National- und Ständeräte sammeln gemäss einer Studie eine wachsende Zahl von Mandaten. Interessengruppen gehen dabei gezielt auf Kommissionsmitglieder zu.
Publiziert in der «Luzerner Zeitung» und im «St. Galler Tagblatt» am 6. September 2017.
Für die einen ist Ignazio Cassis ein bestens vernetzter Gesundheitsfachmann, für die anderen ein willfähriger Handlanger der Krankenkassenlobby. Der Fall des Tessiner Nationalrats und FDP-Bundesratskandidaten zeigt exemplarisch die Zweischneidigkeit von Interessenbindungen von Parlamentariern. Cassis ist ausgebildeter Arzt und sitzt im Vorstand des Berufsverbands FMH, vor allem aber ist er Präsident des Krankenkassenverbands Curafutura. Cassis ist mit dem Gesundheitswesen vertraut wie kaum ein anderer Politiker unter der Bundeshauskuppel. Aber kann jemand unabhängig politisieren, wenn er für ein Verbandspräsidium 180 000 Franken pro Jahr erhält wie der FDP-Politiker bei Curafutura?
Cassis ist kein Einzelfall. National- und Ständeräte sind verpflichtet, ihre Tätigkeiten in Führungs- und Aufsichtsgremien sowie Beiräten von Unternehmen, Verbänden oder anderen Organisationen offenzulegen. Wissenschafter der Universitäten Genf und Lausanne haben diese Angaben detailliert erfasst und analysiert. Ihre Auswertung zeigt, dass die Zahl der Interessenbindungen in den vergangenen Jahren stetig zugenommen hat. 2015 belief sie sich auf 1842, was etwa sieben Mandaten pro Parlamentarier entspricht. Zum Vergleich: 2004 hatte die Gesamtzahl noch bei 1614 Interessenbindungen gelegen. Die Auswertung zeigt auch, dass vor allem die Bindungen der National- und Ständeräte zu organisierten Interessengruppen zugenommen haben, während jene zu einzelnen Firmen und zu staatsnahen Organisationen stagnieren oder zurückgegangen sind.
Eine «symbiotische» Beziehung
Besonders aufschlussreich ist es zu sehen, wie sich die Interessenbindungen auf die einzelnen Ratsmitglieder verteilen. Eine entsprechende Untersuchung der Lausanner Politikwissenschafter Steven Eichenberger und André Mach zum Nationalrat ergab, dass sich die Mandate von Interessengruppen auf die für sie jeweils entscheidenden Kommissionen konzentrieren: Mitglieder der Kommission für Wirtschaft und Abgaben (WAK) haben im Durchschnitt am meisten Verbindungen zu Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften, während sich Mandate von Krankenkassen und Spitälern in der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK) häufen.
Das lässt sich einerseits damit erklären, dass Parlamentarier in Kommissionen sitzen wollen, deren Themen sie besonders interessieren. Gut möglich, dass sie in diesen Bereichen bereits Mandate haben. Allerdings zeigt die Untersuchung auch: Rund die Hälfte der Interessenbindungen, welche die Kommissionsmitglieder in ihrer ersten Legislatur angaben, erwarben sie erst im Verlauf ihrer Kommissionstätigkeit. Verbände, Unternehmen und Organisationen suchen also offenbar gezielt die Zusammenarbeit mit Kommissionsmitgliedern, welche die für sie relevanten Geschäfte vorberaten. Studienautor Steven Eichenberger sieht solche Bindungen als «Symbiose»: Interessengruppen erhalten über Mandatsträger eine Verbindung ins Parlament, im Gegenzug bekommen die Politiker Zugang zu Fachwissen und Unterstützung, etwa bei Wahlen.
Sachverstand einbringen
Politiker betonen die Vorteile von Interessenbindungen für das Funktionieren des Parlamentsbetriebs. «Ich mache die Erfahrung, dass die Kollegen sorgfältig mit ihren Mandaten umgehen und vor allem ihr Wissen aus ihrer praktischen Tätigkeit einbringen», sagt etwa Karin Keller-Sutter. Die St. Galler FDP-Ständerätin gehört unter anderem mehreren Verwaltungsräten an und ist Präsidentin des Detailhandels-Verbands Swiss Retail Federation. Mit einer Ausnahme seien ihr alle Mandate angeboten worden, bevor sie gewählt worden sei. Ihr Kollege Roland Eberle von der SVP sagt: «Es ergibt Sinn, wenn der Sachverstand in den zuständigen Kommissionen gebündelt ist.» Eberle sitzt unter anderem in der Gesundheitskommission und im Verwaltungsrat der Krankenkasse Groupe Mutuel. Das Unternehmen habe einen Ständerat aus der Deutschschweiz für sein Leitungsgremium gesucht, erklärt er. Als ehemaliger Thurgauer Gesundheitsdirektor sei er mit der Materie vertraut. «Dass ich in der Gesundheitskommission sitze, spielte hingegen keine Rolle», sagt Eberle, der betont, dass er nicht die Interessen der Krankenversicherungen, sondern jene der Prämienzahler vertrete.
Kein Problem mit der Bezeichnung Interessenvertreter hat Corrado Pardini. Der Berner SP-Nationalrat arbeitet als Leiter des Sektors Industrie bei der Gewerkschaft Unia und sitzt im Präsidialausschuss des Gewerkschaftsbundes. «Wenn jemand zur Wahl antritt und offen sagt, dass er eine gewisse Organisation vertritt, ist das legitim», sagt Pardini. Das gelte nicht nur für Gewerkschaften, sondern auch für Arbeitgeberverbände. «Problematisch ist, wenn jemand ins Parlament kommt und innerhalb eines Jahres 20 Nebenmandate sammelt.» Heikel seien zudem Interessenbindungen «in Bereichen, wo viel öffentliche Gelder fliessen», sagt Pardini. «Die Krankenversicherungen etwa bewegen sich in einem geschützten Markt und sind sehr direkt von politischen Entscheiden abhängig. Da ist die Gefahr gross, dass Unternehmen gezielt Ratsmitglieder anwerben, um ihre Interessen durchzusetzen.»
Einige Sozialdemokraten, vornehmlich aus der Westschweiz, wollen dem einen Riegel schieben: Im Oktober wollen sie eine Volksinitiative lancieren, welche Mandate bei Krankenkassen generell verbietet. Pardini ist skeptisch, ob das der richtige Weg ist: «Eine bessere Lösung wäre vielleicht, die Ausstandsregeln in der Kommission zu verschärfen, damit Krankenkassenvertreter bei Abstimmungen, welche die Versicherer betreffen, in den Ausstand treten müssen.»
Eine Ironie der geplanten SP-Initiative: Ausgerechnet der als «Kranken-Cassis» kritisierte Ignazio Cassis wäre möglicherweise gar nicht betroffen: Denn die Initiative würde nur Mandate und Entschädigungen von Krankenkassen verbieten – auf deren Verbände wäre die Einschränkung wohl nicht anwendbar.
Interessenvertretung wandelt sich
Aus Sicht von Steven Eichenberger ist die wachsende Zahl von Interessenbindungen per se nicht ein Problem, sondern primär Ausdruck eines Wandels. «Früher fand Interessenvertretung eher informell statt, bevor ein Geschäft überhaupt ins Parlament kam», sagt er. Was in der vorparlamentarischen Phase ausgehandelt wurde, sei relativ problemlos durch das Parlament gegangen, wo der Bürgerblock dominierte. «Heute ist das weniger klar, und deswegen ergibt es aus der Perspektive der Interessengruppen wohl Sinn, sich verstärkt im parlamentarischen Prozess einzubringen.» Das geschieht nicht nur über Verbindungen zu Politikern, sondern auch mittels professioneller Lobbyisten.
Die Zunahme von Interessenbindungen lasse sich auch dadurch erklären, dass die Bundesversammlung seit der Einführung ständiger Kommissionen in den 1990er-Jahren und der Erhöhung der Entschädigungen an Gewicht gegenüber der Verwaltung gewonnen habe, so Steven Eichenberger. «Die Zahlen zeigen, dass Interessengruppen gezielt Einfluss im Parlament suchen. Sie zeigen aber auch, dass heute mehr Interessengruppen Zugang zum Parlament haben als früher.»
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