Als Liedermacher ist Mani Matter auch über 40 Jahre nach seinem Tod den meisten Schweizern wohlbekannt. In seinen Stücken nimmt er mit Schalk und Humor die Wunderlichkeiten des Lebens und die Gesellschaft aufs Korn.
Weniger bekannt ist, dass Mani Matter auch eine ernste und nachdenkliche Seite hatte. In seinen Liedern scheint diese zuweilen durch. Und doch würde man, wenn man seine Musik hört, nicht ahnen, dass Matter ein äusserst scharfsinniger Denker und begabter Jurist war.
Mani Matter – der mit bürgerlichem Vornamen Hans Peter hiess – studierte an der Universität Bern Rechtswissenschaft und entwickelte bald ein Interesse für staatsrechtliche Fragen. Seine ursprünglich geplante Dissertation zum Thema «Repräsentation und Referendum» wäre aus staatspolitischer Sicht bestimmt interessant zu lesen gewesen, er verwarf diese Idee jedoch aus Zeitgründen zugunsten einer Arbeit zu einem verfahrensrechtlichen Thema. Nachdem er diese abgeschlossen hatte, war Matter als Assistent an der Universität tätig und begann sich intensiv mit der pluralistischen Staatstheorie zu befassen. Er beschloss, zu diesem Thema eine Habilitationsschrift zu verfassen, und zog zu diesem Zweck für ein Jahr nach England.
Während er an dem Werk schrieb, wuchsen aber seine Zweifel, ob die akademische Laufbahn der richtige Weg für ihn sei. Er entschied sich letztlich dagegen und kehrte nach Bern zurück, um – wie er sich ausdrückte – «die Juristerei ein für allemal zum Broterwerb» zu «degradieren» und eine Beamtenstelle bei der Stadt anzutreten. Seine Habilitation, obschon praktisch fertig, reichte er nie ein. So blieb die Schrift während Jahrzehnten der Öffentlichkeit verborgen – bis Benjamin Schindler darauf stiess und von ihr so fasziniert war, dass er beschloss, das Werk in Buchform zu veröffentlichen. Das Buch «Die Pluralistische Staatstheorie» ist vergangenes Jahr im Zytglogge-Verlag erschienen.
Die pluralistische Theorie bezeichnet eine Denkrichtung des Staatsrechts, die sich gemäss Matter vor allem durch zwei Merkmale charakterisiert:
Einerseits stellt sie sich gegen die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts vorherrschende Souveränitätslehre. Diese sah den Staat als oberste Autorität und schrieben ihm eine höchste Willensmacht zu, von der sich alles Recht ableitete. Die Pluralisten bestritten diese uneingeschränkte Autorität.
Stattdessen sahen sie den Staat als einen Verband unter vielen, die in einer Gesellschaft existieren. Der Staat definiert sich aus Sicht der Pluralisten nicht durch seine Autorität oder seine absolute Willensmacht, sondern durch seinen Zweck, den er in der Gesellschaft leistet.[1]
Freilich unterscheiden sich die Pluralisten in ihren Theorien teilweise deutlich voneinander. Mit seinem Werk wollte Matter einen Überblick über die Ideengeschichte der pluralistischen Theorie bieten. Zu diesem Zweck beschreibt er die Theorien von sechs Denkern, welche aus seiner Sicht massgeblichen Einfluss auf die pluralistische Staatstheorie hatten: Otto von Gierke, Emile Durkheim, William James, Léon Duguit, Hugo Krabbe und Harold Laski.
Mit Ausführungen zu eigenen Theorien und Vorstellungen hält sich Matter dabei zurück. Dennoch sind bei der Lektüre seine Sympathien für die Theorie Laskis nicht zu übersehen (was wohl auch der Grund ist, dass er zum Verfassen der Arbeit nach England ging).
Eine der zentralen Fragen, von denen Matter ausgeht, ist: Wodurch – wenn überhaupt – ist der Staat legitimiert, für die Bürger einer Gesellschaft verbindliche Regeln zu definieren und sie zur Einhaltung dieser Regeln zu verpflichten?
Die Souveränitätslehre beantwortet diese Frage dahingehend, dass es für das Funktionieren einer Gesellschaft unerlässlich ist, dass es eine oberste Instanz gibt, die bestimmt und durchsetzt, was Recht ist und was nicht.
Die Pluralisten wollten aber nicht einfach annehmen, dass der Staat absolute Macht besitzt und sich von ihm alles Recht ableitet. Aus ihrer Sicht muss das Recht aus einer anderen Quelle entstammen. So sehen Duguit und Krabbe das «Rechtsbewusstsein», das innerhalb der Gesellschaft existiert, als Ursprung des Rechts, dem sich auch der Staat unterzuordnen hat. Eine schlüssige Herleitung dieses «Rechtsbewusstseins» bleiben beide schuldig. Sie gehen einfach davon aus, dass in einer Gesellschaft eine allgemeine Auffassung darüber besteht, was Recht ist und was nicht.
Laski ging in der Ablehnung einer obersten Autorität weiter: Er zweifelte nicht nur die allumfassende Autorität des Staates, sondern auch jene des Rechts an. Aus seiner Sicht existiert in jeder Gesellschaft eine Vielzahl von Rechtsauffassungen, und keine, auch wenn sie «allgemein» anerkannt ist, darf legitimerweise über die anderen gestellt werden.
Diese Ausführungen erscheinen zunächst sehr theoretisch. Doch die Frage nach der Quelle des Rechts und der Legitimität ist von hoher praktischer Relevanz. Mani Matter veranschaulicht dies wohl selbst am besten, und zwar in seinem Lied «Dynamit». Darin beschreibt er, wie er eines Nachts einen «bärtigen Kerli» daran hindert, das Bundeshaus in die Luft zu sprengen, indem er in flammenden Worten die Errungenschaften des schweizerischen Bundesstaates beschwört. Doch nach seiner Heldentat befallen ihn Zweifel darüber, ob seine Beschreibung des Staates als höchste Errungenschaft gerechtfertigt war.
Matter überzeugt den verhinderten Attentäter von der legitimen Autorität des Staates, nur um kurz darauf ebendiese Legitimität zu hinterfragen. Das Lied spricht damit eine grundsätzliche Frage an: Ist es legitim, dass der Staat uneingeschränkt darüber befinden kann, welches Recht für seine Bürger gilt? In einer Demokratie führt diese Frage bald zu einem Dilemma: Beantwortet man sie mit Ja, legitimiert man, dass der Staat im Namen einer Mehrheit einzelne Mitglieder der Gesellschaft benachteiligen oder unterdrücken kann. Spricht man ihm aber diese Legitimität ab, stellt man notwendigerweise die Legitimität der Demokratie in Frage.
Laski argumentiert, dass der Staat nicht die absolute und uneingeschränkte Autorität beanspruchen kann, weil der dazu die absolute und uneingeschränkte Zustimmung aller Bürger bräuchte. Diese kann er aber nicht erhalten, weil niemals alle Bürger uneingeschränkt einer Meinung sind.
Diese Begründung mutet nun tatsächlich sehr radikal an, weil man daraus schliessen könnte, dass der Staat überhaupt nichts mehr machen kann, weil immer jemand dagegen ist. Darauf will Laski aber nicht hinaus. Der Staat soll nach seiner Auffassung sehr wohl handeln und das tun, was seinem Zweck entspricht. Dieser Zweck ist nun aber nicht wie bei Duguit und Krabbe die Entsprechung eines diffusen «Rechtsbewusstseins». Vielmehr entscheidet jeder Bürger für sich, worin der Gemeinschaftszweck besteht und ob er tatsächlich erfüllt wird. Der Staat soll versuchen, seinen Zweck für alle Bürger so gut wie möglich zu erfüllen und so die Zustimmung der Bürger zu gewinnen, auch wenn ihm das nicht vollständig gelingen kann. Laski verlangt von jedem Einzelnen eine kritische Prüfung des staatlichen Handelns – genau wie sie Matter im Lied «Dynamit» unternimmt.
Auf der letzten Seite seiner Habilitationsschrift bringt Matter Laskis Lehre mit einem Zitat auf den Punkt: «Ein Mensch muss, vor allem, sich selber treu sein (…) der grösste Beitrag, den er zum Staat leisten kann, ist die Anstrengung eines moralischen Urteils». Die Vielfalt dieser Urteile anzuerkennen, ist der Kern seiner Staatstheorie. Die Arbeit schliesst mit einem weiteren Zitat Laskis, das auch den Untertitel des Buches lieferte:
«We shall make the basis of our State consent to disagreement.»
[1] Im Folgenden wird vor allem der erste Punkt relevant sein.
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