Das demokratische Fossil lebt

In den 1990er Jahren galt die Versammlungsdemokratie als überholt, ein Kanton nach dem anderen schaffte die Landsgemeinde ab. Dabei hat sie auch Vorteile, wie ein neues Buch zeigt. Gleichwohl gibt es Reformbedarf.

Publiziert in der «Neuen Luzerner Zeitung» am 7. Mai 2016.

Morgen Sonntag ist es wieder so weit: Auf dem Landsgemeindeplatz in Glarus versammeln sich die Bürgerinnen und Bürger, um über die Angelegenheiten des Kantons zu beraten und abzustimmen. Vergangene Woche haben bereits die Appenzell-Innerrhoder ihre traditionelle Landsgemeinde abgehalten. Appenzell-Innerrhoden und Glarus sind die letzten Kantone, deren Bewohner über Sachfragen nicht an der Urne entscheiden und stattdessen einmal pro Jahr an der Landsgemeinde zusammenkommen, wie es schon seit Hunderten von Jahren Brauch ist.

Landsgemeinde auf dem Zaunplatz in Glarus, 5. Mai 2013. Foto: Kanton Glarus

 

Einst gab es die Landsgemeinde in acht Schweizer Kantonen. Doch ein Kanton nach dem anderen schaffte diese Form der Demokratie ab und ging zum Urnensystem über: Schwyz und Zug bereits vor der Gründung des Bundesstaats 1847, Uri folgte 1928. Zuletzt verabschiedeten sich in den 1990er Jahren gleich drei Kantone von der Landsgemeinde – Nidwalden (1996), Appenzell-Ausserrhoden (1997) und Obwalden (1998).

Systematischer Vergleich

Die Landsgemeinde wirkt damit wie ein demokratisches Fossil, das in den verbliebenen zwei Kantonen nur noch aus Traditionsbewusstsein beibehalten wird; ein überkommenes Relikt aus alter Zeit, das mit den Anforderungen an eine moderne Demokratie nicht mehr vereinbar ist. Aber ist das tatsächlich so?

Hans-Peter Schaub wollte es genau wissen: In einem neuen Buch, das dieser Tage erscheint, stellt der Politikwissenschaftler einen systematischen Vergleich an zwischen Kantonen mit Landsgemeinde und solchen, die an der Urne abstimmen. Im Zentrum steht dabei die grundsätzliche Frage, welches System demokratischer ist. Schaub untersuchte dazu eine Vielzahl unterschiedlicher Indikatoren, mit denen er beispielsweise mass, wie stark der Rechtsstaat, wie unabhängig die Justiz oder wie ausgebaut die direkte Demokratie in einem Kanton ist. Als Untersuchungsobjekte dienten die acht Kantone, die in ihrer Geschichte einmal die Landsgemeinde kannten oder in denen sie heute noch existiert. Da die Kantone alle ähnlich gross und ländlich geprägt sind, sind sie gut vergleichbar. Der Untersuchungszeitraum war 1979 bis 2009.

Überraschende Ähnlichkeit

Zu einem einheitlichen Ergebnis kommt Schaub nicht. «In einigen Bereichen schneidet das Urnensystem besser ab, in anderen dagegen die Landsgemeinde.» Beispielsweise ist in Kantonen mit Urnenabstimmungen das Stimmgeheimnis besser geschützt und die Beteiligung ist höher. Umgekehrt sind in den Landsgemeindekantonen die direktdemokratischen Rechte viel stärker ausgebaut – und werden auch häufiger genutzt.

Mehr als die Unterschiede überraschte Schaub aber, dass die beiden Systeme in vielen Bereichen sehr ähnliche Resultate hervorbrachten. «Beispielsweise wird oft kritisiert, durch die Landsgemeinde würden Minderheiten diskriminiert und individuelle Rechte eingeschränkt», sagt Schaub. «Beides ist nicht der Fall, jedenfalls nicht stärker als bei Urnenabstimmungen.»
Doch auch positive Vorstellungen von der Landsgemeinde wurden teilweise entkräftet, so etwa jene, die Versammlungsdemokratie mache die Leute zu «Citoyens», die sich auch ausserhalb des Landsgemeinde-Rings stärker engagierten. Schaubs Untersuchung zeigt, dass das nicht so ist; so sind Glarner und Innerrhoder etwa weder aktiver in Vereinen sind noch stärker an Politik interessiert als in anderen Kantonen. Das Fazit des Politikwissenschaftlers ist daher, dass keines der beiden Systeme per se demokratischer oder weniger demokratisch ist.

Einschüchterungsversuche

Wieso aber schafften Nidwalden, Obwalden und Appenzell-Ausserrhoden die Landsgemeinde ab? Eine eindeutige Antwort auf diese Frage kann Schaub nicht geben. Er vermutet, dass der Zeitgeist eine Rolle spielte: In den 1990er Jahren wurde die Landsgemeinde vielfach als überholt und nicht mehr zeitgemäss betrachtet. In den Diskussionen vor der Abschaffung war oft die Rede davon, dass das Urnensystem die «modernere» Form der Demokratie sei. Hinzu kamen in jedem der drei Kantone spezielle Umstände.

Auch der Nidwaldner Nationalrat Peter Keller verweist auf den «Geist der 1990er Jahre», der zum Ende der Landsgemeinde in seinem Kanton beigetragen habe. «Der Schweiz fehlte es in dieser Zeit an Selbstsicherheit.» Dem schwindenden Stolz auf die eigenen Traditionen fiel in den Augen des SVP-Politikers auch die Landsgemeinde zum Opfer. In Nidwalden kamen noch spezifische Gründe dazu, namentlich die Nichtwahl von Leo Odermatt in den Regierungsrat an der Landsgemeinde 1994. Odermatt, ein Vertreter der Partei Demokratisches Nidwalden (aus der später die Grünen wurden), unterlag seinem liberalen Kontrahenten um wenige hundert Stimmen. Im Nachgang der Abstimmung wurden Klagen über Einschüchterungsversuche auf Wähler laut. Das dürfte das Vertrauen vieler Nidwaldner in die Versammlungsdemokratie erschüttert haben.

Für Peter Keller war die Abschaffung eine «Tragödie». An der Landsgemeinde habe jeder Stimmberechtigte ans Rednerpult treten und zu seinen Mitbürgern sprechen können, erinnert er sich. «Das hat einem die Demokratie im wahrsten Sinne vor Augen geführt.»

Gewandelter Zeitgeist

Inzwischen scheint der Zeitgeist gekehrt zu haben. Jedenfalls ist die Abschaffung der Landsgemeinde weder in Glarus noch in Appenzell-Innerrhoden ein Thema. In Appenzell stand der Übergang zum Urnensystem einmal zur Diskussion, nachdem der Kanton 1991 vom Bundesgericht zur Einführung des Frauenstimmrechts gezwungen worden war. Die Stimmbürger sprachen sich aber klar für die Beibehaltung aus.

Carlo Schmid war fast dreissig Jahre Innerrhoder Landammann, bevor er 2013 zurücktrat; daneben sass der CVP-Politiker fast ebenso lange im Ständerat. Dass die Landsgemeinde in Innerrhoden weiter besteht, hat aus seiner Sicht «rationale und irrationale Gründe», wie er im Gespräch sagt. «Innerhalb von zwei Stunden erledigt man alle kantonalen Sachfragen und wählt die Regierung. Betriebswirtschaftlich ist es eine ziemlich effiziente Veranstaltung.» Daneben diene die Landsgemeinde aber auch der Identifikation, sie halte die Leute zusammen. Schmid erinnert sich daran, wie er als Landammann jeweils zusammen mit den anderen Mitgliedern der Standeskommission (Regierung) und der Gerichte auf die Tribüne stieg und sich dem versammelten Stimmvolk gegenübersah. «Das macht einem Eindruck.»

Hans-Peter Schaub: «Landsgemeinde oder Urne – was ist demokratischer? Urnen- und Versammlungsdemokratie in der Schweiz.» Nomos-Verlag, 2016.

Anpassungen nötig: Knackpunkt Stimmbeteiligung

Dass die Landsgemeinde in den beiden verbliebenen Kantonen unbestritten scheint, ist laut Hans-Peter Schaub allerdings keine Garantie, dass sie bestehen bleibt. «Auch in Nidwalden, Obwalden und Appenzell-Ausserrhoden hätte kaum jemand zehn Jahre vor den Landsgemeindeabschaffungen diese vorausgesehen.» Schaub glaubt deshalb, dass die Landsgemeinden sich reformieren müssen, um dauerhaft mehrheitsfähig zu bleiben. Handlungsbedarf sieht er vor allem bei zwei Punkten: dem fehlenden Stimmgeheimnis und der tiefen Beteiligung

Eine geheime Stimmabgabe wäre auch an der Landsgemeinde technisch möglich, und zwar mit einer elektronischen Abstimmungsanlage, wie sie zum Beispiel an den Generalversammlungen grosser Unternehmen eingesetzt werden. Damit könnte auch das Resultat genau eruiert werden, anstatt dass es wie heute geschätzt werden muss. Der Kanton Glarus prüft derzeit die Einführung eines elektronischen Systems.

Das Problem der tiefen Beteiligung ist schwieriger zu lösen. In Glarus ist die Benutzung des öffentlichen Verkehrs am Tag der Landsgemeinde gratis, trotzdem kommen jeweils nur etwa ein Viertel der Stimmberechtigten. Eine weitere Möglichkeit sind laut Schaub finanzielle Anreize, entweder in Form einer «Belohnung» der Landsgemeinde-Teilnehmer oder aber der «Bestrafung» der Nicht-Teilnehmer, das heisst die Einführung einer Stimmpflicht. Das grösste Hindernis für eine regere Teilnahme dürfte letztlich der Zeitaufwand sein. Stehen viele Geschäfte an, kann die Landsgemeinde schon einmal vier oder fünf Stunden in Anspruch nehmen. Die briefliche Stimmabgabe ist da wesentlich zeitsparender. Allerdings fällt damit auch die unmittelbare Diskussion vor Ort weg, die als wesentliche Qualität der Landsgemeinde gilt.

 

6 responses to “Das demokratische Fossil lebt

  1. Braun May 1, 2016 at 2:35 pm

    Ich bin immer wieder erstaunt, dass das Abstimmungsprozedere bei der Diskussion über die Demokratie in den Vordergrund gerückt wird. Die Abstimmung ist nur ein vergleichsweise kleiner Teil eines demokratischen Systems. Das Wesentliche eines demokratischen Systems die Willensbildung – das freie Denken, das in Fragestellen ganz im Sinne von Immanuel Kant “Kritik an der reinen Vernunft”, das Finden eines Konsens, die Sicherstellung einer kollektiven Intelligenz. Knappe Abstimmungsergebnisse sind ein präziser Indikator, dass es im Vorfeld der Problemlösung der demokratische Prozess hätte besser organisiert sein müssen.

    • Lukas Leuzinger May 1, 2016 at 7:36 pm

      Besten Dank für den Kommentar. Nun, es geht ja nicht nur um das Abstimmungsprozedere. Landsgemeinde und Urnenabstimmungen unterscheiden sich ja gerade auch hinsichtlich der Meinungs- und Willensbildung stark. Zudem: Wieso sollen “klare” Resultate besser sein als knappe? Muss das Stimmvolk zwingend (fast) einer Meinung sein? Ist es nicht auch Ausdruck einer lebendigen Demokratie, wenn es unterschiedliche Meinungen gibt?

      • Braun May 1, 2016 at 8:19 pm

        Sehr spannend Ihre Antwort. Neurologisch gesehen müssen wir Menschen Orientierung haben, damit wir uns für etwas entscheiden. Bei einer Landsgemeinde orientiert sich der Mensch an dem, was er in seinem Kopf gespeichert hat (seine Werte und anderes) sowie an der aktuellen Stimmung. Interessant ist, dass der Mensch sich an der Landsgemeinde von den aktuellen Informationsinput nicht nicht beeinflussen lassen kann, denn alleine durch sein Bedürfnis nach Kohärenz in der Menge wird er Inputs von aussen mit hoher Aufmerksamkeit wahrnehmen und in sein Wertesystem einfliessen lassen, ob er will oder nicht. Dieses Faktum wird seine gespeicherten Informationen beeinflussen (bestärkend oder schwächend). Macht der Stimmbürger das Ganze zu Hause, hat er eine kleinere Vielfalt an Einflussfaktoren auf den unmittelbaren Entscheid. Vielleicht gibt seine Familie einen Input, als Single liegt vielleicht nur die “Coop-Zeitung” zufällig neben dem Stimmzettel. So einfach ist das – neurologisch gesehen. Ich gehe davon aus, dass Sie diese Aspekte in Ihren Ausführungen berücksichtigt haben.
        Interessant nun Ihre Frage, warum konsensuale Entscheidungen besser sein sollen als knappe Entscheidungen – mit dem Junktim, “lebendige Demokratie”. Die Kriterien “Konsens und Dissens” als Merkmal “lebendig” ist Ihr Einwurf – den ich respektiere, aber auch gerne bezweifle. Beides ist kein Indiz für eine gelebte Demokratie, so meine Meinung. Im Dritten Reich oder in der Duma kommt tatsächlich so etwas wie eine Einheitsstimmung auf – aber war / ist es es dies wirklich ein Konsens? Die Russen sind ja auch intelligente Menschen – dieser “Konsens” ist nicht ein Resultat der Demokratie, sondern ein Resultat des Machtpotenzials. Nehmen Sie den Libanon, da haben Sie das blanke Gegenteil, dort von einer lebendigen Demokratie zu sprechen, weil keine Einigung möglich ist, wäre absurd. Da dürften Sie und ich einer Meinung sein.
        Das Problem ist – wenn ich mich nicht irre, Ihr Ansatz “Stimmvolk”. Es gibt tatsächlich das “Stimmvolk”, aber es gibt in einer Demokratie auch die aufgeklärten Bürger (die kommen zeitlich vor dem Stimmvolk” – und die werden selbst in der direkten Demokratie der Schweiz erstaunlich schlecht einbezogen. Dabei steckt hier eine ungenutzte kollektive Intelligenz. Ich selbst war längere Zeit Lobbiist und habe das immer wieder festgestellt: Politiker tappen per Definition im Dunkeln. Das ist nicht schlimm, aber wenn sie das Gegenteil behaupten, sollte man skeptisch sein.
        Was Ihre Arbeit anbelangt: Mich würden die zugrundeliegenden Kriterien (Nutzwertanalyse) der beiden Ansätze “Landsgemeinde / Stimmabgabe” interessieren. MfG Thomas Braun, SokratesGroup.com

  2. Lukas Leuzinger May 2, 2016 at 10:35 am

    Besten Dank für die Ausführungen. Informationsinputs spielen wohl im Versammlungssystem ebenso wie im Urnensystem eine Rolle. Der Unterschied ist, dass man sich an einer Landsgemeinde quasi nicht dagegen wehren kann, die Informationen aufzunehmen, sie gehören quasi zur Stimmabgabe mit dazu. Das kann ein Vorteil sein, weil es die Meinungsbildung der Stimmbürger verbessert. Ein möglicher Nachteil besteht darin, dass man an einer Landsgemeinde wenig Zeit hat, die Informationen zu verarbeiten oder zu überprüfen (daher die oft gehörte Kritik, die Versammlungsteilnehmer liessen sich von Emotionen leiten und würden unbedachte Entscheide fällen).
    Nein, knappe Entscheide sind an sich noch kein Beweis für eine lebendige Demokratie – klare Entscheide aber ebenso wenig. Meinungsverschiedenheiten sind aus meiner Sicht durchaus positiv, entscheidend ist – da gehe ich mit Ihnen einig –, wie man damit umgeht. Libanon ist sicher ein extremes Beispiel, aber im Prinzip nicht so weit entfernt von der Schweiz Ende 19./anfangs 20. Jahrhundert: Stark ausgeprägte Feindseligkeiten, Machtteilung auf Regierungsebene, aber auch viel Blockade und politischer Klientelismus. Das ist immer noch besser als ein Bürgerkrieg, aber langfristig nicht die idealste Lösung. Die Schweiz hat, denke ich, mit ihren Institutionen eine relativ gute Balance geschafft.
    Der aufgeklärte Stimmbürger kommt vor dem Stimmvolk, da gebe ich Ihnen völlig recht. Ich habe mir vor einiger Zeit ein paar Gedanken dazu gemacht (auch im Zusammenhang mit Konkordanz und Konsenskultur): https://napoleonsnightmare.ch/2014/10/03/die-burger-nicht-erst-am-schluss-fragen/

    • Braun May 2, 2016 at 11:04 am

      …. ich habe mir schon gedacht, dass unsere Erkenntnis nicht soweit von einander liegen. Wir erstellen über solche Fragestellungen sogenannte SokratesKarten – wenn Sie Interesse haben, kommen Sie mich doch mal besuchen – ich zeige Ihnen ein paar Beispiele, wie wir die Gesetzesentwicklung gemappt haben – also im Vorfeld bereits massiv Missverständnisse reduziert haben.

  3. Pingback: Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2016 | Napoleon's Nightmare

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