanniens – die Parität der subkontinentalen Einheiten wiederhergestellt.

Nur eine Frage wird in der ganzen Sendung nicht gestellt: Was wollen die Europäer? Wollen sie mehr Integration? Wollen sie ein «Europa der Regionen», also letztlich einen europäischen Einheitsstaat mit aufgelösten Nationalstaaten? Oder möchten sie eine bescheidenere Union, ein loser, auf spezifische Kompetenzen zurückgestutzter Staatenbund und damit wieder mehr Souveränitätsrechte für die Mitgliedsländer?

In Menasses Weltbild lässt sich aber auch dieses Problem leicht beheben: Wer keine Souveränitätsrechte vom Nationalstaat an eine supranationale Organisation abtreten will, muss ein Nationalist sein und geht somit ohnehin in die falsche Richtung. Dass bei Wahlen in vielen Mitgliedsländern zuletzt EU-skeptische Parteien gewannen, ist aus seiner Sicht denn auch nicht etwa als Ruf nach weniger Integration und mehr Subsidiarität zu verstehen, sondern belegt lediglich die Gefährlichkeit des Nationalismus. In der Unsicherheit orientiere sich der Mensch an dem, was er kenne, und das sei die althergebrachte Nation. So wird der Bürger in Menasses Vorstellung zu einem hilfsbedürftigen Wesen, das ohne die väterliche Führung durch die europäischen Institutionen wieder in den Nationalismus zurückfällt und eine Spirale in Gang setzt, die geradewegs zum Faschismus führt.

Differenzierte, vertikale Kompetenzausscheidung

Es ist erstaunlich, wie stark ideologisch geprägt die Diskussion über die EU (sowohl in der EU als auch ausserhalb) ist. Dabei geht es doch eigentlich um nichts anderes als die simple Frage, wo Entscheidungsfindungen am besten aufgehoben sind: In der Gemeinde? Im Kanton? Auf der Ebene des Nationalstaats? In supranationalen Institutionen? Oder, was nicht vergessen werden darf: vielleicht doch besser bei privaten Akteuren, Menschen und Unternehmungen, ohne staatliche Eingriffe? Die Antwort lautet: Überall. Manche staatlichen Aufgaben, etwa der Schutz der Umwelt oder die Flüchtlingspolitik, können durch ein supranationales Gebilde effizienter erfüllt werden, manche Bereiche, etwa die Bildungspolitik oder die Infrastruktur, werden besser dezentral gesteuert, nahe an der Bevölkerung und den lokalen Gegebenheiten angepasst.

Welche Aufgabe auf welcher Stufe am besten aufgehoben ist, können die Bürger am besten entscheiden – wenn man ihnen denn die Möglichkeit lässt. Wer aber ein Weltbild hat, das nur schwarz und weiss kennt, – und von diesen Leuten gibt es viele, EU-Befürworter wie -Gegner – der sieht sich immer bestätigt. Sagen die Bürger Ja zu mehr Integration, ist es gut; sagen sie Nein, haben sie eben noch nicht verstanden, was gut für sie ist. Oder umgekehrt.

Das Volk als Risikofaktor

Mit seiner Ankündigung, ein Referendum über die Mitgliedschaft Grossbritanniens in der EU durchzuführen, hat David Cameron in ein Wespennest gestochen. Die europäischen Partner werfen dem britischen Premierminister vor, sich von Europa abzuwenden, reden gar von «Erpressung». Und auch im Inland muss sich Cameron Kritik anhören. Oppositionsführer Ed Miliband schlug die Option eines Referendums sogleich aus. Sogar Camerons Koalitionspartner und Vize-Premier Nick Clegg sprach sich gegen die Pläne aus und warnte, ein Referendum würde «Unsicherheit» bringen und der Wirtschaft schaden.[1]

Die Kritik aus dem In- und Ausland ist aufschlussreich, weil sie einiges über das Demokratieverständnis gewisser Politiker aussagt. Eines der Highlights im negativen Sinn markieren die Ausführungen von Tony Blair in der jüngsten Ausgabe des «Spiegels». Die Aussagen des ehemaligen Premierministers sind stellenweise so grotesk, dass sie eine genauere Betrachtung verdienen.

«Ein Referendum ist ein unberechenbares Instrument der demokratischen Willensbildung. Wenn man nicht dazu gezwungen ist, sollte man die Finger davon lassen.»

Jede demokratische Entscheidung ist unberechenbar. Auch Wahlen sind unberechenbar. Nach Blairs Logik dürften also auch keine Wahlen mehr stattfinden. Falls Blair ein Regierungssystem ohne Risiko wünscht, wäre die Rückkehr zur absoluten Monarchie wohl der richtige Weg.

«Ich habe Probleme damit, wenn wir ein Referendum mit der Ausstiegsoption auf den Weg bringen und riskieren, dass Grossbritannien die Europäische Union verlässt.»

Und wenn die Bevölkerung nun der Meinung ist, Grossbritannien sollte die EU verlassen? Was sagt uns, dass diese Meinung «falsch» wäre? Die Tatsache, dass sie nicht mit der Meinung von Herrn Blair übereinstimmt?

Blair fährt fort:

«Mit der Frage von Reformen innerhalb Europas hat das nichts zu tun.»

Es spricht einiges dafür, dass die wirtschaftlichen und politischen Fehlentwicklungen in der EU sehr viel mit institutionellen Faktoren und insbesondere mit dem Mangel an demokratischer Mitbestimmung zu tun haben. Während Jahrzehnten haben die Regierungen der EU-Staaten Gesetzgebungskompetenzen verschoben – an die EU und insbesondere an den Europäischen Rat, letztlich also an sich selbst. Der Einfluss der Bürger auf politische Entscheidungen ist immer indirekter geworden. Dabei wäre eben dieser Einfluss ein wichtiges Instrument demokratischer Kontrolle, weil damit Fehlentscheide korrigiert werden könnten. An dieser Kontrolle mangelt es in der EU.

«Ob Politiker mitreden oder nicht, die Bürger werden diskutieren.»

Diskutieren dürfen sie also, die Bürger. Nur entscheiden offenbar nicht.

«Alle entwickelten Staaten der Welt müssen sich radikal ändern, um mit der Globalisierung, der Technologisierung und den Folgen der zunehmenden Alterung Schritt zu halten.»

Die Staaten müssen sich radikal ändern, meint Blair. Nur das politische System sollte genauso bleiben wie es ist. Es sollte höchstens noch ein bisschen weniger demokratische Mitbestimmung geben.


[1] Ironischerweise hatte Cameron selbst genau dasselbe Wort benutzt, als er die Pläne der Scottish National Party kritisierte, ein Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands abzuhalten.

Ein gewählter EU-Präsident zur «Stärkung der demokratischen Legitimation»?

Guido Westerwelle

Demokratisierung von oben: Guido Westerwelle. Bild: Wikipedia

Ein Interview Mario Montis hat in den letzten Tagen für Wirbel in Europa gesorgt. Der italienische Premierminister sagte im «Spiegel», die Regierungen der EU-Länder sollten weniger Rücksicht auf ihre Parlamente nehmen. «Wenn sich Regierungen vollständig durch die Entscheidungen ihrer Parlamente binden liessen, ohne einen eigenen Verhandlungsspielraum zu bewahren, wäre das Auseinanderbrechen Europas wahrscheinlicher als eine engere Integration», warnte er.

Dass Montis Aussagen von wenig Einsicht ins Funktionieren von Demokratien zeugen, sondern vielmehr sinnbildlich sind für die Hilfs- und Ideenlosigkeit der europäischen Politik, muss an dieser Stelle nicht nochmals erwähnt werden. Interessanter sind die Reaktionen auf das Interview, die vorab in Deutschland heftig und fast ausschliesslich negativ ausfielen. Kaum ein Politiker, der Monti nicht öffentlich für seine Aussage rügte. Auch Aussenminister Guido Westerwelle stimmte in den Chor der kritischen Stimmen ein. Eine Schwächung der europäischen Parlamente zugunsten der nationalen Regierungen komme nicht in Frage, erklärte er. «Wir brauchen eine Stärkung, nicht Schwächung, der demokratischen Legitimation in Europa.»

Dass sich Westerwelle die Gelegenheit, einem Technokraten – dann noch einem südeuropäischen – an den Karren zu fahren und sich selbst als grossen Demokraten zu präsentieren, nicht entgehen lässt, mag man ihm nicht verübeln. Bei der Art und Weise, wie der Aussenminister diese «Stärkung der demokratischen Legitimation» zu erreichen gedenkt, drängen sich allerdings Zweifel auf.

Im März sinnierte Westerwelle darüber, wie man die EU demokratischer machen könnte. Er brachte dabei die Idee auf, dass der EU-Präsident künftig direkt gewählt werden sollte. «Das könnte der EU neuen Schwung verleihen», meinte er.

Ob ein direkt gewählter Präsident die gewünschte Demokratisierung bringen würde, ist allerdings aus mehreren Gründen fraglich.

Zunächst besteht das Demokratiedefizit der EU nicht darin, dass die Bürger ihre Repräsentanten nicht (direkt) wählen dürften, sondern im mangelnden Einfluss auf die EU-Gesetzgebung. Denn der Einfluss des (gewählten) EU-Parlaments auf die Rechtsetzung ist gegenüber dem EU-Rat stark eingeschränkt. Allerdings dürfte sich daran auch mit einem gewählten Präsidenten nichts ändern, denn dieser dürfte wohl kaum Gesetze im Alleingang verabschieden – und falls doch, dürfte sich Europa bald mit ganz anderen Problemen als Schuldenkrisen herumschlagen…

Problematisch ist darüber hinaus, dass der Präsident in einem einfachen Mehrheitswahlsystem gewählt würde. Das würde dazu führen, dass er nur etwas mehr als die Hälfte der Bürger vertreten würde. Derart disproportionale Wahlergebnisse sind Europa fremd. Die meisten europäischen Länder sind parlamentarische Demokratien mit Proporzsystem – ziemlich exakt das Gegenteil eines präsidentiellen Systems, wie es Westerwelle für die EU vorschwebt. Es ist unwahrscheinlich, dass sich die Bürger in einem solchen System wirklich repräsentiert fühlen würden.

Zudem stellt sich die Frage, weshalb Westerwelle mit seinen Reformideen beim EU-Präsidenten anfängt. Die EU von oben zu demokratisieren, wäre zweifellos ein bequemer Ansatz – bloss funktioniert er nicht. Denn die Ebenen darunter werden durch die Wahl des Präsidenten nicht demokratischer. Die Feststellung, dass die EU undemokratisch ist, basiert aber auf einer Entwicklung am anderen Ende: Die europäische Integration hat den Einfluss nationaler Parlamente zugunsten nationaler Regierungen eingeschränkt. Westerwelles Vorschlag würde daran nichts ändern, dafür würde er einer Exekutive mehr Macht geben, die von gar keinem Parlament kontrolliert wird.

Wie nun derselbe Westerwelle behaupten kann, die «parlamentarische Kontrolle der Europapolitik» stehe «ausserhalb jeder Diskussion», bleibt sein Geheimnis.