Napoleon’s Nightmare-Buchempfehlungen 2024

Aus dem Bücher-Jahrgang 2024 hat die «Napoleon’s Nightmare»-Redaktion ein Dutzend demokratierelevante Favoriten herausgepickt. Die Neuerscheinungen beleuchten die US-Wahlen, die Digitalisierung, den Liberalismus und Illiberalismus, die Schweizer Abstimmungsgeschichte, die Umweltverfassung und das Parlamentsrecht.

Von Claudio Kuster und Lukas Leuzinger

Marina Weisband: Die neue Schule der Demokratie – Wilder denken, wirksam handeln (S. Fischer)
«Es ist ein Irrtum zu glauben, dass Demokraten von selbst heranwachsen, gleichsam aus der Luft fallen und ab ihrem 16. oder 18. Lebensjahr, wenn sie das erste Mal wahlberechtigt sind, automatisch das tun, was man bei guten Demokraten eben voraussetzt.» Marina Weisband, Publizistin, Psychologin und IT-Nerd, zeigt in ihrem Buch «Die neue Schule der Demokratie» daher anschaulich auf, wie wirkungsvolle schulische Demokratieförderung aussehen sollte. Zwar gebe es Staatskundeunterricht und da und dort Planspiele. Aber das sei «nur Unterrichtsstoff», Schule an sich funktioniere nicht demokratisch. Dabei sei es essenziell für Kinder und Jugendliche, zu lernen und selbst zu erfahren, dass sie nicht hilflos einem System ausgeliefert seien, sondern Gestalter sein könnten.

Hier setzt die von Weisband mitentwickelte Software «Aula» an, die mittlerweile an zahlreichen Schulen in Deutschland und an einigen im Ausland läuft. Die Schüler können ihre Ideen und Wünsche, wie ihr Schulalltag verbessert werden könnte, niederschwellig in «Aula» einspeisen. Die Inputs können darauf klassenübergreifend von den Mitschülern «geliket», kommentiert und mit Gegenanträgen ergänzt werden. Die Kinder, deren Ideen eine bestimmte Zustimmungsrate erreicht haben, gehen darauf in die verschiedenen Klassen und präsentieren ihr Projekt, versuchen, Interesse zu wecken und Einwände aufzugreifen, um die Idee zu optimieren.

«Das Entscheidende ist, dass sich die Schüler mit Themen beschäftigen, die die ihren sind, für die sie sich interessieren, die in ihrem Leben eine Bedeutung haben.» Wären es irgendwelche beliebigen Übungsprojekte, würde es nicht klappen. Natürlich dürfen via «Aula» (Akronym für «ausdiskutieren und live abstimmen») keine Lehrer entlassen oder Geld verprasst werden, das gar nicht vorhanden ist. Bereits der vielerorts geforderte spätere Unterrichtsbeginn lässt sich hierdurch nicht einführen, da dieses Ansinnen gegen Gesetze verstossen würde. Ein breiter Spielraum ihrer kreativen Entfaltung und Selbstbestimmung bleibt den Kindern und Jugendlichen gleichwohl: Die Hausordnung anpassen, Veranstaltungen durchführen oder kleinere Anschaffungen tätigen. An einer Schule wurde so ein Fussballtor auf dem Schulhof aufgebaut, an einer anderen ein Kräutergarten angelegt.

Selbst die Unterrichtsform lässt sich beeinflussen, hat eine Schule doch beschlossen, dass die Lehrer einen Tag lang den Unterricht ausschliesslich mit dem Smartphone zu gestalten haben. Aus der einmaligen Aktion wurde gar ein regelmässiger, monatlicher «Smartphone-Tag». Ein bisschen erstaunlich (auch demokratietheoretisch) ist einzig, dass die Promotoren einer Idee nach gewonnener Abstimmung auch gleich verantwortlich für deren Umsetzung sind: statt Gewaltenteilung eine grobe Vermischung von Legislative und Exekutive. Weisbands Buch ist ein fesselndes und überzeugendes Plädoyer für praxisnahe Demokratiebildung, das von ihrem breiten Erfahrungsschatz aus Politik, Bildungswesen, Psychologie und Informatik profitiert.

Christian R. Ulbrich & Bruno S. Frey: Automated Democracy – Die Neuverteilung von Macht und Einfluss im digitalen Staat (Herder)
Die Luca-App sollte in Deutschland helfen, Corona-Ansteckungswege zu verfolgen. Doch als 2021 ein Mann nach dem Verlassen einer Gaststätte in Mainz stürzte und starb, nutzte die Polizei die App kurzerhand, um Zeugen ausfindig zu machen. Kurz darauf regte der rheinland-pfälzische Justizminister an, die Daten der Luca-App auch in anderen Fällen für die Strafverfolgung zu nutzen. Das Beispiel zeigt ein Dilemma der Digitalisierung für die Staatstätigkeit. Zum einen erlauben es digitale Technologien, staatliche Tätigkeiten effizienter auszuführen. Zum anderen ermöglichen sie aber auch eine immer engmaschigere Überwachung der Bürger.

In «Automated Democracy» beleuchten Christian L. Ulbrich und Bruno S. Frey die Herausforderungen der digitalen Technologien für die Demokratie. Aus ihrer Sicht spielen diese generell Autokratien in die Hände. Denn Effizienzsteigerungen bedeuten stets auch effizientere Kontrollmöglichkeiten. Gleichwohl sehen sie Möglichkeiten und machen konkrete Vorschläge, wie die Digitalisierung im Sinne der Demokratie genutzt werden kann. So regen sie an, Parlamente digital aufzurüsten. Auch schlagen sie dezentrale digitale Infrastrukturen vor, die auf harmonisierten Standards beruhen. Diese würden den Föderalismus stärken und wären zugleich widerstandsfähiger gegen Störungen.

Originell ist schliesslich die Idee, gewisse Bereiche, etwa besonders grundrechtsrelevante, als «analoge Enklaven» von der digitalen Datenerfassung und -bearbeitung auszunehmen. Was solche Vorschläge tatsächlich bringen, kann man diskutieren. Die Stärke des Buches liegt darin, dass Ulbrich und Frey weder als technologiefeindliche Maschinenstürmer auftreten noch als naive Enthusiasten. Vielmehr analysieren sie die Herausforderungen scharfsinnig und machen kreative Vorschläge, um sie zu bewältigen.

Ronald D. Gerste: Amerikas Präsidentschaftswahlen – Von George Washington bis zu Donald Trump (NZZ Libro)
«John F. Kennedy: 100 Fragen – 100 Antworten», «Roosevelt und Hitler», «Trinker, Cowboys, Sonderlinge: Die 13 seltsamsten Präsidenten der USA» bis hin zu «Die First Ladies der USA: von Martha Washington bis Hillary Clinton»: Ronald D. Gerste, in Washington lebender Augenarzt und Historiker, hat in den letzten gut zwanzig Jahren bereits etwa ein Dutzend Bücher zur Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, mit besonderem Fokus auf ihre Präsidenten, geschrieben. Gerste ist daher prädestiniert, auch eine kleine Geschichte der US-Präsidentschaftswahlen, «von George Washington bis zu Donald Trump», vorzulegen.

Glücklicherweise tappt er dabei nicht in die Falle, ein vollständiges (dafür dröges) Lexikon aller bisherigen 59 Präsidentschaftswahlen hintereinander zu reihen. Stattdessen stellt Gerste in 16 knappen, sehr gut lesbaren und unterhaltsamen Kapiteln jeweils eine oder zwei aufeinanderfolgende historische Wahlen vor, die sich als besonders spannend oder kurios, als paradigmatisch oder als besonders knapp und umstritten erwiesen haben. So etwa 1960, als es zum ersten Mal zu einer landesweit, von Maine bis Hawaii übertragenen Debatte zwischen den beiden Spitzenkandidaten John F. Kennedy und Richard Nixon kam. Und JFK im neuen Medium Fernsehen Nixon alt aussehen liess. Das Fernsehduell hat seither eine Hauptrolle auf der Bühne des elektoralen Willensbildungsprozesses eingenommen.

Weitere erwähnenswerte Wahlen aus fernen Tagen sind jene des Gründervaters George Washington 1788/89, die von Abraham Lincoln während des Amerikanischen Bürgerkriegs 1864 oder von Franklin D. Roosevelt in der Great Depression 1932. In 14 weiteren, kurzen Zwischenkapiteln erfährt man lehrreiche «Facts», etwa, wie die Vorwahlen «Caucus» und «Primary» ablaufen, was am «Inauguration Day» passiert oder was die Funktion der Vizepräsidentinnen und Vizepräsidenten ist. Oder dass Attentate auf US-Präsidenten gar nicht so selten sind: Gleich vier Präsidenten schieden so aus dem höchsten Amt und Leben.

Über all diese Wahlgänge der vergangenen 235 Jahre hinweg lassen sich auch einige Umstände respektive Motive erkennen, die eine Präsidentschaft respektive das Wahlverhalten wiederkehrend geprägt haben: So war beispielsweise der – hier verheimlichte, dort offenkundige – Gesundheitszustand der Präsidenten eine regelmässige Begleiterscheinung. Ebenfalls spielten immer wieder Ressentiments gegen die Vertreter der «Ostküsten-Elite» eine Rolle – beides Faktoren, die auch bei den jüngsten Wahlen 2024 einschlägig sein sollten. Im Hinblick auf jenes Fanal (bei Drucklegung hiess es noch Joe Biden vs. Donald Trump) schliesst der Autor sein durchwegs empfehlenswertes Buch im Epilog in eher düsteren Farben: «Die Wahl von 2024 ist ein Referendum über die Zukunft der Demokratie in den USA und über die Zukunft von Amerikas Rolle in der Welt.»

Horst Dreier: Metamorphosen der Demokratie (Schwabe)
Wenn heute über die Demokratie nachgedacht wird, so wird dem Zustand dieser Herrschaftsform wahrscheinlich relativ bald die Diagnose «Krise» attestiert. Die Krise als Begleiter der Demokratie ist jedoch kein Novum, sondern permanentes Attribut. Horst Dreier (emeritierter Rechtswissenschaftler und -philosoph, Herausgeber eines Kommentars zum Deutschen Grundgesetz) geht in seinem knappen Essay «Metamorphosen der Demokratie» der Frage nach, ob die Demokratie – jenseits von aktuellen Herausforderungen und Defiziten – grösseren, strukturellen und längerfristigen Veränderungsprozessen unterworfen ist.

Historisch verortet Dreier nur eine einzige Metamorphose, welche die Demokratie tiefgreifend umgeformt hat: die Transformation der ursprünglich direkten Demokratie hin zur repräsentativen Form. Diesem Umschwung werden die ersten beiden Kapitel gewidmet. In aller Kürze wird das Demokratiemodell des antiken Athens in Erinnerung gerufen, das sich durch eine unmittelbare Teilhabe durch eine breite Bürgerschaft in Volksversammlungen auszeichnete. Die Wandlung hin zur repräsentativen Demokratie vollzog sich erstmals Ende des 18. Jahrhunderts im Grossflächenstaat USA.

Vor diesem Hintergrund beleuchtet Dreier vier neuere Entwicklungen, zunächst die Supranationalisierung in den EU-Mitgliedsstaaten, die «massive Abwanderungsprozesse ursprünglich staatlicher Hoheitsrechte auf die Europäische Union» zur Folge habe. Das Ganze sei weniger problematisch, wenn auf europäischer Ebene ein gleichwertiges demokratisches Legitimationssystem wie auf nationaler Ebene vorzufinden wäre. Doch dies sei gerade nicht der Fall, weshalb die «Europäisierung zu empfindlichen Einbussen bei der demokratischen Organisation und Legitimation der Ausübung öffentlicher Gewalt» führe. Analoges gelte für die Internationalisierung und Globalisierung – etwa in der Form der Welthandelsorganisation.

In beiden Fällen werde letztlich «Hoheitsgewalt ausgeübt, für die ein legitimatorischer Rückgriff auf die politische Selbstbestimmung des Staatsvolks nicht mehr möglich erscheint». Nebst der Migration (die zu einem Auseinanderklaffen von Herrschenden und Herrschaftsbetroffenen führe) identifiziert Dreier einen durch Digitalisierung und soziale Medien verursachten Strukturwandel der demokratischen Öffentlichkeit, den er nicht pessimistisch, immerhin aber ambivalent betrachtet. – Dreiers (leider ein wenig lapidares) Fazit: Die beleuchteten Problemkreise würden zwar zu einer Erosion der Demokratie führen, eine eigentliche zweite Metamorphose läuteten sie jedoch nicht ein.

Georg Müller, Felix Uhlmann & Stefan Höfler: Elemente einer Rechtssetzungslehre (4. Auflage) (Schulthess)
Ursprünglich 1999 als Buch zu einer Vorlesung von Staatsrechtslehrer Georg Müller hervorgegangen, sind die «Elemente einer Rechtssetzungslehre» unterdessen in vierter Auflage erschienen. Die Autorenschaft wird nun um Felix Uhlmann und Stefan Höfler ergänzt (beide Leiter des Zentrums für Rechtsetzungslehre). Die Monografie richtet sich weiterhin an Rechtswissenschaftler ebenso wie an Praktikerinnen. – Im Einleitungsteil «Grundfragen der Rechtsetzung» werden die Erwartungen und Funktionen der Rechtsetzung umrissen und letztere von der Rechtsanwendung und vom Soft Law abgegrenzt. Vertieft wird hier die Qualitätssicherung, wie sich also das so häufig beklagte «schlechte Gesetz» vermeiden lässt. Stichworte sind hier: Regulierungsfolgenabschätzung, ex post Evaluationen, Simulationen, Checklisten; nur kurz gestreift wird die künstliche Intelligenz.

Im zweiten (Haupt-)Teil werden die Phasen des Rechtssetzungszyklus vertieft, der sich von der Impulsgebung, der Ist-Analyse und des Normkonzept über die Redaktion und Konsultation bis hin zur Beschlussfassung und Inkraftsetzung dreht. Eine wichtige Frage ist die Wahl der Regulierungsinstrumente, wobei hier nebst dem klassischen Gebot/Verbot oft auch Anreize, Subventionen, Lenkungsabgaben, staatliche Informationen, Nudging oder Selbstregulierung ebenso zielführend sind. Den aus dem Politalltag bekannte Vorwurf «das gehört nicht in die Verfassung/ins Gesetz» versuchen die Autoren mit dem Wichtigkeitsbegriff zu objektivieren. Ein ebenfalls sehr praxisrelevantes, durch den Linguisten Höfler geprägtes Kapitel betrifft die Erlassredaktion. Hier werden rechtslinguistische Fragen diskutiert: Wie gliedert man ein Gesetz? Sind Verweise auf andere Erlasse sinnvoll? Und welche geschlechtergerechten Formulierungen sollte man (nicht) verwenden?

Teil drei beleuchtet die «Organe der Rechtsetzung», insbesondere das Verhältnis Bund und Kantone sowie das Zusammenwirken von Regierung, Verwaltung und Parlament. Weitere Akteure betreffen das Lobbying, die Volksrechte und die Rechtsetzung durch Private. Erstaunlich ist hier, dass sich das Parlament «im Wesentlichen mit der politischen Kontrolle des ‹Produkts›» begnüge. Daher sollte gar das Antragsrecht der einzelnen Parlamentsmitglieder auf Änderung der Gesetzesvorlagen aufgehoben werden. Solche anachronistische Parlamentarismus-Kritik hat sich leider seit 1999 praktisch unverändert bis in die neuste Auflage hindurchziehen können, obschon der – durch Kurt Eichenberger und seine äusserst exekutivstaatliche Haltung geprägte – Erstautor unterdessen durch zwei jüngere und mit der Legislative kaum auf Kriegsfuss stehende Co-Autoren sekundiert wird. Der vierte Teil schliesslich widmet sich der «Interkantonalen und internationalen Rechtssetzung», die in letzter Zeit stark an Verbreitung gewonnen hat. Hervorzuheben ist hier die Bedeutung des Konsenserfordernisses für die Ausgestaltung von bi- und multilateralen Regelungen. Ein letztes Kapitel beleuchtet die Tücken der «Übernahme von EU-Recht».

Die Erstauflage wurde damals fast entschuldigend eingeleitet, die «Grundzüge einer einigermassen geschlossenen Rechtssetzungslehre» vorzulegen, sei nicht erreicht worden, es sei «bei Fragmenten geblieben». Das war natürlich stark untertrieben – nachdem das baldige Standardwerk noch interdisziplinär erweitert und verdichtet wurde, gilt das erst recht.

Lorenz Engi: Die Dramatisierung der Welt – Über Illiberalismus (Claudius)
Die Klage über den Aufstieg des Illiberalismus ist inzwischen weit verbreitet. Lorenz Engis Analyse hebt sich von anderen ab dadurch, dass er den Aufstieg in einen grösseren Kontext bettet. Er stellt eine generelle «Entzauberung» fest, die sich in der Politik, aber auch in der Wissenschaft und der Kultur beobachten lässt. Engi sieht als Gründe dafür vor allem die Ausbreitung der Technik sowie die Bürokratisierung.

In der Politik kommt hinzu, dass die nationale Politik durch die Globalisierung an Bedeutung verloren hat. War die Politik im 20. Jahrhundert «wie wahrscheinlich niemals vorher und nachher ein Ort von Hoffnungen, Träumen und Ängsten», wechselte sie nach 1989 in einen «funktionalen Modus». Den Illiberalismus sieht Engi zu einem grossen Teil als Reaktion darauf.

Der Jurist verweist warnend auf die Gefahren, wenn der Staat zum Träger einer kollektiven Moral gemacht wird und die Macht zunehmend personalisiert wird. Doch er versteigt sich nicht in moralische Empörung, sondern bleibt in seiner Analyse stets nüchtern und konzis. Das macht sie zu einem wertvollen und lesenswerten Beitrag zur aktuellen Debatte.

Martin Graf & Andrea Caroni (Hrsg.): Parlamentsrecht und Parlamentspraxis der Schweizerischen Bundesversammlung – Kommentar zum Parlamentsgesetz (ParlG) (2. Auflage) (Helbing Lichtenhahn)
Bauernpräsident und Bundesratskandidat Markus Ritter, einer der versiertesten und erfolgreichsten Lobbyisten unter der Bundeshauskuppel, hat ihn stets griffbereit auf dem Nachttisch liegen: den Gesetzeskommentar zum Parlamentsgesetz. Vor zehn Jahren erstmals erschienen, ist der Kommentar zur Reglementierung der Schweizerischen Bundesversammlung nun in zweiter Auflage überarbeitet und ergänzt worden. Das Herausgeberduo umfasst weiterhin Martin Graf (ehem. Sekretär der Staatspolitischen Kommissionen) und neu Andrea Caroni (Ständerat und Staatsrechtler).

Anlass für ein Update gibt es genug: Seit 2014 wurde das Parlamentsgesetz neun Mal revidiert, Dutzende Artikel haben kleinere oder grössere Änderungen erfahren. So wurden die Offenlegungspflichten der Parlamentsmitglieder erweitert. Und seit kurzem wird endlich das Abstimmungsverhalten der Mitglieder des Ständerats integral offengelegt. Niederschlag gefunden haben aber vor allem die Erfahrungen aus der Pandemie. Nachdem sich nicht wenige Regelungen als kaum krisentauglich erwiesen haben, hat die Bundesversammlung an etlichen Stellen nachgebessert: Ausserordentliche Sessionen und die Behandlung von Motionen können beschleunigt werden, die Verschiebung und der Abbruch von Sessionen wurden geregelt, nötigenfalls können die Kommissionen oder gar der gesamte Nationalrat und Ständerat virtuell tagen.

Wie schon die Erstauflage zeichnet sich der Kommentar dadurch aus, dass er nicht bloss eine juristische Auslegung der Normen vornimmt, sondern auch relativ ausführlich die jeweilige Entstehungsgeschichte sowie politologisch-praktische Aspekte beleuchtet. Ein Grossteil der 22 Autorinnen und Autoren arbeitet für die Parlamentsdienste, wodurch viel exklusives Knowhow einfliesst und die Praxisrelevanz sichergestellt wird. Die Nähe gerät aber auch da und dort zum Nachteil, etwa wenn der Beitrag über die weiterhin vertraulichen Kommissionsunterlagen und -protokolle keinerlei Kritik an diesem Reservat der Intransparenz übt. Eine rechtsvergleichende Betrachtung wäre hier zu anderen Schlüssen gelangt. Als ansonsten einziger Kritikpunkt anzumerken bleiben die leider teilweise lückenhaften Literaturhinweise: Während eigene Publikationen (oder gar blosse Wortmeldungen) der Autoren ausführlich referenziert werden, fehlen andere wichtige Abhandlungen, die sich mit parlamentarischem Verfahrensrecht befassen (beispielsweise Corsin Bisaz, Direktdemokratische Instrumente).

Der Parlamentskommentar stellt weiterhin ein unentbehrliches Nachschlagewerk für alle Personen dar, die sich mit dem Parlament beschäftigen: Journalistinnen, Lobbyisten, Verwaltungsangestellte und letztlich die Parlamentarier selbst. Egal ob weiterhin als Nationalrat und Bauernvertreter oder bald als Bundesrat: auf Markus Ritters Nachttisch dürfte die Neuauflage sicherlich auch schon liegen. Damit er seinen politischen Kontrahenten weiterhin stets einen Schritt voraus ist.

David Hesse & Philipp Loser: Heute Abstimmung! – 30 Volksentscheide, die die Schweiz verändert haben (Limmat)
Die Schweiz wäre nicht die Schweiz, wie sie heute ist, hätte nicht der Souverän dereinst an der Urne so entscheiden. Wir könnten in einem Zwei-Parteien-System leben, bestehend lediglich aus Liberalen und Sozialisten (doch wurde 1918 der Proporz eingeführt). Unser Strom könnte hauptsächlich aus Atomkraftwerken stammen (was 1990 verhindert wurde). Oder könnten wir gar Mitglied der EU sein (2001 verworfen). Die beiden Journalisten und Historiker David Hesse und Philipp Loser porträtieren in ihrem Buch «Heute Abstimmung!» jene 30 Volksentscheide, die ihrer Ansicht nach das Land am stärksten und nachhaltigsten verändert und geprägt haben.

Die Auswahl dieser 30 «wichtigsten» nationalen Volksabstimmungen zwischen 1874 (Totalrevision Verfassung) und 2014 (Initiative «gegen Masseneinwanderung») folgt indes keinem wissenschaftlichen Konzept, wie die Autoren freimütig einräumen. Einem werdenden Elternpaar gleich, das sich Listen mit Namensvorschlägen für ihren Nachwuchs hin- und herschiebt, haben Hesse und Loser ihre «Best of»-Tabellen ausgetauscht, zusammengestrichen, mit Experten besprochen. Und sind so bei 30 Vorlagen gelandet (13 Volksinitiativen, 9 fakultativen und 8 obligatorischen Referenden), die wohl grösstenteils auch objektiven Kriterien genügen würden – so etwa die Klassiker Überfremdung (1979), Frauenstimmrecht (1971), EWR (1992), Fristenlösung (2002) und Ausschaffung (2010).

Einzig hinter drei Vorlagen ist ein Fragezeichen zu setzen, da sie dem Kriterium kaum genügen: Auslandschweizer-Artikel (1966; betraf relativ wenig Personen), Jura-Gründung (1978; Bundesabstimmung war reine Formsache), Gurtenobligatorium (1980; kaum Langfristwirkung). Umgekehrt haben institutionelle Änderungen gegenüber alltagsrelevanten Sachabstimmungen ein bisschen das Nachsehen. Enorme Auswirkungen zeitigte beispielsweise die Einführung des «Doppelten Ja» bei Initiativen mit Gegenentwurf (1987; siehe Der «Geburtsfehler» der Volksinitiative). Erst diese kleine Anpassung des Stimmzettels führte dazu, dass Initiativen seit den 1990er Jahren nicht mehr mit taktischen Gegenvorschlägen ausgebremst werden können. Seither steig die Annahmequote denn auch merklich an. Andere wichtige Reformen waren die Totalrevision der Bundesverfassung (1999), Justizreform (2000), Bilaterale I (2000), Neugestaltung Finanzausgleich/Aufgabenteilung (2004), Bilaterale II/«Schengen/Dublin» (2005) und die Bildungsverfassung (2006). Auch diese schafften es allesamt nicht in Hesse/Losers «Top 30».

Doch die genaue Auswahl ist letztlich gar nicht so wichtig. Erstens wird nicht nur eng die jeweils porträtierte Vorlage beleuchtet, sondern im Unterkapitel «Wirkung» stets auch in die Zukunft geblickt, wo spätere verwandte Abstimmungen kurz erwähnt und in den Kontext gesetzt werden. Zweitens zeigt das Autorenteam auf, dass die direkte Demokratie im Allgemeinen und einzelne Abstimmungsfragen im Konkreten überhaupt spürbare Wirkung entfalten, das Land und Leben gestalten, ja Identität stiften. In Zeiten des erstarkenden Autoritarismus in wichtiges Statement! Und schliesslich ist das mit Abstimmungsplakaten und Karten mit den Kantonsresultaten attraktiv gestaltete Buch schlicht eine schöne Gelegenheit, in der Schweizer Demokratiegeschichte zu blättern und vergangene Abstimmungssonntage Revue passieren zu lassen.

Marcel Hänggi: Weil es Recht ist – Vorschläge für eine ökologische Bundesverfassung (Rotpunkt)
In seinem Buch «Weil es Recht ist» stellt Marcel Hänggi, Journalist, Historiker und Initiant der «Gletscherinitiative», die Frage, ob die Schweizer Bundesverfassung für das Zeitalter der «multiplen Umweltkrisen» – Klimaerwärmung und Biodiversitätsschwund – gerüstet ist oder ob sie allenfalls revidiert werden müsste. Im ersten Teil des Buchs wird die geltende Bundesverfassung von 1999 unter die ökologische Lupe genommen. Ein Thema ist natürlich der Umweltschutzartikel 74 BV sowie die folgenden Bestimmungen über Raumplanung, Zweitwohnungen und Wasser. Doch Hänggi nimmt ebenso allgemeinere Verfassungsgrundsätze in den Blick wie das Nachhaltigkeits- und das Verursacherprinzip. Auch die Grundrechte (und -pflichten), die kollidierende Eigentumsgarantie und Wirtschaftsfreiheit werden erörtert.

Hänggis Fazit, was die Bundesverfassung nun tauge, ist ambivalent. Sie gebe durchaus Handlungsrichtlinien vor, die so richtig wie unerfüllt seien: «Rücksicht auf künftige Generationen, das Vorsorgeprinzip, der Vorrang des Ökologischen vor dem Ökonomischen, die politisch so unbeliebte Suffizienz, Grenzen – die Bundesverfassung enthält das alles.» Auf dem Papier. Im gesetzgeberischen Alltag und später beim Vollzug der Erlasse würden die genannten Maximen aber viel zu oft torpediert. Der Autor schlägt daher viele konkrete (Verfassungs-)Änderungen vor, um ihnen Nachachtung zu verschaffen.

Die präsentierten Lösungen (beispielsweise Eingriffe in die Wirtschaftsfreiheit oder eine «Eigentumspolitik») seien nicht unbedingt mehrheitsfähig, könnten aber doch auf mehrheitsfähigen Grundprinzipien aufbauen. Überdies sind viele Verbesserungen weder neu noch «originell», sondern wurden schon andernorts vorgeschlagen, andere wiederum existieren bereits in den Kantonen (etwa das «Recht auf ein Leben in einer gesunden Umwelt» in Genf) oder im Ausland. Doch müssten wir nicht nur die Umwelt vor den Folgen unserer Tätigkeiten schützen. Auch wir müssten uns selbst und unsere Institutionen vor der Umwelt schützen, wenn diese aus den Fugen gerät. «Die Umweltkrisen der Gegenwart und der Zukunft zerstören nicht nur Ökosysteme. Sie gefährden auch die Demokratie.»

In Teil II untersucht der Autor daher, wie die demokratische Gesellschaft und ihre Institutionen gegenüber den Krisen resilient, also widerstandsfähig gemacht werden können. In diesem Teil werden denn nebst umweltspezifischen Proklamationen (Einhaltung der planetaren Grenzen, Regeneration beschädigter Ökosysteme) insbesondere auch wirtschafts- und staatspolitische Veränderungen angeregt. Themen sind hier etwa die Technikfolgenabschätzung, Desinformation, Deliberation (repräsentative Bürgerräte) oder der vor einiger Zeit in diesem Blog vorgeschlagene Demokratieförderungs-Artikel. Fragwürdig sind einzig die Forderungen, «Falschaussagen in politischen Debatten» zu regulieren, sowie die Verfassungsgerichtsbarkeit auf nationaler Ebene: Es ist falsch zu suggerieren, deren Absenz sei eine helvetische Anomalie. Als Journalist und Lehrer (und Nicht-Jurist) versteht es Hänggi sehr gut, die komplexe Materie anschaulich und spannend darzustellen und trotz aller Ernsthaftig- und Dringlichkeit den Optimismus nicht zu verlieren.

Hermann K. Heussner, Arne Pautsch, Frank Rehmet & Lukas Kiepe (Hrsg.): Mehr direkte Demokratie wagen – Volksentscheid und Bürgerentscheid: Geschichte – Praxis – Vorschläge (4. Auflage) (Lau)
«Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt.» Seit 75 Jahren bekennt sich das deutsche Grundgesetz nicht nur zur Volkssouveränität, sondern, mittels Durchführung von Volksabstimmungen, eigentlich gar zur direkten Demokratie. Bekanntlich hat in diesem Zeitraum in Deutschland aber keine einzige bundesweite Abstimmung je stattgefunden. Der Verein Mehr Demokratie e. V. möchte dies ändern und setzt sich seit 1988 für mehr direkte Demokratie und Bürgerbeteiligung auf Gemeinde-, Landes- und Bundesebene ein. Dazu unterstützt er Bürger- und Volksbegehren, begleitet Reformvorhaben, führt Kampagnen.

Nun ist aus dem Umfeld des Vereins eine überarbeitete Neuauflage des Sammelbands «Mehr direkte Demokratie wagen» erschienen, für den 42 Autoren (vornehmlich Historiker, Juristen, Politologinnen, Ökonomen) 33 Beiträge beigesteuert haben. Das Themenspektrum ist sehr breit und reicht von theoretischen Grundlagen über Rechtsgeschichte («Schlechte Weimarer Erfahrungen?») bis hin zu Schlaglichtern auf ausländische «Vorbilder» (Schweiz, USA, Italien und Irland). 11 weitere Kapitel beleuchten die Ausgestaltung, Praxis und Erfahrungen konkreter Volksbegehren in einigen deutschen Ländern sowie die kommunale direkte Demokratie. Ein Dutzend Beiträge widmen sich Einzelfragen und runden den spannenden, durchwegs gut lesbaren Sammelband ab.

Besonders hervorzuheben sind drei Aufsätze: Achim Wölfel stellt das «direktdemokratische Schwergewicht» Irland vor, das gerade in den letzten Jahren mit überraschenden Verfassungsnovellen international für Aufsehen gesorgt hat. Bemerkenswert ist hier einerseits das innovative und befriedende Zusammenspiel zwischen deliberativer (gelosten Bürgerräten) und direkter Demokratie. Spannend ist andererseits die von Regierung und Parlament unabhängige «Referendum Commission», die die Bevölkerung vor den Urnengängen umfassend und neutral informiert.

Über den Brexit ist schon (viel zu) viel geschrieben worden; Camerons Plebiszit und dessen Abstimmungsresultat müssen bis heute als Mahnmal gegen Volksentscheide herhalten. Doch Wolf J. Schünemann zeigt auf, dass die anhaltende Pauschalkritik an diesem Referendumsinstrument überschiessend ist. Aufgrund der britischen Tradition der Parlamentssouveränität wäre ein anderes Abstimmungsdesign kaum denkbar gewesen: «Die Gründe für den Sieg des Leave-Lagers sind nicht in der Wahl des Referendumsinstruments oder in seiner Durchführung zu suchen. Vielmehr hat eine tiefe politische Spaltung mit Blick auf das europäische Integrationsprojekt das Land seit langer Zeit geprägt.»

Fabian Wittreck und Arne Pautsch umreissen das Verhältnis der deutschen Direktdemokratie zur (Verfassungs-)Gerichtsbarkeit. Grösster Stolperstein ist das «Finanztabu», das Volksbegehren verbietet, finanzwirksame Forderungen zu stellen. Äusserst bedenklich ist darüber hinaus die Tendenz diverser Landesverfassungsgerichte, selbst Volksbegehren zu kassieren, die mittels Verfassungsreform die Demokratie ausbauen möchten (Senkung der Quoren, Verlängerung von Fristen, Ausdehnung der inhaltlichen Zulässigkeit).

René Lüchinger, Peter Schürmann & Gerhard Schwarz: Ringen um Freiheit – Liberalismus in der Schweiz (NZZ Libro)
Der Einfluss des Liberalismus auf die schweizerische Demokratie kann kaum überschätzt werden. René Lüchinger, Peter Schürmann und Gerhard Schwarz legen nun eine Geschichte des schweizerischen Liberalismus vor, die diese Symbiose eindrücklich aufzeigt, und zwar auf eine Art, die einem breiten Publikum verständlich ist.

Zur Strukturierung wählen die Autoren die Biografien einflussreicher Personen, was deren Rollen zuweilen überzeichnet, aber das Werk sicherlich zugänglich macht. Was sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht, sind die inneren Konflikte und Richtungskämpfe, die sich immer wieder entspannen. Etwa zwischen Alfred Escher, der den privaten Eisenbahnbau durchsetzte, und seinem Berner Rivalen Jakob Stämpfli, der für eine Verstaatlichung eintrat.

Aber auch zur Zeit des Zweiten Weltkriegs, als sich Teile des (Jung-)Freisinns der Frontenbewegung zuwandten, wogegen sich Leute wie NZZ-Chefredaktor Willy Bretscher leidenschaftlich wehrten. Den einen schweizerischen Liberalismus gibt es eben nicht und kann es auch nicht geben, wenn er sich als Volksbewegung versteht, was heute freilich immer weniger der Fall ist. Im Schlussteil des Buches skizziert Gerhard Schwarz in einem Ausblick, wie ein erfolgreicher Liberalismus im 21. Jahrhundert aussehen könnte. Klar dürfte sein: Er wird auch in Zukunft umstritten bleiben.

Oliver Zimmer: Prediger der Wahrheit – Von der Reformation zur modernen Elitenherrschaft (Claudius)
Ob in der Klimapolitik, bei der Migration oder in der Schweiz beim Rahmenabkommen mit der EU: Bei vielen politischen Konflikten der Gegenwart geht es zentral um die Frage, wer am Ende entscheidet – die Bürger, ihre Vertreter auf nationaler Ebene oder Technokraten in internationalen Institutionen? Dabei gibt es über die demokratische Welt hinweg einen starken Druck, die Macht weg vom Bürger zu verschieben.

Die Idee dahinter, dass «Experten» letztlich am besten wissen, was gut und richtig ist, führt Oliver Zimmer auf die Reformation zurück. In seinem Essay «Prediger der Wahrheit» zeigt der Historiker auf, wie die Reformation als Bewegung begann, die den einzelnen Gläubigen ins Zentrum stellte und ihm die Aufgabe übertrug, die heilige Schrift zu verstehen und zu interpretieren – ohne Vermittlung durch berufene religiöse Autoritäten. Doch bald nach ihrem Erfolg bekamen die Reformatoren kalte Füsse. Martin Luther wurde insbesondere durch die deutschen Bauernaufstände (die sich direkt auf die Ideen der Reformation beriefen) aufgeschreckt und änderte seinen Kurs scharf. Fortan galt nicht mehr «Sola Scriptura»; die Gläubigen wurden wieder unter die Ägide der geistlichen Elite gestellt.

Zimmer zieht die Parallelen zu heute, wo relevante Fragen zunehmend demokratischen Entscheiden entzogen und stattdessen Gerichten oder überstaatlichen Gremien übertragen werden – bevorzugt überstaatlichen Gerichten. Bei der zunehmenden Verrechtlichung der Politik stellt Zimmer eine Symbiose von traditioneller und moderner Epistokratie fest. Letztere greift gerne auf «moralische Master-Narrative» zurück, wie Zimmer sie nennt. Diese ziehen den Rahmen der Meinungsfreiheit zwar nicht rechtlich, aber faktisch in der öffentlichen Debatte zunehmend enger – im Sinne einer Elite der «Wissenden». Zimmers Analyse ist ebenso fundiert wie provokativ. Wem die demokratische Mitsprache ein Anliegen ist, muss von den epistokratischen Tendenzen beunruhigt sein.

Napoleon’s Nightmare-Buchempfehlungen 2023

Im vergangenen Jahr wurde eine Fülle interessanter Bücher über Demokratie und Staatspolitik veröffentlicht. Die Redaktion von Napoleon’s Nightmare stellt die besten vor. Sie befassen sich unter anderem mit Menschenrechten, Demophobie, der Landsgemeinde und Bürgerräten.

Von Claudio Kuster und Lukas Leuzinger

Urs Hafner: Karl Bürkli – Der Sozialist vom Paradeplatz (Echtzeit)
Die Bundesstaatsgründung vor 175 Jahren markiert zwar den Auftakt zur modernen Schweiz, doch es brauchte lange Kämpfe, bis die direkte Demokratie 1874 Eingang in die Verfassung fand. Den Boden dafür bereitet hat unter anderen Karl Bürkli. Dabei wies nur wenig darauf hin, wie Urs Hafner in seiner Biografie zeigt. Bürklis Leben ist voller Widersprüche und Überraschungen: Vor 200 Jahren ins Zürcher Grossbürgertum hineingeboren, distanzierte er sich von seinem Milieu, lernte Gerber und wurde Sozialist. Als Mitgründer des Konsumvereins war er ein Pionier des Genossenschaftswesens. Dies war ihm jedoch nicht genug. Weil er für die Ideen des französischen Gesellschaftstheoretikers Charles Fourier brannte, der in freiwilligen Kommunen das Paradies erblickt hatte, brach Bürkli 1855 gemeinsam mit über hundert Anhängern nach Amerika auf, um diese Utopie in Texas Realität werden zu lassen. Das Experiment scheiterte krachend. Nach einer Odyssee durch die Vereinigten Staaten und Zentralamerika kehrte Bürkli nach Zürich zurück, wo er die Strategie wechselte: Statt über freiwillige Zusammenschlüsse sollte das Ziel einer Gesellschaft der Gleichen auf politischem Weg erreicht werden. Er wurde zu einem Anführer der demokratischen Bewegung, die in den 1860er-Jahren in Zürich Referendum und Volksinitiative gegen das liberale «System» durchsetzte.

Hafner beschreibt Bürklis Leben und seine Ideen detailreich, macht aus seiner Bewunderung für den Porträtierten jedoch keinen Hehl und füllt Lücken in den Quellen mit der eigenen Fantasie aus. So hebt er Zitate des Sozialisten nicht durch Anführungszeichen, sondern lediglich durch Kursivschrift von seinen eigenen Gedanken ab. Hervorzuheben ist, dass Bürkli sich durch einen ausgeprägten Sinn fürs «einfache Volk» auszeichnete, dem die liberalen Eliten misstrauten (ebenso wie viele Linke heute). Dabei war die direkte Demokratie für ihn stets ein Mittel auf dem Weg zu einer sozialistischen Gesellschaft. Dass Referendum und Volksinitiative die moderne, liberale Demokratie vollenden würden, war nicht sein Plan. Wie diese spannende Biografie zeigt, sind Utopien manchmal gerade deshalb so wertvoll, weil sie scheitern.

 

Bruno S. Frey & Oliver Zimmer: Mehr Demokratie wagen – Für eine Teilhabe aller (aufbau)
Pandemie, Krieg, Klimawandel: Die Häufung von Krisen leistet der Zentralisierung von Macht Vorschub. Schnelles, entschlossenes Handeln einsichtiger Experten ist gefragt, langwierige demokratische Prozesse werden dagegen als störend dargestellt. Dahinter steht ein epistokratisches Denken, das Oliver Zimmer und Bruno S. Frey einer Fundamentalkritik unterziehen. Der Historiker und der Ökonom, beide Forschungsleiter am Center for Research in Economics, Management, and the Arts (CREMA), beschreiben in «Mehr Demokratie wagen» geistesgeschichtliche Grundlagen der Epistokratie, also der Herrschaft der Wissenden, und stellen ihr konkrete Vorschläge für die Stärkung der Demokratie entgegen.

Ihre Kernthese: Epistokratie steht für Alternativlosigkeit, für von oben vorgegebene Lösungen, Demokratie dagegen für Offenheit. Diese Offenheit des Austauschs und der Debatte ist gerade zur Bewältigung komplexer Herausforderungen nötiger denn je. Im ersten Teil zeichnet Zimmer die historischen Entwicklungen nach und zeigt, dass Epistokratie bis heute zumindest implizit in vielen Denkschulen und Institutionen das vorherrschende Ideal ist, etwa in der von Demokratieskepsis geprägten Europäischen Union.

Im zweiten Teil macht Ökonom Frey (von ihm bereits andernort publizierte) Vorschläge zur Stärkung einer partizipativen, dezentralisierten Demokratie: beispielsweise dezentralisierte, neue Jurisdiktionen oder der Einsatz von Losverfahren bei der Besetzung von Gremien. Die Kombination von historischer und ökonomischer Analyse ist zwar spannend, zum Teil führt sie allerdings zu Widersprüchen: Wie verträgt sich etwa die Betonung demokratischer Gleichheit mit dem Vorschlag, gewissen Altersgruppen nur ein limitiertes Stimmgewicht zuzugestehen? Solche Inkongruenzen schwächen die Überzeugungskraft des Buches, das ansonsten einen anregenden und hochrelevanten Beitrag zur Debatte über die Zukunft der Demokratie bietet.

 

Gertrude Lübbe-Wolff: Demophobie – Muss man die direkte Demokratie fürchten? (Klostermann)
Bis vor wenigen Jahren sprachen sich in Umfragen 70 bis 80 Prozent der deutschen Bürger dafür aus, auch auf Ebene des Bundes direktdemokratische Entscheidungen einzuführen. Die Wahlprogramme aller im Bundestag vertretenen Parteien (ausser der CDU) sahen die Einführung von Volksabstimmungen in der Bundesrepublik vor. Dann, 2016: zuerst der Schock des Brexit-Votums, dann der Wahlsieg Donald Trumps und plebiszitär-populistische Referendumsabstimmungen von Viktor Orbán bis Recep Tayyip Erdogan. Seither ist eine Trendumkehr zu beobachten, die Zustimmungsraten sind gesunken, die Mehrzahl der deutschen Parteien will plötzlich nichts mehr wissen von sachunmittelbarer Demokratie.

Vor diesem Hintergrund möchte Gertrude Lübbe-Wolff «einen Beitrag zur Diskussion über Vor- und Nachteile, Chancen und Risiken direkter Demokratie leisten», wie sie in ihrem Vorwort zu «Demophobie» nüchtern festhält. Angst vor dem Volk hat die ehemalige Richterin am deutschen Bundesverfassungsgericht keineswegs, im Gegenteil: Ihr Buch ist eine engagierte, geradezu «demophile» Streitschrift, die in zehn Kapiteln die zehn geläufigsten Vorbehalte gegen direktdemokratische Entscheidungen entkräftet, ja mit Freude und Verve zerpflückt. Diese Einwände lauten etwa: «für Sachentscheidungen ist das Volk zu dumm», «direkte Demokratie begünstigt Demagogen», «gefährdet Minderheiten», «passt nur zu kleinen Einheiten», «das Volk wird rechtslastige/linkslastige Entscheidungen treffen» usw.

Lübbe-Wolff untermauert ihre überzeugenden Gegenargumente mit zahlreichen Beispielen aus der Praxis (insbesondere der Schweiz) und breitgefächerten Literaturnachweisen aus Rechts-, Politik-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und Geschichte (das Literaturverzeichnis erstreckt sich über fast 50 Seiten). Immer wieder weist die Autorin zu Recht darauf hin, dass direkte Demokratie nicht per se, sondern nur in der richtigen Ausgestaltung ihre positiven Wirkungen zeitigen könne. Diesfalls begünstige «sie aber eine stärker an den Interessen der Bürger orientierte Politik, eine Steigerung des Niveaus politischer Kommunikation, eine Zunahme von Bürgersinn und Bürgerkompetenz und grösseres Vertrauen in die Institutionen und Akteure der repräsentativdemokratischen Politik». Dieses Potential ungenutzt zu lassen, sei in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland noch nie so riskant gewesen wie heute.

 

Wolf Linder: Die Schweiz, der unbekannte Nachbar – Schriften zur Politik und Demokratie (Harrassowitz)
Die politische Schweiz – anders als ihre wohlbekannten Exportprodukte und ihre Alpen – sei für Deutschland ein eher unbekannter Nachbar. Wolf Linder (em. Professor für Politikwissenschaft, Universität Bern) stellt daher im Sammelband «Die Schweiz, der unbekannte Nachbar» zwei Dutzend Texte – Aufsätze, Vorträge, Meinungsbeiträge – aus den letzten 25 Jahren seines Schaffens zusammen. Die Beiträge sollen zum Verständnis der Eigenheiten der helvetischen Demokratie beitragen, die quer liegt zu den eingängigen Typologien vergleichender Politik.

Drei der 24 Texte seien kurz hervorgehoben: Der Teil «Verfassungspolitik» besteht aus dem Vortrag «Verfassung als politsicher Prozess», den Linder 1997 im Kontext der Totalrevision der Verfassung hielt und der einige «verfassungsrechtliche Rätsel» entschlüsselt – und nichts von seiner Aktualität verloren hat. Linder hinterfragt etwa die in der Theorie überzeugende Konzeption des Parallelismus zwischen Normstufe eines Erlasses (Verfassung – Gesetz – Verordnung), seines Rechtssetzers (Volk und Stände – Parlament – Exekutive) und der materiellen Wichtigkeit. Zwar sei die Schweizer Bundesverfassung «das Gefäss geronnener politischer Entscheidungen» und damit ständigem Wandel unterworfen, doch fänden sich in der obersten Normebene oftmals eher nebensächliche Vorschriften, während die wichtigen Entscheide später vom Bundesrat auf Verordnungsebene entschieden würden. So werde letztlich der Stufenbau der Rechtsordnung geradezu auf den Kopf gestellt.

Im Teil «Föderalismus» stellt der Beitrag «Die deutsche Föderalismusreform – von aussen betrachtet» einen instruktiven Vergleich der unterschiedlichen Föderalismuskonzepte der Schweiz und Deutschlands an; Anlass waren die Reformbestrebungen beider Bundesstaaten um die Jahrtausendwende. Während der Föderalismus in Deutschland primär die Mitwirkung und Kontrolle der Gliedstaaten am zentralistischen Gesamtstaat und letztlich einheitliche Lebensbedingungen bezweckt, so sind hiesige Vorstellungen von Nicht-Zentralisierung und grösstmöglicher (gerade auch fiskalischer) Autonomie unterer Einheiten geprägt, um die sprachlich-kulturelle Vielfalt zu erhalten. Der Teil «Direkte Demokratie» enthält den Aufsatz «Zur Ambivalenz der Digitalisierung direkter Demokratie», der sich nicht mit technischen Details, sondern mit den Auswirkungen der Digitalisierung auf die Strukturen öffentlicher Meinungsbildung und die Diskursqualität befasst. Ob E-Voting, E-Collecting oder Social Media: nach Linder «kein Segen für die Demokratie». – Die weiteren Teile des sehr abwechslungsreichen, lesenswerten Sammelbands betreffen die Themen «Gesellschaftspolitik», «Zwischenrufe» (u.a. Kritik an der behördlichen und wissenschaftlichen Corona-Kommunikation), «Die Schweiz in Europa» und «Demokratie und Menschenrechte».

 

Yvo Hangartner, Andreas Kley, Nadja Braun Binder & Andreas Glaser: Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft (2. Auflage) (Dike)
Wer sich bisher einen Überblick über ein spezifisches demokratisches Recht oder Institution verschaffen wollte, der hat mit grosser Wahrscheinlichkeit zum «Hangartner/Kley» gegriffen. Das im Jahr 2000 – also kurz nach Inkrafttreten der neuen Bundesverfassung – erschienene Handbuch ist ein Vierteljahrhundert später indes nicht mehr ganz aktuell und ohnehin seit einiger Zeit vergriffen. Nachdem der Erstautor Yvo Hangartner (Staatsrechtslehrer Universität St. Gallen) 2013 verstarb, hat sich Co-Autor Andreas Kley verdienstvollerweise gemeinsam mit Andreas Glaser und Nadja Braun Binder, allesamt auf Demokratiefragen spezialisierte Staatsrechtler, der Aktualisierung dieses vielzitierten Standardwerks angenommen.

Der erste Teil widmet sich den Grundlagen des Stimm- und Wahlrechts, mithin den Voraussetzungen des aktiven und passiven Wahlrechts sowie den Modalitäten der Stimmrechtsausübung. Namhafte Anpassungen ergeben haben sich hier mit der (etablierten) brieflichen Stimmabgabe und den (fragwürdigen) Versuchen mit E-Voting. Die Autoren kritisieren das dogmatisch wenig überzeugende Auslandschweizerstimmrecht, gerade auf kantonaler und kommunaler Ebene. – In Teil 2 werden einerseits historische, demokratie- und entscheidungstheoretische Grundlagen erörtert, Stichworte sind: Volkssouveränität, Repräsentationsprinzip, Rechtsstaatlichkeit, Volksbegriffe, Abstimmungsverfahren bei mehreren Varianten. Andererseits werden die verfassungsrechtlichen Grundlagen sowie die Schranken der politischen Rechte beschrieben, insbesondere der Vorrang des Völkerrechts. – Der umfangreiche Teil 3 behandelt die «Politischen Rechte im Bund»: die Wahl des Nationalrats, das obligatorische Verfassungsreferendum, Volks- und Ständemehr, die Volksinitiative, das Referendum gegen Bundesgesetze und völkerrechtliche Verträge sowie die (seit der Pandemie ein Revival erlebende) Gesetzgebung bei Dringlichkeit/Notrecht. Andere Novellen wie die Transparenz der Politikfinanzierung finden leider nur sehr knappen Niederschlag, ebenso wenig die Rechtsschutzmöglichkeiten. – Der längste Teil 4 (knapp 400 Seiten) beschreibt die «Volksrechte in den Kantonen», wo sich nach Totalrevisionen der Verfassungen in fast der Hälfte der Kantone einiges weiterentwickelt hat. Nebst den bereits vom Bund bekannten Instrumenten stossen hier die Wahl der Ständeräte und der Kantonsregierung, die Abberufung, das Finanzreferendum, Konsultativabstimmungen und die Volksmotion dazu. Den grössten Anpassungsbedarf erforderten aber die Wahlsysteme der Kantonsparlamente, nachdem das Bundesgericht die Anforderungen an die Wahlrechtsgleichheit spürbar verschärft hat. Hier würdigen die Autoren den unterdessen in neun Kantonen etablierten Doppelproporz leider kaum, der die Erfolgswertgleichheit optimiert, ohne auf die herkömmlichen Wahlkreise verzichten zu müssen. – Teil 5 schliesslich behandelt die «Wahl- und Abstimmungsfreiheit», insbesondere die Einheit der Materie und die unterdessen regelmässig beanstandeten behördlichen Interventionen vor Abstimmungen.

Das 1057-seitige enzyklopädische Werk vermag zu überzeugen, der Aufbau ist übersichtlich, die Sprache klar und verständlich. Auf ein Stichwortregister verzichtet die Zweitauflage, was jedoch dadurch mehr als aufgewogen wird, indem die Open-Access-Publikation integral durchsucht werden kann. Kritikpunkte sind einerseits die oftmals veralteten Literaturhinweise, andererseits einige äusserst merkwürdige Thesen, die Erstautor Hangartner kaum unterschrieben hätte (die Einheit der Materie gelte nicht für Bundesgesetze; der Grundsatz «in dubio pro populo» sei zu verwerfen; Unterlistenverbindungen seien problematisch, dafür sei das unfaire, Grossparteien begünstigende Wahlsystem «Hagenbach-Bischoff» legitim; mit «Negativstimmen» sollen Wähler gegnerische Politiker abstrafen können…).

 

Arthur Haefliger & Frank Schürmann: Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Schweiz (3. Auflage) (Stämpfli)
In der Reihe «Kleine Schriften zum Recht» umreissen diverse Autoren juristische Fragestellungen für einmal nicht in dicken, schweren Monografien, sondern im handlichen Taschenbuchformat. So wenden sich Frank Schürmann und Arthur Haefliger der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu, deren Ratifizierung durch die Schweiz im 2024 das 50-jährige Jubiläum feiern wird. Frank Schürmann war von 2006 bis 2018 Prozessbevollmächtigter der Schweizer Regierung, hat also in unzähligen, gegen die Schweiz gerichteten Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EGMR) in Strassburg die Schweiz vertreten. Er setzt hier die vom verstorbenen Bundesrichter Arthur Haefliger lancierte Schrift in stark erweiterter und aktualisierter dritter Neuauflage fort.

Nach einer knappen Einleitung werden im Hauptteil das gute Dutzend der durch die EMRK verbürgten Rechte erläutert, vom Recht auf Leben über die Versammlungsfreiheit bis zum Diskriminierungsverbot. Die einzelnen Garantien, ihre Tragweite und Entwicklung der Rechtsprechung werden anschaulich beschrieben. Ein besonderer Fokus wird dabei auf die Schweiz gelegt, indem insbesondere jene Fälle und Klagen hervorgehoben werden, die aus und gegen die Schweiz gerichtet waren. Schliesslich landet im Durchschnitt fast jeden Tag eine neue Beschwerde aus der Schweiz vor dem EGMR. Erfolgreich sind nur etwa 1.6 Prozent all dieser Eingaben, die aber nichtsdestotrotz etwa das Polizei- und Ausländerrecht sowie die Rechtsweggarantie nachhaltig geprägt haben. Im Schlussteil wird die Organisation und das Verfahren vor dem EGMR beschrieben und dabei auf die diversen Reorganisationen, Reformen und Zusatzprotokolle hingewiesen, die teilweise geholfen haben, die Beschwerdeflut in letzter Zeit wieder einigermassen in den Griff zu bekommen.

 

Nidwaldner Museum / Carmen Stirnimann (Hrsg.): Hand i d’Luft oder d’Fuischt im Sack – Eine Publikation zur Landsgemeinde (Nidwaldner Museum)
Zum 175-jährigen Jubiläum der Bundesverfassung und somit des Schweizer Bundesstaats im vergangenen Jahr wurde allerorten so manche Bundesmeile, Festakt oder Sonderausstellung durchgeführt. Vor diesem Hintergrund fand auch in Stans, im Nidwaldner Museum die Ausstellung «Ja, Nein, Weiss nicht – Musterdemokratie Schweiz?» statt. Im ehemaligen Landsgemeindekanton Nidwalden sind die Erinnerungen an diese Urform der direkten Demokratie natürlich noch präsent, wurde doch bis in die 1990er Jahre im Ring mittels Handerheben abgestimmt. «Hand i d’Luft oder d’Fuischt im Sack – Eine Publikation zur Landsgemeinde» erweist dieser Institution in Form eines knappen Ausstellungsbüchleins eine gelungene Reverenz.

Im ersten Teil «Eine kurze Geschichte der Landsgemeinde in Nidwalden» geht Historikerin Isabelle Zimmermann dem Ursprung ab 1398 und den seitherigen Entwicklungen in groben Zügen nach. Ähnlich wie in anderen Kantonen entstand diese Demokratieform aus Gerichtsgemeinden und hatte noch lange einen aristokratischen Einschlag. In einem Zwischenteil besucht Fotograf Emanuel Wallimann alle – auch ehemaligen – Landsgemeindeplätze von Appenzell über Rothenthurm bis Zug und stellt den heutigen Schauplätzen historische Aufnahmen von damaligen Versammlungen gegenüber. Im dritten Teil «Getriiwi liäbi Landsliit» schliesslich hat Journalist Simon Mathis von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen Erinnerungen an die Nidwaldner Landsgemeinde eingefangen. Unterhaltsam schildern so ehemalige Regierungsräte, Landschreiber, Votantinnen oder Polizisten Anekdoten, etwa eine Mutter, die 1987 unbedingt bei einer umstrittenen «Wellenberg»-Abstimmung mitentscheiden wollte und daher mit ihrem kleinen Sohn in den Ring zu treten gedachte. Ein Soldat verweigerte ihr so den Zutritt, worauf sie dem Ordnungshüter flugs den Kinderwagen zum Bewachen übergab. – Das mit diversen Bildern ansprechend gestaltete Büchlein geht jedoch auch an diversen Stellen auf die Schattenseiten der Landsgemeinde ein, die letztlich 1996 zu ihrer Abschaffung führen sollten: das fehlende Stimmgeheimnis, der Ausschluss einiger Personenkreise, eine sinkende Teilnehmerzahl und vermehrt uferlose Debatten bis in den Sonntagabend hinein. Ein Rettungsversuch 1994, mit dem zur Entschlackung Wahlen und Verfassungsänderungen an die Urne verschoben wurden, hat wohl den Niedergang eher noch befördert als verhindert.

 

Rolf Graber: Labor der direkten Demokratie – Konkurrierende Wahrnehmungen der politischen Mitbestimmung in der Schweiz (Chronos)
Zum 175-Jahr-Jubiläum der Gründung des Bundesstaats hat der Historiker Rolf Graber ein Überblickswerk über die Entwicklung der modernen, halbdirekten Demokratie der Schweiz vorgelegt. Seine Grundthese ist, dass die Volksrechte gegen den Widerstand der Eliten erkämpft werden mussten, wobei letztere immer wieder wechselten. Im Zuge der französischen Revolution begannen viele Schweizer, die Verhältnisse im eigenen Land zu hinterfragen. Das ist zugleich ein Beispiel für das Zusammenspiel zwischen Fremdwahrnehmung und Selbstbild, die Graber anhand verschiedener Beispiele beschreibt. So forderten die Unterzeichner des «Stäfner Memorials» von 1794 von der Stadtzürcher Obrigkeit mehr Rechte für die benachteiligte Landbevölkerung. Interessant ist dabei, wie sich das Freiheitsverständnis verändert hat. Widerstandsbewegungen vor dem 19. Jahrhundert beriefen sich meist auf eine Vorstellung von Freiheit als ein Privileg, das man kraft göttlichen Willens oder der eigenen militärischen Stärke erhält. Mit der Aufklärung und der französischen Revolution änderte sich diese Vorstellung. Freiheit wurde nicht mehr als Privileg, sondern als unveräusserliches Recht jedes Menschen verstanden.

Gleichzeitig beriefen sich Widerstandsbewegungen bei ihren Forderungen nach Mitsprache auf vormoderne Formen der Demokratie wie die Landsgemeinde, die wiederholt als Referenzmodell diente. Die Landsgemeindekantone selber waren von dem Wandel des Demokratieverständnisses nicht ausgenommen. So gaben sich Glarus und Schwyz im Zuge der Regeneration neue Verfassungen, die individuelle Freiheitsrechte und Gewaltenteilung verankerten. Ein wiederkehrendes Merkmal der Widerstandsbewegungen ist, dass sie partizipatorische mit materiellen Forderungen verbanden. Graber stellt damit die «liberale Meistererzählung» infrage, gemäss der die moderne schweizerische Demokratie im wesentlichen das Werk des Freisinns ist. Zugleich kritisiert er aber auch, dass von linker Seite eine direkte Linie vom Frühliberalismus zur modernen Sozialdemokratie gezogen und damit eine eigene «Meistererzählung» gesponnen wird. Dabei passe, schreibt Graber, «der Frühliberalismus schlecht in die Ahnengalerie der politischen Linken».

Das hält Graber nicht davon ab, selber den Bogen zur Gegenwart zu schlagen. Die Exklusion breiter Teile der Bevölkerung zur Zeit des Ancien Régime stellt er auf eine Stufe mit dem Ausschluss von Ausländern vom Stimmrecht heute. Das ist, gerade mit Blick auf das gewandelte Freiheitsverständnis und die Rechtsstaatlichkeit, ein gewagter Vergleich. Recht hat Graber indes mit der Feststellung, «dass die Entwicklung der halbdirekten Demokratie in der Schweiz eine Geschichte von Exklusion und Inklusion ist». Oft spielten die beiden Gegensätze zusammen. Denn je mehr Mitspracherechte die Bürger geniessen, desto geringer ist ihr Interesse, diese Rechte anderen Gruppen zuzugestehen; nicht zuletzt dadurch erklärt sich die späte Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz.

 

René Roca (Hrsg.): Die Landsgemeinde und der Freistaat der Drei Bünde – Aspekte der Demokratiegeschichte in den Kantonen Glarus und Graubündenz (FIDD)
Seit einigen Jahren führt das «Forschungsinstitut direkte Demokratie» von Historiker René Roca spannende Konferenzen durch, um die vernachlässigte Schweizer Demokratiegeschichte besser auszuleuchten. Nach Tagungen zu den Themen Katholizismus, Liberalismus, Frühsozialismus, Naturrecht und Genossenschaftsprinzip fanden nun zwei weitere Veranstaltungen statt. Der neue Band der Reihe «Beiträge zur Erforschung der Demokratie» versammelt im ersten Teil Referate zum Thema Landsgemeinde, mit speziellem Fokus auf die noch bestehende Glarner Institution.

Tagungsleiter René Roca führt zunächst ins Thema «Die schweizerischen Landsgemeinden – Geschichte und Bedeutung für die direkte Demokratie» ein. Er gibt einen Überblick zum Forschungsstand und skizziert die Entstehung und Geschichte dieser Demokratie-Urform, die bis im vorletzten Jahrhundert in immerhin acht Kantonen respektive Orten existierte. Roca legt überzeugend dar, dass sich ohne die Tradition und Kultur der Landsgemeinde die direkte Demokratie in der Schweiz auf kantonaler und später auf Bundesebene nicht hätte entwickeln können. – «Demokratisches Vorbild oder demokratisches Fossil?»: Der Beitrag von Lukas Leuzinger (Autor des Landsgemeinde-Buchs «Ds Wort isch frii» und Chefredaktor dieses Blogs) knüpft hier an: Zweifelsohne habe die Landsgemeinde liberalen und demokratischen Reformbewegungen immer wieder als Inspirationsquelle gedient. Ohne diese Strukturen hätte sich die moderne direkte Demokratie kaum so schnell und breit durchsetzen können. Gleichzeitig weist Leuzinger auch auf die Nachteile dieser Versammlungsform aus heutiger Sicht hin. – Politikwissenschafter Hans-Peter Schaub (Année Politique Suisse) wiederum nimmt diesen Ball auf: «Wie gut funktioniert die direkte Demokratie an der Glarner Landsgemeinde?» Positiv zu würdigen sei, dass die Abstimmungsagenda in hohem Mass durch die Stimmbürger selbst geprägt werden kann. Einzigartig ist auch das freie Rederecht, das intensiv genutzt wird und effektiv für Austausch der Argumente und Meinungsbildung sorge. Hier erstaunt dann aber, dass der Einfluss der Behörden dennoch beträchtlich ist, denn die Landsgemeinde-Mehrheit folgt in den weitaus meisten Fällen letztlich den behördlichen Empfehlungen.

Im zweiten Teil wird die Entstehung der Demokratie im Freistaat der Drei Bünde, also im heutigen Kanton Graubünden genauer untersucht. Seit dem Spätmittelalter kann hier «ein ‹Labor› zur Förderung der politischen Partizipation und zur Entwicklung der Demokratie in der Schweiz» verortet werden, wie Roca in seinem Überblicksreferat ausführt. Im Zentrum steht hier das «altbündnerische Referendum» als föderatives Referendumsrecht der (Gerichts-)Kreise und Gemeinden, einem Vorläufer des Gesetzesvetos des 19. Jahrhunderts. – In weiteren Detailstudien beleuchten die Historiker Jon Mathieu respektive Randolph C. Head die Formen und Begrifflichkeiten der (früh)neuzeitlichen Bündner Demokratie. Abschliessend porträtiert Verfassungsrechtler Stefan G. Schmid einen vergessenen Bündner Demokratie-Theoretiker, Florian Gengel.

 

Widmer Schweiz andersPaul Widmer: Die Schweiz ist anders – oder sie ist keine Schweiz mehr (NZZ Libro)
«Die Schweiz muss Respekt für ihr Staatswesen einfordern», forderte Paul Widmer 2020 in einem Essay zum Rahmenvertrag im «Schweizer Monat». Unter anderem schlug er vor, die Anbindung an den EU-Gerichtshof zu streichen, um das Abkommen zu retten. Ohne Erfolg: Ein Jahr später begrub es der Bundesrat.

Vielleicht nimmt sich die Regierung ja Widmers Forderung bei der Aushandlung eines neuen Vertrags zu Herzen. Denn er hat durchaus einen Punkt, den er in seinem neuen Buch «Die Schweiz ist anders – oder sie ist keine Schweiz mehr» unterstreicht. Als langjähriger Diplomat und ausgebildeter Historiker hat er sowohl geografisch als auch zeitlich das grosse Ganze im Blick – und gerade deshalb ein Gespür für den Wert der Besonderheit, die er bedroht sieht. Ausdruck dieser Bedrohung ist aus seiner Sicht der Druck auf die Neutralität im Zuge des Ukrainekriegs. Widmer kritisiert, dass der Bundesrat die Neutralität auf ihre rechtliche Seite reduziere. Denn: «Neutralität ohne Neutralitätspolitik ist ein Ding der Unmöglichkeit.»

Die grundsätzlichere Bedrohung sieht Widmer in der Aushöhlung der einzigartigen politischen Kultur der Schweiz, die auf demokratischer Mitbestimmung, Machtteilung und einer gesunden Skepsis gegenüber dem Staat basiere. Eine Bedrohung, die nicht von aussen, sondern von innen komme: in Form einer Tendenz, den Föderalismus auszuhöhlen und den Staat auszubauen. Setze sich diese Tendenz durch, warnt Widmer, wäre es vorbei mit der Einzigartigkeit der Schweiz – und damit letztlich auch mit der Daseinsberechtigung als Nation.

 

Clark Frühling RevolutionChristopher Clark: Frühling der Revolution. Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt. München (DVA)
Ist eine politische Bewegung, die Europa vor fast 200 Jahren durchschüttelte, ein 1200-seitiges Buch wert? Ja, findet Christopher Clark. In seinem Monumentalwerk «Frühling der Revolution» über die Umbrüche von 1848 und 1849 beleuchtet der in Cambridge lehrende Historiker die Ideen und Dynamiken dieser Jahre in ihrer ganzen Breite und Tiefe.

Dabei stellt er das gängige Narrativ in Frage, das man sich – gerade in der Schweiz – erzählt: dass die 48er-Revolutionen überall – ausser in der Schweiz – gescheitert seien. Zwar stimmt das, was die unmittelbaren Folgen betrifft, denn in kaum einem Land konnten sich die Revolutionäre langfristig durchsetzen. Und doch veränderten sie den Kontinent fundamental, ja sie legten in vielerlei Hinsicht den Grundstein für die moderne Welt. Einflussreiche Ideen und Bewegungen wurden erstmals breit diskutiert: Liberalismus, Radikalismus, Sozialismus und nicht zuletzt Nationalismus. Diese Ideen, befeuert durch weitverbreitete Unzufriedenheit mit den wirtschaftlichen und politischen Zuständen, schufen 1848 ein Momentum, wie es Europa zuvor nicht erlebt hatte. Von Preussen bis Sizilien, von Paris bis Bukarest stürzten Regierungen, wackelten die Throne von Monarchen. Alte Privilegien wurden in Frage gestellt, Arbeiter, Sklaven, Juden und Frauen forderten Rechte ein. Ganze Gesellschaften wurden politisiert, alles schien möglich. Vielleicht war das Vakuum, das entstand, zu gross, denn sobald sie an der Macht waren, brachen zwischen den unterschiedlichen Fraktionen Grabenkämpfe aus, Blockaden und Gegenrevolutionen folgten.

Clark würdigt die Ereignisse in den einzelnen Ländern mit Liebe zum Detail und einer Ausführlichkeit, die zuweilen zur Langatmigkeit verkommt und gewichtige Erkenntnisse verdeckt. Schade, denn die Revolutionen von 1848/49 bleiben relevant, denkt man an den Sturm auf das Kapitol 2021 oder an die jüngsten Proteste gegen die Rentenreform in Frankreich. Die Parallelen haben indes Grenzen: Damals überboten sich die Revolutionäre mit utopischen Forderungen. Heute beschränken sie sich auf eine nihilistische Ablehnung des Bestehenden.

 

Sonia I. Seneviratne, Laura Zimmermann, Markus Notter & Andreas Spillmann (Hrsg.): Mit einem Zukunftsrat gegen die Klimakrise – Warum die Schweiz eine dritte Parlamentskammer braucht (Scheidegger & Spiess)
Der Titel des Buches gibt bereits die Richtung vor: «Mit einem Zukunftsrat gegen die Klimakrise» lautet die Ansage einer Gruppe, die den bescheidenen Anspruch hat, mit ihrer Idee für «ein bisschen mehr Demokratie» in der Schweiz zu sorgen. Konkret soll der «Zukunftsrat» folgendermassen funktionieren: Eine Art dritte Parlamentskammer wird geschaffen, zusammengesetzt aus 100 Personen, die aus dem gesamten Stimmvolk ausgelost werden (wobei eine repräsentative Zusammensetzung nach «Alter, Wohnort, Geschlecht, sozialem Status und Bildungsstand» mittels Quoten sichergestellt werden soll). Der Rat soll einerseits eine Art Vetorecht gegen Beschlüsse von National- und Ständerat haben, andererseits mittels Initiativrecht Verfassungsrevisionen anstossen können. In dem Buch führt die linksliberale Gruppe, der etwa die frühere Co-Präsidentin von Operation Libero, Laura Zimmermann, und der ehemalige Zürcher SP-Regierungsrat Markus Notter angehören, ihre Idee aus. Ergänzt wird das Werk durch Gespräche mit «normalen» Bürgern, die potenziell in einem solchen Zukunftsrat sitzen könnten. Das Buch ist durchaus lesenswert, wenn auch der Aufbau zuweilen verwirrt.

Die Idee von ausgelosten «Bürgerräten» ist nicht neu. Ein solches Gremium könnte geeignet sein, Ideen auszuarbeiten, vor denen gewählte Politiker zurückschrecken, etwa in der Altersvorsorge. Es fragt sich allerdings, ob es den Initianten wirklich um neue Ideen geht – oder vielmehr um die Durchsetzung von Vorschlägen, die in ihrem Sinne sind, im heutigen politischen System aber keine Mehrheiten finden. Womöglich hegen manche Mitglieder der Gruppe dabei überhöhte Erwartungen. So äusserte ein «Fridays for Future»-Vertreter an der Buchvernissage die Hoffnung, ein Zukunftsrat könnte Vorschläge der Aktivistengruppe aufnehmen. Als Beispiel nannte er ein Verbot von «Werbung». Wahrscheinlicher ist, dass ein zusätzlicher Vetospieler im austarierten politischen System der Schweiz eher für neue Blockaden statt visionäre Lösungen sorgen würde.

 

Siehe auch:

Napoleon’s Nightmare-Buchempfehlungen 2022
Napoleon’s Nightmare-Buchempfehlungen 2021
Napoleon’s Nightmare-Buchempfehlungen 2020
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2019
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2018
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2017
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2016
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2015

Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2014

Für eine Verfassungsgerichtsbarkeit mit «Swiss Finish»

Nach dem erneuten Nein zur Verfassungsgerichtsbarkeit skizziert Loris Fabrizio Mainardi einen interessanten Kompromissvorschlag, wie mit vom Bundesgericht als verfassungswidrig erkannten Bundesgesetzen verfahren werden kann: Durch ein obligatorisches Referendum soll der Souverän selber beurteilen, ob an einem solchen Gesetz festzuhalten oder es zu kassieren sei.

Ein Gastbeitrag von Loris Fabrizio Mainardi[*].

Von einem überwiegenden Teil der Schweizer Staatsrechtslehre seit Jahrzehnten fast gebetsmühlenartig gefordert, sind bis heute sämtliche Versuche zur Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit politisch gescheitert, zuletzt in der Herbstsession 2022, als der Ständerat zwei entsprechende Vorstösse abgelehnt hat. Trotz dieser wiederholten Abfuhr ist an der Forderung festzuhalten.

Obwohl in Demokratien die Verfassung über dem Gesetz steht, erklärt Art. 190 der Bundesverfassung nicht nur das Völkerrecht, sondern eigenartigerweise auch «Bundesgesetze» als «für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend», was nichts anderes bedeutet, als dass in der Schweiz das Gesetz faktisch über der Verfassung steht. Das Schweizerische Bundesgericht ist mithin kein eigentliches Verfassungsgericht – und somit die dritte Gewalt hierzulande ihrer schlagkräftigsten Abwehrwaffe beraubt. Um die Gewaltenteilung nicht in eine letztlich undemokratische Asymmetrie zu pressen, wäre eine Reform im Sinne der abgelehnten Vorstösse überfällig.

«Swiss Finish» am Bundesgericht in Lausanne. (Foto: Fredy Wyss)

 

Auffällig ist, dass der Angst vor der dritten Staatsgewalt hierzulande, wo das Volk durch Initiativ- und Referendumsrechte die Hoheit über Verfassung und Gesetz innehat, ausgerechnet in unserem nördlichen Nachbarland – mit seiner auf Parlamentswahlen beschränkten Demokratie und einer braunen Vergangenheit auch seiner Gerichte – ein ebenso grosses Vertrauen in die Justiz gegenübersteht, die sich in der breit akzeptierten Institution des Bundesverfassungsgerichts widerspiegelt. Den bis heute obsiegenden Gegnern der Verfassungsgerichtsbarkeit ist einzig darin zuzustimmen, dass offensichtlich verfassungswidrige Bundesgesetze eine Seltenheit darstellen, nichtsdestoweniger politisch umstrittene Fragen betreffen: Bei einer an Deutschland anknüpfenden Regelung wären nicht nur das ungleiche Rentenalter für Mann und Frau, sondern auch die jüngst vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gerügte Benachteiligung von Männern bei der Witwenrente auf Grund des verfassungsrechtlichen Gleichstellungsartikels schon längst vom höchsten Schweizer Gericht beseitigt worden.

Freilich wurden – und werden bis heute – Bedenken gegenüber einem als «unschweizerisch» empfundenen «Richterrecht» ins Feld geführt. Schon 1934 postulierte der berühmte Schweizer Staatsrechtler Zaccaria Giacometti, es müsse «nach einem Garanten der Bundesverfassung gegenüber dem Bundesgesetzgeber gerufen werden. Dieser Wahrer der Verfassung kann nur die dritte oberste Bundesbehörde, das Bundesgericht, sein.»[1] Diese richterliche Kontrolle sei aber einzuschränken, indem «die Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse, mit Bezug auf welche eine Volksabstimmung stattgefunden hat, nicht an das Bundesgericht weitergezogen werden dürfen.»[2]

Obligatorisches Referendum für verfassungswidrige Bundesgesetze

Tatsächlich wäre die Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit auch heute mit einem «eidgenössischen» Kompromiss zu erreichen, jedoch anders als von Giacometti vorgeschlagen: Wie in seiner heutigen Praxis würde das Bundesgericht bei einer geltend gemachten Verfassungsverletzung durch Bundesrecht zunächst versuchen, die problematische Gesetzesbestimmung verfassungskonform auszulegen; sollte ein derart klärendes Präjudiz nicht möglich sein, müsste ein eigentlicher Verfassungsverstoss festgestellt und die verletzende Bestimmung an die Eidgenössischen Räte zurückgewiesen werden. Sollten diese an ihr festhalten, wäre die parlamentarisch legitimierte, jedoch verfassungswidrige Gesetzesnorm Volk und Ständen zur Abstimmung vorzulegen.

Somit würde schliesslich nicht, wie im Vorschlag von Giacometti, das Volk mit einfacher Referendumsmehrheit, sondern – die Gewaltenteilung konsequent wahrend – der Verfassungsgeber mit doppeltem Mehr darüber entscheiden, wie eine solche Rechtskollision zu lösen wäre.

Eine solche Lösung vermöchte den gewichtigsten Vorbehalt gegenüber einer verfassungsrichterlichen Bundesrechtskontrolle zu entkräften. Gleichwohl wären weitere Fragen zu klären: Hier ginge es zunächst darum, ob die Kontrolle verfassungswidriger Bundesgesetze abstrakt (d. h. unmittelbar nach deren Erlass) oder inzident (d. h. bei späterer konkreter Rechtsanwendung) zu rügen wären. Es spräche wenig dagegen, die heute bereits für kantonale Gesetze geltende und in der bundesgerichtlichen Praxis über Jahrzehnte bewährte Regelung, wonach sowohl die abstrakte als auch die inzidierte Normenkontrolle zulässig sind, auch für Bundesgesetze zu übernehmen.

Weitere Fragen im Hinblick auf eine (bundes-)verfassungsrichterliche Funktion des Bundesgerichts betreffen dessen Organisation und Wahl. Giacometti schlug hier vor, es solle «das Plenum und nicht lediglich eine Abteilung des Bundesgerichtes über die Verfassungsmässigkeit eidgenössischer gesetzgeberischer Akte befinden».[3] Ein von Giacometti interessanterweise schon vor 90 Jahren erhobener Befund hat eine aktuelle politische Diskussion verweggenommen: «Die Bestellung des Bundesgerichtes durch die Bundesversammlung ist schon längst zu einer parteipolitischen Angelegenheit geworden. […] Als von der Bundesversammlung bestelltes und von ihr im Amte bestätigtes Organ, könnte das Bundesgericht kaum die nötige Unbefangenheit und politische – wenn auch wohl sachliche – Unabhängigkeit für die Überprüfung der Erlasse der Bundesversammlung besitzen.»[4] Die politisch freilich umstrittene Frage, ob zur Lösung solcher Interessenkonflikte mit Giacometti tatsächlich «an den Bundesrat oder an das Volk»[5] als Wahlorgan oder doch eher an ein gegenüber der abgelehnten «Justizinitiative» qualifizierteres Loswahlverfahren zu denken wäre, sollte die rechtsstaatlich elementare Debatte um die Verfassungsgerichtsbarkeit indes weniger hemmen denn befeuern.

 


[*] Loris Fabrizio Mainardi, lic. iur., Luzern.

[1] Zaccaria Giacometti, Die Verfassungsmässigkeit der Bundesgesetzgebung und ihre Garantien, SJZ 30 (1933/34), S. 289 ff., S. 291.

[2] aaO. S. 292.

[3] aaO. S. 292.

[4] aaO. S. 292 f.

[5] aaO. S. 293.

Mehr Wettbewerb mit weniger Listen

Die aktuelle Listenflut bei den Nationalratswahlen dürfte viele Wähler abschrecken. Die Anzahl ist zu reduzieren und dafür der innerparteiliche Wettbewerb zu befördern.

Publiziert in den «Schaffhauser Nachrichten» vom 19. Oktober 2023.

Vor ein paar Tagen hat mich eine Kollegin angerufen, sie sei überfordert mit all diesen vielen Wahllisten und noch mehr Kandidaten, die um die Nationalratssitze buhlen. An den Abstimmungen nimmt sie zwar rege teil, doch wählen gegangen sei sie bisher noch nie. Meine Kollegin ist in guter Gesellschaft: Nach 1975 gingen schweizweit nie mehr als 50 Prozent der Stimmberechtigten an die Wahlurnen. Wie erste Meldungen aus einigen Städten zeigen, dürfte auch heuer die Wahlbeteiligung grob bei bloss 45 Prozent liegen.

Die ausgebreiteten Wahllisten der Nationalratswahlen 2023 im Kanton Aargau. (Foto: hu.vollenweider)

 

Dieses Desinteresse erstaunt, war doch die Bevölkerung während gut zwei Jahren sehr starken staatlichen Einschränkungen unterworfen. Ich hätte daher erwartet, dass ein Grossteil der Betroffenen nun mittels Wahlzettel ihre Meinung dazu kundtun wolle. Offenbar wurde dieses Verlangen bereits anlässlich der diversen Covid-Gesetz-Abstimmungen hinreichend kanalisiert und verdaut.

Aufgrund der Wahlpflicht liegen im Kanton Schaffhausen die Beteiligungsquoten zwar noch etwas höher als in den anderen Kantonen. Dennoch drängen sich meines Erachtens Massnahmen auf, um den Beteiligungsrückgang zu stoppen. So ist vordringlich die Listenflut wieder auf eine sinnvolle Anzahl zurückzustutzen. 2003 traten in Schaffhausen noch eine übersichtliche Handvoll Listen (SP, FDP, SVP, CVP und JSVP) an, 2011 waren es mit Jungparteien und Auslandschweizer-Listen schon deren elf. Und seit die Parteien keine einzige Unterschrift mehr sammeln müssen, um Wahllisten einzureichen, ist die Anzahl geradezu explodiert – das aktuelle Wahlzettelblöcklein ist 20 Listen stark. Zu mehr effektiver Auswahl führt diese Masse aber keineswegs, im Gegenteil, die Übersichtlichkeit leidet stark, insbesondere für Personen, die sich in ihrem Alltag nicht mit Politik beschäftigen. Die Komplexität und damit der Verdruss steigern sich noch zusätzlich, als mit der Anzahl der Listen auch die Listenverbindungen zunehmen. Die Intransparenz, wohin nun die eigene Stimme genau fliesst, wem sie nützt und schadet, nimmt wiederum zu.

Umgekehrt haben die Schaffhauser Wählerinnen und Wähler bei einer anderen, höchst relevanten Frage gar nichts zu sagen: welche Personen nämlich den SVP- und den SP-Sitz beerben werden, wenn in den nächsten Jahren die Wiedergewählten zurücktreten werden. Im Fall der SP ist schliesslich ein Rücktritt während der Legislatur bereits annonciert, bei der SVP im Bereich des Möglichen. In den meisten anderen Kantonen ist derzeit ein grosses Gerangel auf den hinteren Rängen um ein gutes Abschneiden oder gar einen Ersatzplatz im Gang. Man schaue nur über den Rhein, wo die Herausforderer Martin Farner (FDP) und Paul Mayer (SVP) je etwa 200’000 Franken aufwerfen. Bei uns haben diese Frage längst interne Parteigremien beantwortet, die Andreas Gnädinger (SVP) respektive Linda de Ventura (SP) auf die zweite Linie gesetzt haben. Jene können damit automatisch nachrücken.

Was nun? Erstens die Anzahl Listen wieder markant reduzieren. Da dies die Parteien nicht freiwillig tun werden, muss wieder ein Unterschriftenquorum verlangt werden, um die Spreu vom Weizen zu trennen. Eine Liste pro Partei genügt. Zweitens braucht es umgekehrt auf diesen wenigen Listen mehr innerparteilichen Wettbewerb. Auch Kantone mit nur zwei Nationalratssitzen sollten daher vier oder sechs Stimmen – und somit Zeilen – auf den Wahlzetteln erhalten, damit auch in Schaffhausen echte Konkurrenz und Spannung entstehen.

 

Napoleon’s Nightmare-Buchempfehlungen 2022

Die Redaktion von Napoleon’s Nightmare stellt einen Strauss Neuerscheinungen des Jahrs 2022 vor: Unsere Empfehlungen drehen sich um Napoleon und Dufour, um die Abstimmungsforschung und Politikfinanzierung, um parlamentarische Begriffe und politischen Rechtsschutz.

Von Claudio Kuster und Lukas Leuzinger

Thomas Schuler: Napoleon und die Schweiz (NZZ Libro)
«Glückliche Ereignisse haben mich an die Spitze der französischen Regierung berufen, und doch würde ich mich für unfähig halten, die Schweizer zu regieren. Wäre der erste Landammann von Zürich, würden die Berner unzufrieden; wählt ihr einen Berner, so schimpfen die Zürcher. Wählt ihr einen Protestanten, so widerstreben alle Katholiken, und so wieder umgekehrt.» Mit diesen denkwürdigen Worten – auch der Name dieses Blogs Napoleon’s Nightmare geht auf dieses Bonmot zurück – empfing Napoleon Bonaparte im Dezember 1802 die Schweizer Delegierten in Paris, um ihnen nach der gescheiterten Helvetik einen neuen Verfassungsentwurf, die Mediationsakte, zu überreichen. Denn je mehr Napoleon nach den Erfahrungen der jahrelangen Bürgerkriege über die Beschaffenheit der Schweiz nachgedacht habe, desto stärker habe sich für ihn aus der Verschiedenheit ihrer Bestandteile die Überzeugung der Unmöglichkeit ergeben, das Land einer Gleichförmigkeit zu unterwerfen. Stattdessen könne die Grundlage des inneren Friedens in dem Alpenland nur ein dezentraler, föderalistischer Staatsapparat bilden.

Historiker Thomas Schuler, einer der führenden Napoleon-Experten Deutschlands, nimmt in seinem Buch «Napoleon und die Schweiz» ebendiese Phase nach der Französischen Revolution  – Helvetische Republik, Mediationszeit bis hin zum Wiener Kongress – in den Fokus, in welcher der Einfluss Napoleons kaum überschätzt werden kann. Die mit vielen Bildern und Karten ergänzten zwölf Kapitel drehen sich um Schauplätze und Schlachten wie den «Goldraub von Bern», das «Massaker von Stans» oder «Napoleon am Grossen St. Bernhard». Nicht alle Kapitel spielen indes in der Schweiz selbst: So ist Kapitel IX der Schlacht an der Beresina gewidmet, wo auch Schweizer Regimenter mitfochten – und daher bereits damals die Schweizer Neutralität nicht gerade sehr glaubwürdig erscheinen liessen.

Zwar war und ist das Bild Napoleons in der Schweizer Geschichtsschreibung bis heute umstritten. Schuler legt jedoch überzeugend dar, dass der weitere Verlauf der Schweizer Geschichte ohne die Helvetik und Mediation so nicht denkbar gewesen wäre. Die Überwindung der Aristokratie in den neuen Kantonen durch die französische Intervention 1798 und der Erhalt der Mediationskantone durch das russische Eingreifen 1814/15 ermöglichten 1830 die liberalen Verfassungen auf kantonaler und 1847 auf Bundesebene.

Joseph Jung (Hg.): Einigkeit, Freiheit, Menschlichkeit – Guillaume Henri Dufour als General, Ingenieur, Kartograf und Politiker (NZZ Libro)
Der Historiker Joseph Jung hat ein Faible für grosse Persönlichkeiten der Schweizer Geschichte. Als Direktor der Alfred Escher-Stiftung verfasste er eine Biografie und mehrere weitere Bücher über den einflussreichen Industriellen und Politiker. Auch mit Hans Künzi, Lydia Welti-Escher oder Rainer E. Gut beschäftigte er sich. Zum 150-Jahr-Jubiläum des Sonderbundskriegs von 1847 hat er sich mit einem Sammelband Guillaume Henri Dufour angenommen. Der Genfer hat als Anführer der eidgenössischen Truppen Ruhm und Ansehen erlangt, nicht nur durch militärische Taktik, sondern auch durch seine versöhnliche, integrative Haltung gegenüber den Verlierern der Sonderbundkantone. Wenig bekannt ist, dass der «Brückenbauer» der republikanischen Schweiz von Geburt her Franzose war, Napoleon Bonaparte bewunderte und dessen Neffen, den Diktator Napoleon III., unterstützte.

Solche Widersprüche sind Teil von Dufour, der eine grosse Vielfalt von Facetten in sich vereinigt. Er war nicht nur General, sondern auch Ingenieur, Kartograf, Politiker und Humanist. Das Buch widerspiegelt diese Vielfalt, indem zehn Autoren jeweils einen Aspekt aus Dufours Leben herausgreifen. Ein Kapitel widmet sich den Ingenieursleistungen Dufours, der nicht nur im übertragenen Sinne ein Brückenbauer war. Ein anderes Kapitel beschäftigt sich mit den wirtschaftlichen Bedingungen zur Zeit der Bundesstaatsgründung. Selbst die Leadership-Skills des Generals erhalten eine Würdigung. Nicht alle Kapitel sind gleichermassen spannend, doch zusammen ergeben sie ein lesenswertes und lehrreiches Ganzes. Guillaume Henri Dufour hat es auf die Zwanzigernote geschafft und ist Namensgeber des höchsten Gipfels des Landes geworden – mehr ist in der Schweiz, die bei der Verehrung einzelner Personen zurückhaltend ist, kaum möglich. (Neuere) Literatur über ihn ist hingegen dünn gesät. Jungs Buch ist da eine willkommene Ergänzung.

Andreas Gross: Landbote vs. NZZ – Die Auseinandersetzung zwischen den beiden Zeitungen um die Direkte Demokratie und deren Ausgestaltung in der demokratischen Zürcher Revolution von 1867–1869 (Editions le Doubs)
1869 gab sich der Kanton Zürich eine neue Verfassung, die in Sachen direkte Mitsprache der Bürger neue Massstäbe setzte. Volksinitiative (für Teilrevision der Verfassung und Gesetze), fakultatives Referendum, direkte Wahl von Regierungsrat und Ständeräten: Viele der Elemente wurden später von anderen Kantonen und auf Bundesebene übernommen.

Der Weg zu diesem Pionierwerk war nicht nur ein politischer Streit zwischen den herrschenden Liberalen und den aufstrebenden Demokraten, sondern auch ein publizistischer Kampf, in dem sich die Neue Zürcher Zeitung (auf der Seite der Liberalen) und der Winterthurer Landbote (als Sprachrohr der demokratischen Bewegung) gegenüberstanden. Im fruchtbaren Wettstreit zwischen den beiden Blättern wurden viele Fragen über die Ausgestaltung der Demokratie in der Schweiz erstmals in der breiteren Öffentlichkeit vertieft diskutiert.

Nun hat der Politologe und alt SP-Nationalrat Andi Gross die damalige Debatte aufgearbeitet und in Buchform herausgegeben. Dabei räumt er originalen Auszügen viel Platz ein. Die scharfzüngigen, mal spöttischen, mal polemischen Artikel sind beste Unterhaltung. Interessant ist aber vor allem, wie viele Argumente erstaunlich ähnlich jenen sind, die heute ausgetauscht werden, wenn es um den Ausbau oder die Einschränkung der direkten Demokratie geht. Auf der anderen Seite sind viele Erwartungen geäussert worden, die sich als übertrieben oder gar verfehlt erwiesen haben. So hoffte die demokratische Bewegung, dank der direkten Demokratie die eigenen (materiellen) Forderungen durchsetzen zu können, was sich nur zum Teil erfüllte. Zuweilen hätte man sich bei dem über 600 Seiten dicken Werk eine stärkere Fokussierung gewünscht. Gleichwohl ist es ein wertvoller und lehrreicher Beitrag zur Geschichte der Schweizer Demokratie.

Hans-Peter Schaub & Marc Bühlmann (Hrsg.): Direkte Demokratie in der Schweiz – Neue Erkenntnisse aus der Abstimmungsforschung (Seismo)
Die direkte Demokratie ist nicht nur politisch wertvoll. Dadurch, dass die ganze Nation alle drei Monate an die Urne gerufen wird, hat sich auch ein einzigartiger Schatz von Daten angesammelt. Die Politikwissenschaft hat bis jetzt aber nur einen kleinen Teil dieses Potenzials genutzt. Einen Beitrag, das zu ändern, leistet der Sammelband «Direkte Demokratie in der Schweiz», herausgegeben von Hans-Peter Schaub und Marc Bühlmann. Er enthält neun Kapitel, die unterschiedliche Themen von der Umweltpolitik über den Röstigraben bis zur Digitalisierung der Demokratie beleuchten.

Man erfährt etwa, dass eine stärkere Mobilisierung entgegen der landläufigen Meinung nicht zu einer schlechteren Entscheidqualität führt. Im Gegenteil: Eine höhere Stimmbeteiligung geht mit einer besseren Information der Abstimmenden einher. Auch die Idee, dass die Unterschriftenhürden für Volksinitiativen und Referenden zu tief seien, wird relativiert. Gerade bei fakultativen Referenden sagt die Zahl der gesammelten Unterschriften wenig darüber aus, wie viel Rückhalt ein Anliegen in der Bevölkerung hat – auch Referenden, die nur knapp zustande kommen, können an der Urne durchaus erfolgreich sein. Ein weiterer Beitrag untersucht, welcher Kanton bei Abstimmungen im Schnitt am nächsten beim nationalen Resultat liegt (Spoiler: Es ist nicht der vermeintlich durchschnittliche Aargau).

Zwar dürfte der praktische Nutzen nicht bei allen Untersuchungen gleichermassen hoch sein. Gleichwohl zeigt das Buch, dass es lohnenswert ist, den Schatz an Daten von Volksabstimmungen verstärkt anzuzapfen und zu nutzen.

Peter Buomberger & Daniel Piazza: Wer finanziert die Schweizer Politik? – Auf dem Weg zu mehr Transparenz und Demokratie (NZZ Libro)
Über Geld spricht man nicht in der Schweizer Politik. Man polemisiert lieber. Die Diskussion über Politikfinanzierung wird ideologisch und oft realitätsfern geführt. Die Studie von Peter Buomberger und Daniel Piazza ist da ein erfrischend nüchterner Kontrast – vielleicht weil die Autoren viel praktische Erfahrung mitbringen. Buomberger war bei zwei grossen Finanzfirmen für politische Spenden zuständig, Piazza war als Geschäftsführer der CVP auf der Empfängerseite tätig.

Zusammen zeichnen sie die Finanzflüsse in der Schweizer Politik auf Grundlage öffentlich zugänglicher Quellen sowie Schätzungen nach und zeigen, wer wem wie viel bezahlt. Der Belastbarkeit der Zahlen sind naturgemäss Grenzen gesetzt. Gleichwohl lassen sich einige Schlüsse ziehen: etwa, dass sich das Gewicht – auch finanziell – von Parteien hin zu Verbänden und anderen Organisationen verlagert hat. Überraschend ist dabei die Potenz links-grüner NGOs, die gemäss der Studie 20 bis 23 Millionen Franken pro Jahr zur Verfügung haben und damit mehr als Wirtschafts- und Branchenverbände (17 bis 20 Millionen). Auffallend ist, dass Geld vermehrt in monothematische Ad-hoc-Kampagnen und Pop-up-Organisationen fliesst (etwa die Konzernverantwortungsinitiative oder Autonomiesuisse), aber kaum längerfristige politische Aufbauarbeit geleistet wird. Der Qualität und Stabilität der Demokratie dürfte dies nicht förderlich sein.

Während Buombergers und Piazzas Analyse aufschlussreich ist, überzeugen ihre daraus abgeleiteten Vorschläge nicht alle gleichermassen. Zwar betonen sie zu Recht, dass die Politik zur Hauptsache von der Zivilgesellschaft und damit von privaten Geldgebern getragen werden sollte. Den seit Herbst geltenden neuen Transparenzregeln, wonach Spenden ab 15 000 Franken offengelegt werden müssen, stehen sie kritisch gegenüber, da sie einen Rückgang der Spenden und Bestrebungen hin zu staatlicher Finanzierung befürchten. Ihr Gegenmodell einer «funktionalen Transparenz» (gemäss dem sich die Schwelle der Offenlegung am Gesamtbudget einer Organisation bemisst) würde jedoch zu einer Bevorzugung grosser Organisationen führen – als ob 50 000 Franken an die SP mehr Privatsphäre rechtfertigten als 50 000 Franken an die GLP. Gleich lange Spiesse scheinen da sinnvoller, wie sie die Autoren zwischen Parteien und NGOs fordern.

Michael Strebel: Das schweizerische Parlamentslexikon (Helbing Lichtenhahn)
Gibt es hierzulande einen ausgewiesenen Experten der Schweizer, insbesondere der vielfältigen kantonalen und kommunalen Parlamentslandschaft, so ist dies zweifelsohne Michael Strebel. Strebel ist promovierter Politikwissenschaftler und arbeitete bereits für diverse Parlamentsdienste, zuletzt als Ratssekretär des Kantonsrats Solothurn. Seinen enormen legislativen Wissens- und Erfahrungsschatz hat Strebel nun im «schweizerischen Parlamentslexikon» zu Papier gebracht. – Im ersten Teil wird eine ausgedehnte «Tour d’Horizon durch die kommunalen Parlamente» unternommen: Für jeden Kanton werden die Gemeindeparlamente tabellarisch mit den wichtigsten Kennzahlen aufgeführt. Viel Raum widmet Strebel den Anläufen zur Einführung oder Auflösung der kommunalen Parlamente und listet die Pro- und Contra-Argumente der jeweiligen Befürworter und Gegnerschaft auf. Weiter werden diverse Spezialitäten der jeweiligen Einwohnerräte respektive Conseils municipals aufgezeigt. Bemerkenswert ist etwa, dass in den Aargauer Einwohnerräten nicht nur die Parlamentsmitglieder, sondern sämtliche Stimmbürger Motionen und Anfragen einreichen können – nur wird leider von dieser einzigartigen, niederschwelligen Form der Bürgerbeteiligung praktisch nie Gebrauch gemacht. Ein kurzer zweiter Teil «Bundesversammlung und Kantonsparlamente» skizzierte einige Charakteristika des politischen Systems der Schweiz.

Der Kern des Buchs ist aber das eigentliche Parlamentslexikon (427 Seiten), in dem über 600 parlamentarische Begriffe von A bis Z erläutert werden. Die Schlagworte werden gut verständlich und kompakt erklärt, mit vielen Beispielen versehen (freilich ohne Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu können) und mit Hunderten von übersichtlichen, ansprechend gestalteten Grafiken, Tabellen, Illustrationen und einigen Fotos ergänzt. Der Umfang und Detailierungsgrad der lexikalischen Einträge variiert natürlich erheblich, finden sich doch so allgemeine Begriffe wie «Kommission» oder «Parlamentssitzung» bis hin zu Instrumenten oder Gremien, die nur in einer einzelnen Legislative vorkommen. Viele Begriffserklärungen werden mit weiterführenden Rechtsquellen-, Literatur- und Materialienhinweisen ergänzt. – Ein kleiner vierter Teil «Fazit und Ausblick» rundet das Werk ab. Hier werden die aktuellen Herausforderungen des Parlamentarismus umrissen, von den Stellvertretungssystemen über die Digitalisierung bis hin zur Öffentlichkeitsarbeit.

Strebel hat keinen Aufwand gescheut, seine Summa der Schweizer Parlamentspraxis über alle drei Staatsebenen hinweg möglichst vollständig abzubilden, hat er doch an die 600 Personen um Auskünfte gebeten. Da und dort erscheint die Gewichtung der Relevanz aber noch unaustariert, etwa wenn sich die Beiträge «Parlamentarische Gruppe» oder «Kosten parlamentarischer Vorstösse» gleich über je acht Buchseiten hinwegziehen, während der kaum minder wichtigen «Entschädigung» der Parlamentsmitglieder gerade einmal eine halbe Seite gewidmet wird, ohne jegliche konkrete Beispiele. – Nichtsdestotrotz darf das Parlamentslexikon fortan in keinem politaffinen Haushalt fehlen, lädt es doch ebenso zum Schmökern wie Nachschlagen ein und trägt sicherlich bald zur Weiterentwicklung des hiesigen Parlamentarismus bei.

Luka Markić: Das kantonale Rechtsschutzverfahren im Bereich der politischen Rechte (Dike)
Fehlerhafte oder fehlende Wahlzettel, Abstimmungspropaganda des Gemeindepräsidenten oder die ausgebliebene Nachzählung trotz knappen Resultats: Regelmässig werden im Vorfeld oder Nachgang von Wahlen und Abstimmung solche und viele weitere Rügen erhoben und diese im Kleid der Stimmrechtsbeschwerde den Rechtspflegebehörden zugeführt. Damit sich die Rechtsmittelinstanz aber mit den vorgebrachten Mängeln inhaltlich auseinandersetzen kann, muss der Stimmberechtigte zuerst etliche verfahrensrechtliche Hürden meistern. Luka Markić (Universität Zürich) beschreibt in seiner Dissertation diesen dornenvollen Weg, das kantonale Rechtsschutzverfahren im Bereich der politischen Rechte.

Im einführenden, verfassungsrechtlichen Teil werden zunächst die grundsätzliche Rechtsnatur und die Justiziabilität der politischen Rechte erläutert, die insbesondere mit der Justizreform vor gut 15 Jahren gestärkt worden ist. Im Gegensatz zum vereinheitlichten Zivil- und Strafprozess ist das Verwaltungs- und Verwaltungsgerichtsverfahren aber weiterhin eine kantonale Domäne – genauso wie die kantonalen und kommunalen politischen Rechte selbst. Im Hauptteil seiner Arbeit hat Markić daher die Verfahrensgesetze aller 26 Kantone ausgewertet und systematisch dargelegt. Zunächst wird der sehr uneinheitlich ausgestaltete Verfahrensweg beleuchtet, schliesslich müssen regelmässig diverse innerkantonale Instanzen – hier Verwaltungsbehörden, dort Gerichte – angerufen werden, bevor sich letztinstanzlich das Bundesgericht mit einer Sache befassen darf. Weitere Kapitel betreffen das Anfechtungsobjekt (kann man eine Medienmitteilung anfechten?), die Legitimation (dürfen politische Parteien prozessieren?) oder die Form der Beschwerde (ist die Erhebung via E-Mail zulässig?). Die Beschwerdefrist und der Beginn des Fristenlaufs nehmen grösseren Raum ein, sind dies doch wahrscheinlich jene formellen Erfordernisse, die am häufigsten verletzt werden und damit zu einem Nichteintreten führen.

Markić beschränkt sich jedoch nicht auf die blosse deskriptive Darstellung des «trockenen» Verfahrensrechts. Ihm liegt genauso daran, den Rechtsschutz im Bereich der politischen Rechte pro futuro zu verbessern und wartet deshalb an etlichen Stellen mit kritischen Einwänden und konkreten Verbesserungsvorschlägen auf. So fordert er etwa, dass das Rechtsschutzverfahren kostenlos sein müsse (dies ist in der Mehrheit der Kantone, oftmals selbst vor unteren Instanzen, nicht der Fall), da die Beschwerdeführung nicht nur im individuellen Interesse erfolge, sondern auch als «Anwalt des Volkes» fungiere. Gerade auch diese rechtspolitischen Postulate Markićs tragen zur guten Lesbarkeit, Verständlichkeit und Praxisrelevanz dieses Buchs bei.

Steffen Klatt: Mehr Schweiz wagen – mehr Europa tun – Ein Kontinent zwischen Aufbruch und Abbruch (Zytglogge)
Nach dem Einfall Russlands in die Ukraine sahen und sehen viele einen neuen Aufbruch in der Europäischen Union. Angesichts der Krise werde den Europäern bewusst, wie wichtig es sei, nun zusammenzustehen. Die Realität ist allerdings, dass die Aussichten für die EU nicht eben rosig sind. Die Mitglieder sind sich in vielen Fragen uneins, wirtschaftlich hinkt der Kontinent anderen Regionen seit Jahren hinterher. Die politischen Eliten versuchen die Flucht nach vorne durch noch mehr Zentralisierung und Harmonisierung. Und lassen dabei ihre Bürger auf halber Strecke zurück.

Den Zustand der EU beschreibt auch der Journalist Steffen Klatt in «Mehr Schweiz wagen – mehr Europa tun» schonungslos. Der in der DDR aufgewachsene Klatt macht kein Geheimnis aus seiner Sympathie für das europäische Einigungsprojekt. Trotzdem oder gerade deshalb geizt er nicht mit Kritik an den bestehenden Institutionen. Er fordert mehr (direktdemokratische) Mitsprache der Bürger. Dies sei der einzige Weg hin zu einem geeinten Europa.

Man mag dem ebenso widersprechen wie den pauschalen Abgesang auf die nationalstaatliche Souveränität. Und zuweilen gefällt sich Klatt etwas zu sehr in grossen Worten und schreitet dabei über konkrete Fragen und Lösungen hinweg. Dennoch regt das Buch auf spannende Weise zum Nachdenken über die Zukunft Europas und die Rolle der Schweiz darin an.

 

Siehe auch:

Napoleon’s Nightmare-Buchempfehlungen 2021
Napoleon’s Nightmare-Buchempfehlungen 2020
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2019
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2018
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2017
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2016
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2015

Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2014

Aufseher im Nebenamt

Die Parlamentarier haben zwar ein griffiges Instrumentarium für die Oberaufsicht über Bundesrat und Verwaltung. Oft fehlen ihnen aber die Ressourcen, um dieses tatsächlich zu nutzen.

Publiziert im «Schweizer Monat» März 2022.

Auf kommunaler Ebene ist die Kontrolle des Gemeinderats unmittelbar erlebbar – anlässlich der regelmässig stattfindenden Gemeindeversammlung. Hier können Stimmberechtigte ihrer Lokalregierung Fragen stellen zu hängigen Projekten, Kritik an der Geschäftsführung üben, Budgetpositionen streichen oder Verbesserungsvorschläge skizzieren. Auf Bundesebene ist demgegenüber die Verwaltung für den gemeinen Bürger weit entfernt, unnahbar und opak, und damit auch kaum einer Kontrolle durch ihn zugänglich. Hier springt die Bundesversammlung ein als oberste Behörde im Bund, der – nebst der Gesetzgebungs- und Wahlfunktion – die Oberaufsicht über die Regierung und die komplette Bundesverwaltung obliegt. Diese Funktion ist ein wichtiges Element der gegenseitigen Gewaltenhemmung. Welche Instrumente, Kompetenzen und Organe stehen Nationalrat und Ständerat konkret zur Verfügung? Und werden diese sinnvoll genutzt?

Aufseher an der Arbeit? (Foto: Christian Scheidegger)

 

Interpellation statt Telefon

Zunächst steht allen Parlamentarierinnen und Parlamentariern ein individuelles Informationsrecht gegenüber der Exekutive zur Verfügung, das sie mit der Interpellation und der Fragestunde einsetzen können. Im vergangenen Jahr wurden im Nationalrat und Ständerat 902 Interpellationen und 1254 Fragen im Rahmen der Fragestunde eingereicht. Der Bundesrat ist verpflichtet, die Antworten zügig zu liefern, womit aktuelle Probleme relativ schnell aufgegriffen werden können. Ein weiteres wichtiges, da ergebnisoffenes Instrument ist das Postulat, mit dem der Bundesrat zur Berichterstattung über ein spezifisches Thema oder heikle Vorkommnisse aufgefordert werden kann. Auf diese Weise werden jährlich grob 100 Berichte ausgelöst.

Diese Vorstossflut wird häufig kritisiert und den Urhebern andere Motive wie das Erheischen medialer Aufmerksamkeit unterstellt, schliesslich könnten die Ratsmitglieder ihre gewünschten Informationen auch oft direkt bei der zuständigen Verwaltungsstelle anfordern. Dieser Vorwurf verkennt einerseits, dass eine offizielle bundesrätliche Stellungnahme oder gar ein Bericht ein ganz anderes Gewicht hat als die telefonische Beantwortung durch eine Verwaltungsmitarbeiterin. Andererseits wird durch die Publizität von Anfrage und Antwort Öffentlichkeit geschaffen und Rechenschaft abgelegt. Gesamthaft ist die parlamentarische Kontrolle durch Vorstösse dennoch stark limitiert, da die Kontrollierte regelmässig das Amtsgeheimnis, andere überwiegende Interessen oder «laufende Arbeiten» vorschieben kann. Die häufig etwas verzettelten Parlamentarier lassen sich so meistens gut abwimmeln.

Kommission lädt Bundesräte vor

Tiefere Einsicht in den Verwaltungsapparat wird den parlamentarischen Sachkommissionen gewährt, so etwa der Sicherheitspolitischen Kommission (wenn sie das VBS und die Ruag unter die Lupe nimmt) oder der Urek (die sich um die Energieversorgung kümmert), denen hierfür Auskunfts- und Einsichtsrechte sowie Untersuchungsbefugnisse zustehen. Konkret fordern die Kommissionen häufig Berichte an, laden die Verantwortlichen sowie zuständigen Bundesräte vor, hören externe Expertinnen an und führen Augenscheine vor Ort durch. Die Erkenntnisse können in Empfehlungen zuhanden der Regierung münden, nötigenfalls aber auch in neue Vorstösse, wenn etwa gesetzgeberischer Handlungsbedarf geortet worden ist. Letztlich beschäftigen sich die «gewöhnlichen » Kommissionen aber nur nebenbei mit der Oberaufsicht, und auch sie sind weitgehend von den ihnen durch die Exekutive gewährten Informationen abhängig. Die Aufsicht erfolgt hier also nicht nur sehr punktuell, sondern zumeist auch erst nachträglich (statt begleitend) und ist damit eher schwach.

Detailliertere Einsichtsrechte kommen den Aufsichtskommissionen zuteil, insbesondere den zwei Geschäfts prüfungskommissionen (GPK) und den zwei Finanzkommissionen (FK) der beiden Kammern. Die GPK üben die ständige Oberaufsicht aus über die Geschäftsführung des Bundesrats, der Bundesverwaltung und anderer Träger von Aufgaben des Bundes. Hierzu obliegt ihnen traditionellerweise die Prüfung und Vorbereitung der Geschäftsberichte der Bundesbehörden zuhanden des Plenums, sie führen aber auch schwerpunktmässige Inspektionen durch. Sie erhalten Einblick in Unterlagen, die der unmittelbaren Entscheidfindung des Bundesrats dienen, etwa in die Mitberichte der Departemente. Wollen die GPK fehlbare beaufsichtigte Organe zur Remedur auffordern, so stehen ihnen politische Mittel zur Verfügung: Die GPK schliessen ihre Untersuchungen meistens mit einem öffentlichen Bericht ab, der Empfehlungen zuhanden des Bundesrats enthält. Jener muss zu den Verbesserungsvorschlägen Stellung nehmen, wodurch er zur Rechenschaft über seine Tätigkeiten verpflichtet wird.

Es erscheint jedoch äusserst fraglich, ob die «Miliz»- Parlamentarier, die in den Aufsichtskommissionen einsitzen, überhaupt die notwendigen Ressourcen – insbesondere Zeit und breites Fachwissen – aufbringen, die zahlreichen an sie herangetragenen Akten, Berichte und Studien vertieft zu lesen, zu hinterfragen und nachzuhaken, um gegebenenfalls nötige Korrekturen oder Verbesserungsmassnahmen zu veranlassen. Hält man sich vor Augen, dass etwa die Mitglieder der ständerätlichen GPK noch in vier weiteren, also in total je fünf (!) Parlamentskommissionen einsitzen, kann für die Aufsichtsfunktion von vornherein nur wenig Zeit übrigbleiben. Erstaunlich ist in dieser Hinsicht auch, dass derzeit sogar zwei vielbeschäftigte Parteipräsidenten – von der SVP und der FDP – in der GPK sitzen. Höchst fragwürdig mutet überdies an, wenn solche Parteipräsidenten gar noch zusätzlich jene FK- oder GPK-Subkommission präsidieren, die just «ihre eigene» Bundesrätin beziehungsweise Bundesrat beaufsichtigen sollte.

Einblick in Bundesratsprotokolle

An der Spitze der kaskadenhaften Ordnung der Informationsrechte stehen die Delegationen der GPK und FK, die Geschäftsprüfungsdelegation (GPDel) und die Finanzdelegation (FinDel), denen ein unbeschränktes verfassungsunmittelbares Informationsrecht zusteht, wobei die GPDel primär für den Staatsschutz und die Nachrichtendienste zuständig ist. Ihnen dürfen keinerlei Informationen aus dem Zuständigkeitsbereich der kontrollierten Organe vorenthalten werden, womit sie selbst Einblick in die Bundesratsprotokolle und andere hochsensible Akten erhalten. Fachliche, wissenschaftliche Unterstützung erhalten die GPK von der Parlamentarischen Verwaltungskontrolle (PVK), die in ihrem Auftrag Aufgabenüberprüfungen und Evaluationen durchführt. Aktuelle Studien untersuchen so unterschiedliche Bereiche wie die Offset-Geschäfte, die Covid-Kurzarbeitsentschädigung oder den Grundwasserschutz.

In seltenen, ausserordentlichen Fällen kann die Bundesversammlung überdies eine Parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) einsetzen, um «Vorkommnisse von grosser Tragweite» abzuklären. Dieses schillerndste aller Kontrollorgane hat zwar ebenfalls weitreichendste Kompetenzen und nötigenfalls gut ausgestattete personelle Ressourcen, ist aber ausschliesslich zur Klärung einer klar umrissenen Problematik befugt. Eine PUK wird im politischen Alltag häufig gefordert, aber praktisch nie eingesetzt, die letzte (zur Pensionskasse des Bundes) datiert von 1995.

Wie ist nun die Kontrolle über die Bundesverwaltung durch das Parlament in der gelebten Praxis gesamthaft zu bewerten? Es sind unterschiedliche Tendenzen auszumachen: Einerseits überrascht, wie viele institutionelle Akteure alleine des Parlaments parallel mit der Aufsicht, Kontrolle und Evaluation des Verwaltungshandelns betraut sind. Die Koordination ist anspruchsvoll und könnte womöglich noch verbessert werden, um etwaige Doppelspurigkeiten zu verhindern. Noch mehr Aufsichtsorgane, wie sie gerade seit der Pandemie gefordert werden, sind nicht nötig. Auch sind heute die rechtlichen Rahmenbedingungen und Einsichtsrechte griffig genug.

Dem Verfassungsauftrag («Die Bundesversammlung übt die Oberaufsicht aus über den Bundesrat und die Bundesverwaltung », Art. 169 BV) kommen die Volksvertreter aber kaum nach, denn faktisch sind es nicht sie, die die Kontrolle ausüben. Zumindest wäre eine umfassendere politische Verwertung der Resultate der Oberaufsichtstätigkeit angezeigt. Auch das wachsende Übergewicht von Regierung und Verwaltung gegenüber der Legislative verlangt nach einer Stärkung der Aufsicht.

Wenigstens die GPK-Mitglieder sollten sich daher exklusiv auf diese Funktion konzentrieren und vom Einsitz in anderen Kommissionen ausgeschlossen werden, so wie dies von städtischen Parlamenten bekannt ist. Kompensiert werden könnte dies, indem die GPK-Mitglieder Sukkurs von persönlichen Mitarbeitern erhielten, die sie in der Aufsicht unterstützen.

Napoleon’s Nightmare-Buchempfehlungen 2021

Die Redaktion von «Napoleon’s Nightmare» empfiehlt ein gutes Dutzend Neuerscheinungen aus dem vergangenen Jahr. Die Themen beschlagen das Frauenstimmrecht, Abstimmungsplakate, eine Aussensicht auf die Schweiz, den Föderalismus, Amerika, Bürgerpflichten sowie neue Grundrechte.

Von Claudio Kuster und Lukas Leuzinger

 

Conradin Cramer: In die Politik gehen – Tipps für den Nachwuchs (NZZ Libro)
Autobiografisches? Ratgeberliteratur? Jugendbuch? Organisation und Kommunikation? Selbstreflexion? Baselstädtische Lokalpolitik? Oder gar Humoristisches? – Conradin Cramers Neuerscheinung «In die Politik gehen» wäre in keiner dieser Abteilungen der Buchhaltung falsch einsortiert. Die «Tipps für den Nachwuchs» des Basler Regierungsrats (Liberal-Demokratische Partei, LDP) und Juristen sind eine äusserst anregende, unterhaltsame und lehrreiche Innensicht eines erfolgreichen Politikers, die letztlich den politischen Nachwuchs motivieren und begleiten will, in die Politik einzusteigen. «Es ist das Buch, dass ich vor 20 Jahren gerne gelesen hätte. Es enthält praktische Überlegungen eines Praktikers, nicht mehr und nicht weniger.»

Cramer beginnt bei der Suche nach der richtigen Partei, wobei er keiner Kleinpartei beitreten würde, sondern eine der sechs grössten (Bundesratsparteien plus Grüne/GLP) empfiehlt – der langfristigen Karriere zuliebe. Als Königsweg in die Politik skizziert er die klassische Ochsentour, so wie er als 20-Jähriger im Einwohnerrat Riehen BS begann, um später via Grosser Rat in die Kantonsregierung emporzusteigen. Politik ist Kommunikation: Daher werden natürlich Themen wie Social Media, Reden, Podiumsdiskussionen, Auftrittskompetenz, Interviews, Wahlkampf, Umgang mit Kritik usw. anschaulich abgehandelt. Hier überrascht Cramer immer wieder mit geradezu entwaffnender Ehrlichkeit. Etwa, wenn er einräumt, sich Namen schlecht merken zu können und daher mittels einer Handy-App sein Namensgedächtnis schärft. Oder wie seine Zeit während – manchmal vielleicht öden – Repräsentationspflichten effizient nutzt: Cramer nimmt «Probleme» mit an Veranstaltungen, denen er sich gedanklich widmen kann, während er äusserlich etwa einer Aufführung lauscht. Den schrillen Klang der in Basel beliebten Piccoloflöten mag der Erziehungsdirektor übrigens gar nicht – und hat deshalb stets Ohrstöpsel griffbereit. So offen gab sich ein hiesiger, zumal amtierender Exekutivpolitiker wohl noch nie.

Ein wenig aufgesetzt wirken einzig Cramers Bemühungen, das Buch gleich für den gesamten deutschsprachigen Raum anzupreisen, indem nebst Beispielen aus der Schweiz regelmässig auch ein gekünstelter Blick nach Deutschland (und selten nach Österreich) geworfen wird. Abgesehen hiervon ist das süffig verfasste Buch tatsächlich jedermann ans Herz gelegt, der mit dem Gang in die Politik liebäugelt – sei es für die lokale Schulpflege, den Kantonsrat oder gar höhere Weihen. Apropos, Basel-Stadt hat seit fast 50 Jahren keinen Bundesrat mehr!

Bettina Richter / Museum für Gestaltung Zürich (Hrsg.): Ja! Nein! Yes! No! – Swiss Posters for Democracy (Lars Müller)
Etwa die Hälfte aller Volksabstimmungen weltweit finden in der Schweiz statt. Diese Anomalie findet regelmässig unübersehbaren Niederschlag in unserem öffentlichen Raum, säumen, ja überwuchern doch in grob einem Drittel unserer Zeit zahlreiche Abstimmungsplakate dieser und jener Seite hiesige Strassenränder und Scheunentore. Viele dieser Plakate sind im Nu wieder vergessen, während sich einige geradezu ins kollektive Gedächtnis einbrennen und ikonografisch für eine bestimmte Partei oder Abstimmungsvorlage stehen. Prominentes und vielkopiertes Beispiel der letzteren Kategorie ist etwa das «Schäfchen-Plakat» zur Ausschaffungsinitiative (2010).

Das Museum für Gestaltung Zürich unterhält eine der weltweit umfangreichsten Plakatsammlungen, in welcher sich auch zahlreiche Abstimmungsplakate befinden. Bettina Richter, Kuratorin der Sammlung, hat sich der helvetischen «Bildergalerie der Strasse» angenommen und präsentiert 147 Plakatsujets, die in den vergangenen 100 Jahren eine nationale oder kantonale Abstimmungskampagne sekundierten. Einen Schwerpunkt setzt Richter beim aktuell omnipräsenten Thema «Frauenstimmrecht». Dieses Ansinnen gelangte im letzten Jahrhundert schliesslich nicht nur über 50-mal (!) an die kantonale oder nationale Urne, sie war von 1920 bis 1971 auch eine der umstrittensten Abstimmungsfragen. Einige dieser Abstimmungsplakate – vor allem seitens der Gegnerschaft– sind unterdessen gar als Ikonen der politischen Werbung bekannt, man denke nur an den überdimensionierten verwaisten Schnuller, auf dem eine eklige Fliege thront (1946).

Ergänzt wird der schön gestaltete Bilderband durch einen Essay von Historiker Jakob Tanner, der die Entstehung und Entwicklung des Kampagnenmittels politisches Plakat umreisst. Während sich das kommerzielle Plakat, ausgehend von Frankreich, um die Jahrhundertwende etablierte, wurde diese Kommunikationsform in der prekären Lage nach dem ersten Weltkrieg bald auch von den politischen Akteuren genutzt. Während damals oftmals Kunstschaffende und Autorendesigner für die Plakate zeichneten, die sich mit den politischen Botschaften unmittelbar identifizierten (Otto Baumberger, Hans Erni), wurden nach dem Zweiten Weltkrieg zusehends professionelle Grafikagenturen mit dem Design betraut. Und wie beurteilt die Herausgeberin die heutigen Affichen? «Neben vielen harmlosen, der Political Correctness verpflichteten Abstimmungsplakaten fallen im aktuellen Strassenbild jedoch auch Aushänge auf, die sich einer konsensorientierten Ästhetik verweigern und weiterhin politische Diskussionen auslösen.»

Clive H. Church & Randolph C. Head: Paradox Schweiz – Eine Aussensicht auf ihre Geschichte (Chronos)
Der Blick von aussen auf die Schweiz ist oft entweder von Romantik oder von Spott geprägt. Das hat wohl auch mit dem fehlenden historischen Verständnis zu tun. Der britische Historiker Clive Church und sein US-amerikanischer Kollege Randolph Head haben hier eine Lücke gefüllt und 2013 eine umfassende Geschichte der Schweiz in englischer Sprache publiziert. Nun ist das Werk in deutscher Übersetzung erschienen – ein Blick von aussen für Einheimische sozusagen. Dessen Funktion ist natürlich eine andere als jene des Originals, da es an deutschsprachigen Darstellungen der Schweizer Geschichte nicht fehlt. Hingegen vermögen die beiden Historiker als Aussenstehende eine andere Perspektive einzubringen.

In «Paradox Schweiz» zeichnen sie das Bild eines Landes, das sich seiner Besonderheit bewusst und zugleich stark in die Entwicklungen in Europa eingebunden ist. Natürlich wird die historische Einordnung umso schwieriger, je näher man an die Gegenwart rückt; ob die «ausgesprochen unschlüssige Haltung», die Church und Head der Schweiz attestieren, nicht auch ein bewusstes Abwägen, eine Balance zwischen Offenheit und Eigenständigkeit zum Ausdruck bringt, werden künftige Generationen besser beantworten können.

Urs Altermatt: Der lange Weg zum historischen Kompromiss – Der schweizerische Bundesrat 1874–1900. Referendumsstürme, Ministeranarchie, Unglücksfälle (NZZ Libro)
Die Konkordanz wird oft als ein zentraler Baustein des Erfolgs und der Stabilität der Schweiz angesehen. Vergessen geht dabei gerne, dass das konsensorientierte Regierungssystem nicht einfach in Stein gemeisselt ist, sondern sich in langwierigen Konflikten und Aushandlungsprozessen entwickelt hat. Eine der wichtigsten Phasen steht im Fokus des zweiten Bands von Urs Altermatts Geschichte des Bundesrats: die Phase von der Verfassungsrevision 1874 bis zur Jahrhundertwende, mit der erstmaligen Wahl eines katholisch-konservativen Bundesrats 1891 als Höhepunkt.

Die detailreiche Analyse des Bundesratshistorikers bestätigt, dass die Volksrechte entscheidenden Einfluss hatten, indem die Opposition den freisinnig dominierten Bundesrat mit Referenden immer wieder herausforderte und so schliesslich den «historischen Kompromiss» erzwang. Altermatt betont aber zugleich, dass auch der Freisinn keineswegs ein homogener Block war, sondern innerhalb der «freisinnigen Grossfamilie» teils erbitterte Machtkämpfe zwischen Radikalen, liberaler Mitte und Liberal-Konservativen tobten. Das Buch beleuchtet auch den Alltag der Bundesräte und schildert dabei immer wieder Überraschendes und Unterhaltsames. Es verdeutlicht dabei Kontinuitäten (z.B. wie sich das Kollegialitätsprinzip entwickelte) wie auch Unterschiede (z.B. die zum Teil sehr starke Stellung einzelner Bundesräte, die sich etwa darin zeigte, dass sie viel öfter als andere das Bundespräsidium übernahmen).

Alfonso C. Hophan: Die Verfassungsrevolution an der Glarner Landsgemeinde von 1836 – Ein Beitrag zur Glarner Demokratie- und Verfassungsgeschichte (Dike)
Die Liberalen haben im Zuge der Regeneration die überkommenen vormodernen Strukturen in der Schweiz überwunden und der freiheitlichen Demokratie zum Druckbruch verholfen. So lautet die «liberale Meistererzählung», die in der Geschichtsschreibung und der öffentlichen Wahrnehmung lange dominant war. Dass die Realität komplizierter war, zeigt Alfonso Hophan am Beispiel des Kantons Glarus. Dort beschloss die Landsgemeinde 1936 eine neue Verfassung, welche die weitgehende konfessionelle Trennung des Kantons aufhob und dafür individuelle Freiheitsrechte festschrieb. Der entscheidende Streitpunkt war damals, ob die Landsgemeinde überhaupt berechtigt war, die seit dem 16. Jahrhundert zwischen Katholiken und Reformierten geschlossenen Verträge einfach aufzuheben.

Hophan analysiert die Frage aus rechtshistorischer und rechtstheoretischer Sicht. Er kommt zum Schluss, dass die Annahme der neuen Verfassung gegen den Widerstand von Katholisch Glarus tatsächlich eine Revolution und nicht eine Revision darstellte – dass sie die damals geltenden Regeln also verletzte.

Darüber hinaus macht Hophan deutlich, dass die Landsgemeinde als Institution beibehalten wurde, das Demokratieverständnis dahinter aber nun ein grundlegend anderes war, ja, die Verfassung von 1936 «vielleicht den grössten» Schritt auf dem Weg von der vormodernen zur modernen Landsgemeindedemokratie darstellte. In diesem Sinn war die Glarner Verfassungsrevolution ein Vorbote der Bundesstaatsgründung zwölf Jahre später.

Jörg Paul Müller: Dialog als Lebensnerv der Demokratie – Vom Athen des Sokrates zur Politik der Gegenwart (Schwabe)
Das griechische Modell der Demokratie habe bisher keine vertiefte Beachtung gefunden. Weder die historische noch die heutige Staatsrechtswissenschaft und politische Theorie hätten sich hinreichend mit der Ausgestaltung, den Errungenschaften und Schwachstellen der frühen griechischen Demokratie auseinandergesetzt, so Jörg Paul Müller, emeritierter Professor für Verfassungs- und Völkerrecht sowie politische Philosophie an der Universität Bern. In seinem Essay «Dialog als Lebensnerv der Demokratie» fragt Müller daher, welche Erfahrungen der attischen Polis für die gegenwärtige Ausgestaltung und Praxis der Demokratie aufschlussreich sein könnten.

Die Probleme – damals wie heute – sind schnell verortet: autoritäre Strukturen, intransparente Machtansammlungen, geschickte Manipulation, ungleicher Zugang und insbesondere populistische Politiker, welche die echte Mitbestimmung der Bevölkerung verhinderten. Nachdem Müller die Grundzüge der griechischen Demokratie kurz umrissen hat, wendet er sich den beiden Philosophen Sokrates und Habermas und ihren jeweiligen Kommunikationslehren (Sokratisches Gespräch respektive Diskurstheorie) zu. Charakteristisch für das Sokratische Gespräch sei, dass es mit der Einsicht beginne, dass kein Mensch ein gesichertes, sprachlich fassbares und mitteilbares Wissen für die richtige Ordnung des gemeinsamen Lebens in der Polis besitze, das nicht hinterfragt werden könnte. Sowohl in der sokratischen Dialogpraxis (wie sie uns überliefert ist) wie in der modernen Diskurstheorie wird von den Gesprächsteilnehmern Aufgeschlossenheit und eine gegenseitige Anerkennung ihrer Gleichberechtigung erwartet, um daraus eine gemeinsame Problemsicht und rationale Basis für gemeinsames Handeln und politisches Wirken zu gewinnen. Gefordert seien da wie dort eine Fähigkeit und Bereitschaft, sowohl sich selbst einzubringen als auch die Perspektiven der anderen aufzunehmen und zu verstehen.

Demokratien, so Müller, seien Kulturleistungen, die sich durch eine hohe Fähigkeit und Bereitschaft von Bürgern wie Amtsträgerinnen zu Reflexion und Deliberation auszeichneten, zu Gespräch, Verständigung und Akzeptanz gemeinsamer Entscheidungen. Diese Befähigungen seien nicht selbstverständlich und nicht naturgegeben, sie müssten wie andere kulturelle Errungenschaften angeeignet, weitervermittelt, überdacht, erneuert und gepflegt werden. Doch solche Bedingungen stellten sich nicht von selber ein, sondern bedürften der Unterstützung durch gesellschaftliche und staatliche Kräfte. Dabei denkt Müller zu Recht an die Demokratiekompetenz durch politische Bildung, die selbst in der «Musterdemokratie» noch vielerorts ein Mauerblümchendasein fristet. – Müller versteht es, historische, (grund-)rechtliche, politologische, philosophische und kommunikationstheoretische Aspekte zu einer gut lesbaren, gehaltvollen und engagierten Schrift zu verweben.

Richard David Precht: Von der Pflicht – Eine Betrachtung (Goldmann)
Der Begriff der «Pflicht», so räumt Deutschlands bekanntester Philosoph Richard David Precht ein, fühlt sich an wie Zähneputzen, Spülen und Aufräumen – angestaubt, ein Wort gar aus einem anderen, dem «bürgerlichen» 19. Jahrhundert. Die Pandemie wirkt nun wie ein Brennglas auf unser heutiges Verhältnis zur Pflicht, dem Precht in seinen «Betrachtungen» nachgeht: Wie werden Rechte und Pflichten, seit jeher ein grosses Thema der Philosophie, heute wahrgenommen? Was denken Menschen, was ihnen zusteht, und worin sehen sie ihre staatsbürgerliche Pflicht? Wie gestaltet sich das Spannungsfeld von Pflicht und Recht, Gefahr und Massnahme, Leben und Tod? Und was verrät uns die Krise über den diesbezüglichen Zustand der Gesellschaft? Um sich den Antworten darauf zu nähern, wendet sich Precht der Philosophie der Pflicht zu, von Cicero über Kant bis Foucault und Böckenförde, rekapituliert die Entstehung des modernen Wohlfahrtsstaats, skizziert die Geschichte der Seuchenbekämpfung. Weiter weist er auf ein gewandeltes Grundrechtsverständnis hin. Galten die Grundrechte früher als Schutz des Individuums vor dem Staat, so trete im heutigen Vorsorgestaat eine zweite Verpflichtung hinzu: Die Bürger sollen nun zudem durch den Staat geschützt werden.

Warum aber tun sich viele Menschen mit ihren Pflichten so schwer? Unsere Gesellschaft sei darauf konditioniert, «Probleme durch Technik zu lösen», und nötige ihren Bürgern daher gemeinhin keine kollektiven Verhaltensänderungen ab. Ja man habe begonnen, den Staat als Dienstleister zu sehen und sich selbst als Kunden, der stets eines wolle: für sich selbst das Beste. «Tut der Staat nicht das, was ich von ihm erwarte, kündige ich meinen inneren Vertrag mit ihm und entpflichte mich vom Gemeinwohl.» Die Leistungen des Staates wurden selbstverständlich, die Anspruchshaltung des Bürgers auf freie Entfaltung höher und die Reizschwelle gegenüber empfundener Ungerechtigkeit niedriger.

Die Haltung, die wir im Umgang mit dem Virus einnehmen, sei keine reine Privatangelegenheit mehr. Die Abwehrreflexe und Entsolidarisierung, wie wir sie gerade bei den Massnahmengegnern erleben, seien Ausdruck eines befremdlichen Verhältnisses nicht weniger Menschen zum Thema Rechte und Pflichten. Der liberal-demokratische Staats habe «nicht nur das Recht, Regeln und Massnahmen zum Schutz von Millionen Schwacher und Gefährdeter zu verordnen, sondern – die Pflicht!» Es wäre jedoch ein Missverständnis, Pflichterfüllung mit Kritiklosigkeit und Konformismus gleichzusetzen. Jeder Staatsbürger habe das moralische Recht, ja sogar die moralische Pflicht, sich zu entpflichten, wenn die angewiesene Pflicht in staatliche Willkür, grosses Unrecht oder die Gefahr einer Tyrannis abgleite. Zuletzt wirft Precht den Vorschlag ein, zwei soziale Pflichtjahre für alle Bürger einzuführen, um den Bürger- und Gemeinsinn zu stärken. Ein soziales Pflichtjahr wäre für alle jungen Menschen nach dem Schulabgang zu leisten und ein zweites für alle Menschen im Renteneintrittsalter. Dadurch würde dem sozialen Frieden, der Toleranz, der Sinnstiftung, der Entlastung der Sozialausgaben und dem Verständnis der Generationen füreinander gedient.

Ferdinand von Schirach: Jeder Mensch (Luchterhand)
Der umtriebige deutsche Schriftsteller und Jurist Ferdinand von Schirach legt mit «Jeder Mensch» ein kleines, unscheinbares, gerade einmal 32 Seiten dünnes Büchlein vor. Zwischen den zwei Buchdeckeln wartet von Schirach aber keineswegs mit Belanglosem auf. Er will mit der Schrift die Saat einer – wie er selber einräumt – geradezu utopischen Idee streuen: Als 1776 die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und 1789 die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte proklamiert wurden, so wurde damit keineswegs beschreiben, was damals war, sondern allgemeingültige Grundrechte beschreiben, die erst grob zwei Jahrhunderte später mehr oder weniger entfaltet wurden.

Heute stünden wir jedoch vor ganz neuen Herausforderungen. Die damaligen Autoren und Unterzeichner der Menschenrechtserklärungen hätten das Internet und die Sozialen Medien nicht gekannt, nichts von der Globalisierung, den Algorithmen, der künstlichen Intelligenz oder dem Klimawandel gewusst. Die Gefahren, denen wir heute ausgesetzt sind, seien damals noch nicht einmal zu erahnen gewesen. Von Schirach entwirft daher flugs sechs neue Grundrechte, quasi eine «Grundrechte-Charta fürs 21. Jahrhundert», welche die tradierten Menschenrechte ergänzen und insbesondere die zukünftigen Risiken einhegen sollen. Ein Artikel will etwa der künstlichen Intelligenz wie folgt begegnen: «Jeder Mensch hat das Recht, dass ihn belastende Algorithmen transparent, überprüfbar und fair sind. Wesentliche Entscheidungen muss ein Mensch treffen.»

Wenngleich überzeugend motiviert, kommt der von Schirach’sche «Grundrechtskatalog 2.0» leider völlig unkommentiert daher. Dabei hätte doch interessiert, wieso er gerade diese neuen Rechte als die essenziellsten betrachtet, wie ihnen klarere Konturen verliehen werden und sie letztlich justiziabel ausgestaltet werden könnten. Doch – vielleicht gerade deshalb? – von Schirachs Saat ist derweil schon aufgegangen, er konnte damit in Deutschland eine Debatte auslösen. Und im neuen Koalitionsvertrag der «Ampel»-Regierung wurden die meisten seiner Menschenrechte aufgegriffen. Einzig Artikel 4 («Wahrheit») scheint zu visionär zu sein, ihn wollten die Politiker partout nicht übernehmen: «Jeder Mensch hat das Recht, dass Äusserungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen.»

Harriet Taylor Mill: Zur Erteilung des Frauenwahlrechts (Limbus)
Während John Stuart Mill als einer der einflussreichsten und bekanntesten liberalen Denker des 19. Jahrhunderts gilt, dürfte seine Gemahlin Harriet Taylor Mill den wenigsten ein Begriff sein. Zu Unrecht, denn ihr Einfluss auf das Denken und Wirken ihres Ehemannes darf nicht unterschätzt werden: Unbestritten ist ihr Beitrag zum philosophischen Werk «On Liberty» (1859) ebenso wie ihr Einfluss auf den frühfeministischen Essay «The Subjection of Women» («Die Hörigkeit der Frau», 1869). John Stuart Mill verstand die gemeinsame wissenschaftliche Arbeit gar als «Fusion zweier Geister».

Harriet Taylor Mill, die keine höhere Ausbildung genoss, publizierte aber auch diverse eigene Texte, erst anonym, dann unter ihrem eigenen Namen. Ihr vielleicht wichtigster Essay, «The Enfranchisement of Women» von 1851, ist nun neu übersetzt und herausgegeben worden. Anlass waren damalige Versammlungen in den Vereinigten Staaten (Women’s Rights Conventions), die sich der Frauenfrage und der Gleichstellung annahmen, über die Taylor Mill berichtete. Interessant sind die bereits damals vorgebrachten Argumente gegen die Gleichstellung der Geschlechter in der Familie, Politik und Wirtschaft, die die radikal-liberale Frauenrechtlerin darauf mit Verve zerpflückt: die Unvereinbarkeit des aktiven Lebens mit Mutterschaft und Haushaltsführung, der «verhärtende Einfluss auf den Charakter» der Frau, die Erhöhung des bereits übermässigen Wettbewerbs- und Lohndrucks auf dem Arbeitsmarkt sowie das angeblich mangelnde Verlangen, ja gar die Ablehnung von Emanzipationsforderungen seitens der Frauen selber. Argumente also, die noch über 100 Jahre später zu hören sein sollen.

Taylor Mill indes war «fest davon überzeugt, dass die Aufteilung der Menschheit in zwei Gesellschaftsklassen – die eine dazu geboren, über die andere zu herrschen – ein uneingeschränkter Missstand ist.» Sie sei «eine Quelle der Pervertierung und Demoralisierung sowohl für die bevorzugte Klasse als auch für jene, auf deren Kosten sie bevorzugt wird.» Politische Erziehung tue Not, Gewohnheiten und Machtstrukturen müssten hinterfragt und aufgebrochen werden, um die Freiheit des Individuums zu gewährleisten und damit den Weg zu einer solidarischen Gemeinschaft zu ebnen. Das Gleichheitsprinzip zwischen Mann und Frau sei die Basis für soziale Entwicklung. – Informative Annotationen, ein Nachwort des Übersetzers sowie eine Zeittafel Taylor Mills Leben runden das schmale Büchlein ab.

Brigitte Studer / Judith Wyttenbach: Frauenstimmrecht – Historische und rechtliche Entwicklungen 1848 – 1971 (Hier und Jetzt)
Zum 50-jährigen Jubiläum der Einführung des Frauenstimmrechts auf Bundesebene sind 2021 zahlreiche Publikationen erschienen. So etwa der von den Politologinnen Marlène Gerber und Anja Heidelberger herausgegebene Sammelband über Frauenforderungen im Parlament oder die Studie von Werner Seitz zum Kampf um die politische Gleichstellung seit 1900. Die wohl umfassendste historische Untersuchung zum Thema stammt von der Historikerin Brigitte Studer und der Staats- und Völkerrechtlerin Judith Wyttenbach. In ihrem Werk zeichnen sie akribisch die politische Debatte ums Frauenstimmrecht seit 1848 nach, beleuchten die massgebenden Akteure sowie ihre Argumente und die Entwicklung des rechtlichen Rahmens.

Dabei zeigen sich viele überraschende und unterbeleuchtete Aspekte. Etwa, dass die Schweiz 1848 das Land mit den wohl am breitesten verteilten demokratischen Rechte in Europa war und die Diskussion über deren Ausdehnung auf die weibliche Hälfte der Bürgerschaft im gleichen Zeitraum aufkam wie in anderen Ländern des Kontinents – und sie dennoch als einer der letzten Staaten das Frauenstimmrecht einführte. Die Gründe dafür sind laut Studer und Wyttenbach vielfältig. Aufgrund der direkten Demokratie war die Hürde für die Einführung natürlich höher als in anderen Staaten. Doch es spielten auch soziale und politische Faktoren eine Rolle. So stellen die Autorinnen fest, dass im Verlauf des 20. Jahrhunderts das Frauenstimmrecht in der bürgerlichen Wählerschaft an Zuspruch gewann, während es in der nach links tendierenden Arbeiterschaft an Sukkurs verlor. Deutlich wird auch die Bedeutung der Rolle der politischen Eliten: Hätte sich der Bundesrat nicht erst Ende der 1960er Jahre klar zum Frauenstimmrecht bekannt, hätte sich dieses womöglich schon früher durchgesetzt.

Simon Geissbühler: Amerika – Die politische Idee (Stämpfli)
Europäer haben oft ein schizophrenes Verhältnis zu den USA. Zwar amüsieren wir uns gerne über die amerikanische Konsumsucht oder empören uns über die neueste Absurdität aus Washington. Zugleich übt die amerikanische Idee eine grosse Anziehungskraft auch diesseits des Atlantiks aus. Was aber ist die Essenz der amerikanischen Idee und welche Bedeutung hat sie heute? Simon Geissbühler geht in seinem Buch «Amerika. Die politische Idee» (die Selbstverständlichkeit, mit der die USA mit Amerika gleichgesetzt werden, hat vielleicht auch mit dieser Idee zu tun) diesen Fragen nach. Es ist kein wissenschaftliches Buch, sondern verbindet historische Erzählung mit persönlichen Eindrücken von Reisen und Gesprächen. Der Diplomat, der in den USA studiert und gearbeitet hat, sieht Freiheit, Individualismus, Gleichheit (der Ausgangsbedingungen, nicht der Ergebnisse) und Demokratie als Kern der amerikanischen Idee. Ihre Entstehung ist laut Geissbühler nur aus dem historischen Kontext zu erklären: aus Protestantismus und Aufklärung als geistigen Quellen, aber auch aus der Entwicklung ­einer Nation in einem kaum kontrollierten Gebiet und einer Gesellschaft ohne feudale Tradition. Interessant ist, dass auch die Kritik an den USA viel über die jeweiligen gesellschaftlichen Hintergründe aussagt. Während der Antiamerikanismus heute vor allem im linken Spektrum en vogue ist, waren es im 19. Jahrhundert vor allem Konservative, denen die radikale Auffassung von individueller Freiheit und Chancengleichheit suspekt war.

Idee und Realität klafften und klaffen in den USA immer wieder auseinander, sei es unter der Sklaverei oder in den herunter­gekommenen Industriegebieten, wo die Opioid-Krise für Stagnation und Hoffnungslosigkeit steht. Doch für Geissbühler haben die USA auch immer wieder den ­Optimismus und die Kraft zur Erneuerung bewiesen. Obwohl die amerikanische Idee in den letzten Jahren an Dynamik verloren hat, namentlich aufgrund gesellschaftlicher Spaltung und abnehmender sozialer Mobilität, mag er deshalb nicht in den Chor jener einstimmen, die den Niedergang der USA predigen. «Die Vitalität und Resilienz und der Optimismus Amerikas bleiben – trotz der realen Probleme und Herausforderungen – bewundernswert und ansteckend.»

Jürg Marcel Tiefenthal: «Vielfalt in der Einheit» am Ende? – Aktuelle Herausforderungen des schweizerischen Föderalismus (EIZ)
«Der Bund übernimmt nur die Aufgaben, welche die Kraft der Kantone übersteigen oder einer einheitlichen Regelung durch den Bund bedürfen», verlangt Artikel 43a der Bundesverfassung seit geraumer Zeit, der damit das Föderalismus- und Subsidiaritätsprinzip umschreibt. Der Bund ist verpflichtet, den Kantonen ausreichend eigene Aufgaben zu belassen und einer schleichenden Aushöhlung der kantonalen Aufgabenverantwortung entgegenzuwirken. Doch in der gelebten Praxis werden diese Maximen oft ignoriert und verletzt, wie Staatsrechtler und Bundesverwaltungsrichter Jürg Marcel Tiefenthal in seinem anschaulichen Buch mit dem aufrüttelnden Titel «‹Vielfalt in der Einheit› am Ende?» anhand vier konkreter Bereiche darlegt.

Kompetenzielle Spannungs- und Konfliktfelder, die zwischen Bund und Kantonen zunehmend akzentuiert auftreten, ortet der Autor in so unterschiedlichen Materien wie der individuellen Prämienverbilligung, der Finanzierung der höheren Berufsbildung oder der territorialen bundesstaatliche Organisation (insbesondere Fusion und Abspaltung von Kantonen). Tiefenthal, Experte für Polizei- und Sicherheitsrecht, widmet der inneren Sicherheit ein besonders ausführliches Kapitel. Denn die kantonale Polizeihoheit, eigentlich eine klassische kantonale Domäne, ist bei genauerer Betrachtung unter starkem Druck. Die Gründe hierfür sind äusserst zahlreich und vielfältig: Zentralisierung polizeilicher Aufgaben (Staatsschutz, Nachrichtendienst, Informationssysteme), das Grenzwachtkorps, «Schengen», die extensive Auslegung der Kompetenzen von Militärpolizei und Zivilschutz, die Internationalisierung der polizeilichen Zusammenarbeit bis hin zur Wahrnehmung von Sicherheitsaufgaben durch Private. Akzentuiert werde das problematische «Outsourcing» dieser fundamentalen Staatsaufgabe durch die personellen Unterbestände vieler Polizeikorps.

Nebst der Internationalisierung und der Bundespolitik, die zusehends Kompetenzen an sich ziehe, sieht Tiefenthal aber interessanterweise noch einen weiteren Treiber der kontinuierlichen Aushöhlung des Föderalismus: Die Intensivierung und Institutionalisierung der interkantonalen Zusammenarbeit während der letzten rund 25 Jahren. Interkantonale Konkordate und Konferenzen hätten die Position der Kantone eigentlich stärken sollen, doch die Regierungen hätten sich nur ungenügend für ihre ureigenen Zuständigkeiten stark gemacht. Allzu oft hätten sich die politischen Verantwortungsträger in ihren Entscheidungen von praktischen Zweckmässigkeitsüberlegungen leiten lassen oder auf opportunistische Art gehandelt. – Der Föderalismus findet nur wenige engagierte Fürsprecher in der Wissenschaft (und das kantonale Pandemie-Management dürfte hieran kaum etwas geändert haben). Tiefenthal, der nebst juristischen Argumenten auch die politisch-ökonomische Föderalismusforschung berücksichtigt, legt gerade deshalb ein wichtiges und lesenswertes Plädoyer für die Revitalisierung des Föderalismus vor.

Kilian Meyer / Oliver Herrmann / Stefan Bilger (Hrsg.): Kommentar zur Schaffhauser Verwaltungsrechtspflege (EIZ)
Das Schaffhauser Verwaltungsrechtspflegegesetz (VRG) aus dem Jahr 1971 ist ein wenig in die Jahre gekommen. Dieses «Flickwerk» regelt das Verfahren und das Formelle vor den kommunalen und kantonalen Verwaltungsbehörden – von der Schulbehörde und der Steuerverwaltung bis hin zum Regierungsrat und dem Obergericht. Um das wichtige Verfahrensrecht dennoch heutigen Rechtsuchenden näherzubringen, haben die beiden Oberrichter Kilian Meyer und Oliver Herrmann sowie Staatsschreiber Stefan Bilger erstmals einen «Kommentar zur Schaffhauser Verwaltungsrechtspflege» herausgegeben. Während entsprechende Werke in grösseren Kantonen wie Zürich, Bern oder St. Gallen längst existieren, sind sie für Kleinkantone selten. Wie üblich in Gesetzeskommentaren wird Artikel für Artikel ausführlich erläutert, manchmal die Entstehungsgeschichte skizziert, die Auslegung durch die Gerichte beschrieben, Praxisfälle dokumentiert.

In einem Kleinkanton von einiger Relevanz sind etwa die Ausstandsgründe für Behördenmitglieder. So muss jemand das Entscheidorgan zu verlassen, wenn begründete Bedenken gegen seine Unbefangenheit sprechen. Persönliche Bekanntschaft («Facebook-Freundschaft» oder Duzen), nachbarschaftliche Beziehungen, regelmässige berufliche Kontakte oder das Tragen desselben Parteibuchs genügen hierzu allerdings noch nicht. Eine «Schaffhauser Spezialität» ist die Minderheitsmeinung: Normalerweise sprechen Gerichte in der Schweiz mit einer Stimme. Am Schaffhauser Obergericht dürfen jedoch abweichende Meinungen im Entscheid wiedergegeben werden, was auch einige Male im Jahr vorkomme und für Transparenz in der Rechtsprechung sorge. – Ein besonderes, schillerndes verwaltungsrechtliches Rechtsmittel stellt die abstrakte Normenkontrolle dar. Dank ihr können Betroffene direkt beim Obergericht verlangen, ein Erlass sei zu überprüfen, ob er dem übergeordneten Recht entspreche. Hierdurch können alle Normen der Gemeinden sowie kantonale Verordnungen (nicht aber Gesetze) einer Verfassungsgerichtsbarkeit unterzogen werden.

In den «Perspektiven der Schaffhauser Verwaltungsrechtspflege» schliesslich blickt Kilian Meyer in die Zukunft und skizziert rechtspolitische Reformmöglichkeiten. So könnte das konsensuale Verwaltungshandeln gestärkt werden, indem vermehrt auch mündliche Verhandlungen durchgeführt würden. Andererseits könnte die Kommunikation von Verwaltung und Justiz verbessert werden, von der Publikation der Entscheide bis hin zu einer zugänglicheren Onlinegesetzessammlung. Einige weitere Postulate wie die Ombudsstelle als Vermittlungsstelle zwischen Bürgern und Behörden, die Meldestelle für Whistleblowing sowie die Digitalisierung der Justiz wurden bereits aufgegleist. Einzig das derzeit virulente Thema «Rechtsschutz in Krisenzeiten» wird erstaunlicherweise fast gänzlich ausgespart. – Hinsichtlich Zugänglichkeit und Transparenz beschreitet das gelungene Werk neue Wege: Als schweizweite Premiere wird erstmals ein Gesetzeskommentar nebst der gedruckten Variante auch «open access» publiziert (siehe auch: Von Ausstand bis Zustellung: Schaffhauser Verwaltungsverfahren neu kommentiert).

 

Siehe auch:

Napoleon’s Nightmare-Buchempfehlungen 2020
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2019
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2018
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2017
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2016
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2015

Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2014

 

Von Ausstand bis Zustellung: Schaffhauser Verwaltungsverfahren neu kommentiert

Das Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege regelt das Verfahren vor Schaffhauser Behörden und Obergericht. Zwei Dutzend Schaffhauser Juristen haben nun einen Gesetzeskommentar hierzu verfasst. Das Buch ist frei zugänglich.

Publiziert in den «Schaffhauser Nachrichten» vom 3. Dezember 2021.

Kommentar zur Schaffhauser Verwaltungsrechtspflege. Herausgeber: Kilian Meyer, Oliver Herrmann und Stefan Bilger. Verlag: EIZ Publishing. 2021.

Wer die Schaffhauser Gesetzessammlung durchblättert, findet viele geltende Erlasse aus dem letzten Jahrhundert: Das Datenschutzgesetz von 1994, das Schulgesetz 1981, ein Natur- und Heimatschutzgesetz anno 1968 oder gar das Wahlgesetz mit Jahrgang 1904. Natürlich sind all diese Erlasse längst nicht mehr in der damaligen Erstversion in Kraft. Sie wurden seither regelmässig revidiert und aktualisiert. Dennoch atmen jene Vorschriften oft den Geist jener Tage, muten für die Rechtsunterworfenen zusehends lückenhaft und unverständlich an, ja werden von den anwendenden Behörden teilweise neu interpretiert.

Eines der wichtigeren kantonalen Gesetze feiert dieser Tage ebenfalls bereits seinen 50. Geburtstag, das kantonale Verwaltungsrechtspflegegesetz von 1971. Dieses regelt das Verfahren und das Formelle vor den Schaffhauser Verwaltungsbehörden – von der Schulbehörde und der Steuerverwaltung bis hin zum Regierungsrat und dem Obergericht. Die damals eingeführte, grundsätzlich uneingeschränkte Verwaltungsgerichtsbarkeit stellte eine Pionierleistung dar. Unterdessen hat aber auch dieses Gesetz nach Ansicht eines der Autoren des hier vorzustellenden Buchs seinen Zenit überschritten: «Die Schaffhauser Verwaltungsrechtspflege zeichnet sich durch eine zu Offenheit und Minimalismus neigende Gesetzgebungstechnik aus.»

Saubere Abhilfe schaffen gegen solches «Flickwerk» (so ein anderer Autor) würde natürlich eine Totalrevision. Eine solche ist indes zeitraubend und gelingt auch nicht immer, müsste sie doch die politischen Mühlen des Kantonsrats und eines ungewissen Volksentscheids passieren. Eine elegante Alternative zu diesem Unterfangen legen nun die beiden Oberrichter Kilian Meyer und Oliver Herrmann sowie Staatsschreiber Stefan Bilger mit dem «Kommentar zur Schaffhauser Verwaltungsrechtspflege » vor. Wie üblich in Gesetzeskommentaren wird Artikel für Artikel ausführlich erläutert, manchmal die Entstehungsgeschichte skizziert, die Auslegung durch die Gerichte beschrieben, Praxisfälle dokumentiert. Für die Kommentierungen der 62 Artikel des Verwaltungsrechtspflegegesetzes (VRG) sowie einiger Bestimmungen aus dem jüngeren Justizgesetz wurde das Herausgebertrio von zwei Dutzend Autorinnen und Autoren aus der Schaffhauser Verwaltung, der Gerichte und Advokatur unterstützt.

Kein Ausstand aufgrund Duzens oder Parteibuch

Eine sehr ausführliche Kommentierung durch Oliver Herrmann erfährt Artikel 2 VRG über den Ausstand, der gerade in einem Kleinkanton von einiger Relevanz ist. Ausstandsgründe für Behördenmitglieder sind einerseits natürlich genau vorgegebene Verwandtschaftsgrade mit Verfahrensparteien. Andererseits hat das Entscheidorgan zu verlassen, wenn begründete Bedenken gegen seine Unbefangenheit und Unparteilichkeit sprechen. Persönliche Bekanntschaft («Facebook-Freundschaft» oder Duzen), nachbarschaftliche Beziehungen, regelmässige berufliche Kontakte oder das Tragen desselben Parteibuchs genügen für sich allein genommen allerdings noch nicht. Anders sehe es indes aus bei aktiver Mitgliedschaft in gleichen Interessengruppen wie studentischen Verbindungen oder Service-Clubs.

Eine «Schaffhauser Spezialität», die Minderheitsmeinung, präsentiert Kilian Meyer (Artikel 55 Justizgesetz). Normalerweise sprechen Gerichte in der Schweiz stets mit einer Stimme, unterlegene Richter im Spruchkörper fügen sich also der Mehrheitsmeinung. Ähnlich der angelsächsischen Common-Law-Tradition dürfen am Schaffhauser Obergericht jedoch abweichende Meinungen im Entscheid wiedergegeben werden, was auch einige Male im Jahr vorkomme und für Transparenz in der Rechtsprechung sorge. Unterschiedliche Auffassungen manifestierten sich in letzter Zeit etwa zur Einschätzung der Gefährlichkeit von Hunden oder bei politischen Rechten.

Spezialität abstrakte Normenkontrolle

Ein besonderes, schillerndes verwaltungsrechtliches Rechtsmittel stellt Beat Sulzberger, vormals leitender Gerichtsschreiber am Obergericht, vor: die abstrakte Normenkontrolle (Artikel 51 ff. VRG). Dank diesem Instrument können Betroffene – meist die gesamte Bevölkerung – direkt beim Obergericht ein Gesuch stellen, ein Erlass sei zu überprüfen, ob er dem übergeordneten Recht entspreche. Hierdurch können alle Normen der Gemeinden sowie kantonale Verordnungen (nicht aber Gesetze) einer Verfassungsgerichtsbarkeit zugeführt werden. Schweizweit ziemlich einmalig ist hier, dass diese Überprüfung jederzeit, ohne irgendwelche Fristen beantragt werden kann.

Abgerundet wird der 644 Seiten starke Gesetzeskommentar mit zwei weiteren Beiträgen. Der ehemalige Oberrichter Arnold Marti beschreibt die Geschichte der Schaffhauser Verwaltungsrechtspflege vom Ancien Régime bis heute. Er knüpft damit an seine Dissertation an, die er vor bald 40 Jahren zum nämlichen Thema verfasste. Marti konstatiert einen gut ausgebauten gerichtlichen Rechtsschutz, der indes in letzter Zeit eher durch das übergeordnete Recht ausgebaut worden ist (nationale Justizreform, Grundrechtsschutz und Verfahrensgarantien durch Bundesgericht und EMRK) als durch eigene, kantonale Weiterentwicklungen.

Strauss an Reformmöglichkeiten

Im hervorragenden Aufsatz «Perspektiven der Schaffhauser Verwaltungsrechtspflege» schliesslich blickt Herausgeber Kilian Meyer in die Zukunft und skizziert einen ganzen Strauss von rechtspolitischen Reformmöglichkeiten – Pflichtlektüre für unsere Behördenvertreterinnen und -vertreter sowie Kantonsrätinnen und Kantonsräte! Einerseits könnte das konsensuale Verwaltungshandeln gestärkt werden, indem beispielsweise vermehrt auch mündliche Verhandlungen durchgeführt würden. Andererseits könnte die Kommunikation von Verwaltung und Justiz verbessert werden, von der Publikation der Entscheide (viele im Buch zitierte Urteile sind nirgends veröffentlicht) bis hin zu einer zugänglicheren Onlinegesetzessammlung. Einige weitere Postulate wie die Ombudsstelle als Vermittlungsstelle zwischen Bürgern und Behörden, die Meldestelle für Whistleblowing sowie die Digitalisierung der Justiz wurden bereits aufgegleist.

«Die Kommentierung achtet auf eine gut verständliche Sprache», heben die Herausgeber in der Einleitung hervor. Auch wenn sich die Publikation naturgemäss primär an Juristinnen und Verwaltungsmitarbeiter richtet, ist der praktisch durchgehend angenehme und dennoch exakte Sprachstil hervorzuheben. Da und dort hätte der Leser noch mehr konkrete, illustrierende Beispiele aus der Verwaltungspraxis gewünscht; einige Autoren verzichten hierauf leider. Auch das derzeit virulente Thema «Rechtsschutz in Krisenzeiten» wird erstaunlicherweise fast gänzlich ausgespart. Das ansonsten rundum gelungene Werk ist mit einem aus- führlichen Sachwortregister und einer praktischen Checkliste für erfolgreiche Rechtsschriften ergänzt. Hinsichtlich Zugänglichkeit und Transparenz beschreitet es gar neue Wege: Als schweizweite Premiere wird erstmals ein Gesetzeskommentar nebst der gedruckten Variante auch «open access» publiziert und steht damit allen Rechtsuchenden und Interessierten ab sofort kostenlos zur Verfügung.

Download unter: https://eizpublishing.ch

 

150 Jahre Semper-Stadthaus Winterthur: Auf dem Weg zur modernen Demokratie

Das Semper-Stadthaus Winterthur ist nicht nur architektonisches Kunstwerk, sondern war auch Wirkstätte der Demokratischen Bewegung Zürichs. Stadtpräsident Michael Künzle bezeichnet es gar als «Denkmal und Aufforderung zugleich, sich immer wieder für Volksrechte stark zu machen». An der kürzlichen Jubiläumsfeier «150 Jahre Stadthaus Winterthur» hat Historiker Josef Lang an die Ecole de Winterthour und ihren Kampf für die progressive Bundesverfassung 1874 erinnert. (Red.)

Festrede von Josef Lang[*], gehalten an der Feier «150 Jahre Stadthaus Winterthur» vom 22. September 2021.

Stadthaus Winterthur. (Foto: Ikiwaner)

 

«Regenwetter und behagliche Temperaturen im neuen Saal ermutigten zum Ausdauern.» So leitete der Landbote die Berichterstattung über die allererste Gemeindeversammlung in diesem Gebäude ein. Ausdauer war nötig: Die Versammlung vom Sonntag, den 30. Oktober 1870, startete vormittags um halb Zehn und dauerte bis in den Abend hinein. Behaglich war auch die damalige politische Temperatur in Winterthur. Im Herbst 1870 herrschte eine kurze Ruhe nach dem kantonalen und vor dem nationalen Verfassungs-Sturm. Die Demokraten fühlten sich in der Gemeinde und im Kanton sicher im Sattel. Und über ihre wichtigste Errungenschaft, die Volksrechte, wurde damals in vielen Kantonen und Vereinigungen intensiv diskutiert.

Selbst beim Hauptthema der «von 350 – 400 Mann zahlreich besuchten» Gemeindeversammlung, nämlich «Deckung des Defizits», herrschte laut dem zitierten Landboten für «die Stadtverwaltung das schönste Wetter». Nur einer hatte etwas zu kritisieren. Ich zitiere aus dem Landboten vom 1. November: «Herr Koller sucht die Versammlung zu überzeugen, dass die Stadtverwaltung endlich einmal so aufrichtig sei, was er, Herr Koller, schon längst prophezeit habe, nämlich, dass das viele Bauen und Geldausgeben eine teure Sache sei.»

So hatte die Gemeinde drei Monate zuvor eine Million Franken für die Bahn nach Waldshut mit einer Fortsetzung nach Basel beschlossen. Vielleicht hat der demokratische Stadtpräsident Johann Jakob Sulzer bei seinem Rücktritt im Februar 1873 an das Koller-Votum anlässlich der ersten Versammlung im neuen Stadthaus gedacht. Sulzer konnte die Nationalbahn-Risiken nicht mehr verantworten. Der vom Landboten etwas abschätzig «Herr Koller» Genannte hatte den Vornamen Konrad Traugott und war Redaktor der eschernahen Winterthurer Zeitung.

Friedrich Albert Lange, Salomon Bleuler und Gottlieb Ziegler: Vordenker der Winterthurer Demokraten

An der ersten Gemeindeversammlung in diesem Saal sprachen auch die drei – seit der gemeinsamen Matura 1847 – eng verbundenen Vordenker der Winterthurer Demokraten: Der Philosoph und Landbote-Redaktor Friedrich Albert Lange, Sohn des konservativen Uni-Professors für Theologie, der ehemalige Pfarrer und Landbote-Besitzer Salomon Bleuler sowie dessen ebenfalls theologisch gebildete Schwager und damalige Regierungspräsident Gottlieb Ziegler. Bleuler unterstützte eine Motion von Niedergelassenen im Zusammenhang mit dem Bürgernutzen. Die Gleichberechtigung der Zugezogenen mit den Ortsbürgern wurde zu einem Schlüsselthema im Ringen um die Totalrevision der Bundesverfassung.

Damit wären wir beim Hauptthema: Der von der Geschichtsschreibung arg unterschätzte Beitrag der Winterthurer Demokraten und ihrer beiden Machtzentren – der Landbote-Redaktion und des Semper-Stadthauses – für die neue Bundesverfassung von 1874. Diese sollte bis 1906, als Finnland das Frauenstimmrecht einführte, die fortschrittlichste und modernste Europas bleiben.

Die Bundesparlamentarier aus Winterthur hatten quantitativ eine starke und qualitativ eine hervorragende Präsenz in der ganzen Revisions-Debatte. Ab 1869 stellten die Winterthurer Demokraten einen Ständerat: den Stadtpräsidenten Sulzer, der selber den Stadtschreiber Theodor Ziegler in der Kleinen Kammer abgelöst hatte. Der andere Ziegler, der Regierungsrat, rückte 1871 in den Nationalrat nach, den er im historischen Jahr 1874 präsidieren sollte. Zusätzlich gehörten seit 1869 Salomon Bleuler und Friedrich Scheuchzer der grossen Kammer an.

Ecole de Winterthour fordert Abschaffung des Ständemehrs, des Ständerats und Volkswahl des Bundesrats

Auf nationaler Ebene, wo die Säkularisierung, Demokratisierung und Zentralisierung des Bundesstaates die Hauptfragen waren, hatten die Zürcher Demokraten zwei Hauptgegner: das wirtschaftsliberale Escher-Zentrum und den katholischen Konservativismus. Die Ecole de Winterthour, wie die Romands die Ziegler, Bleuler, Scheuchzer, Sulzer, Lange würdigten, war inhaltlich viel umfassender, radikaler und moderner, als sie gemeinhin dargestellt wird. Das zeigte sich besonders deutlich drei Wochen nach der Einweihung dieses Stadthauses. Am Ustertag vom 22. November 1870 legte Salomon Bleuler das Programm der Zürcher Demokraten für die Totalrevision der Bundesverfassung vor. Die erste Forderung lautete:

«Bundes-Referendum und Initiative mit Abschaffung des Ständemehrs; Abschaffung des Ständerats und Wahl des Bundesrats durch das Volk.» Dass die Winterthurer Demokraten die Einführung der Volksrechte auch auf Bundesebene anstrebten, kann nicht überraschen. Eher überraschen dürfte die Forderung nach Abschaffung des Ständemehrs und noch mehr des Ständerats. Beim neuen fakultativen Referendumsrecht für Gesetzesänderungen und Bundesbeschlüsse erreichten sie dann auch den Verzicht auf das Ständemehr – allerdings denkbar knapp. Nach einem Patt von 52:52 Stimmen hatte sich der Nationalratspräsident, ein radikaler Berner Demokrat, im Sinne der Demokraten und Deutschschweizer Freisinnigen entschieden.

Was steckte hinter der Ablehnung von Ständemehr und Ständerat durch die Winterthurer Demokraten? Erstens das Ziel, dem Volkswillen möglichst keine Schranken zu setzen. Zweitens die Nation gegenüber den Kantonen zu stärken. Und drittens stand die Ecole de Winterthour in der Tradition der Französischen Revolution, die auf dem mündigen Individuum baute und vorgegebene, tradierte Körperschaften ablehnte.

Nationalräte Bleuler und Ziegler spielen Schlüsselrolle beim Ringen um neue Bundesverfassung

Am 26. Januar 1872 sagte Gottlieb Ziegler-Bleuler im Nationalrat gegen das Ständemehr: «Es ist aber zu bemerken, dass der moderne Staat auf ganz anderen Grundlagen beruht als der alte Schweizerbund, und er sich von den historischen Traditionen desselben gelöst hat. Nicht auf diese können wir abstellen, sondern auf die Kraft, die in jedem einzelnen ruht.» Im Sinne dieses Radikalismus, der die Moderne über die Tradition stellt, forderte der Ustertag von 1870 weiter:

  • Demokratisierung auch der Kantone und Gemeinden durch die Gleichstellung der Niedergelassenen aus anderen Kantonen, damals bereits die Hälfte der Schweizer Bevölkerung;
  • Gleichberechtigung der Juden, Glaubens-, Kultus- und Lehrfreiheit, konfessionsfreies Schulwesen, Schaffung von Zivilehe und Zivilstandsämtern;
  • Humanisierung durch Abschaffung der Todes- und der Kettenstrafe;
  • Nationalisierung durch Übernahme des Wehrwesens oder Erteilung der Eisenbahnkonzessionen durch den Bund;
  • Sozialer Ausgleich und soziale Schutzmassnahmen.

Die gut vorbereiteten Bleuler und Ziegler spielten darauf im Nationalrat und in der Öffentlichkeit beim harten Ringen um die Bundesverfassung eine Schlüsselrolle. Bleuler mit zusätzlich starker Präsenz in der Zivilgesellschaft, sein Schwager als innerparlamentarischer Vordenker. Zu Bleulers Schwerpunkten gehörten die soziale Fragen, u.a. die Unentgeltlichkeit der Primarschule und der Schutz der Arbeitenden. Sein engster Mitdenker und Mitkämpfer Friedrich Albert Lange hatte 1865 das Buch «Die Arbeiterfrage» veröffentlicht. In einem parlamentarischen Wortgefecht mit dem Basler Liberalkonservativen Johann Jakob Stehlin, der sich auf die Privatautonomie der Vertragspartner berief, konterte der Winterthurer Bleuler: Die Interessen der Arbeiter werden nicht gewahrt, «wenn man den Arbeitgebern gestattete, sie zu übertriebener Arbeit von 82 bis 84 Stunden in der Woche anzuhalten, unter dem Vorwande, sie seien vollständig frei, die ihnen gestellten Bedingungen anzunehmen oder zu verwerfen».

Volkstag Solothurn 1873: grösste politische Kundgebung der Schweizer Geschichte

Bleulers Hauptbeitrag zur Bundesverfassung von 1874 lag aber im Ausserparlamentarischen – vor allem nach dem Absturz der ersten Vorlage am 12. Mai 1872 wegen einer föderalistischen Nein-Allianz von Deutschschweizer Konservativen und welschen Radicaux. Die kulturkämpferischen Radikalen, die Nordostschweizer Demokraten und die demokratisch-sozialen Grütlianer gründeten nach dem erwähnten Rückschlag einen gesamtschweizerischen Volksverein. Bleuler, der in allen drei Strömungen eine tonangebende Stimme war, gehörte auch zu den Köpfen der neuen freisinnigen Sammelbewegung. Seine basisorientierte Begründung hat nichts an Aktualität eingebüsst: «weil man die politische Aktion von unten herauf stützen und organisieren» wolle, «und weil man sich sagte, dass ein ehrlicher, offener Meinungsaustausch auf dem Boden des Volksvereins auch eher zu einer Verständigung mit der welschen Schweiz führe, als wenn alles das nur im Bundeshaus ausgekocht und diskutiert werde».

Am 11. April 1873 konnte Bleuler seinem in Berlin weilenden Freund Lange mitteilen: «Der Gedanke des Volksvereins hat überall gezündet. […] Wir schwimmen im Strom.» Für den gesamtschweizerischen Volkstag in Solothurn zugunsten einer weniger zentralistischen, dafür laizistischeren Bundesverfassung sagte er eine «Menschenmenge von 25‘000 bis 30‘000 Personen» voraus. So viele wurden es dann auch am 15. Juni 1873 – in der grössten politischen Kundgebung der Schweizer Geschichte bis zur Berner Klimademo vom 28. September 2019.

Gottlieb Ziegler-Bleuler verkörpert wie nur noch der Solothurner Staatsrechtler Simon Kaiser den wichtigsten Fortschritt, den die Bundesverfassung von 1874 ausmachte: die Kombination von demokratischen Volksrechten und sozialer Wohlfahrt mit einer individualistischen Begründung von Nation und Staat. Gottlieb Ziegler war es gewesen, der 1859 als Grossrat die Gleichberechtigung der Zürcher Juden vorgeschlagen und 1861 durchgesetzt hatte – ausgehend von einem Staatsverständnis, in dem das mündige Individuum, das «freie Menschentum» in den Worten Gottfried Sempers, nicht irgendwelchen – hier konfessionellen – Traditionen unterordnet wird. Im Nationalrat erklärte Ziegler-Bleuler 1872, warum das Referendum der Landsgemeinde überlegen ist: «Der Bürger kann sich für die Abstimmungsfrage ruhig und in aller Stille vorbereiten. […] Das ist die Form, wo das Gold der Fabrikherren und vielleicht auch die Kutte sich ihrer nicht bemächtigen können.»

Festtaumel in Winterthur ob Zustimmung zur progressivsten Verfassung der Welt

In der Abstimmungskampagne für die neue Bundesverfassung wies der Landbote neben all den Errungenschaften auf zwei Defizite hin: das Fehlen des Initiativrechts und des «Schweizerbürgerrechts», das den «gordischen Knoten […] des Gegensatzes von Territorial- und Heimatprinzip durchhauen» hätte. Vorbild für das allgemeine «Schweizerbürgerrecht» war die Helvetische Republik von 1798 bis 1803. Die umstrittene Helvetik erfuhr in den Tagen vor der Einweihung dieses Stadthauses eine positive Würdigung durch eine sechsteilige Artikelserie im Landboten.

Trotz der erwähnten Vorbehalte fiel Winterthur nach der Annahme der Bundesverfassung am 19. April 1874 bei einer Rekordbeteiligung von 82 % in einen ausgelassenen und ausdauernden Festtaumel. National hatten 63 %, kantonal 95 % für die damals progressivste Verfassung der Welt gestimmt. Bleuler hielt vor 6000 begeisterten Menschen eine Ansprache, und zwar, wie er es ausdrückte: «pro domo, deutsch: Rede vor dem Stadthaus». Später schrieb Bleuler seinem Freund Lange, der inzwischen in Berlin lebte: «Du magst Dir vorstellen, wie es in Winterthur an den zwei Tagen herging. Kanonen, Feuerwerk, Tambouren, Musik, Fahnen – Schwindel aller Art, jedoch keine Greuel.» Unterzeichnet wurde die neue Bundesverfassung natürlich von einem Winterthurer: von Nationalratspräsident Gottlieb Ziegler-Bleuler.

Nachtrag zur Eisenbahnfrage: Erfolge an Urne, Hybris auf Schiene?

Ich schliesse mit einem Nachtrag: Im zitierten euphorischen Brief an Friedrich Albert Lange vom 28. April 1874 ging Salomon Bleuler nebenbei auf die Eisenbahnfrage ein. «Ich bin der Ansicht, dass die Nationalbahn zum Leben kommt, sofern es gelingt, das Obligationen-Kapital zu beschaffen. […] Die Haltung» Sulzers – des im Vorjahr wegen der Eisenbahnfrage zurückgetretenen Stadtpräsidenten – «verstehe ich nicht mehr». Führten die Erfolge der Winterthurer Demokraten an der Urne zu einer Hybris auf der Schiene? Die Antwort auf diese Frage ist eine andere Geschichte.

 


[*] Dr. Josef Lang ist Historiker und alt Nationalrat sowie Autor von Demokratie in der Schweiz. Geschichte und Gegenwart (Verlag Hier und Jetzt, Baden/Zürich 2020).

Da waren’s nur noch vier: Basel-Stadt verliert 2023 einen Nationalratsitz an Zürich

Das überdurchschnittliche Bevölkerungswachstum beschert dem Kanton Zürich bei den nächsten Wahlen einen zusätzlichen Nationalratssitz. Das Nachsehen hat Basel-Stadt.

An die Nationalratswahlen 2023 denkt heute noch kaum jemand, ist doch noch nicht einmal die halbe Legislaturperiode 2019–2023 ins Land gezogen. Die ersten dannzumaligen Sitzgewinner und -verlierer werden jedoch schon bald publik gemacht: Fussend auf den massgeblichen ständigen Wohnbevölkerungen der Kantone per 31. Dezemerber 2020 wird der Bundesrat bald die Verteilung der 200 Nationalratssitze auf die Kantone für die Wahlen 2023 vornehmen.

Basierend auf den bereits veröffentlichten provisorischen Erhebungen des Bundesamts für Statistik (BfS) haben wir die Sitzverteilung nun schon vorwegenommen. Erfahrungsgemäss sind diese provisorischen Zahlen sehr verlässlich und verändern sich kaum mehr. So konnten wir bereits die Verschiebungen der Sitzzuteilungen vor den Nationalratswahlen 2015 und 2019 korrekt prognostizieren.

Während es 2015 noch drei Sitzverschiebungen gab (AG, VS, ZH: +1 / BE, NE, SO: -1) und vor den letzten Wahlen 2019 immerhin deren zwei (GE, VD: +1 / BE, LU: -1), wird es 2023 nur noch einen Sitztransfer geben: Der grösste Kanton, Zürich, erhält einen weiteren Nationalratssitz (neu: 36 Sitze). Auf der Verliererseite steht diesmal nicht der Kanton Bern, sondern Basel-Stadt (neu: 4 Sitze). Welche Partei (SP, Grüne, Liberale oder GLP?) den fünften Basler Sitz verlieren dürfte, ist schwierig abzuschätzen, hängt doch vieles von den einzugehenden Listen- und Unterlistenverbindungen ab, die gerade in Basel-Stadt regelmässig ziemlich breit und kreativ abgeschlossen werden.

In den anderen 24 Kantonen bleibt somit die Sitzzuteilung unverändert:

Kanton Δ ständige Wohnbevölkerung 2016–2020 NR-Sitze 2019 NR-Sitze 2023 Δ Sitze 2019–2023
Aargau +4.6% 16 16 =
Appenzell Ausserrhoden +0.6% 1 1 =
Appenzell Innerrhoden +1.8% 1 1 =
Basel-Landschaft +1.9% 7 7 =
Basel-Stadt +1.9% 5 4 -1
Bern +1.6% 24 24 =
Freiburg +4.4% 7 7 =
Genf +3.4% 12 12 =
Glarus +1.8% 1 1 =
Graubünden +1.3% 5 5 =
Jura +0.8% 2 2 =
Luzern +3.2% 9 9 =
Neuenburg -1.5% 4 4 =
Nidwalden +2.3% 1 1 =
Obwalden +1.9% 1 1 =
Schaffhausen +2.9% 2 2 =
Schwyz +4.0% 4 4 =
Solothurn +3.0% 6 6 =
St. Gallen +2.4% 12 12 =
Tessin -1.0% 8 8 =
Thurgau +4.5% 6 6 =
Uri +1.9% 1 1 =
Waadt +3.7% 19 19 =
Wallis +2.7% 8 8 =
Zug +3.9% 3 3 =
Zürich +4.4% 35 36 +1

 

Schliesslich sei ein vorsichtiger Blick auf die übernächsten Wahlen 2027 gewagt: Würden sich die kantonalen Wohnbevölkerungen in den kommenden vier Jahren im gleichen Tempo weiterentwickeln wie in den vergangenen vier Jahren, so können für 2027 je drei weitere Sitzgewinner und -verlierer ausgemacht werden: Je einen Nationalratssitz abgeben müsste einmal mehr der unterdurchschnittlich wachsende Kanton Bern (der dereinst auch noch die rund 7400 Einwohner Moutiers verloren haben wird), Graubünden und womöglich Basel-Landschaft.

Die Sitze dürften mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit dem relativ stark wachsenden Kanton Thurgau, möglicherweise wieder Luzern (das somit den 2019 ziemlich knapp verlorenen 10. Sitz wiedererlangen würde) und Freiburg zufallen.

NR-Sitze 2023-2027

 

Lukas Leuzinger hat, fussend auf den kantonalen Bevölkerungsszenarien des BfS, bereits vor vier Jahren ähnliche Prognosen angestellt. Er respektive die BfS-Statistiker sahen ebenfalls die Kantone Zürich, Thurgau, Luzern und Freiburg aufseiten der Sitzgewinner. Demgegenüber wüchsen «die Kantone Basel-Stadt und Baselland langsamer als der Schweizer Durchschnitt – und werden gemäss den BfS-Prognosen 2023 beziehungsweise 2027 je einen Nationalratssitz verlieren».