Lehrpläne legitimieren statt sakralisieren

In einer direktdemokratischen, föderalen Republik gibt es keinen Grund, Lehrpläne dem Souverän vorzuenthalten. Eine Replik.

Publiziert (leicht gekürzt) in der «ZEIT» vom 19.11.2015.[1]

«L’instruction élémentaire est le besoin de tous,
et la société la doit également à tous ses membres.»
Art. 23 Gironde-Verfassungsentwurf 1793

Unter dem Titel «Das geht die Eltern nichts an», gab uns Christoph Eymann, Präsident der Schweizerischen Erziehungsdirektoren-Konferenz (EDK) letzte Woche zu verstehen, was er von Mitsprache bei der Einführung des Lehrplans 21 hält: Nichts. Dafür brauche es «Fachleute und nicht ein Parlament». Die Eltern und das Stimmvolk gingen diese Fragen schon gar nichts an.

Vorneweg, ich gehöre keineswegs zu jenen religiös motivierten Lehrplan-Kritikern, die sich aus fundamentalen Gründen gegen Aufklärungsunterricht in der Primarschule wehren. Auch bin ich ein Freund des Fremdsprachenlernens und unterstütze daher diese wichtigen Bestandteile des Bildungskanons sehr wohl.

Und doch gehe ich mit den Kritikern und besorgten Eltern völlig einig: Die Art und Weise, wie der Lehrplan 21 nun in den Kantonen eingeführt werden soll, widerspricht unseren demokratischen Usanzen diametral. Derzeit entscheiden ausschliesslich die Kantonsregierungen respektive ihr zugewandte Erziehungsräte, ob, wie und wann die weitreichenden Lehrpläne zu erlassen und eingeführt werden.[2] Solch bildungspolitische Aristokratie widerspricht mir zutiefst.

(Foto: Karin Habegger-Heiniger)

Der Lehrplan geht alle an. (Foto: Karin Habegger-Heiniger)

Um dies zu ändern, sind derzeit von Baselland bis Graubünden Volksbegehren aufgegleist worden, welche im Wesentlichen eines vorsehen: eine Kompetenzverschiebung. Zwar liegt es auf der Hand, dass es die Erziehungsräte als Bildungsexperten braucht, um die Lehrpläne – und ohnehin Lehrmittel und Stundentafeln – auszuarbeiten. Ein Jekami dient niemandem. Es ist indes kein Grund ersichtlich, weshalb der Lehrplan nicht zur definitiven Genehmigung vor das jeweilige Kantonsparlament gelangen soll. Oder, wenn es verlangt wird, via Referendumsabstimmung vor das Volk.

Bildungspolitische Volksabstimmungen sind hierzulande schliesslich direktdemokratischer Courant normal. Im Kanton Zürich etwa fanden alleine zwischen 1995 und 1999 nicht weniger als 15 Volksabstimmungen zu Bildungsfragen statt, also durchschnittlich deren drei pro Jahr. Und bereits in den ersten 25 Jahren des Kantons Zürich mit ausgebauten direktdemokratischen Rechten (1869–1893) wurden die Bürger 23 Mal an die Urne gerufen, alleine um über Bildungspolitik zu befinden. Damals etwa über das Schulgeld, unentgeltliche Lehrmittel, die Dauer der Schulpflicht oder die Einführung einer Webschule sowie die Wahl der Lehrer.[3]

Schweizweit fanden in den letzten 20 Jahren über 300 kantonale Abstimmungen statt, in denen dem Souverän bildungsrelevante Fragen zugemutet wurden. Darunter fanden sich nicht nur Vorlagen über neue Turnhallen, Lehrerbesoldung und den Schulzahnarzt. Sondern ebenso zahlreiche Fragen, die den Schulunterricht unmittelbar betrafen: Mundart im Kindergarten, Limitierung der Klassengrössen, Gestaltung der Schuleingangsstufe, Ethikunterricht, handwerkliches Gestalten oder eben, um die Fremdsprachen.[4] Und vor einigen Jahren haben Volk und Stände sogar den Jugendmusikunterricht in die Bundesverfassung erhoben.

Bei jedem einzelnen Thema kann man freilich geteilter Meinung sein. Die einzig falsche Antwort ist indes, solche Entscheide den Bildungsbürokraten im Elfenbeinturm alleine zu überlassen. Daher gehören die zukünftigen Lehrpläne vom Kantonsparlament oder Stimmvolk abgesegnet und dadurch legitimiert. «Lehrpläne gehen die Eltern nichts an»? Anstatt sie verkrampft zu sakralisieren, sollten sie die Erziehungsdirektoren gelassen den Bürgern kommunizieren.

 


[1] Der Autor ist Co-Initiant der Schaffhauser Volksinitiative «Ja zu Lehrpläne vors Volk» (vgl. Amtsblatt-SH, Nr. 37 / 18.09.2015, 1280).

[2] In den 21 deutschsprachigen Kantonen sind zuständig für den Erlass der Lehrpläne:

  • in zehn Kantonen der Regierungsrat (Staatsrat): AG, AR, GL, GR, LU, NW, OW, SO, TG, VS;
  • in acht Kantonen der Erziehungsrat (Bildungsrat/Landesschulkommission): AI, BL, BS, SH, SZ, UR, ZG, ZH;
  • in zwei Kantonen der Erziehungsdirektor: BE, FR;
  • im Kanton St. Gallen der Erziehungsrat, vorbehältlich der Genehmigung durch die Regierung.

[3] Lucien Criblez, Vox populi – zur Herausforderung der Bildungspolitik durch die halbdirekte Demokratie, Zeitschrift für Pädagogik 57 (2011) 4, S. 471–483, 477 f. Die relativ hohe Anzahl an Volksabstimmungen ergibt sich mitunter durch das obligatorische Gesetzesreferendum, das erst mit der Zürcher Kantonsverfassung 2005 durch ein fakultatives Referendum abgelöst wurde.

[4] Daten aus Direct Democracy Database, Centre for Research on direct democracy (C2D).

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