Der Tod des Tessiner Staatsrats Michele Barra legt ein weiteres Problem von Regierungswahlen im Proporz zutage: Auf der Lega-Liste findet sich kein Ersatzkandidat mehr. Es folgt daher ein mit «null Stimmen gewählter» Staatsrat.
Vor wenigen Monaten verabschiedete sich der Kanton Zug vom Proporzwahlsystem des Regierungsrates und führte den Majorz ein. Seither verbleibt das Tessin als letzter Stand, der die Exekutivämter nicht mittels Mehrheitswahl, sondern durch Parteilisten wählt.
Im März dieses Jahres sorgte bereits die Wahl der Regierung Luganos für Aufsehen und Beschwerden (im Tessin werden auch die Gemeindevorstände im Proporz gewählt). Damals verblieb der kurz davor verstorbene Lega dei Ticinesi-Präsident Giuliano Bignasca auf den Wahllisten und verhalf hierdurch post mortem seiner Partei zur Mobilisierung – und mitunter dank seiner 9001 Stimmen der Partei zum fulminanten Wahlerfolg. Der viertplacierte Michele Foletti durfte nachrücken und ebenfalls ins «Municipio» einziehen.
Eine ähnliche Posse bahnt sich nun rund ums kantonale Regierungsgebäude zu Bellinzona an. Denn seit den letzten Staatsratswahlen 2011 musste die Lega zusehends tiefer in ihre Wahliste greifen, um die zwei ihr zustehenden Regierungssitze besetzen zu können. Die Kaskade begann im vergangenen April, als Marco Borradori bei den erwähnten Luganeser Wahlen zum «Sindaco» gewählt und dadurch der eine der zwei Lega-Sitze vakant wurde. Lorenzo Quardri auf Platz drei verzichtete (er hätte sein Nationalratsmandat abgeben müssen), womit – hinter Bignasca – Michele Barra übernahm.
Doch die Tessiner Politik gelangt nicht zur Ruhe: Staatsrat Barra ist gestern, nach einem halben Jahr im Amt, verstorben. Nachrücken kann niemand mehr, da die Lega-Wahlliste mit ihren maximal zulässigen fünf Kandidaten erschöpft ist:
Kandidaten Staatsrat
Lega dei Ticinesi
(Wahlen 2011) |
Wahlresultat (Listenposition), Status |
Kandidatenstimmen
|
Borradori Marco |
Platz 1, Rücktritt |
81’754 |
Gobbi Norman |
Platz 2, gewählt |
61’712 |
Quadri Lorenzo |
Platz 3, Verzicht |
52’928 |
Bignasca Giuliano |
Platz 4, verstorben |
52’495 |
Barra Michele |
Platz 5, nachgerückt/ verstorben |
40’207 |
Gemäss Tessiner Wahlrecht müssen sich nun die damaligen 63 Unterzeichnenden der Liste innert 30 Tagen auf die Nachfolge einigen. Der vormals ausgeschiedene Borradori und der verzichtende Nationalrat Quadri kämen nun übrigens wieder infrage. Faktisch kann jetzt also einer kleiner Kreis von Lega-Funktionären und -Mitgliedern eigenmächtig den neuen Staatsrat bestimmen. Was für Legislativen opportun erscheint, weil dort effektiv die Parteien im Vordergrund stehen sollen, ist für ein kleines, operatives Fünfergremium delikat.
«È eletto con zero voti…»
Ersatzwahlen wären bloss dann vorgesehen, falls sich die Listen-Unterzeichner nicht auf einen Nachrücker einigen können sollten – was kaum zu erwarten ist, zumal dann der zweite Lega-Sitz zur Disposition stünde. Es wird daher wohl bald ein neuer Staatsrat – «gewählt mit null Stimmen» – in die Regierung einziehen, so wie 1989 bereits Dick Marty für die FDP hineinrutschte.
Ganz abgesehen vom problematischen Nachrück-Prozedere, erscheint eine Proporzwahl für eine Exekutive an sich schon fragwürdig (vgl. letztjährige Diskussion zur Proporzwahl der Stadtberner Regierung). Denn im Gegensatz zu einem breit aufgestellten Parlament, welches die unterschiedlichen politischen Einstellungen der Bevölkerung adäquat repräsentieren soll, sollte eine Regierung anderen Massstäben genügen, statt primär den Parteienproporz zu erfüllen. Im Unterschied zum deliberativen Organ des Parlaments sollten in der dezisionistischen Regierung in erster Linie fähige Köpfe vertreten sein. Eine gewisse parteiliche Abdeckung ist zwar ebenso wünschenswert, jedoch nicht als oberste Maxime zu verstehen.
Im Majorz gewählten Staatsräten läge sodann ein ungleich anderes Selbstverständnis zugrunde: Da sie von einer Mehrheit der Tessiner Bevölkerung gewählt und dadurch getragen würden, wäre ihr Fokus auf einem breiten Elektorat ruhend. Sie repräsentierten also tendenziell den «ganzen» Kanton, anstatt sich als verlängerter Arm einer Partei zu betrachten. Die Abhängigkeit von der eigenen Partei ist denn bei Proprozwahlen virulent – nur schon aufgrund des Anmeldeprozederes.
Womöglich sind die neuerlichen Vorkommnisse Anlass, dass nach Zug auch im Tessin über einen Wechsel zur Majorzwahl der Regierung nachgedacht wird.
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