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Napoleon’s Nightmare-Buchempfehlungen 2024

Aus dem Bücher-Jahrgang 2024 hat die «Napoleon’s Nightmare»-Redaktion ein Dutzend demokratierelevante Favoriten herausgepickt. Die Neuerscheinungen beleuchten die US-Wahlen, die Digitalisierung, den Liberalismus und Illiberalismus, die Schweizer Abstimmungsgeschichte, die Umweltverfassung und das Parlamentsrecht.

Von Claudio Kuster und Lukas Leuzinger

Marina Weisband: Die neue Schule der Demokratie – Wilder denken, wirksam handeln (S. Fischer)
«Es ist ein Irrtum zu glauben, dass Demokraten von selbst heranwachsen, gleichsam aus der Luft fallen und ab ihrem 16. oder 18. Lebensjahr, wenn sie das erste Mal wahlberechtigt sind, automatisch das tun, was man bei guten Demokraten eben voraussetzt.» Marina Weisband, Publizistin, Psychologin und IT-Nerd, zeigt in ihrem Buch «Die neue Schule der Demokratie» daher anschaulich auf, wie wirkungsvolle schulische Demokratieförderung aussehen sollte. Zwar gebe es Staatskundeunterricht und da und dort Planspiele. Aber das sei «nur Unterrichtsstoff», Schule an sich funktioniere nicht demokratisch. Dabei sei es essenziell für Kinder und Jugendliche, zu lernen und selbst zu erfahren, dass sie nicht hilflos einem System ausgeliefert seien, sondern Gestalter sein könnten.

Hier setzt die von Weisband mitentwickelte Software «Aula» an, die mittlerweile an zahlreichen Schulen in Deutschland und an einigen im Ausland läuft. Die Schüler können ihre Ideen und Wünsche, wie ihr Schulalltag verbessert werden könnte, niederschwellig in «Aula» einspeisen. Die Inputs können darauf klassenübergreifend von den Mitschülern «geliket», kommentiert und mit Gegenanträgen ergänzt werden. Die Kinder, deren Ideen eine bestimmte Zustimmungsrate erreicht haben, gehen darauf in die verschiedenen Klassen und präsentieren ihr Projekt, versuchen, Interesse zu wecken und Einwände aufzugreifen, um die Idee zu optimieren.

«Das Entscheidende ist, dass sich die Schüler mit Themen beschäftigen, die die ihren sind, für die sie sich interessieren, die in ihrem Leben eine Bedeutung haben.» Wären es irgendwelche beliebigen Übungsprojekte, würde es nicht klappen. Natürlich dürfen via «Aula» (Akronym für «ausdiskutieren und live abstimmen») keine Lehrer entlassen oder Geld verprasst werden, das gar nicht vorhanden ist. Bereits der vielerorts geforderte spätere Unterrichtsbeginn lässt sich hierdurch nicht einführen, da dieses Ansinnen gegen Gesetze verstossen würde. Ein breiter Spielraum ihrer kreativen Entfaltung und Selbstbestimmung bleibt den Kindern und Jugendlichen gleichwohl: Die Hausordnung anpassen, Veranstaltungen durchführen oder kleinere Anschaffungen tätigen. An einer Schule wurde so ein Fussballtor auf dem Schulhof aufgebaut, an einer anderen ein Kräutergarten angelegt.

Selbst die Unterrichtsform lässt sich beeinflussen, hat eine Schule doch beschlossen, dass die Lehrer einen Tag lang den Unterricht ausschliesslich mit dem Smartphone zu gestalten haben. Aus der einmaligen Aktion wurde gar ein regelmässiger, monatlicher «Smartphone-Tag». Ein bisschen erstaunlich (auch demokratietheoretisch) ist einzig, dass die Promotoren einer Idee nach gewonnener Abstimmung auch gleich verantwortlich für deren Umsetzung sind: statt Gewaltenteilung eine grobe Vermischung von Legislative und Exekutive. Weisbands Buch ist ein fesselndes und überzeugendes Plädoyer für praxisnahe Demokratiebildung, das von ihrem breiten Erfahrungsschatz aus Politik, Bildungswesen, Psychologie und Informatik profitiert.

Christian R. Ulbrich & Bruno S. Frey: Automated Democracy – Die Neuverteilung von Macht und Einfluss im digitalen Staat (Herder)
Die Luca-App sollte in Deutschland helfen, Corona-Ansteckungswege zu verfolgen. Doch als 2021 ein Mann nach dem Verlassen einer Gaststätte in Mainz stürzte und starb, nutzte die Polizei die App kurzerhand, um Zeugen ausfindig zu machen. Kurz darauf regte der rheinland-pfälzische Justizminister an, die Daten der Luca-App auch in anderen Fällen für die Strafverfolgung zu nutzen. Das Beispiel zeigt ein Dilemma der Digitalisierung für die Staatstätigkeit. Zum einen erlauben es digitale Technologien, staatliche Tätigkeiten effizienter auszuführen. Zum anderen ermöglichen sie aber auch eine immer engmaschigere Überwachung der Bürger.

In «Automated Democracy» beleuchten Christian L. Ulbrich und Bruno S. Frey die Herausforderungen der digitalen Technologien für die Demokratie. Aus ihrer Sicht spielen diese generell Autokratien in die Hände. Denn Effizienzsteigerungen bedeuten stets auch effizientere Kontrollmöglichkeiten. Gleichwohl sehen sie Möglichkeiten und machen konkrete Vorschläge, wie die Digitalisierung im Sinne der Demokratie genutzt werden kann. So regen sie an, Parlamente digital aufzurüsten. Auch schlagen sie dezentrale digitale Infrastrukturen vor, die auf harmonisierten Standards beruhen. Diese würden den Föderalismus stärken und wären zugleich widerstandsfähiger gegen Störungen.

Originell ist schliesslich die Idee, gewisse Bereiche, etwa besonders grundrechtsrelevante, als «analoge Enklaven» von der digitalen Datenerfassung und -bearbeitung auszunehmen. Was solche Vorschläge tatsächlich bringen, kann man diskutieren. Die Stärke des Buches liegt darin, dass Ulbrich und Frey weder als technologiefeindliche Maschinenstürmer auftreten noch als naive Enthusiasten. Vielmehr analysieren sie die Herausforderungen scharfsinnig und machen kreative Vorschläge, um sie zu bewältigen.

Ronald D. Gerste: Amerikas Präsidentschaftswahlen – Von George Washington bis zu Donald Trump (NZZ Libro)
«John F. Kennedy: 100 Fragen – 100 Antworten», «Roosevelt und Hitler», «Trinker, Cowboys, Sonderlinge: Die 13 seltsamsten Präsidenten der USA» bis hin zu «Die First Ladies der USA: von Martha Washington bis Hillary Clinton»: Ronald D. Gerste, in Washington lebender Augenarzt und Historiker, hat in den letzten gut zwanzig Jahren bereits etwa ein Dutzend Bücher zur Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, mit besonderem Fokus auf ihre Präsidenten, geschrieben. Gerste ist daher prädestiniert, auch eine kleine Geschichte der US-Präsidentschaftswahlen, «von George Washington bis zu Donald Trump», vorzulegen.

Glücklicherweise tappt er dabei nicht in die Falle, ein vollständiges (dafür dröges) Lexikon aller bisherigen 59 Präsidentschaftswahlen hintereinander zu reihen. Stattdessen stellt Gerste in 16 knappen, sehr gut lesbaren und unterhaltsamen Kapiteln jeweils eine oder zwei aufeinanderfolgende historische Wahlen vor, die sich als besonders spannend oder kurios, als paradigmatisch oder als besonders knapp und umstritten erwiesen haben. So etwa 1960, als es zum ersten Mal zu einer landesweit, von Maine bis Hawaii übertragenen Debatte zwischen den beiden Spitzenkandidaten John F. Kennedy und Richard Nixon kam. Und JFK im neuen Medium Fernsehen Nixon alt aussehen liess. Das Fernsehduell hat seither eine Hauptrolle auf der Bühne des elektoralen Willensbildungsprozesses eingenommen.

Weitere erwähnenswerte Wahlen aus fernen Tagen sind jene des Gründervaters George Washington 1788/89, die von Abraham Lincoln während des Amerikanischen Bürgerkriegs 1864 oder von Franklin D. Roosevelt in der Great Depression 1932. In 14 weiteren, kurzen Zwischenkapiteln erfährt man lehrreiche «Facts», etwa, wie die Vorwahlen «Caucus» und «Primary» ablaufen, was am «Inauguration Day» passiert oder was die Funktion der Vizepräsidentinnen und Vizepräsidenten ist. Oder dass Attentate auf US-Präsidenten gar nicht so selten sind: Gleich vier Präsidenten schieden so aus dem höchsten Amt und Leben.

Über all diese Wahlgänge der vergangenen 235 Jahre hinweg lassen sich auch einige Umstände respektive Motive erkennen, die eine Präsidentschaft respektive das Wahlverhalten wiederkehrend geprägt haben: So war beispielsweise der – hier verheimlichte, dort offenkundige – Gesundheitszustand der Präsidenten eine regelmässige Begleiterscheinung. Ebenfalls spielten immer wieder Ressentiments gegen die Vertreter der «Ostküsten-Elite» eine Rolle – beides Faktoren, die auch bei den jüngsten Wahlen 2024 einschlägig sein sollten. Im Hinblick auf jenes Fanal (bei Drucklegung hiess es noch Joe Biden vs. Donald Trump) schliesst der Autor sein durchwegs empfehlenswertes Buch im Epilog in eher düsteren Farben: «Die Wahl von 2024 ist ein Referendum über die Zukunft der Demokratie in den USA und über die Zukunft von Amerikas Rolle in der Welt.»

Horst Dreier: Metamorphosen der Demokratie (Schwabe)
Wenn heute über die Demokratie nachgedacht wird, so wird dem Zustand dieser Herrschaftsform wahrscheinlich relativ bald die Diagnose «Krise» attestiert. Die Krise als Begleiter der Demokratie ist jedoch kein Novum, sondern permanentes Attribut. Horst Dreier (emeritierter Rechtswissenschaftler und -philosoph, Herausgeber eines Kommentars zum Deutschen Grundgesetz) geht in seinem knappen Essay «Metamorphosen der Demokratie» der Frage nach, ob die Demokratie – jenseits von aktuellen Herausforderungen und Defiziten – grösseren, strukturellen und längerfristigen Veränderungsprozessen unterworfen ist.

Historisch verortet Dreier nur eine einzige Metamorphose, welche die Demokratie tiefgreifend umgeformt hat: die Transformation der ursprünglich direkten Demokratie hin zur repräsentativen Form. Diesem Umschwung werden die ersten beiden Kapitel gewidmet. In aller Kürze wird das Demokratiemodell des antiken Athens in Erinnerung gerufen, das sich durch eine unmittelbare Teilhabe durch eine breite Bürgerschaft in Volksversammlungen auszeichnete. Die Wandlung hin zur repräsentativen Demokratie vollzog sich erstmals Ende des 18. Jahrhunderts im Grossflächenstaat USA.

Vor diesem Hintergrund beleuchtet Dreier vier neuere Entwicklungen, zunächst die Supranationalisierung in den EU-Mitgliedsstaaten, die «massive Abwanderungsprozesse ursprünglich staatlicher Hoheitsrechte auf die Europäische Union» zur Folge habe. Das Ganze sei weniger problematisch, wenn auf europäischer Ebene ein gleichwertiges demokratisches Legitimationssystem wie auf nationaler Ebene vorzufinden wäre. Doch dies sei gerade nicht der Fall, weshalb die «Europäisierung zu empfindlichen Einbussen bei der demokratischen Organisation und Legitimation der Ausübung öffentlicher Gewalt» führe. Analoges gelte für die Internationalisierung und Globalisierung – etwa in der Form der Welthandelsorganisation.

In beiden Fällen werde letztlich «Hoheitsgewalt ausgeübt, für die ein legitimatorischer Rückgriff auf die politische Selbstbestimmung des Staatsvolks nicht mehr möglich erscheint». Nebst der Migration (die zu einem Auseinanderklaffen von Herrschenden und Herrschaftsbetroffenen führe) identifiziert Dreier einen durch Digitalisierung und soziale Medien verursachten Strukturwandel der demokratischen Öffentlichkeit, den er nicht pessimistisch, immerhin aber ambivalent betrachtet. – Dreiers (leider ein wenig lapidares) Fazit: Die beleuchteten Problemkreise würden zwar zu einer Erosion der Demokratie führen, eine eigentliche zweite Metamorphose läuteten sie jedoch nicht ein.

Georg Müller, Felix Uhlmann & Stefan Höfler: Elemente einer Rechtssetzungslehre (4. Auflage) (Schulthess)
Ursprünglich 1999 als Buch zu einer Vorlesung von Staatsrechtslehrer Georg Müller hervorgegangen, sind die «Elemente einer Rechtssetzungslehre» unterdessen in vierter Auflage erschienen. Die Autorenschaft wird nun um Felix Uhlmann und Stefan Höfler ergänzt (beide Leiter des Zentrums für Rechtsetzungslehre). Die Monografie richtet sich weiterhin an Rechtswissenschaftler ebenso wie an Praktikerinnen. – Im Einleitungsteil «Grundfragen der Rechtsetzung» werden die Erwartungen und Funktionen der Rechtsetzung umrissen und letztere von der Rechtsanwendung und vom Soft Law abgegrenzt. Vertieft wird hier die Qualitätssicherung, wie sich also das so häufig beklagte «schlechte Gesetz» vermeiden lässt. Stichworte sind hier: Regulierungsfolgenabschätzung, ex post Evaluationen, Simulationen, Checklisten; nur kurz gestreift wird die künstliche Intelligenz.

Im zweiten (Haupt-)Teil werden die Phasen des Rechtssetzungszyklus vertieft, der sich von der Impulsgebung, der Ist-Analyse und des Normkonzept über die Redaktion und Konsultation bis hin zur Beschlussfassung und Inkraftsetzung dreht. Eine wichtige Frage ist die Wahl der Regulierungsinstrumente, wobei hier nebst dem klassischen Gebot/Verbot oft auch Anreize, Subventionen, Lenkungsabgaben, staatliche Informationen, Nudging oder Selbstregulierung ebenso zielführend sind. Den aus dem Politalltag bekannte Vorwurf «das gehört nicht in die Verfassung/ins Gesetz» versuchen die Autoren mit dem Wichtigkeitsbegriff zu objektivieren. Ein ebenfalls sehr praxisrelevantes, durch den Linguisten Höfler geprägtes Kapitel betrifft die Erlassredaktion. Hier werden rechtslinguistische Fragen diskutiert: Wie gliedert man ein Gesetz? Sind Verweise auf andere Erlasse sinnvoll? Und welche geschlechtergerechten Formulierungen sollte man (nicht) verwenden?

Teil drei beleuchtet die «Organe der Rechtsetzung», insbesondere das Verhältnis Bund und Kantone sowie das Zusammenwirken von Regierung, Verwaltung und Parlament. Weitere Akteure betreffen das Lobbying, die Volksrechte und die Rechtsetzung durch Private. Erstaunlich ist hier, dass sich das Parlament «im Wesentlichen mit der politischen Kontrolle des ‹Produkts›» begnüge. Daher sollte gar das Antragsrecht der einzelnen Parlamentsmitglieder auf Änderung der Gesetzesvorlagen aufgehoben werden. Solche anachronistische Parlamentarismus-Kritik hat sich leider seit 1999 praktisch unverändert bis in die neuste Auflage hindurchziehen können, obschon der – durch Kurt Eichenberger und seine äusserst exekutivstaatliche Haltung geprägte – Erstautor unterdessen durch zwei jüngere und mit der Legislative kaum auf Kriegsfuss stehende Co-Autoren sekundiert wird. Der vierte Teil schliesslich widmet sich der «Interkantonalen und internationalen Rechtssetzung», die in letzter Zeit stark an Verbreitung gewonnen hat. Hervorzuheben ist hier die Bedeutung des Konsenserfordernisses für die Ausgestaltung von bi- und multilateralen Regelungen. Ein letztes Kapitel beleuchtet die Tücken der «Übernahme von EU-Recht».

Die Erstauflage wurde damals fast entschuldigend eingeleitet, die «Grundzüge einer einigermassen geschlossenen Rechtssetzungslehre» vorzulegen, sei nicht erreicht worden, es sei «bei Fragmenten geblieben». Das war natürlich stark untertrieben – nachdem das baldige Standardwerk noch interdisziplinär erweitert und verdichtet wurde, gilt das erst recht.

Lorenz Engi: Die Dramatisierung der Welt – Über Illiberalismus (Claudius)
Die Klage über den Aufstieg des Illiberalismus ist inzwischen weit verbreitet. Lorenz Engis Analyse hebt sich von anderen ab dadurch, dass er den Aufstieg in einen grösseren Kontext bettet. Er stellt eine generelle «Entzauberung» fest, die sich in der Politik, aber auch in der Wissenschaft und der Kultur beobachten lässt. Engi sieht als Gründe dafür vor allem die Ausbreitung der Technik sowie die Bürokratisierung.

In der Politik kommt hinzu, dass die nationale Politik durch die Globalisierung an Bedeutung verloren hat. War die Politik im 20. Jahrhundert «wie wahrscheinlich niemals vorher und nachher ein Ort von Hoffnungen, Träumen und Ängsten», wechselte sie nach 1989 in einen «funktionalen Modus». Den Illiberalismus sieht Engi zu einem grossen Teil als Reaktion darauf.

Der Jurist verweist warnend auf die Gefahren, wenn der Staat zum Träger einer kollektiven Moral gemacht wird und die Macht zunehmend personalisiert wird. Doch er versteigt sich nicht in moralische Empörung, sondern bleibt in seiner Analyse stets nüchtern und konzis. Das macht sie zu einem wertvollen und lesenswerten Beitrag zur aktuellen Debatte.

Martin Graf & Andrea Caroni (Hrsg.): Parlamentsrecht und Parlamentspraxis der Schweizerischen Bundesversammlung – Kommentar zum Parlamentsgesetz (ParlG) (2. Auflage) (Helbing Lichtenhahn)
Bauernpräsident und Bundesratskandidat Markus Ritter, einer der versiertesten und erfolgreichsten Lobbyisten unter der Bundeshauskuppel, hat ihn stets griffbereit auf dem Nachttisch liegen: den Gesetzeskommentar zum Parlamentsgesetz. Vor zehn Jahren erstmals erschienen, ist der Kommentar zur Reglementierung der Schweizerischen Bundesversammlung nun in zweiter Auflage überarbeitet und ergänzt worden. Das Herausgeberduo umfasst weiterhin Martin Graf (ehem. Sekretär der Staatspolitischen Kommissionen) und neu Andrea Caroni (Ständerat und Staatsrechtler).

Anlass für ein Update gibt es genug: Seit 2014 wurde das Parlamentsgesetz neun Mal revidiert, Dutzende Artikel haben kleinere oder grössere Änderungen erfahren. So wurden die Offenlegungspflichten der Parlamentsmitglieder erweitert. Und seit kurzem wird endlich das Abstimmungsverhalten der Mitglieder des Ständerats integral offengelegt. Niederschlag gefunden haben aber vor allem die Erfahrungen aus der Pandemie. Nachdem sich nicht wenige Regelungen als kaum krisentauglich erwiesen haben, hat die Bundesversammlung an etlichen Stellen nachgebessert: Ausserordentliche Sessionen und die Behandlung von Motionen können beschleunigt werden, die Verschiebung und der Abbruch von Sessionen wurden geregelt, nötigenfalls können die Kommissionen oder gar der gesamte Nationalrat und Ständerat virtuell tagen.

Wie schon die Erstauflage zeichnet sich der Kommentar dadurch aus, dass er nicht bloss eine juristische Auslegung der Normen vornimmt, sondern auch relativ ausführlich die jeweilige Entstehungsgeschichte sowie politologisch-praktische Aspekte beleuchtet. Ein Grossteil der 22 Autorinnen und Autoren arbeitet für die Parlamentsdienste, wodurch viel exklusives Knowhow einfliesst und die Praxisrelevanz sichergestellt wird. Die Nähe gerät aber auch da und dort zum Nachteil, etwa wenn der Beitrag über die weiterhin vertraulichen Kommissionsunterlagen und -protokolle keinerlei Kritik an diesem Reservat der Intransparenz übt. Eine rechtsvergleichende Betrachtung wäre hier zu anderen Schlüssen gelangt. Als ansonsten einziger Kritikpunkt anzumerken bleiben die leider teilweise lückenhaften Literaturhinweise: Während eigene Publikationen (oder gar blosse Wortmeldungen) der Autoren ausführlich referenziert werden, fehlen andere wichtige Abhandlungen, die sich mit parlamentarischem Verfahrensrecht befassen (beispielsweise Corsin Bisaz, Direktdemokratische Instrumente).

Der Parlamentskommentar stellt weiterhin ein unentbehrliches Nachschlagewerk für alle Personen dar, die sich mit dem Parlament beschäftigen: Journalistinnen, Lobbyisten, Verwaltungsangestellte und letztlich die Parlamentarier selbst. Egal ob weiterhin als Nationalrat und Bauernvertreter oder bald als Bundesrat: auf Markus Ritters Nachttisch dürfte die Neuauflage sicherlich auch schon liegen. Damit er seinen politischen Kontrahenten weiterhin stets einen Schritt voraus ist.

David Hesse & Philipp Loser: Heute Abstimmung! – 30 Volksentscheide, die die Schweiz verändert haben (Limmat)
Die Schweiz wäre nicht die Schweiz, wie sie heute ist, hätte nicht der Souverän dereinst an der Urne so entscheiden. Wir könnten in einem Zwei-Parteien-System leben, bestehend lediglich aus Liberalen und Sozialisten (doch wurde 1918 der Proporz eingeführt). Unser Strom könnte hauptsächlich aus Atomkraftwerken stammen (was 1990 verhindert wurde). Oder könnten wir gar Mitglied der EU sein (2001 verworfen). Die beiden Journalisten und Historiker David Hesse und Philipp Loser porträtieren in ihrem Buch «Heute Abstimmung!» jene 30 Volksentscheide, die ihrer Ansicht nach das Land am stärksten und nachhaltigsten verändert und geprägt haben.

Die Auswahl dieser 30 «wichtigsten» nationalen Volksabstimmungen zwischen 1874 (Totalrevision Verfassung) und 2014 (Initiative «gegen Masseneinwanderung») folgt indes keinem wissenschaftlichen Konzept, wie die Autoren freimütig einräumen. Einem werdenden Elternpaar gleich, das sich Listen mit Namensvorschlägen für ihren Nachwuchs hin- und herschiebt, haben Hesse und Loser ihre «Best of»-Tabellen ausgetauscht, zusammengestrichen, mit Experten besprochen. Und sind so bei 30 Vorlagen gelandet (13 Volksinitiativen, 9 fakultativen und 8 obligatorischen Referenden), die wohl grösstenteils auch objektiven Kriterien genügen würden – so etwa die Klassiker Überfremdung (1979), Frauenstimmrecht (1971), EWR (1992), Fristenlösung (2002) und Ausschaffung (2010).

Einzig hinter drei Vorlagen ist ein Fragezeichen zu setzen, da sie dem Kriterium kaum genügen: Auslandschweizer-Artikel (1966; betraf relativ wenig Personen), Jura-Gründung (1978; Bundesabstimmung war reine Formsache), Gurtenobligatorium (1980; kaum Langfristwirkung). Umgekehrt haben institutionelle Änderungen gegenüber alltagsrelevanten Sachabstimmungen ein bisschen das Nachsehen. Enorme Auswirkungen zeitigte beispielsweise die Einführung des «Doppelten Ja» bei Initiativen mit Gegenentwurf (1987; siehe Der «Geburtsfehler» der Volksinitiative). Erst diese kleine Anpassung des Stimmzettels führte dazu, dass Initiativen seit den 1990er Jahren nicht mehr mit taktischen Gegenvorschlägen ausgebremst werden können. Seither steig die Annahmequote denn auch merklich an. Andere wichtige Reformen waren die Totalrevision der Bundesverfassung (1999), Justizreform (2000), Bilaterale I (2000), Neugestaltung Finanzausgleich/Aufgabenteilung (2004), Bilaterale II/«Schengen/Dublin» (2005) und die Bildungsverfassung (2006). Auch diese schafften es allesamt nicht in Hesse/Losers «Top 30».

Doch die genaue Auswahl ist letztlich gar nicht so wichtig. Erstens wird nicht nur eng die jeweils porträtierte Vorlage beleuchtet, sondern im Unterkapitel «Wirkung» stets auch in die Zukunft geblickt, wo spätere verwandte Abstimmungen kurz erwähnt und in den Kontext gesetzt werden. Zweitens zeigt das Autorenteam auf, dass die direkte Demokratie im Allgemeinen und einzelne Abstimmungsfragen im Konkreten überhaupt spürbare Wirkung entfalten, das Land und Leben gestalten, ja Identität stiften. In Zeiten des erstarkenden Autoritarismus in wichtiges Statement! Und schliesslich ist das mit Abstimmungsplakaten und Karten mit den Kantonsresultaten attraktiv gestaltete Buch schlicht eine schöne Gelegenheit, in der Schweizer Demokratiegeschichte zu blättern und vergangene Abstimmungssonntage Revue passieren zu lassen.

Marcel Hänggi: Weil es Recht ist – Vorschläge für eine ökologische Bundesverfassung (Rotpunkt)
In seinem Buch «Weil es Recht ist» stellt Marcel Hänggi, Journalist, Historiker und Initiant der «Gletscherinitiative», die Frage, ob die Schweizer Bundesverfassung für das Zeitalter der «multiplen Umweltkrisen» – Klimaerwärmung und Biodiversitätsschwund – gerüstet ist oder ob sie allenfalls revidiert werden müsste. Im ersten Teil des Buchs wird die geltende Bundesverfassung von 1999 unter die ökologische Lupe genommen. Ein Thema ist natürlich der Umweltschutzartikel 74 BV sowie die folgenden Bestimmungen über Raumplanung, Zweitwohnungen und Wasser. Doch Hänggi nimmt ebenso allgemeinere Verfassungsgrundsätze in den Blick wie das Nachhaltigkeits- und das Verursacherprinzip. Auch die Grundrechte (und -pflichten), die kollidierende Eigentumsgarantie und Wirtschaftsfreiheit werden erörtert.

Hänggis Fazit, was die Bundesverfassung nun tauge, ist ambivalent. Sie gebe durchaus Handlungsrichtlinien vor, die so richtig wie unerfüllt seien: «Rücksicht auf künftige Generationen, das Vorsorgeprinzip, der Vorrang des Ökologischen vor dem Ökonomischen, die politisch so unbeliebte Suffizienz, Grenzen – die Bundesverfassung enthält das alles.» Auf dem Papier. Im gesetzgeberischen Alltag und später beim Vollzug der Erlasse würden die genannten Maximen aber viel zu oft torpediert. Der Autor schlägt daher viele konkrete (Verfassungs-)Änderungen vor, um ihnen Nachachtung zu verschaffen.

Die präsentierten Lösungen (beispielsweise Eingriffe in die Wirtschaftsfreiheit oder eine «Eigentumspolitik») seien nicht unbedingt mehrheitsfähig, könnten aber doch auf mehrheitsfähigen Grundprinzipien aufbauen. Überdies sind viele Verbesserungen weder neu noch «originell», sondern wurden schon andernorts vorgeschlagen, andere wiederum existieren bereits in den Kantonen (etwa das «Recht auf ein Leben in einer gesunden Umwelt» in Genf) oder im Ausland. Doch müssten wir nicht nur die Umwelt vor den Folgen unserer Tätigkeiten schützen. Auch wir müssten uns selbst und unsere Institutionen vor der Umwelt schützen, wenn diese aus den Fugen gerät. «Die Umweltkrisen der Gegenwart und der Zukunft zerstören nicht nur Ökosysteme. Sie gefährden auch die Demokratie.»

In Teil II untersucht der Autor daher, wie die demokratische Gesellschaft und ihre Institutionen gegenüber den Krisen resilient, also widerstandsfähig gemacht werden können. In diesem Teil werden denn nebst umweltspezifischen Proklamationen (Einhaltung der planetaren Grenzen, Regeneration beschädigter Ökosysteme) insbesondere auch wirtschafts- und staatspolitische Veränderungen angeregt. Themen sind hier etwa die Technikfolgenabschätzung, Desinformation, Deliberation (repräsentative Bürgerräte) oder der vor einiger Zeit in diesem Blog vorgeschlagene Demokratieförderungs-Artikel. Fragwürdig sind einzig die Forderungen, «Falschaussagen in politischen Debatten» zu regulieren, sowie die Verfassungsgerichtsbarkeit auf nationaler Ebene: Es ist falsch zu suggerieren, deren Absenz sei eine helvetische Anomalie. Als Journalist und Lehrer (und Nicht-Jurist) versteht es Hänggi sehr gut, die komplexe Materie anschaulich und spannend darzustellen und trotz aller Ernsthaftig- und Dringlichkeit den Optimismus nicht zu verlieren.

Hermann K. Heussner, Arne Pautsch, Frank Rehmet & Lukas Kiepe (Hrsg.): Mehr direkte Demokratie wagen – Volksentscheid und Bürgerentscheid: Geschichte – Praxis – Vorschläge (4. Auflage) (Lau)
«Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt.» Seit 75 Jahren bekennt sich das deutsche Grundgesetz nicht nur zur Volkssouveränität, sondern, mittels Durchführung von Volksabstimmungen, eigentlich gar zur direkten Demokratie. Bekanntlich hat in diesem Zeitraum in Deutschland aber keine einzige bundesweite Abstimmung je stattgefunden. Der Verein Mehr Demokratie e. V. möchte dies ändern und setzt sich seit 1988 für mehr direkte Demokratie und Bürgerbeteiligung auf Gemeinde-, Landes- und Bundesebene ein. Dazu unterstützt er Bürger- und Volksbegehren, begleitet Reformvorhaben, führt Kampagnen.

Nun ist aus dem Umfeld des Vereins eine überarbeitete Neuauflage des Sammelbands «Mehr direkte Demokratie wagen» erschienen, für den 42 Autoren (vornehmlich Historiker, Juristen, Politologinnen, Ökonomen) 33 Beiträge beigesteuert haben. Das Themenspektrum ist sehr breit und reicht von theoretischen Grundlagen über Rechtsgeschichte («Schlechte Weimarer Erfahrungen?») bis hin zu Schlaglichtern auf ausländische «Vorbilder» (Schweiz, USA, Italien und Irland). 11 weitere Kapitel beleuchten die Ausgestaltung, Praxis und Erfahrungen konkreter Volksbegehren in einigen deutschen Ländern sowie die kommunale direkte Demokratie. Ein Dutzend Beiträge widmen sich Einzelfragen und runden den spannenden, durchwegs gut lesbaren Sammelband ab.

Besonders hervorzuheben sind drei Aufsätze: Achim Wölfel stellt das «direktdemokratische Schwergewicht» Irland vor, das gerade in den letzten Jahren mit überraschenden Verfassungsnovellen international für Aufsehen gesorgt hat. Bemerkenswert ist hier einerseits das innovative und befriedende Zusammenspiel zwischen deliberativer (gelosten Bürgerräten) und direkter Demokratie. Spannend ist andererseits die von Regierung und Parlament unabhängige «Referendum Commission», die die Bevölkerung vor den Urnengängen umfassend und neutral informiert.

Über den Brexit ist schon (viel zu) viel geschrieben worden; Camerons Plebiszit und dessen Abstimmungsresultat müssen bis heute als Mahnmal gegen Volksentscheide herhalten. Doch Wolf J. Schünemann zeigt auf, dass die anhaltende Pauschalkritik an diesem Referendumsinstrument überschiessend ist. Aufgrund der britischen Tradition der Parlamentssouveränität wäre ein anderes Abstimmungsdesign kaum denkbar gewesen: «Die Gründe für den Sieg des Leave-Lagers sind nicht in der Wahl des Referendumsinstruments oder in seiner Durchführung zu suchen. Vielmehr hat eine tiefe politische Spaltung mit Blick auf das europäische Integrationsprojekt das Land seit langer Zeit geprägt.»

Fabian Wittreck und Arne Pautsch umreissen das Verhältnis der deutschen Direktdemokratie zur (Verfassungs-)Gerichtsbarkeit. Grösster Stolperstein ist das «Finanztabu», das Volksbegehren verbietet, finanzwirksame Forderungen zu stellen. Äusserst bedenklich ist darüber hinaus die Tendenz diverser Landesverfassungsgerichte, selbst Volksbegehren zu kassieren, die mittels Verfassungsreform die Demokratie ausbauen möchten (Senkung der Quoren, Verlängerung von Fristen, Ausdehnung der inhaltlichen Zulässigkeit).

René Lüchinger, Peter Schürmann & Gerhard Schwarz: Ringen um Freiheit – Liberalismus in der Schweiz (NZZ Libro)
Der Einfluss des Liberalismus auf die schweizerische Demokratie kann kaum überschätzt werden. René Lüchinger, Peter Schürmann und Gerhard Schwarz legen nun eine Geschichte des schweizerischen Liberalismus vor, die diese Symbiose eindrücklich aufzeigt, und zwar auf eine Art, die einem breiten Publikum verständlich ist.

Zur Strukturierung wählen die Autoren die Biografien einflussreicher Personen, was deren Rollen zuweilen überzeichnet, aber das Werk sicherlich zugänglich macht. Was sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht, sind die inneren Konflikte und Richtungskämpfe, die sich immer wieder entspannen. Etwa zwischen Alfred Escher, der den privaten Eisenbahnbau durchsetzte, und seinem Berner Rivalen Jakob Stämpfli, der für eine Verstaatlichung eintrat.

Aber auch zur Zeit des Zweiten Weltkriegs, als sich Teile des (Jung-)Freisinns der Frontenbewegung zuwandten, wogegen sich Leute wie NZZ-Chefredaktor Willy Bretscher leidenschaftlich wehrten. Den einen schweizerischen Liberalismus gibt es eben nicht und kann es auch nicht geben, wenn er sich als Volksbewegung versteht, was heute freilich immer weniger der Fall ist. Im Schlussteil des Buches skizziert Gerhard Schwarz in einem Ausblick, wie ein erfolgreicher Liberalismus im 21. Jahrhundert aussehen könnte. Klar dürfte sein: Er wird auch in Zukunft umstritten bleiben.

Oliver Zimmer: Prediger der Wahrheit – Von der Reformation zur modernen Elitenherrschaft (Claudius)
Ob in der Klimapolitik, bei der Migration oder in der Schweiz beim Rahmenabkommen mit der EU: Bei vielen politischen Konflikten der Gegenwart geht es zentral um die Frage, wer am Ende entscheidet – die Bürger, ihre Vertreter auf nationaler Ebene oder Technokraten in internationalen Institutionen? Dabei gibt es über die demokratische Welt hinweg einen starken Druck, die Macht weg vom Bürger zu verschieben.

Die Idee dahinter, dass «Experten» letztlich am besten wissen, was gut und richtig ist, führt Oliver Zimmer auf die Reformation zurück. In seinem Essay «Prediger der Wahrheit» zeigt der Historiker auf, wie die Reformation als Bewegung begann, die den einzelnen Gläubigen ins Zentrum stellte und ihm die Aufgabe übertrug, die heilige Schrift zu verstehen und zu interpretieren – ohne Vermittlung durch berufene religiöse Autoritäten. Doch bald nach ihrem Erfolg bekamen die Reformatoren kalte Füsse. Martin Luther wurde insbesondere durch die deutschen Bauernaufstände (die sich direkt auf die Ideen der Reformation beriefen) aufgeschreckt und änderte seinen Kurs scharf. Fortan galt nicht mehr «Sola Scriptura»; die Gläubigen wurden wieder unter die Ägide der geistlichen Elite gestellt.

Zimmer zieht die Parallelen zu heute, wo relevante Fragen zunehmend demokratischen Entscheiden entzogen und stattdessen Gerichten oder überstaatlichen Gremien übertragen werden – bevorzugt überstaatlichen Gerichten. Bei der zunehmenden Verrechtlichung der Politik stellt Zimmer eine Symbiose von traditioneller und moderner Epistokratie fest. Letztere greift gerne auf «moralische Master-Narrative» zurück, wie Zimmer sie nennt. Diese ziehen den Rahmen der Meinungsfreiheit zwar nicht rechtlich, aber faktisch in der öffentlichen Debatte zunehmend enger – im Sinne einer Elite der «Wissenden». Zimmers Analyse ist ebenso fundiert wie provokativ. Wem die demokratische Mitsprache ein Anliegen ist, muss von den epistokratischen Tendenzen beunruhigt sein.

Napoleon’s Nightmare-Buchempfehlungen 2023

Im vergangenen Jahr wurde eine Fülle interessanter Bücher über Demokratie und Staatspolitik veröffentlicht. Die Redaktion von Napoleon’s Nightmare stellt die besten vor. Sie befassen sich unter anderem mit Menschenrechten, Demophobie, der Landsgemeinde und Bürgerräten.

Von Claudio Kuster und Lukas Leuzinger

Urs Hafner: Karl Bürkli – Der Sozialist vom Paradeplatz (Echtzeit)
Die Bundesstaatsgründung vor 175 Jahren markiert zwar den Auftakt zur modernen Schweiz, doch es brauchte lange Kämpfe, bis die direkte Demokratie 1874 Eingang in die Verfassung fand. Den Boden dafür bereitet hat unter anderen Karl Bürkli. Dabei wies nur wenig darauf hin, wie Urs Hafner in seiner Biografie zeigt. Bürklis Leben ist voller Widersprüche und Überraschungen: Vor 200 Jahren ins Zürcher Grossbürgertum hineingeboren, distanzierte er sich von seinem Milieu, lernte Gerber und wurde Sozialist. Als Mitgründer des Konsumvereins war er ein Pionier des Genossenschaftswesens. Dies war ihm jedoch nicht genug. Weil er für die Ideen des französischen Gesellschaftstheoretikers Charles Fourier brannte, der in freiwilligen Kommunen das Paradies erblickt hatte, brach Bürkli 1855 gemeinsam mit über hundert Anhängern nach Amerika auf, um diese Utopie in Texas Realität werden zu lassen. Das Experiment scheiterte krachend. Nach einer Odyssee durch die Vereinigten Staaten und Zentralamerika kehrte Bürkli nach Zürich zurück, wo er die Strategie wechselte: Statt über freiwillige Zusammenschlüsse sollte das Ziel einer Gesellschaft der Gleichen auf politischem Weg erreicht werden. Er wurde zu einem Anführer der demokratischen Bewegung, die in den 1860er-Jahren in Zürich Referendum und Volksinitiative gegen das liberale «System» durchsetzte.

Hafner beschreibt Bürklis Leben und seine Ideen detailreich, macht aus seiner Bewunderung für den Porträtierten jedoch keinen Hehl und füllt Lücken in den Quellen mit der eigenen Fantasie aus. So hebt er Zitate des Sozialisten nicht durch Anführungszeichen, sondern lediglich durch Kursivschrift von seinen eigenen Gedanken ab. Hervorzuheben ist, dass Bürkli sich durch einen ausgeprägten Sinn fürs «einfache Volk» auszeichnete, dem die liberalen Eliten misstrauten (ebenso wie viele Linke heute). Dabei war die direkte Demokratie für ihn stets ein Mittel auf dem Weg zu einer sozialistischen Gesellschaft. Dass Referendum und Volksinitiative die moderne, liberale Demokratie vollenden würden, war nicht sein Plan. Wie diese spannende Biografie zeigt, sind Utopien manchmal gerade deshalb so wertvoll, weil sie scheitern.

 

Bruno S. Frey & Oliver Zimmer: Mehr Demokratie wagen – Für eine Teilhabe aller (aufbau)
Pandemie, Krieg, Klimawandel: Die Häufung von Krisen leistet der Zentralisierung von Macht Vorschub. Schnelles, entschlossenes Handeln einsichtiger Experten ist gefragt, langwierige demokratische Prozesse werden dagegen als störend dargestellt. Dahinter steht ein epistokratisches Denken, das Oliver Zimmer und Bruno S. Frey einer Fundamentalkritik unterziehen. Der Historiker und der Ökonom, beide Forschungsleiter am Center for Research in Economics, Management, and the Arts (CREMA), beschreiben in «Mehr Demokratie wagen» geistesgeschichtliche Grundlagen der Epistokratie, also der Herrschaft der Wissenden, und stellen ihr konkrete Vorschläge für die Stärkung der Demokratie entgegen.

Ihre Kernthese: Epistokratie steht für Alternativlosigkeit, für von oben vorgegebene Lösungen, Demokratie dagegen für Offenheit. Diese Offenheit des Austauschs und der Debatte ist gerade zur Bewältigung komplexer Herausforderungen nötiger denn je. Im ersten Teil zeichnet Zimmer die historischen Entwicklungen nach und zeigt, dass Epistokratie bis heute zumindest implizit in vielen Denkschulen und Institutionen das vorherrschende Ideal ist, etwa in der von Demokratieskepsis geprägten Europäischen Union.

Im zweiten Teil macht Ökonom Frey (von ihm bereits andernort publizierte) Vorschläge zur Stärkung einer partizipativen, dezentralisierten Demokratie: beispielsweise dezentralisierte, neue Jurisdiktionen oder der Einsatz von Losverfahren bei der Besetzung von Gremien. Die Kombination von historischer und ökonomischer Analyse ist zwar spannend, zum Teil führt sie allerdings zu Widersprüchen: Wie verträgt sich etwa die Betonung demokratischer Gleichheit mit dem Vorschlag, gewissen Altersgruppen nur ein limitiertes Stimmgewicht zuzugestehen? Solche Inkongruenzen schwächen die Überzeugungskraft des Buches, das ansonsten einen anregenden und hochrelevanten Beitrag zur Debatte über die Zukunft der Demokratie bietet.

 

Gertrude Lübbe-Wolff: Demophobie – Muss man die direkte Demokratie fürchten? (Klostermann)
Bis vor wenigen Jahren sprachen sich in Umfragen 70 bis 80 Prozent der deutschen Bürger dafür aus, auch auf Ebene des Bundes direktdemokratische Entscheidungen einzuführen. Die Wahlprogramme aller im Bundestag vertretenen Parteien (ausser der CDU) sahen die Einführung von Volksabstimmungen in der Bundesrepublik vor. Dann, 2016: zuerst der Schock des Brexit-Votums, dann der Wahlsieg Donald Trumps und plebiszitär-populistische Referendumsabstimmungen von Viktor Orbán bis Recep Tayyip Erdogan. Seither ist eine Trendumkehr zu beobachten, die Zustimmungsraten sind gesunken, die Mehrzahl der deutschen Parteien will plötzlich nichts mehr wissen von sachunmittelbarer Demokratie.

Vor diesem Hintergrund möchte Gertrude Lübbe-Wolff «einen Beitrag zur Diskussion über Vor- und Nachteile, Chancen und Risiken direkter Demokratie leisten», wie sie in ihrem Vorwort zu «Demophobie» nüchtern festhält. Angst vor dem Volk hat die ehemalige Richterin am deutschen Bundesverfassungsgericht keineswegs, im Gegenteil: Ihr Buch ist eine engagierte, geradezu «demophile» Streitschrift, die in zehn Kapiteln die zehn geläufigsten Vorbehalte gegen direktdemokratische Entscheidungen entkräftet, ja mit Freude und Verve zerpflückt. Diese Einwände lauten etwa: «für Sachentscheidungen ist das Volk zu dumm», «direkte Demokratie begünstigt Demagogen», «gefährdet Minderheiten», «passt nur zu kleinen Einheiten», «das Volk wird rechtslastige/linkslastige Entscheidungen treffen» usw.

Lübbe-Wolff untermauert ihre überzeugenden Gegenargumente mit zahlreichen Beispielen aus der Praxis (insbesondere der Schweiz) und breitgefächerten Literaturnachweisen aus Rechts-, Politik-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und Geschichte (das Literaturverzeichnis erstreckt sich über fast 50 Seiten). Immer wieder weist die Autorin zu Recht darauf hin, dass direkte Demokratie nicht per se, sondern nur in der richtigen Ausgestaltung ihre positiven Wirkungen zeitigen könne. Diesfalls begünstige «sie aber eine stärker an den Interessen der Bürger orientierte Politik, eine Steigerung des Niveaus politischer Kommunikation, eine Zunahme von Bürgersinn und Bürgerkompetenz und grösseres Vertrauen in die Institutionen und Akteure der repräsentativdemokratischen Politik». Dieses Potential ungenutzt zu lassen, sei in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland noch nie so riskant gewesen wie heute.

 

Wolf Linder: Die Schweiz, der unbekannte Nachbar – Schriften zur Politik und Demokratie (Harrassowitz)
Die politische Schweiz – anders als ihre wohlbekannten Exportprodukte und ihre Alpen – sei für Deutschland ein eher unbekannter Nachbar. Wolf Linder (em. Professor für Politikwissenschaft, Universität Bern) stellt daher im Sammelband «Die Schweiz, der unbekannte Nachbar» zwei Dutzend Texte – Aufsätze, Vorträge, Meinungsbeiträge – aus den letzten 25 Jahren seines Schaffens zusammen. Die Beiträge sollen zum Verständnis der Eigenheiten der helvetischen Demokratie beitragen, die quer liegt zu den eingängigen Typologien vergleichender Politik.

Drei der 24 Texte seien kurz hervorgehoben: Der Teil «Verfassungspolitik» besteht aus dem Vortrag «Verfassung als politsicher Prozess», den Linder 1997 im Kontext der Totalrevision der Verfassung hielt und der einige «verfassungsrechtliche Rätsel» entschlüsselt – und nichts von seiner Aktualität verloren hat. Linder hinterfragt etwa die in der Theorie überzeugende Konzeption des Parallelismus zwischen Normstufe eines Erlasses (Verfassung – Gesetz – Verordnung), seines Rechtssetzers (Volk und Stände – Parlament – Exekutive) und der materiellen Wichtigkeit. Zwar sei die Schweizer Bundesverfassung «das Gefäss geronnener politischer Entscheidungen» und damit ständigem Wandel unterworfen, doch fänden sich in der obersten Normebene oftmals eher nebensächliche Vorschriften, während die wichtigen Entscheide später vom Bundesrat auf Verordnungsebene entschieden würden. So werde letztlich der Stufenbau der Rechtsordnung geradezu auf den Kopf gestellt.

Im Teil «Föderalismus» stellt der Beitrag «Die deutsche Föderalismusreform – von aussen betrachtet» einen instruktiven Vergleich der unterschiedlichen Föderalismuskonzepte der Schweiz und Deutschlands an; Anlass waren die Reformbestrebungen beider Bundesstaaten um die Jahrtausendwende. Während der Föderalismus in Deutschland primär die Mitwirkung und Kontrolle der Gliedstaaten am zentralistischen Gesamtstaat und letztlich einheitliche Lebensbedingungen bezweckt, so sind hiesige Vorstellungen von Nicht-Zentralisierung und grösstmöglicher (gerade auch fiskalischer) Autonomie unterer Einheiten geprägt, um die sprachlich-kulturelle Vielfalt zu erhalten. Der Teil «Direkte Demokratie» enthält den Aufsatz «Zur Ambivalenz der Digitalisierung direkter Demokratie», der sich nicht mit technischen Details, sondern mit den Auswirkungen der Digitalisierung auf die Strukturen öffentlicher Meinungsbildung und die Diskursqualität befasst. Ob E-Voting, E-Collecting oder Social Media: nach Linder «kein Segen für die Demokratie». – Die weiteren Teile des sehr abwechslungsreichen, lesenswerten Sammelbands betreffen die Themen «Gesellschaftspolitik», «Zwischenrufe» (u.a. Kritik an der behördlichen und wissenschaftlichen Corona-Kommunikation), «Die Schweiz in Europa» und «Demokratie und Menschenrechte».

 

Yvo Hangartner, Andreas Kley, Nadja Braun Binder & Andreas Glaser: Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft (2. Auflage) (Dike)
Wer sich bisher einen Überblick über ein spezifisches demokratisches Recht oder Institution verschaffen wollte, der hat mit grosser Wahrscheinlichkeit zum «Hangartner/Kley» gegriffen. Das im Jahr 2000 – also kurz nach Inkrafttreten der neuen Bundesverfassung – erschienene Handbuch ist ein Vierteljahrhundert später indes nicht mehr ganz aktuell und ohnehin seit einiger Zeit vergriffen. Nachdem der Erstautor Yvo Hangartner (Staatsrechtslehrer Universität St. Gallen) 2013 verstarb, hat sich Co-Autor Andreas Kley verdienstvollerweise gemeinsam mit Andreas Glaser und Nadja Braun Binder, allesamt auf Demokratiefragen spezialisierte Staatsrechtler, der Aktualisierung dieses vielzitierten Standardwerks angenommen.

Der erste Teil widmet sich den Grundlagen des Stimm- und Wahlrechts, mithin den Voraussetzungen des aktiven und passiven Wahlrechts sowie den Modalitäten der Stimmrechtsausübung. Namhafte Anpassungen ergeben haben sich hier mit der (etablierten) brieflichen Stimmabgabe und den (fragwürdigen) Versuchen mit E-Voting. Die Autoren kritisieren das dogmatisch wenig überzeugende Auslandschweizerstimmrecht, gerade auf kantonaler und kommunaler Ebene. – In Teil 2 werden einerseits historische, demokratie- und entscheidungstheoretische Grundlagen erörtert, Stichworte sind: Volkssouveränität, Repräsentationsprinzip, Rechtsstaatlichkeit, Volksbegriffe, Abstimmungsverfahren bei mehreren Varianten. Andererseits werden die verfassungsrechtlichen Grundlagen sowie die Schranken der politischen Rechte beschrieben, insbesondere der Vorrang des Völkerrechts. – Der umfangreiche Teil 3 behandelt die «Politischen Rechte im Bund»: die Wahl des Nationalrats, das obligatorische Verfassungsreferendum, Volks- und Ständemehr, die Volksinitiative, das Referendum gegen Bundesgesetze und völkerrechtliche Verträge sowie die (seit der Pandemie ein Revival erlebende) Gesetzgebung bei Dringlichkeit/Notrecht. Andere Novellen wie die Transparenz der Politikfinanzierung finden leider nur sehr knappen Niederschlag, ebenso wenig die Rechtsschutzmöglichkeiten. – Der längste Teil 4 (knapp 400 Seiten) beschreibt die «Volksrechte in den Kantonen», wo sich nach Totalrevisionen der Verfassungen in fast der Hälfte der Kantone einiges weiterentwickelt hat. Nebst den bereits vom Bund bekannten Instrumenten stossen hier die Wahl der Ständeräte und der Kantonsregierung, die Abberufung, das Finanzreferendum, Konsultativabstimmungen und die Volksmotion dazu. Den grössten Anpassungsbedarf erforderten aber die Wahlsysteme der Kantonsparlamente, nachdem das Bundesgericht die Anforderungen an die Wahlrechtsgleichheit spürbar verschärft hat. Hier würdigen die Autoren den unterdessen in neun Kantonen etablierten Doppelproporz leider kaum, der die Erfolgswertgleichheit optimiert, ohne auf die herkömmlichen Wahlkreise verzichten zu müssen. – Teil 5 schliesslich behandelt die «Wahl- und Abstimmungsfreiheit», insbesondere die Einheit der Materie und die unterdessen regelmässig beanstandeten behördlichen Interventionen vor Abstimmungen.

Das 1057-seitige enzyklopädische Werk vermag zu überzeugen, der Aufbau ist übersichtlich, die Sprache klar und verständlich. Auf ein Stichwortregister verzichtet die Zweitauflage, was jedoch dadurch mehr als aufgewogen wird, indem die Open-Access-Publikation integral durchsucht werden kann. Kritikpunkte sind einerseits die oftmals veralteten Literaturhinweise, andererseits einige äusserst merkwürdige Thesen, die Erstautor Hangartner kaum unterschrieben hätte (die Einheit der Materie gelte nicht für Bundesgesetze; der Grundsatz «in dubio pro populo» sei zu verwerfen; Unterlistenverbindungen seien problematisch, dafür sei das unfaire, Grossparteien begünstigende Wahlsystem «Hagenbach-Bischoff» legitim; mit «Negativstimmen» sollen Wähler gegnerische Politiker abstrafen können…).

 

Arthur Haefliger & Frank Schürmann: Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Schweiz (3. Auflage) (Stämpfli)
In der Reihe «Kleine Schriften zum Recht» umreissen diverse Autoren juristische Fragestellungen für einmal nicht in dicken, schweren Monografien, sondern im handlichen Taschenbuchformat. So wenden sich Frank Schürmann und Arthur Haefliger der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu, deren Ratifizierung durch die Schweiz im 2024 das 50-jährige Jubiläum feiern wird. Frank Schürmann war von 2006 bis 2018 Prozessbevollmächtigter der Schweizer Regierung, hat also in unzähligen, gegen die Schweiz gerichteten Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EGMR) in Strassburg die Schweiz vertreten. Er setzt hier die vom verstorbenen Bundesrichter Arthur Haefliger lancierte Schrift in stark erweiterter und aktualisierter dritter Neuauflage fort.

Nach einer knappen Einleitung werden im Hauptteil das gute Dutzend der durch die EMRK verbürgten Rechte erläutert, vom Recht auf Leben über die Versammlungsfreiheit bis zum Diskriminierungsverbot. Die einzelnen Garantien, ihre Tragweite und Entwicklung der Rechtsprechung werden anschaulich beschrieben. Ein besonderer Fokus wird dabei auf die Schweiz gelegt, indem insbesondere jene Fälle und Klagen hervorgehoben werden, die aus und gegen die Schweiz gerichtet waren. Schliesslich landet im Durchschnitt fast jeden Tag eine neue Beschwerde aus der Schweiz vor dem EGMR. Erfolgreich sind nur etwa 1.6 Prozent all dieser Eingaben, die aber nichtsdestotrotz etwa das Polizei- und Ausländerrecht sowie die Rechtsweggarantie nachhaltig geprägt haben. Im Schlussteil wird die Organisation und das Verfahren vor dem EGMR beschrieben und dabei auf die diversen Reorganisationen, Reformen und Zusatzprotokolle hingewiesen, die teilweise geholfen haben, die Beschwerdeflut in letzter Zeit wieder einigermassen in den Griff zu bekommen.

 

Nidwaldner Museum / Carmen Stirnimann (Hrsg.): Hand i d’Luft oder d’Fuischt im Sack – Eine Publikation zur Landsgemeinde (Nidwaldner Museum)
Zum 175-jährigen Jubiläum der Bundesverfassung und somit des Schweizer Bundesstaats im vergangenen Jahr wurde allerorten so manche Bundesmeile, Festakt oder Sonderausstellung durchgeführt. Vor diesem Hintergrund fand auch in Stans, im Nidwaldner Museum die Ausstellung «Ja, Nein, Weiss nicht – Musterdemokratie Schweiz?» statt. Im ehemaligen Landsgemeindekanton Nidwalden sind die Erinnerungen an diese Urform der direkten Demokratie natürlich noch präsent, wurde doch bis in die 1990er Jahre im Ring mittels Handerheben abgestimmt. «Hand i d’Luft oder d’Fuischt im Sack – Eine Publikation zur Landsgemeinde» erweist dieser Institution in Form eines knappen Ausstellungsbüchleins eine gelungene Reverenz.

Im ersten Teil «Eine kurze Geschichte der Landsgemeinde in Nidwalden» geht Historikerin Isabelle Zimmermann dem Ursprung ab 1398 und den seitherigen Entwicklungen in groben Zügen nach. Ähnlich wie in anderen Kantonen entstand diese Demokratieform aus Gerichtsgemeinden und hatte noch lange einen aristokratischen Einschlag. In einem Zwischenteil besucht Fotograf Emanuel Wallimann alle – auch ehemaligen – Landsgemeindeplätze von Appenzell über Rothenthurm bis Zug und stellt den heutigen Schauplätzen historische Aufnahmen von damaligen Versammlungen gegenüber. Im dritten Teil «Getriiwi liäbi Landsliit» schliesslich hat Journalist Simon Mathis von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen Erinnerungen an die Nidwaldner Landsgemeinde eingefangen. Unterhaltsam schildern so ehemalige Regierungsräte, Landschreiber, Votantinnen oder Polizisten Anekdoten, etwa eine Mutter, die 1987 unbedingt bei einer umstrittenen «Wellenberg»-Abstimmung mitentscheiden wollte und daher mit ihrem kleinen Sohn in den Ring zu treten gedachte. Ein Soldat verweigerte ihr so den Zutritt, worauf sie dem Ordnungshüter flugs den Kinderwagen zum Bewachen übergab. – Das mit diversen Bildern ansprechend gestaltete Büchlein geht jedoch auch an diversen Stellen auf die Schattenseiten der Landsgemeinde ein, die letztlich 1996 zu ihrer Abschaffung führen sollten: das fehlende Stimmgeheimnis, der Ausschluss einiger Personenkreise, eine sinkende Teilnehmerzahl und vermehrt uferlose Debatten bis in den Sonntagabend hinein. Ein Rettungsversuch 1994, mit dem zur Entschlackung Wahlen und Verfassungsänderungen an die Urne verschoben wurden, hat wohl den Niedergang eher noch befördert als verhindert.

 

Rolf Graber: Labor der direkten Demokratie – Konkurrierende Wahrnehmungen der politischen Mitbestimmung in der Schweiz (Chronos)
Zum 175-Jahr-Jubiläum der Gründung des Bundesstaats hat der Historiker Rolf Graber ein Überblickswerk über die Entwicklung der modernen, halbdirekten Demokratie der Schweiz vorgelegt. Seine Grundthese ist, dass die Volksrechte gegen den Widerstand der Eliten erkämpft werden mussten, wobei letztere immer wieder wechselten. Im Zuge der französischen Revolution begannen viele Schweizer, die Verhältnisse im eigenen Land zu hinterfragen. Das ist zugleich ein Beispiel für das Zusammenspiel zwischen Fremdwahrnehmung und Selbstbild, die Graber anhand verschiedener Beispiele beschreibt. So forderten die Unterzeichner des «Stäfner Memorials» von 1794 von der Stadtzürcher Obrigkeit mehr Rechte für die benachteiligte Landbevölkerung. Interessant ist dabei, wie sich das Freiheitsverständnis verändert hat. Widerstandsbewegungen vor dem 19. Jahrhundert beriefen sich meist auf eine Vorstellung von Freiheit als ein Privileg, das man kraft göttlichen Willens oder der eigenen militärischen Stärke erhält. Mit der Aufklärung und der französischen Revolution änderte sich diese Vorstellung. Freiheit wurde nicht mehr als Privileg, sondern als unveräusserliches Recht jedes Menschen verstanden.

Gleichzeitig beriefen sich Widerstandsbewegungen bei ihren Forderungen nach Mitsprache auf vormoderne Formen der Demokratie wie die Landsgemeinde, die wiederholt als Referenzmodell diente. Die Landsgemeindekantone selber waren von dem Wandel des Demokratieverständnisses nicht ausgenommen. So gaben sich Glarus und Schwyz im Zuge der Regeneration neue Verfassungen, die individuelle Freiheitsrechte und Gewaltenteilung verankerten. Ein wiederkehrendes Merkmal der Widerstandsbewegungen ist, dass sie partizipatorische mit materiellen Forderungen verbanden. Graber stellt damit die «liberale Meistererzählung» infrage, gemäss der die moderne schweizerische Demokratie im wesentlichen das Werk des Freisinns ist. Zugleich kritisiert er aber auch, dass von linker Seite eine direkte Linie vom Frühliberalismus zur modernen Sozialdemokratie gezogen und damit eine eigene «Meistererzählung» gesponnen wird. Dabei passe, schreibt Graber, «der Frühliberalismus schlecht in die Ahnengalerie der politischen Linken».

Das hält Graber nicht davon ab, selber den Bogen zur Gegenwart zu schlagen. Die Exklusion breiter Teile der Bevölkerung zur Zeit des Ancien Régime stellt er auf eine Stufe mit dem Ausschluss von Ausländern vom Stimmrecht heute. Das ist, gerade mit Blick auf das gewandelte Freiheitsverständnis und die Rechtsstaatlichkeit, ein gewagter Vergleich. Recht hat Graber indes mit der Feststellung, «dass die Entwicklung der halbdirekten Demokratie in der Schweiz eine Geschichte von Exklusion und Inklusion ist». Oft spielten die beiden Gegensätze zusammen. Denn je mehr Mitspracherechte die Bürger geniessen, desto geringer ist ihr Interesse, diese Rechte anderen Gruppen zuzugestehen; nicht zuletzt dadurch erklärt sich die späte Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz.

 

René Roca (Hrsg.): Die Landsgemeinde und der Freistaat der Drei Bünde – Aspekte der Demokratiegeschichte in den Kantonen Glarus und Graubündenz (FIDD)
Seit einigen Jahren führt das «Forschungsinstitut direkte Demokratie» von Historiker René Roca spannende Konferenzen durch, um die vernachlässigte Schweizer Demokratiegeschichte besser auszuleuchten. Nach Tagungen zu den Themen Katholizismus, Liberalismus, Frühsozialismus, Naturrecht und Genossenschaftsprinzip fanden nun zwei weitere Veranstaltungen statt. Der neue Band der Reihe «Beiträge zur Erforschung der Demokratie» versammelt im ersten Teil Referate zum Thema Landsgemeinde, mit speziellem Fokus auf die noch bestehende Glarner Institution.

Tagungsleiter René Roca führt zunächst ins Thema «Die schweizerischen Landsgemeinden – Geschichte und Bedeutung für die direkte Demokratie» ein. Er gibt einen Überblick zum Forschungsstand und skizziert die Entstehung und Geschichte dieser Demokratie-Urform, die bis im vorletzten Jahrhundert in immerhin acht Kantonen respektive Orten existierte. Roca legt überzeugend dar, dass sich ohne die Tradition und Kultur der Landsgemeinde die direkte Demokratie in der Schweiz auf kantonaler und später auf Bundesebene nicht hätte entwickeln können. – «Demokratisches Vorbild oder demokratisches Fossil?»: Der Beitrag von Lukas Leuzinger (Autor des Landsgemeinde-Buchs «Ds Wort isch frii» und Chefredaktor dieses Blogs) knüpft hier an: Zweifelsohne habe die Landsgemeinde liberalen und demokratischen Reformbewegungen immer wieder als Inspirationsquelle gedient. Ohne diese Strukturen hätte sich die moderne direkte Demokratie kaum so schnell und breit durchsetzen können. Gleichzeitig weist Leuzinger auch auf die Nachteile dieser Versammlungsform aus heutiger Sicht hin. – Politikwissenschafter Hans-Peter Schaub (Année Politique Suisse) wiederum nimmt diesen Ball auf: «Wie gut funktioniert die direkte Demokratie an der Glarner Landsgemeinde?» Positiv zu würdigen sei, dass die Abstimmungsagenda in hohem Mass durch die Stimmbürger selbst geprägt werden kann. Einzigartig ist auch das freie Rederecht, das intensiv genutzt wird und effektiv für Austausch der Argumente und Meinungsbildung sorge. Hier erstaunt dann aber, dass der Einfluss der Behörden dennoch beträchtlich ist, denn die Landsgemeinde-Mehrheit folgt in den weitaus meisten Fällen letztlich den behördlichen Empfehlungen.

Im zweiten Teil wird die Entstehung der Demokratie im Freistaat der Drei Bünde, also im heutigen Kanton Graubünden genauer untersucht. Seit dem Spätmittelalter kann hier «ein ‹Labor› zur Förderung der politischen Partizipation und zur Entwicklung der Demokratie in der Schweiz» verortet werden, wie Roca in seinem Überblicksreferat ausführt. Im Zentrum steht hier das «altbündnerische Referendum» als föderatives Referendumsrecht der (Gerichts-)Kreise und Gemeinden, einem Vorläufer des Gesetzesvetos des 19. Jahrhunderts. – In weiteren Detailstudien beleuchten die Historiker Jon Mathieu respektive Randolph C. Head die Formen und Begrifflichkeiten der (früh)neuzeitlichen Bündner Demokratie. Abschliessend porträtiert Verfassungsrechtler Stefan G. Schmid einen vergessenen Bündner Demokratie-Theoretiker, Florian Gengel.

 

Widmer Schweiz andersPaul Widmer: Die Schweiz ist anders – oder sie ist keine Schweiz mehr (NZZ Libro)
«Die Schweiz muss Respekt für ihr Staatswesen einfordern», forderte Paul Widmer 2020 in einem Essay zum Rahmenvertrag im «Schweizer Monat». Unter anderem schlug er vor, die Anbindung an den EU-Gerichtshof zu streichen, um das Abkommen zu retten. Ohne Erfolg: Ein Jahr später begrub es der Bundesrat.

Vielleicht nimmt sich die Regierung ja Widmers Forderung bei der Aushandlung eines neuen Vertrags zu Herzen. Denn er hat durchaus einen Punkt, den er in seinem neuen Buch «Die Schweiz ist anders – oder sie ist keine Schweiz mehr» unterstreicht. Als langjähriger Diplomat und ausgebildeter Historiker hat er sowohl geografisch als auch zeitlich das grosse Ganze im Blick – und gerade deshalb ein Gespür für den Wert der Besonderheit, die er bedroht sieht. Ausdruck dieser Bedrohung ist aus seiner Sicht der Druck auf die Neutralität im Zuge des Ukrainekriegs. Widmer kritisiert, dass der Bundesrat die Neutralität auf ihre rechtliche Seite reduziere. Denn: «Neutralität ohne Neutralitätspolitik ist ein Ding der Unmöglichkeit.»

Die grundsätzlichere Bedrohung sieht Widmer in der Aushöhlung der einzigartigen politischen Kultur der Schweiz, die auf demokratischer Mitbestimmung, Machtteilung und einer gesunden Skepsis gegenüber dem Staat basiere. Eine Bedrohung, die nicht von aussen, sondern von innen komme: in Form einer Tendenz, den Föderalismus auszuhöhlen und den Staat auszubauen. Setze sich diese Tendenz durch, warnt Widmer, wäre es vorbei mit der Einzigartigkeit der Schweiz – und damit letztlich auch mit der Daseinsberechtigung als Nation.

 

Clark Frühling RevolutionChristopher Clark: Frühling der Revolution. Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt. München (DVA)
Ist eine politische Bewegung, die Europa vor fast 200 Jahren durchschüttelte, ein 1200-seitiges Buch wert? Ja, findet Christopher Clark. In seinem Monumentalwerk «Frühling der Revolution» über die Umbrüche von 1848 und 1849 beleuchtet der in Cambridge lehrende Historiker die Ideen und Dynamiken dieser Jahre in ihrer ganzen Breite und Tiefe.

Dabei stellt er das gängige Narrativ in Frage, das man sich – gerade in der Schweiz – erzählt: dass die 48er-Revolutionen überall – ausser in der Schweiz – gescheitert seien. Zwar stimmt das, was die unmittelbaren Folgen betrifft, denn in kaum einem Land konnten sich die Revolutionäre langfristig durchsetzen. Und doch veränderten sie den Kontinent fundamental, ja sie legten in vielerlei Hinsicht den Grundstein für die moderne Welt. Einflussreiche Ideen und Bewegungen wurden erstmals breit diskutiert: Liberalismus, Radikalismus, Sozialismus und nicht zuletzt Nationalismus. Diese Ideen, befeuert durch weitverbreitete Unzufriedenheit mit den wirtschaftlichen und politischen Zuständen, schufen 1848 ein Momentum, wie es Europa zuvor nicht erlebt hatte. Von Preussen bis Sizilien, von Paris bis Bukarest stürzten Regierungen, wackelten die Throne von Monarchen. Alte Privilegien wurden in Frage gestellt, Arbeiter, Sklaven, Juden und Frauen forderten Rechte ein. Ganze Gesellschaften wurden politisiert, alles schien möglich. Vielleicht war das Vakuum, das entstand, zu gross, denn sobald sie an der Macht waren, brachen zwischen den unterschiedlichen Fraktionen Grabenkämpfe aus, Blockaden und Gegenrevolutionen folgten.

Clark würdigt die Ereignisse in den einzelnen Ländern mit Liebe zum Detail und einer Ausführlichkeit, die zuweilen zur Langatmigkeit verkommt und gewichtige Erkenntnisse verdeckt. Schade, denn die Revolutionen von 1848/49 bleiben relevant, denkt man an den Sturm auf das Kapitol 2021 oder an die jüngsten Proteste gegen die Rentenreform in Frankreich. Die Parallelen haben indes Grenzen: Damals überboten sich die Revolutionäre mit utopischen Forderungen. Heute beschränken sie sich auf eine nihilistische Ablehnung des Bestehenden.

 

Sonia I. Seneviratne, Laura Zimmermann, Markus Notter & Andreas Spillmann (Hrsg.): Mit einem Zukunftsrat gegen die Klimakrise – Warum die Schweiz eine dritte Parlamentskammer braucht (Scheidegger & Spiess)
Der Titel des Buches gibt bereits die Richtung vor: «Mit einem Zukunftsrat gegen die Klimakrise» lautet die Ansage einer Gruppe, die den bescheidenen Anspruch hat, mit ihrer Idee für «ein bisschen mehr Demokratie» in der Schweiz zu sorgen. Konkret soll der «Zukunftsrat» folgendermassen funktionieren: Eine Art dritte Parlamentskammer wird geschaffen, zusammengesetzt aus 100 Personen, die aus dem gesamten Stimmvolk ausgelost werden (wobei eine repräsentative Zusammensetzung nach «Alter, Wohnort, Geschlecht, sozialem Status und Bildungsstand» mittels Quoten sichergestellt werden soll). Der Rat soll einerseits eine Art Vetorecht gegen Beschlüsse von National- und Ständerat haben, andererseits mittels Initiativrecht Verfassungsrevisionen anstossen können. In dem Buch führt die linksliberale Gruppe, der etwa die frühere Co-Präsidentin von Operation Libero, Laura Zimmermann, und der ehemalige Zürcher SP-Regierungsrat Markus Notter angehören, ihre Idee aus. Ergänzt wird das Werk durch Gespräche mit «normalen» Bürgern, die potenziell in einem solchen Zukunftsrat sitzen könnten. Das Buch ist durchaus lesenswert, wenn auch der Aufbau zuweilen verwirrt.

Die Idee von ausgelosten «Bürgerräten» ist nicht neu. Ein solches Gremium könnte geeignet sein, Ideen auszuarbeiten, vor denen gewählte Politiker zurückschrecken, etwa in der Altersvorsorge. Es fragt sich allerdings, ob es den Initianten wirklich um neue Ideen geht – oder vielmehr um die Durchsetzung von Vorschlägen, die in ihrem Sinne sind, im heutigen politischen System aber keine Mehrheiten finden. Womöglich hegen manche Mitglieder der Gruppe dabei überhöhte Erwartungen. So äusserte ein «Fridays for Future»-Vertreter an der Buchvernissage die Hoffnung, ein Zukunftsrat könnte Vorschläge der Aktivistengruppe aufnehmen. Als Beispiel nannte er ein Verbot von «Werbung». Wahrscheinlicher ist, dass ein zusätzlicher Vetospieler im austarierten politischen System der Schweiz eher für neue Blockaden statt visionäre Lösungen sorgen würde.

 

Siehe auch:

Napoleon’s Nightmare-Buchempfehlungen 2022
Napoleon’s Nightmare-Buchempfehlungen 2021
Napoleon’s Nightmare-Buchempfehlungen 2020
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2019
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2018
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2017
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2016
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2015

Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2014

Napoleon’s Nightmare-Buchempfehlungen 2022

Die Redaktion von Napoleon’s Nightmare stellt einen Strauss Neuerscheinungen des Jahrs 2022 vor: Unsere Empfehlungen drehen sich um Napoleon und Dufour, um die Abstimmungsforschung und Politikfinanzierung, um parlamentarische Begriffe und politischen Rechtsschutz.

Von Claudio Kuster und Lukas Leuzinger

Thomas Schuler: Napoleon und die Schweiz (NZZ Libro)
«Glückliche Ereignisse haben mich an die Spitze der französischen Regierung berufen, und doch würde ich mich für unfähig halten, die Schweizer zu regieren. Wäre der erste Landammann von Zürich, würden die Berner unzufrieden; wählt ihr einen Berner, so schimpfen die Zürcher. Wählt ihr einen Protestanten, so widerstreben alle Katholiken, und so wieder umgekehrt.» Mit diesen denkwürdigen Worten – auch der Name dieses Blogs Napoleon’s Nightmare geht auf dieses Bonmot zurück – empfing Napoleon Bonaparte im Dezember 1802 die Schweizer Delegierten in Paris, um ihnen nach der gescheiterten Helvetik einen neuen Verfassungsentwurf, die Mediationsakte, zu überreichen. Denn je mehr Napoleon nach den Erfahrungen der jahrelangen Bürgerkriege über die Beschaffenheit der Schweiz nachgedacht habe, desto stärker habe sich für ihn aus der Verschiedenheit ihrer Bestandteile die Überzeugung der Unmöglichkeit ergeben, das Land einer Gleichförmigkeit zu unterwerfen. Stattdessen könne die Grundlage des inneren Friedens in dem Alpenland nur ein dezentraler, föderalistischer Staatsapparat bilden.

Historiker Thomas Schuler, einer der führenden Napoleon-Experten Deutschlands, nimmt in seinem Buch «Napoleon und die Schweiz» ebendiese Phase nach der Französischen Revolution  – Helvetische Republik, Mediationszeit bis hin zum Wiener Kongress – in den Fokus, in welcher der Einfluss Napoleons kaum überschätzt werden kann. Die mit vielen Bildern und Karten ergänzten zwölf Kapitel drehen sich um Schauplätze und Schlachten wie den «Goldraub von Bern», das «Massaker von Stans» oder «Napoleon am Grossen St. Bernhard». Nicht alle Kapitel spielen indes in der Schweiz selbst: So ist Kapitel IX der Schlacht an der Beresina gewidmet, wo auch Schweizer Regimenter mitfochten – und daher bereits damals die Schweizer Neutralität nicht gerade sehr glaubwürdig erscheinen liessen.

Zwar war und ist das Bild Napoleons in der Schweizer Geschichtsschreibung bis heute umstritten. Schuler legt jedoch überzeugend dar, dass der weitere Verlauf der Schweizer Geschichte ohne die Helvetik und Mediation so nicht denkbar gewesen wäre. Die Überwindung der Aristokratie in den neuen Kantonen durch die französische Intervention 1798 und der Erhalt der Mediationskantone durch das russische Eingreifen 1814/15 ermöglichten 1830 die liberalen Verfassungen auf kantonaler und 1847 auf Bundesebene.

Joseph Jung (Hg.): Einigkeit, Freiheit, Menschlichkeit – Guillaume Henri Dufour als General, Ingenieur, Kartograf und Politiker (NZZ Libro)
Der Historiker Joseph Jung hat ein Faible für grosse Persönlichkeiten der Schweizer Geschichte. Als Direktor der Alfred Escher-Stiftung verfasste er eine Biografie und mehrere weitere Bücher über den einflussreichen Industriellen und Politiker. Auch mit Hans Künzi, Lydia Welti-Escher oder Rainer E. Gut beschäftigte er sich. Zum 150-Jahr-Jubiläum des Sonderbundskriegs von 1847 hat er sich mit einem Sammelband Guillaume Henri Dufour angenommen. Der Genfer hat als Anführer der eidgenössischen Truppen Ruhm und Ansehen erlangt, nicht nur durch militärische Taktik, sondern auch durch seine versöhnliche, integrative Haltung gegenüber den Verlierern der Sonderbundkantone. Wenig bekannt ist, dass der «Brückenbauer» der republikanischen Schweiz von Geburt her Franzose war, Napoleon Bonaparte bewunderte und dessen Neffen, den Diktator Napoleon III., unterstützte.

Solche Widersprüche sind Teil von Dufour, der eine grosse Vielfalt von Facetten in sich vereinigt. Er war nicht nur General, sondern auch Ingenieur, Kartograf, Politiker und Humanist. Das Buch widerspiegelt diese Vielfalt, indem zehn Autoren jeweils einen Aspekt aus Dufours Leben herausgreifen. Ein Kapitel widmet sich den Ingenieursleistungen Dufours, der nicht nur im übertragenen Sinne ein Brückenbauer war. Ein anderes Kapitel beschäftigt sich mit den wirtschaftlichen Bedingungen zur Zeit der Bundesstaatsgründung. Selbst die Leadership-Skills des Generals erhalten eine Würdigung. Nicht alle Kapitel sind gleichermassen spannend, doch zusammen ergeben sie ein lesenswertes und lehrreiches Ganzes. Guillaume Henri Dufour hat es auf die Zwanzigernote geschafft und ist Namensgeber des höchsten Gipfels des Landes geworden – mehr ist in der Schweiz, die bei der Verehrung einzelner Personen zurückhaltend ist, kaum möglich. (Neuere) Literatur über ihn ist hingegen dünn gesät. Jungs Buch ist da eine willkommene Ergänzung.

Andreas Gross: Landbote vs. NZZ – Die Auseinandersetzung zwischen den beiden Zeitungen um die Direkte Demokratie und deren Ausgestaltung in der demokratischen Zürcher Revolution von 1867–1869 (Editions le Doubs)
1869 gab sich der Kanton Zürich eine neue Verfassung, die in Sachen direkte Mitsprache der Bürger neue Massstäbe setzte. Volksinitiative (für Teilrevision der Verfassung und Gesetze), fakultatives Referendum, direkte Wahl von Regierungsrat und Ständeräten: Viele der Elemente wurden später von anderen Kantonen und auf Bundesebene übernommen.

Der Weg zu diesem Pionierwerk war nicht nur ein politischer Streit zwischen den herrschenden Liberalen und den aufstrebenden Demokraten, sondern auch ein publizistischer Kampf, in dem sich die Neue Zürcher Zeitung (auf der Seite der Liberalen) und der Winterthurer Landbote (als Sprachrohr der demokratischen Bewegung) gegenüberstanden. Im fruchtbaren Wettstreit zwischen den beiden Blättern wurden viele Fragen über die Ausgestaltung der Demokratie in der Schweiz erstmals in der breiteren Öffentlichkeit vertieft diskutiert.

Nun hat der Politologe und alt SP-Nationalrat Andi Gross die damalige Debatte aufgearbeitet und in Buchform herausgegeben. Dabei räumt er originalen Auszügen viel Platz ein. Die scharfzüngigen, mal spöttischen, mal polemischen Artikel sind beste Unterhaltung. Interessant ist aber vor allem, wie viele Argumente erstaunlich ähnlich jenen sind, die heute ausgetauscht werden, wenn es um den Ausbau oder die Einschränkung der direkten Demokratie geht. Auf der anderen Seite sind viele Erwartungen geäussert worden, die sich als übertrieben oder gar verfehlt erwiesen haben. So hoffte die demokratische Bewegung, dank der direkten Demokratie die eigenen (materiellen) Forderungen durchsetzen zu können, was sich nur zum Teil erfüllte. Zuweilen hätte man sich bei dem über 600 Seiten dicken Werk eine stärkere Fokussierung gewünscht. Gleichwohl ist es ein wertvoller und lehrreicher Beitrag zur Geschichte der Schweizer Demokratie.

Hans-Peter Schaub & Marc Bühlmann (Hrsg.): Direkte Demokratie in der Schweiz – Neue Erkenntnisse aus der Abstimmungsforschung (Seismo)
Die direkte Demokratie ist nicht nur politisch wertvoll. Dadurch, dass die ganze Nation alle drei Monate an die Urne gerufen wird, hat sich auch ein einzigartiger Schatz von Daten angesammelt. Die Politikwissenschaft hat bis jetzt aber nur einen kleinen Teil dieses Potenzials genutzt. Einen Beitrag, das zu ändern, leistet der Sammelband «Direkte Demokratie in der Schweiz», herausgegeben von Hans-Peter Schaub und Marc Bühlmann. Er enthält neun Kapitel, die unterschiedliche Themen von der Umweltpolitik über den Röstigraben bis zur Digitalisierung der Demokratie beleuchten.

Man erfährt etwa, dass eine stärkere Mobilisierung entgegen der landläufigen Meinung nicht zu einer schlechteren Entscheidqualität führt. Im Gegenteil: Eine höhere Stimmbeteiligung geht mit einer besseren Information der Abstimmenden einher. Auch die Idee, dass die Unterschriftenhürden für Volksinitiativen und Referenden zu tief seien, wird relativiert. Gerade bei fakultativen Referenden sagt die Zahl der gesammelten Unterschriften wenig darüber aus, wie viel Rückhalt ein Anliegen in der Bevölkerung hat – auch Referenden, die nur knapp zustande kommen, können an der Urne durchaus erfolgreich sein. Ein weiterer Beitrag untersucht, welcher Kanton bei Abstimmungen im Schnitt am nächsten beim nationalen Resultat liegt (Spoiler: Es ist nicht der vermeintlich durchschnittliche Aargau).

Zwar dürfte der praktische Nutzen nicht bei allen Untersuchungen gleichermassen hoch sein. Gleichwohl zeigt das Buch, dass es lohnenswert ist, den Schatz an Daten von Volksabstimmungen verstärkt anzuzapfen und zu nutzen.

Peter Buomberger & Daniel Piazza: Wer finanziert die Schweizer Politik? – Auf dem Weg zu mehr Transparenz und Demokratie (NZZ Libro)
Über Geld spricht man nicht in der Schweizer Politik. Man polemisiert lieber. Die Diskussion über Politikfinanzierung wird ideologisch und oft realitätsfern geführt. Die Studie von Peter Buomberger und Daniel Piazza ist da ein erfrischend nüchterner Kontrast – vielleicht weil die Autoren viel praktische Erfahrung mitbringen. Buomberger war bei zwei grossen Finanzfirmen für politische Spenden zuständig, Piazza war als Geschäftsführer der CVP auf der Empfängerseite tätig.

Zusammen zeichnen sie die Finanzflüsse in der Schweizer Politik auf Grundlage öffentlich zugänglicher Quellen sowie Schätzungen nach und zeigen, wer wem wie viel bezahlt. Der Belastbarkeit der Zahlen sind naturgemäss Grenzen gesetzt. Gleichwohl lassen sich einige Schlüsse ziehen: etwa, dass sich das Gewicht – auch finanziell – von Parteien hin zu Verbänden und anderen Organisationen verlagert hat. Überraschend ist dabei die Potenz links-grüner NGOs, die gemäss der Studie 20 bis 23 Millionen Franken pro Jahr zur Verfügung haben und damit mehr als Wirtschafts- und Branchenverbände (17 bis 20 Millionen). Auffallend ist, dass Geld vermehrt in monothematische Ad-hoc-Kampagnen und Pop-up-Organisationen fliesst (etwa die Konzernverantwortungsinitiative oder Autonomiesuisse), aber kaum längerfristige politische Aufbauarbeit geleistet wird. Der Qualität und Stabilität der Demokratie dürfte dies nicht förderlich sein.

Während Buombergers und Piazzas Analyse aufschlussreich ist, überzeugen ihre daraus abgeleiteten Vorschläge nicht alle gleichermassen. Zwar betonen sie zu Recht, dass die Politik zur Hauptsache von der Zivilgesellschaft und damit von privaten Geldgebern getragen werden sollte. Den seit Herbst geltenden neuen Transparenzregeln, wonach Spenden ab 15 000 Franken offengelegt werden müssen, stehen sie kritisch gegenüber, da sie einen Rückgang der Spenden und Bestrebungen hin zu staatlicher Finanzierung befürchten. Ihr Gegenmodell einer «funktionalen Transparenz» (gemäss dem sich die Schwelle der Offenlegung am Gesamtbudget einer Organisation bemisst) würde jedoch zu einer Bevorzugung grosser Organisationen führen – als ob 50 000 Franken an die SP mehr Privatsphäre rechtfertigten als 50 000 Franken an die GLP. Gleich lange Spiesse scheinen da sinnvoller, wie sie die Autoren zwischen Parteien und NGOs fordern.

Michael Strebel: Das schweizerische Parlamentslexikon (Helbing Lichtenhahn)
Gibt es hierzulande einen ausgewiesenen Experten der Schweizer, insbesondere der vielfältigen kantonalen und kommunalen Parlamentslandschaft, so ist dies zweifelsohne Michael Strebel. Strebel ist promovierter Politikwissenschaftler und arbeitete bereits für diverse Parlamentsdienste, zuletzt als Ratssekretär des Kantonsrats Solothurn. Seinen enormen legislativen Wissens- und Erfahrungsschatz hat Strebel nun im «schweizerischen Parlamentslexikon» zu Papier gebracht. – Im ersten Teil wird eine ausgedehnte «Tour d’Horizon durch die kommunalen Parlamente» unternommen: Für jeden Kanton werden die Gemeindeparlamente tabellarisch mit den wichtigsten Kennzahlen aufgeführt. Viel Raum widmet Strebel den Anläufen zur Einführung oder Auflösung der kommunalen Parlamente und listet die Pro- und Contra-Argumente der jeweiligen Befürworter und Gegnerschaft auf. Weiter werden diverse Spezialitäten der jeweiligen Einwohnerräte respektive Conseils municipals aufgezeigt. Bemerkenswert ist etwa, dass in den Aargauer Einwohnerräten nicht nur die Parlamentsmitglieder, sondern sämtliche Stimmbürger Motionen und Anfragen einreichen können – nur wird leider von dieser einzigartigen, niederschwelligen Form der Bürgerbeteiligung praktisch nie Gebrauch gemacht. Ein kurzer zweiter Teil «Bundesversammlung und Kantonsparlamente» skizzierte einige Charakteristika des politischen Systems der Schweiz.

Der Kern des Buchs ist aber das eigentliche Parlamentslexikon (427 Seiten), in dem über 600 parlamentarische Begriffe von A bis Z erläutert werden. Die Schlagworte werden gut verständlich und kompakt erklärt, mit vielen Beispielen versehen (freilich ohne Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu können) und mit Hunderten von übersichtlichen, ansprechend gestalteten Grafiken, Tabellen, Illustrationen und einigen Fotos ergänzt. Der Umfang und Detailierungsgrad der lexikalischen Einträge variiert natürlich erheblich, finden sich doch so allgemeine Begriffe wie «Kommission» oder «Parlamentssitzung» bis hin zu Instrumenten oder Gremien, die nur in einer einzelnen Legislative vorkommen. Viele Begriffserklärungen werden mit weiterführenden Rechtsquellen-, Literatur- und Materialienhinweisen ergänzt. – Ein kleiner vierter Teil «Fazit und Ausblick» rundet das Werk ab. Hier werden die aktuellen Herausforderungen des Parlamentarismus umrissen, von den Stellvertretungssystemen über die Digitalisierung bis hin zur Öffentlichkeitsarbeit.

Strebel hat keinen Aufwand gescheut, seine Summa der Schweizer Parlamentspraxis über alle drei Staatsebenen hinweg möglichst vollständig abzubilden, hat er doch an die 600 Personen um Auskünfte gebeten. Da und dort erscheint die Gewichtung der Relevanz aber noch unaustariert, etwa wenn sich die Beiträge «Parlamentarische Gruppe» oder «Kosten parlamentarischer Vorstösse» gleich über je acht Buchseiten hinwegziehen, während der kaum minder wichtigen «Entschädigung» der Parlamentsmitglieder gerade einmal eine halbe Seite gewidmet wird, ohne jegliche konkrete Beispiele. – Nichtsdestotrotz darf das Parlamentslexikon fortan in keinem politaffinen Haushalt fehlen, lädt es doch ebenso zum Schmökern wie Nachschlagen ein und trägt sicherlich bald zur Weiterentwicklung des hiesigen Parlamentarismus bei.

Luka Markić: Das kantonale Rechtsschutzverfahren im Bereich der politischen Rechte (Dike)
Fehlerhafte oder fehlende Wahlzettel, Abstimmungspropaganda des Gemeindepräsidenten oder die ausgebliebene Nachzählung trotz knappen Resultats: Regelmässig werden im Vorfeld oder Nachgang von Wahlen und Abstimmung solche und viele weitere Rügen erhoben und diese im Kleid der Stimmrechtsbeschwerde den Rechtspflegebehörden zugeführt. Damit sich die Rechtsmittelinstanz aber mit den vorgebrachten Mängeln inhaltlich auseinandersetzen kann, muss der Stimmberechtigte zuerst etliche verfahrensrechtliche Hürden meistern. Luka Markić (Universität Zürich) beschreibt in seiner Dissertation diesen dornenvollen Weg, das kantonale Rechtsschutzverfahren im Bereich der politischen Rechte.

Im einführenden, verfassungsrechtlichen Teil werden zunächst die grundsätzliche Rechtsnatur und die Justiziabilität der politischen Rechte erläutert, die insbesondere mit der Justizreform vor gut 15 Jahren gestärkt worden ist. Im Gegensatz zum vereinheitlichten Zivil- und Strafprozess ist das Verwaltungs- und Verwaltungsgerichtsverfahren aber weiterhin eine kantonale Domäne – genauso wie die kantonalen und kommunalen politischen Rechte selbst. Im Hauptteil seiner Arbeit hat Markić daher die Verfahrensgesetze aller 26 Kantone ausgewertet und systematisch dargelegt. Zunächst wird der sehr uneinheitlich ausgestaltete Verfahrensweg beleuchtet, schliesslich müssen regelmässig diverse innerkantonale Instanzen – hier Verwaltungsbehörden, dort Gerichte – angerufen werden, bevor sich letztinstanzlich das Bundesgericht mit einer Sache befassen darf. Weitere Kapitel betreffen das Anfechtungsobjekt (kann man eine Medienmitteilung anfechten?), die Legitimation (dürfen politische Parteien prozessieren?) oder die Form der Beschwerde (ist die Erhebung via E-Mail zulässig?). Die Beschwerdefrist und der Beginn des Fristenlaufs nehmen grösseren Raum ein, sind dies doch wahrscheinlich jene formellen Erfordernisse, die am häufigsten verletzt werden und damit zu einem Nichteintreten führen.

Markić beschränkt sich jedoch nicht auf die blosse deskriptive Darstellung des «trockenen» Verfahrensrechts. Ihm liegt genauso daran, den Rechtsschutz im Bereich der politischen Rechte pro futuro zu verbessern und wartet deshalb an etlichen Stellen mit kritischen Einwänden und konkreten Verbesserungsvorschlägen auf. So fordert er etwa, dass das Rechtsschutzverfahren kostenlos sein müsse (dies ist in der Mehrheit der Kantone, oftmals selbst vor unteren Instanzen, nicht der Fall), da die Beschwerdeführung nicht nur im individuellen Interesse erfolge, sondern auch als «Anwalt des Volkes» fungiere. Gerade auch diese rechtspolitischen Postulate Markićs tragen zur guten Lesbarkeit, Verständlichkeit und Praxisrelevanz dieses Buchs bei.

Steffen Klatt: Mehr Schweiz wagen – mehr Europa tun – Ein Kontinent zwischen Aufbruch und Abbruch (Zytglogge)
Nach dem Einfall Russlands in die Ukraine sahen und sehen viele einen neuen Aufbruch in der Europäischen Union. Angesichts der Krise werde den Europäern bewusst, wie wichtig es sei, nun zusammenzustehen. Die Realität ist allerdings, dass die Aussichten für die EU nicht eben rosig sind. Die Mitglieder sind sich in vielen Fragen uneins, wirtschaftlich hinkt der Kontinent anderen Regionen seit Jahren hinterher. Die politischen Eliten versuchen die Flucht nach vorne durch noch mehr Zentralisierung und Harmonisierung. Und lassen dabei ihre Bürger auf halber Strecke zurück.

Den Zustand der EU beschreibt auch der Journalist Steffen Klatt in «Mehr Schweiz wagen – mehr Europa tun» schonungslos. Der in der DDR aufgewachsene Klatt macht kein Geheimnis aus seiner Sympathie für das europäische Einigungsprojekt. Trotzdem oder gerade deshalb geizt er nicht mit Kritik an den bestehenden Institutionen. Er fordert mehr (direktdemokratische) Mitsprache der Bürger. Dies sei der einzige Weg hin zu einem geeinten Europa.

Man mag dem ebenso widersprechen wie den pauschalen Abgesang auf die nationalstaatliche Souveränität. Und zuweilen gefällt sich Klatt etwas zu sehr in grossen Worten und schreitet dabei über konkrete Fragen und Lösungen hinweg. Dennoch regt das Buch auf spannende Weise zum Nachdenken über die Zukunft Europas und die Rolle der Schweiz darin an.

 

Siehe auch:

Napoleon’s Nightmare-Buchempfehlungen 2021
Napoleon’s Nightmare-Buchempfehlungen 2020
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2019
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2018
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2017
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2016
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2015

Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2014

Napoleon’s Nightmare-Buchempfehlungen 2021

Die Redaktion von «Napoleon’s Nightmare» empfiehlt ein gutes Dutzend Neuerscheinungen aus dem vergangenen Jahr. Die Themen beschlagen das Frauenstimmrecht, Abstimmungsplakate, eine Aussensicht auf die Schweiz, den Föderalismus, Amerika, Bürgerpflichten sowie neue Grundrechte.

Von Claudio Kuster und Lukas Leuzinger

 

Conradin Cramer: In die Politik gehen – Tipps für den Nachwuchs (NZZ Libro)
Autobiografisches? Ratgeberliteratur? Jugendbuch? Organisation und Kommunikation? Selbstreflexion? Baselstädtische Lokalpolitik? Oder gar Humoristisches? – Conradin Cramers Neuerscheinung «In die Politik gehen» wäre in keiner dieser Abteilungen der Buchhaltung falsch einsortiert. Die «Tipps für den Nachwuchs» des Basler Regierungsrats (Liberal-Demokratische Partei, LDP) und Juristen sind eine äusserst anregende, unterhaltsame und lehrreiche Innensicht eines erfolgreichen Politikers, die letztlich den politischen Nachwuchs motivieren und begleiten will, in die Politik einzusteigen. «Es ist das Buch, dass ich vor 20 Jahren gerne gelesen hätte. Es enthält praktische Überlegungen eines Praktikers, nicht mehr und nicht weniger.»

Cramer beginnt bei der Suche nach der richtigen Partei, wobei er keiner Kleinpartei beitreten würde, sondern eine der sechs grössten (Bundesratsparteien plus Grüne/GLP) empfiehlt – der langfristigen Karriere zuliebe. Als Königsweg in die Politik skizziert er die klassische Ochsentour, so wie er als 20-Jähriger im Einwohnerrat Riehen BS begann, um später via Grosser Rat in die Kantonsregierung emporzusteigen. Politik ist Kommunikation: Daher werden natürlich Themen wie Social Media, Reden, Podiumsdiskussionen, Auftrittskompetenz, Interviews, Wahlkampf, Umgang mit Kritik usw. anschaulich abgehandelt. Hier überrascht Cramer immer wieder mit geradezu entwaffnender Ehrlichkeit. Etwa, wenn er einräumt, sich Namen schlecht merken zu können und daher mittels einer Handy-App sein Namensgedächtnis schärft. Oder wie seine Zeit während – manchmal vielleicht öden – Repräsentationspflichten effizient nutzt: Cramer nimmt «Probleme» mit an Veranstaltungen, denen er sich gedanklich widmen kann, während er äusserlich etwa einer Aufführung lauscht. Den schrillen Klang der in Basel beliebten Piccoloflöten mag der Erziehungsdirektor übrigens gar nicht – und hat deshalb stets Ohrstöpsel griffbereit. So offen gab sich ein hiesiger, zumal amtierender Exekutivpolitiker wohl noch nie.

Ein wenig aufgesetzt wirken einzig Cramers Bemühungen, das Buch gleich für den gesamten deutschsprachigen Raum anzupreisen, indem nebst Beispielen aus der Schweiz regelmässig auch ein gekünstelter Blick nach Deutschland (und selten nach Österreich) geworfen wird. Abgesehen hiervon ist das süffig verfasste Buch tatsächlich jedermann ans Herz gelegt, der mit dem Gang in die Politik liebäugelt – sei es für die lokale Schulpflege, den Kantonsrat oder gar höhere Weihen. Apropos, Basel-Stadt hat seit fast 50 Jahren keinen Bundesrat mehr!

Bettina Richter / Museum für Gestaltung Zürich (Hrsg.): Ja! Nein! Yes! No! – Swiss Posters for Democracy (Lars Müller)
Etwa die Hälfte aller Volksabstimmungen weltweit finden in der Schweiz statt. Diese Anomalie findet regelmässig unübersehbaren Niederschlag in unserem öffentlichen Raum, säumen, ja überwuchern doch in grob einem Drittel unserer Zeit zahlreiche Abstimmungsplakate dieser und jener Seite hiesige Strassenränder und Scheunentore. Viele dieser Plakate sind im Nu wieder vergessen, während sich einige geradezu ins kollektive Gedächtnis einbrennen und ikonografisch für eine bestimmte Partei oder Abstimmungsvorlage stehen. Prominentes und vielkopiertes Beispiel der letzteren Kategorie ist etwa das «Schäfchen-Plakat» zur Ausschaffungsinitiative (2010).

Das Museum für Gestaltung Zürich unterhält eine der weltweit umfangreichsten Plakatsammlungen, in welcher sich auch zahlreiche Abstimmungsplakate befinden. Bettina Richter, Kuratorin der Sammlung, hat sich der helvetischen «Bildergalerie der Strasse» angenommen und präsentiert 147 Plakatsujets, die in den vergangenen 100 Jahren eine nationale oder kantonale Abstimmungskampagne sekundierten. Einen Schwerpunkt setzt Richter beim aktuell omnipräsenten Thema «Frauenstimmrecht». Dieses Ansinnen gelangte im letzten Jahrhundert schliesslich nicht nur über 50-mal (!) an die kantonale oder nationale Urne, sie war von 1920 bis 1971 auch eine der umstrittensten Abstimmungsfragen. Einige dieser Abstimmungsplakate – vor allem seitens der Gegnerschaft– sind unterdessen gar als Ikonen der politischen Werbung bekannt, man denke nur an den überdimensionierten verwaisten Schnuller, auf dem eine eklige Fliege thront (1946).

Ergänzt wird der schön gestaltete Bilderband durch einen Essay von Historiker Jakob Tanner, der die Entstehung und Entwicklung des Kampagnenmittels politisches Plakat umreisst. Während sich das kommerzielle Plakat, ausgehend von Frankreich, um die Jahrhundertwende etablierte, wurde diese Kommunikationsform in der prekären Lage nach dem ersten Weltkrieg bald auch von den politischen Akteuren genutzt. Während damals oftmals Kunstschaffende und Autorendesigner für die Plakate zeichneten, die sich mit den politischen Botschaften unmittelbar identifizierten (Otto Baumberger, Hans Erni), wurden nach dem Zweiten Weltkrieg zusehends professionelle Grafikagenturen mit dem Design betraut. Und wie beurteilt die Herausgeberin die heutigen Affichen? «Neben vielen harmlosen, der Political Correctness verpflichteten Abstimmungsplakaten fallen im aktuellen Strassenbild jedoch auch Aushänge auf, die sich einer konsensorientierten Ästhetik verweigern und weiterhin politische Diskussionen auslösen.»

Clive H. Church & Randolph C. Head: Paradox Schweiz – Eine Aussensicht auf ihre Geschichte (Chronos)
Der Blick von aussen auf die Schweiz ist oft entweder von Romantik oder von Spott geprägt. Das hat wohl auch mit dem fehlenden historischen Verständnis zu tun. Der britische Historiker Clive Church und sein US-amerikanischer Kollege Randolph Head haben hier eine Lücke gefüllt und 2013 eine umfassende Geschichte der Schweiz in englischer Sprache publiziert. Nun ist das Werk in deutscher Übersetzung erschienen – ein Blick von aussen für Einheimische sozusagen. Dessen Funktion ist natürlich eine andere als jene des Originals, da es an deutschsprachigen Darstellungen der Schweizer Geschichte nicht fehlt. Hingegen vermögen die beiden Historiker als Aussenstehende eine andere Perspektive einzubringen.

In «Paradox Schweiz» zeichnen sie das Bild eines Landes, das sich seiner Besonderheit bewusst und zugleich stark in die Entwicklungen in Europa eingebunden ist. Natürlich wird die historische Einordnung umso schwieriger, je näher man an die Gegenwart rückt; ob die «ausgesprochen unschlüssige Haltung», die Church und Head der Schweiz attestieren, nicht auch ein bewusstes Abwägen, eine Balance zwischen Offenheit und Eigenständigkeit zum Ausdruck bringt, werden künftige Generationen besser beantworten können.

Urs Altermatt: Der lange Weg zum historischen Kompromiss – Der schweizerische Bundesrat 1874–1900. Referendumsstürme, Ministeranarchie, Unglücksfälle (NZZ Libro)
Die Konkordanz wird oft als ein zentraler Baustein des Erfolgs und der Stabilität der Schweiz angesehen. Vergessen geht dabei gerne, dass das konsensorientierte Regierungssystem nicht einfach in Stein gemeisselt ist, sondern sich in langwierigen Konflikten und Aushandlungsprozessen entwickelt hat. Eine der wichtigsten Phasen steht im Fokus des zweiten Bands von Urs Altermatts Geschichte des Bundesrats: die Phase von der Verfassungsrevision 1874 bis zur Jahrhundertwende, mit der erstmaligen Wahl eines katholisch-konservativen Bundesrats 1891 als Höhepunkt.

Die detailreiche Analyse des Bundesratshistorikers bestätigt, dass die Volksrechte entscheidenden Einfluss hatten, indem die Opposition den freisinnig dominierten Bundesrat mit Referenden immer wieder herausforderte und so schliesslich den «historischen Kompromiss» erzwang. Altermatt betont aber zugleich, dass auch der Freisinn keineswegs ein homogener Block war, sondern innerhalb der «freisinnigen Grossfamilie» teils erbitterte Machtkämpfe zwischen Radikalen, liberaler Mitte und Liberal-Konservativen tobten. Das Buch beleuchtet auch den Alltag der Bundesräte und schildert dabei immer wieder Überraschendes und Unterhaltsames. Es verdeutlicht dabei Kontinuitäten (z.B. wie sich das Kollegialitätsprinzip entwickelte) wie auch Unterschiede (z.B. die zum Teil sehr starke Stellung einzelner Bundesräte, die sich etwa darin zeigte, dass sie viel öfter als andere das Bundespräsidium übernahmen).

Alfonso C. Hophan: Die Verfassungsrevolution an der Glarner Landsgemeinde von 1836 – Ein Beitrag zur Glarner Demokratie- und Verfassungsgeschichte (Dike)
Die Liberalen haben im Zuge der Regeneration die überkommenen vormodernen Strukturen in der Schweiz überwunden und der freiheitlichen Demokratie zum Druckbruch verholfen. So lautet die «liberale Meistererzählung», die in der Geschichtsschreibung und der öffentlichen Wahrnehmung lange dominant war. Dass die Realität komplizierter war, zeigt Alfonso Hophan am Beispiel des Kantons Glarus. Dort beschloss die Landsgemeinde 1936 eine neue Verfassung, welche die weitgehende konfessionelle Trennung des Kantons aufhob und dafür individuelle Freiheitsrechte festschrieb. Der entscheidende Streitpunkt war damals, ob die Landsgemeinde überhaupt berechtigt war, die seit dem 16. Jahrhundert zwischen Katholiken und Reformierten geschlossenen Verträge einfach aufzuheben.

Hophan analysiert die Frage aus rechtshistorischer und rechtstheoretischer Sicht. Er kommt zum Schluss, dass die Annahme der neuen Verfassung gegen den Widerstand von Katholisch Glarus tatsächlich eine Revolution und nicht eine Revision darstellte – dass sie die damals geltenden Regeln also verletzte.

Darüber hinaus macht Hophan deutlich, dass die Landsgemeinde als Institution beibehalten wurde, das Demokratieverständnis dahinter aber nun ein grundlegend anderes war, ja, die Verfassung von 1936 «vielleicht den grössten» Schritt auf dem Weg von der vormodernen zur modernen Landsgemeindedemokratie darstellte. In diesem Sinn war die Glarner Verfassungsrevolution ein Vorbote der Bundesstaatsgründung zwölf Jahre später.

Jörg Paul Müller: Dialog als Lebensnerv der Demokratie – Vom Athen des Sokrates zur Politik der Gegenwart (Schwabe)
Das griechische Modell der Demokratie habe bisher keine vertiefte Beachtung gefunden. Weder die historische noch die heutige Staatsrechtswissenschaft und politische Theorie hätten sich hinreichend mit der Ausgestaltung, den Errungenschaften und Schwachstellen der frühen griechischen Demokratie auseinandergesetzt, so Jörg Paul Müller, emeritierter Professor für Verfassungs- und Völkerrecht sowie politische Philosophie an der Universität Bern. In seinem Essay «Dialog als Lebensnerv der Demokratie» fragt Müller daher, welche Erfahrungen der attischen Polis für die gegenwärtige Ausgestaltung und Praxis der Demokratie aufschlussreich sein könnten.

Die Probleme – damals wie heute – sind schnell verortet: autoritäre Strukturen, intransparente Machtansammlungen, geschickte Manipulation, ungleicher Zugang und insbesondere populistische Politiker, welche die echte Mitbestimmung der Bevölkerung verhinderten. Nachdem Müller die Grundzüge der griechischen Demokratie kurz umrissen hat, wendet er sich den beiden Philosophen Sokrates und Habermas und ihren jeweiligen Kommunikationslehren (Sokratisches Gespräch respektive Diskurstheorie) zu. Charakteristisch für das Sokratische Gespräch sei, dass es mit der Einsicht beginne, dass kein Mensch ein gesichertes, sprachlich fassbares und mitteilbares Wissen für die richtige Ordnung des gemeinsamen Lebens in der Polis besitze, das nicht hinterfragt werden könnte. Sowohl in der sokratischen Dialogpraxis (wie sie uns überliefert ist) wie in der modernen Diskurstheorie wird von den Gesprächsteilnehmern Aufgeschlossenheit und eine gegenseitige Anerkennung ihrer Gleichberechtigung erwartet, um daraus eine gemeinsame Problemsicht und rationale Basis für gemeinsames Handeln und politisches Wirken zu gewinnen. Gefordert seien da wie dort eine Fähigkeit und Bereitschaft, sowohl sich selbst einzubringen als auch die Perspektiven der anderen aufzunehmen und zu verstehen.

Demokratien, so Müller, seien Kulturleistungen, die sich durch eine hohe Fähigkeit und Bereitschaft von Bürgern wie Amtsträgerinnen zu Reflexion und Deliberation auszeichneten, zu Gespräch, Verständigung und Akzeptanz gemeinsamer Entscheidungen. Diese Befähigungen seien nicht selbstverständlich und nicht naturgegeben, sie müssten wie andere kulturelle Errungenschaften angeeignet, weitervermittelt, überdacht, erneuert und gepflegt werden. Doch solche Bedingungen stellten sich nicht von selber ein, sondern bedürften der Unterstützung durch gesellschaftliche und staatliche Kräfte. Dabei denkt Müller zu Recht an die Demokratiekompetenz durch politische Bildung, die selbst in der «Musterdemokratie» noch vielerorts ein Mauerblümchendasein fristet. – Müller versteht es, historische, (grund-)rechtliche, politologische, philosophische und kommunikationstheoretische Aspekte zu einer gut lesbaren, gehaltvollen und engagierten Schrift zu verweben.

Richard David Precht: Von der Pflicht – Eine Betrachtung (Goldmann)
Der Begriff der «Pflicht», so räumt Deutschlands bekanntester Philosoph Richard David Precht ein, fühlt sich an wie Zähneputzen, Spülen und Aufräumen – angestaubt, ein Wort gar aus einem anderen, dem «bürgerlichen» 19. Jahrhundert. Die Pandemie wirkt nun wie ein Brennglas auf unser heutiges Verhältnis zur Pflicht, dem Precht in seinen «Betrachtungen» nachgeht: Wie werden Rechte und Pflichten, seit jeher ein grosses Thema der Philosophie, heute wahrgenommen? Was denken Menschen, was ihnen zusteht, und worin sehen sie ihre staatsbürgerliche Pflicht? Wie gestaltet sich das Spannungsfeld von Pflicht und Recht, Gefahr und Massnahme, Leben und Tod? Und was verrät uns die Krise über den diesbezüglichen Zustand der Gesellschaft? Um sich den Antworten darauf zu nähern, wendet sich Precht der Philosophie der Pflicht zu, von Cicero über Kant bis Foucault und Böckenförde, rekapituliert die Entstehung des modernen Wohlfahrtsstaats, skizziert die Geschichte der Seuchenbekämpfung. Weiter weist er auf ein gewandeltes Grundrechtsverständnis hin. Galten die Grundrechte früher als Schutz des Individuums vor dem Staat, so trete im heutigen Vorsorgestaat eine zweite Verpflichtung hinzu: Die Bürger sollen nun zudem durch den Staat geschützt werden.

Warum aber tun sich viele Menschen mit ihren Pflichten so schwer? Unsere Gesellschaft sei darauf konditioniert, «Probleme durch Technik zu lösen», und nötige ihren Bürgern daher gemeinhin keine kollektiven Verhaltensänderungen ab. Ja man habe begonnen, den Staat als Dienstleister zu sehen und sich selbst als Kunden, der stets eines wolle: für sich selbst das Beste. «Tut der Staat nicht das, was ich von ihm erwarte, kündige ich meinen inneren Vertrag mit ihm und entpflichte mich vom Gemeinwohl.» Die Leistungen des Staates wurden selbstverständlich, die Anspruchshaltung des Bürgers auf freie Entfaltung höher und die Reizschwelle gegenüber empfundener Ungerechtigkeit niedriger.

Die Haltung, die wir im Umgang mit dem Virus einnehmen, sei keine reine Privatangelegenheit mehr. Die Abwehrreflexe und Entsolidarisierung, wie wir sie gerade bei den Massnahmengegnern erleben, seien Ausdruck eines befremdlichen Verhältnisses nicht weniger Menschen zum Thema Rechte und Pflichten. Der liberal-demokratische Staats habe «nicht nur das Recht, Regeln und Massnahmen zum Schutz von Millionen Schwacher und Gefährdeter zu verordnen, sondern – die Pflicht!» Es wäre jedoch ein Missverständnis, Pflichterfüllung mit Kritiklosigkeit und Konformismus gleichzusetzen. Jeder Staatsbürger habe das moralische Recht, ja sogar die moralische Pflicht, sich zu entpflichten, wenn die angewiesene Pflicht in staatliche Willkür, grosses Unrecht oder die Gefahr einer Tyrannis abgleite. Zuletzt wirft Precht den Vorschlag ein, zwei soziale Pflichtjahre für alle Bürger einzuführen, um den Bürger- und Gemeinsinn zu stärken. Ein soziales Pflichtjahr wäre für alle jungen Menschen nach dem Schulabgang zu leisten und ein zweites für alle Menschen im Renteneintrittsalter. Dadurch würde dem sozialen Frieden, der Toleranz, der Sinnstiftung, der Entlastung der Sozialausgaben und dem Verständnis der Generationen füreinander gedient.

Ferdinand von Schirach: Jeder Mensch (Luchterhand)
Der umtriebige deutsche Schriftsteller und Jurist Ferdinand von Schirach legt mit «Jeder Mensch» ein kleines, unscheinbares, gerade einmal 32 Seiten dünnes Büchlein vor. Zwischen den zwei Buchdeckeln wartet von Schirach aber keineswegs mit Belanglosem auf. Er will mit der Schrift die Saat einer – wie er selber einräumt – geradezu utopischen Idee streuen: Als 1776 die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und 1789 die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte proklamiert wurden, so wurde damit keineswegs beschreiben, was damals war, sondern allgemeingültige Grundrechte beschreiben, die erst grob zwei Jahrhunderte später mehr oder weniger entfaltet wurden.

Heute stünden wir jedoch vor ganz neuen Herausforderungen. Die damaligen Autoren und Unterzeichner der Menschenrechtserklärungen hätten das Internet und die Sozialen Medien nicht gekannt, nichts von der Globalisierung, den Algorithmen, der künstlichen Intelligenz oder dem Klimawandel gewusst. Die Gefahren, denen wir heute ausgesetzt sind, seien damals noch nicht einmal zu erahnen gewesen. Von Schirach entwirft daher flugs sechs neue Grundrechte, quasi eine «Grundrechte-Charta fürs 21. Jahrhundert», welche die tradierten Menschenrechte ergänzen und insbesondere die zukünftigen Risiken einhegen sollen. Ein Artikel will etwa der künstlichen Intelligenz wie folgt begegnen: «Jeder Mensch hat das Recht, dass ihn belastende Algorithmen transparent, überprüfbar und fair sind. Wesentliche Entscheidungen muss ein Mensch treffen.»

Wenngleich überzeugend motiviert, kommt der von Schirach’sche «Grundrechtskatalog 2.0» leider völlig unkommentiert daher. Dabei hätte doch interessiert, wieso er gerade diese neuen Rechte als die essenziellsten betrachtet, wie ihnen klarere Konturen verliehen werden und sie letztlich justiziabel ausgestaltet werden könnten. Doch – vielleicht gerade deshalb? – von Schirachs Saat ist derweil schon aufgegangen, er konnte damit in Deutschland eine Debatte auslösen. Und im neuen Koalitionsvertrag der «Ampel»-Regierung wurden die meisten seiner Menschenrechte aufgegriffen. Einzig Artikel 4 («Wahrheit») scheint zu visionär zu sein, ihn wollten die Politiker partout nicht übernehmen: «Jeder Mensch hat das Recht, dass Äusserungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen.»

Harriet Taylor Mill: Zur Erteilung des Frauenwahlrechts (Limbus)
Während John Stuart Mill als einer der einflussreichsten und bekanntesten liberalen Denker des 19. Jahrhunderts gilt, dürfte seine Gemahlin Harriet Taylor Mill den wenigsten ein Begriff sein. Zu Unrecht, denn ihr Einfluss auf das Denken und Wirken ihres Ehemannes darf nicht unterschätzt werden: Unbestritten ist ihr Beitrag zum philosophischen Werk «On Liberty» (1859) ebenso wie ihr Einfluss auf den frühfeministischen Essay «The Subjection of Women» («Die Hörigkeit der Frau», 1869). John Stuart Mill verstand die gemeinsame wissenschaftliche Arbeit gar als «Fusion zweier Geister».

Harriet Taylor Mill, die keine höhere Ausbildung genoss, publizierte aber auch diverse eigene Texte, erst anonym, dann unter ihrem eigenen Namen. Ihr vielleicht wichtigster Essay, «The Enfranchisement of Women» von 1851, ist nun neu übersetzt und herausgegeben worden. Anlass waren damalige Versammlungen in den Vereinigten Staaten (Women’s Rights Conventions), die sich der Frauenfrage und der Gleichstellung annahmen, über die Taylor Mill berichtete. Interessant sind die bereits damals vorgebrachten Argumente gegen die Gleichstellung der Geschlechter in der Familie, Politik und Wirtschaft, die die radikal-liberale Frauenrechtlerin darauf mit Verve zerpflückt: die Unvereinbarkeit des aktiven Lebens mit Mutterschaft und Haushaltsführung, der «verhärtende Einfluss auf den Charakter» der Frau, die Erhöhung des bereits übermässigen Wettbewerbs- und Lohndrucks auf dem Arbeitsmarkt sowie das angeblich mangelnde Verlangen, ja gar die Ablehnung von Emanzipationsforderungen seitens der Frauen selber. Argumente also, die noch über 100 Jahre später zu hören sein sollen.

Taylor Mill indes war «fest davon überzeugt, dass die Aufteilung der Menschheit in zwei Gesellschaftsklassen – die eine dazu geboren, über die andere zu herrschen – ein uneingeschränkter Missstand ist.» Sie sei «eine Quelle der Pervertierung und Demoralisierung sowohl für die bevorzugte Klasse als auch für jene, auf deren Kosten sie bevorzugt wird.» Politische Erziehung tue Not, Gewohnheiten und Machtstrukturen müssten hinterfragt und aufgebrochen werden, um die Freiheit des Individuums zu gewährleisten und damit den Weg zu einer solidarischen Gemeinschaft zu ebnen. Das Gleichheitsprinzip zwischen Mann und Frau sei die Basis für soziale Entwicklung. – Informative Annotationen, ein Nachwort des Übersetzers sowie eine Zeittafel Taylor Mills Leben runden das schmale Büchlein ab.

Brigitte Studer / Judith Wyttenbach: Frauenstimmrecht – Historische und rechtliche Entwicklungen 1848 – 1971 (Hier und Jetzt)
Zum 50-jährigen Jubiläum der Einführung des Frauenstimmrechts auf Bundesebene sind 2021 zahlreiche Publikationen erschienen. So etwa der von den Politologinnen Marlène Gerber und Anja Heidelberger herausgegebene Sammelband über Frauenforderungen im Parlament oder die Studie von Werner Seitz zum Kampf um die politische Gleichstellung seit 1900. Die wohl umfassendste historische Untersuchung zum Thema stammt von der Historikerin Brigitte Studer und der Staats- und Völkerrechtlerin Judith Wyttenbach. In ihrem Werk zeichnen sie akribisch die politische Debatte ums Frauenstimmrecht seit 1848 nach, beleuchten die massgebenden Akteure sowie ihre Argumente und die Entwicklung des rechtlichen Rahmens.

Dabei zeigen sich viele überraschende und unterbeleuchtete Aspekte. Etwa, dass die Schweiz 1848 das Land mit den wohl am breitesten verteilten demokratischen Rechte in Europa war und die Diskussion über deren Ausdehnung auf die weibliche Hälfte der Bürgerschaft im gleichen Zeitraum aufkam wie in anderen Ländern des Kontinents – und sie dennoch als einer der letzten Staaten das Frauenstimmrecht einführte. Die Gründe dafür sind laut Studer und Wyttenbach vielfältig. Aufgrund der direkten Demokratie war die Hürde für die Einführung natürlich höher als in anderen Staaten. Doch es spielten auch soziale und politische Faktoren eine Rolle. So stellen die Autorinnen fest, dass im Verlauf des 20. Jahrhunderts das Frauenstimmrecht in der bürgerlichen Wählerschaft an Zuspruch gewann, während es in der nach links tendierenden Arbeiterschaft an Sukkurs verlor. Deutlich wird auch die Bedeutung der Rolle der politischen Eliten: Hätte sich der Bundesrat nicht erst Ende der 1960er Jahre klar zum Frauenstimmrecht bekannt, hätte sich dieses womöglich schon früher durchgesetzt.

Simon Geissbühler: Amerika – Die politische Idee (Stämpfli)
Europäer haben oft ein schizophrenes Verhältnis zu den USA. Zwar amüsieren wir uns gerne über die amerikanische Konsumsucht oder empören uns über die neueste Absurdität aus Washington. Zugleich übt die amerikanische Idee eine grosse Anziehungskraft auch diesseits des Atlantiks aus. Was aber ist die Essenz der amerikanischen Idee und welche Bedeutung hat sie heute? Simon Geissbühler geht in seinem Buch «Amerika. Die politische Idee» (die Selbstverständlichkeit, mit der die USA mit Amerika gleichgesetzt werden, hat vielleicht auch mit dieser Idee zu tun) diesen Fragen nach. Es ist kein wissenschaftliches Buch, sondern verbindet historische Erzählung mit persönlichen Eindrücken von Reisen und Gesprächen. Der Diplomat, der in den USA studiert und gearbeitet hat, sieht Freiheit, Individualismus, Gleichheit (der Ausgangsbedingungen, nicht der Ergebnisse) und Demokratie als Kern der amerikanischen Idee. Ihre Entstehung ist laut Geissbühler nur aus dem historischen Kontext zu erklären: aus Protestantismus und Aufklärung als geistigen Quellen, aber auch aus der Entwicklung ­einer Nation in einem kaum kontrollierten Gebiet und einer Gesellschaft ohne feudale Tradition. Interessant ist, dass auch die Kritik an den USA viel über die jeweiligen gesellschaftlichen Hintergründe aussagt. Während der Antiamerikanismus heute vor allem im linken Spektrum en vogue ist, waren es im 19. Jahrhundert vor allem Konservative, denen die radikale Auffassung von individueller Freiheit und Chancengleichheit suspekt war.

Idee und Realität klafften und klaffen in den USA immer wieder auseinander, sei es unter der Sklaverei oder in den herunter­gekommenen Industriegebieten, wo die Opioid-Krise für Stagnation und Hoffnungslosigkeit steht. Doch für Geissbühler haben die USA auch immer wieder den ­Optimismus und die Kraft zur Erneuerung bewiesen. Obwohl die amerikanische Idee in den letzten Jahren an Dynamik verloren hat, namentlich aufgrund gesellschaftlicher Spaltung und abnehmender sozialer Mobilität, mag er deshalb nicht in den Chor jener einstimmen, die den Niedergang der USA predigen. «Die Vitalität und Resilienz und der Optimismus Amerikas bleiben – trotz der realen Probleme und Herausforderungen – bewundernswert und ansteckend.»

Jürg Marcel Tiefenthal: «Vielfalt in der Einheit» am Ende? – Aktuelle Herausforderungen des schweizerischen Föderalismus (EIZ)
«Der Bund übernimmt nur die Aufgaben, welche die Kraft der Kantone übersteigen oder einer einheitlichen Regelung durch den Bund bedürfen», verlangt Artikel 43a der Bundesverfassung seit geraumer Zeit, der damit das Föderalismus- und Subsidiaritätsprinzip umschreibt. Der Bund ist verpflichtet, den Kantonen ausreichend eigene Aufgaben zu belassen und einer schleichenden Aushöhlung der kantonalen Aufgabenverantwortung entgegenzuwirken. Doch in der gelebten Praxis werden diese Maximen oft ignoriert und verletzt, wie Staatsrechtler und Bundesverwaltungsrichter Jürg Marcel Tiefenthal in seinem anschaulichen Buch mit dem aufrüttelnden Titel «‹Vielfalt in der Einheit› am Ende?» anhand vier konkreter Bereiche darlegt.

Kompetenzielle Spannungs- und Konfliktfelder, die zwischen Bund und Kantonen zunehmend akzentuiert auftreten, ortet der Autor in so unterschiedlichen Materien wie der individuellen Prämienverbilligung, der Finanzierung der höheren Berufsbildung oder der territorialen bundesstaatliche Organisation (insbesondere Fusion und Abspaltung von Kantonen). Tiefenthal, Experte für Polizei- und Sicherheitsrecht, widmet der inneren Sicherheit ein besonders ausführliches Kapitel. Denn die kantonale Polizeihoheit, eigentlich eine klassische kantonale Domäne, ist bei genauerer Betrachtung unter starkem Druck. Die Gründe hierfür sind äusserst zahlreich und vielfältig: Zentralisierung polizeilicher Aufgaben (Staatsschutz, Nachrichtendienst, Informationssysteme), das Grenzwachtkorps, «Schengen», die extensive Auslegung der Kompetenzen von Militärpolizei und Zivilschutz, die Internationalisierung der polizeilichen Zusammenarbeit bis hin zur Wahrnehmung von Sicherheitsaufgaben durch Private. Akzentuiert werde das problematische «Outsourcing» dieser fundamentalen Staatsaufgabe durch die personellen Unterbestände vieler Polizeikorps.

Nebst der Internationalisierung und der Bundespolitik, die zusehends Kompetenzen an sich ziehe, sieht Tiefenthal aber interessanterweise noch einen weiteren Treiber der kontinuierlichen Aushöhlung des Föderalismus: Die Intensivierung und Institutionalisierung der interkantonalen Zusammenarbeit während der letzten rund 25 Jahren. Interkantonale Konkordate und Konferenzen hätten die Position der Kantone eigentlich stärken sollen, doch die Regierungen hätten sich nur ungenügend für ihre ureigenen Zuständigkeiten stark gemacht. Allzu oft hätten sich die politischen Verantwortungsträger in ihren Entscheidungen von praktischen Zweckmässigkeitsüberlegungen leiten lassen oder auf opportunistische Art gehandelt. – Der Föderalismus findet nur wenige engagierte Fürsprecher in der Wissenschaft (und das kantonale Pandemie-Management dürfte hieran kaum etwas geändert haben). Tiefenthal, der nebst juristischen Argumenten auch die politisch-ökonomische Föderalismusforschung berücksichtigt, legt gerade deshalb ein wichtiges und lesenswertes Plädoyer für die Revitalisierung des Föderalismus vor.

Kilian Meyer / Oliver Herrmann / Stefan Bilger (Hrsg.): Kommentar zur Schaffhauser Verwaltungsrechtspflege (EIZ)
Das Schaffhauser Verwaltungsrechtspflegegesetz (VRG) aus dem Jahr 1971 ist ein wenig in die Jahre gekommen. Dieses «Flickwerk» regelt das Verfahren und das Formelle vor den kommunalen und kantonalen Verwaltungsbehörden – von der Schulbehörde und der Steuerverwaltung bis hin zum Regierungsrat und dem Obergericht. Um das wichtige Verfahrensrecht dennoch heutigen Rechtsuchenden näherzubringen, haben die beiden Oberrichter Kilian Meyer und Oliver Herrmann sowie Staatsschreiber Stefan Bilger erstmals einen «Kommentar zur Schaffhauser Verwaltungsrechtspflege» herausgegeben. Während entsprechende Werke in grösseren Kantonen wie Zürich, Bern oder St. Gallen längst existieren, sind sie für Kleinkantone selten. Wie üblich in Gesetzeskommentaren wird Artikel für Artikel ausführlich erläutert, manchmal die Entstehungsgeschichte skizziert, die Auslegung durch die Gerichte beschrieben, Praxisfälle dokumentiert.

In einem Kleinkanton von einiger Relevanz sind etwa die Ausstandsgründe für Behördenmitglieder. So muss jemand das Entscheidorgan zu verlassen, wenn begründete Bedenken gegen seine Unbefangenheit sprechen. Persönliche Bekanntschaft («Facebook-Freundschaft» oder Duzen), nachbarschaftliche Beziehungen, regelmässige berufliche Kontakte oder das Tragen desselben Parteibuchs genügen hierzu allerdings noch nicht. Eine «Schaffhauser Spezialität» ist die Minderheitsmeinung: Normalerweise sprechen Gerichte in der Schweiz mit einer Stimme. Am Schaffhauser Obergericht dürfen jedoch abweichende Meinungen im Entscheid wiedergegeben werden, was auch einige Male im Jahr vorkomme und für Transparenz in der Rechtsprechung sorge. – Ein besonderes, schillerndes verwaltungsrechtliches Rechtsmittel stellt die abstrakte Normenkontrolle dar. Dank ihr können Betroffene direkt beim Obergericht verlangen, ein Erlass sei zu überprüfen, ob er dem übergeordneten Recht entspreche. Hierdurch können alle Normen der Gemeinden sowie kantonale Verordnungen (nicht aber Gesetze) einer Verfassungsgerichtsbarkeit unterzogen werden.

In den «Perspektiven der Schaffhauser Verwaltungsrechtspflege» schliesslich blickt Kilian Meyer in die Zukunft und skizziert rechtspolitische Reformmöglichkeiten. So könnte das konsensuale Verwaltungshandeln gestärkt werden, indem vermehrt auch mündliche Verhandlungen durchgeführt würden. Andererseits könnte die Kommunikation von Verwaltung und Justiz verbessert werden, von der Publikation der Entscheide bis hin zu einer zugänglicheren Onlinegesetzessammlung. Einige weitere Postulate wie die Ombudsstelle als Vermittlungsstelle zwischen Bürgern und Behörden, die Meldestelle für Whistleblowing sowie die Digitalisierung der Justiz wurden bereits aufgegleist. Einzig das derzeit virulente Thema «Rechtsschutz in Krisenzeiten» wird erstaunlicherweise fast gänzlich ausgespart. – Hinsichtlich Zugänglichkeit und Transparenz beschreitet das gelungene Werk neue Wege: Als schweizweite Premiere wird erstmals ein Gesetzeskommentar nebst der gedruckten Variante auch «open access» publiziert (siehe auch: Von Ausstand bis Zustellung: Schaffhauser Verwaltungsverfahren neu kommentiert).

 

Siehe auch:

Napoleon’s Nightmare-Buchempfehlungen 2020
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2019
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2018
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2017
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2016
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2015

Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2014

 

Von Ausstand bis Zustellung: Schaffhauser Verwaltungsverfahren neu kommentiert

Das Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege regelt das Verfahren vor Schaffhauser Behörden und Obergericht. Zwei Dutzend Schaffhauser Juristen haben nun einen Gesetzeskommentar hierzu verfasst. Das Buch ist frei zugänglich.

Publiziert in den «Schaffhauser Nachrichten» vom 3. Dezember 2021.

Kommentar zur Schaffhauser Verwaltungsrechtspflege. Herausgeber: Kilian Meyer, Oliver Herrmann und Stefan Bilger. Verlag: EIZ Publishing. 2021.

Wer die Schaffhauser Gesetzessammlung durchblättert, findet viele geltende Erlasse aus dem letzten Jahrhundert: Das Datenschutzgesetz von 1994, das Schulgesetz 1981, ein Natur- und Heimatschutzgesetz anno 1968 oder gar das Wahlgesetz mit Jahrgang 1904. Natürlich sind all diese Erlasse längst nicht mehr in der damaligen Erstversion in Kraft. Sie wurden seither regelmässig revidiert und aktualisiert. Dennoch atmen jene Vorschriften oft den Geist jener Tage, muten für die Rechtsunterworfenen zusehends lückenhaft und unverständlich an, ja werden von den anwendenden Behörden teilweise neu interpretiert.

Eines der wichtigeren kantonalen Gesetze feiert dieser Tage ebenfalls bereits seinen 50. Geburtstag, das kantonale Verwaltungsrechtspflegegesetz von 1971. Dieses regelt das Verfahren und das Formelle vor den Schaffhauser Verwaltungsbehörden – von der Schulbehörde und der Steuerverwaltung bis hin zum Regierungsrat und dem Obergericht. Die damals eingeführte, grundsätzlich uneingeschränkte Verwaltungsgerichtsbarkeit stellte eine Pionierleistung dar. Unterdessen hat aber auch dieses Gesetz nach Ansicht eines der Autoren des hier vorzustellenden Buchs seinen Zenit überschritten: «Die Schaffhauser Verwaltungsrechtspflege zeichnet sich durch eine zu Offenheit und Minimalismus neigende Gesetzgebungstechnik aus.»

Saubere Abhilfe schaffen gegen solches «Flickwerk» (so ein anderer Autor) würde natürlich eine Totalrevision. Eine solche ist indes zeitraubend und gelingt auch nicht immer, müsste sie doch die politischen Mühlen des Kantonsrats und eines ungewissen Volksentscheids passieren. Eine elegante Alternative zu diesem Unterfangen legen nun die beiden Oberrichter Kilian Meyer und Oliver Herrmann sowie Staatsschreiber Stefan Bilger mit dem «Kommentar zur Schaffhauser Verwaltungsrechtspflege » vor. Wie üblich in Gesetzeskommentaren wird Artikel für Artikel ausführlich erläutert, manchmal die Entstehungsgeschichte skizziert, die Auslegung durch die Gerichte beschrieben, Praxisfälle dokumentiert. Für die Kommentierungen der 62 Artikel des Verwaltungsrechtspflegegesetzes (VRG) sowie einiger Bestimmungen aus dem jüngeren Justizgesetz wurde das Herausgebertrio von zwei Dutzend Autorinnen und Autoren aus der Schaffhauser Verwaltung, der Gerichte und Advokatur unterstützt.

Kein Ausstand aufgrund Duzens oder Parteibuch

Eine sehr ausführliche Kommentierung durch Oliver Herrmann erfährt Artikel 2 VRG über den Ausstand, der gerade in einem Kleinkanton von einiger Relevanz ist. Ausstandsgründe für Behördenmitglieder sind einerseits natürlich genau vorgegebene Verwandtschaftsgrade mit Verfahrensparteien. Andererseits hat das Entscheidorgan zu verlassen, wenn begründete Bedenken gegen seine Unbefangenheit und Unparteilichkeit sprechen. Persönliche Bekanntschaft («Facebook-Freundschaft» oder Duzen), nachbarschaftliche Beziehungen, regelmässige berufliche Kontakte oder das Tragen desselben Parteibuchs genügen für sich allein genommen allerdings noch nicht. Anders sehe es indes aus bei aktiver Mitgliedschaft in gleichen Interessengruppen wie studentischen Verbindungen oder Service-Clubs.

Eine «Schaffhauser Spezialität», die Minderheitsmeinung, präsentiert Kilian Meyer (Artikel 55 Justizgesetz). Normalerweise sprechen Gerichte in der Schweiz stets mit einer Stimme, unterlegene Richter im Spruchkörper fügen sich also der Mehrheitsmeinung. Ähnlich der angelsächsischen Common-Law-Tradition dürfen am Schaffhauser Obergericht jedoch abweichende Meinungen im Entscheid wiedergegeben werden, was auch einige Male im Jahr vorkomme und für Transparenz in der Rechtsprechung sorge. Unterschiedliche Auffassungen manifestierten sich in letzter Zeit etwa zur Einschätzung der Gefährlichkeit von Hunden oder bei politischen Rechten.

Spezialität abstrakte Normenkontrolle

Ein besonderes, schillerndes verwaltungsrechtliches Rechtsmittel stellt Beat Sulzberger, vormals leitender Gerichtsschreiber am Obergericht, vor: die abstrakte Normenkontrolle (Artikel 51 ff. VRG). Dank diesem Instrument können Betroffene – meist die gesamte Bevölkerung – direkt beim Obergericht ein Gesuch stellen, ein Erlass sei zu überprüfen, ob er dem übergeordneten Recht entspreche. Hierdurch können alle Normen der Gemeinden sowie kantonale Verordnungen (nicht aber Gesetze) einer Verfassungsgerichtsbarkeit zugeführt werden. Schweizweit ziemlich einmalig ist hier, dass diese Überprüfung jederzeit, ohne irgendwelche Fristen beantragt werden kann.

Abgerundet wird der 644 Seiten starke Gesetzeskommentar mit zwei weiteren Beiträgen. Der ehemalige Oberrichter Arnold Marti beschreibt die Geschichte der Schaffhauser Verwaltungsrechtspflege vom Ancien Régime bis heute. Er knüpft damit an seine Dissertation an, die er vor bald 40 Jahren zum nämlichen Thema verfasste. Marti konstatiert einen gut ausgebauten gerichtlichen Rechtsschutz, der indes in letzter Zeit eher durch das übergeordnete Recht ausgebaut worden ist (nationale Justizreform, Grundrechtsschutz und Verfahrensgarantien durch Bundesgericht und EMRK) als durch eigene, kantonale Weiterentwicklungen.

Strauss an Reformmöglichkeiten

Im hervorragenden Aufsatz «Perspektiven der Schaffhauser Verwaltungsrechtspflege» schliesslich blickt Herausgeber Kilian Meyer in die Zukunft und skizziert einen ganzen Strauss von rechtspolitischen Reformmöglichkeiten – Pflichtlektüre für unsere Behördenvertreterinnen und -vertreter sowie Kantonsrätinnen und Kantonsräte! Einerseits könnte das konsensuale Verwaltungshandeln gestärkt werden, indem beispielsweise vermehrt auch mündliche Verhandlungen durchgeführt würden. Andererseits könnte die Kommunikation von Verwaltung und Justiz verbessert werden, von der Publikation der Entscheide (viele im Buch zitierte Urteile sind nirgends veröffentlicht) bis hin zu einer zugänglicheren Onlinegesetzessammlung. Einige weitere Postulate wie die Ombudsstelle als Vermittlungsstelle zwischen Bürgern und Behörden, die Meldestelle für Whistleblowing sowie die Digitalisierung der Justiz wurden bereits aufgegleist.

«Die Kommentierung achtet auf eine gut verständliche Sprache», heben die Herausgeber in der Einleitung hervor. Auch wenn sich die Publikation naturgemäss primär an Juristinnen und Verwaltungsmitarbeiter richtet, ist der praktisch durchgehend angenehme und dennoch exakte Sprachstil hervorzuheben. Da und dort hätte der Leser noch mehr konkrete, illustrierende Beispiele aus der Verwaltungspraxis gewünscht; einige Autoren verzichten hierauf leider. Auch das derzeit virulente Thema «Rechtsschutz in Krisenzeiten» wird erstaunlicherweise fast gänzlich ausgespart. Das ansonsten rundum gelungene Werk ist mit einem aus- führlichen Sachwortregister und einer praktischen Checkliste für erfolgreiche Rechtsschriften ergänzt. Hinsichtlich Zugänglichkeit und Transparenz beschreitet es gar neue Wege: Als schweizweite Premiere wird erstmals ein Gesetzeskommentar nebst der gedruckten Variante auch «open access» publiziert und steht damit allen Rechtsuchenden und Interessierten ab sofort kostenlos zur Verfügung.

Download unter: https://eizpublishing.ch

 

Napoleon’s Nightmare-Buchempfehlungen 2020

Die Redaktion von «Napoleon’s Nightmare» stellt ein gutes Dutzend empfehlenswerte Neuerscheinungen des Jahres 2020 vor. Die Publikationen blicken in die Vergangenheit mit dem Unruheherd Bundesrat oder dem Jurakonflikt, in die Gegenwart mit dem Rahmenabkommen und der Coronakrise sowie in die Zukunft mit Diskussionsanstössen zur Demokratie.

Von Claudio Kuster und Lukas Leuzinger

 

Urs Altermatt: Vom Unruheherd zur stabilen Republik – Der schweizerische Bundesrat 1848–1875 (NZZ Libro)
Bekannt ist Urs Altermatt vor allem für das «Bundesratslexikon»; das Standardwerk ist vergangenes Jahr in vollständig überarbeiteter und aktualisierter Auflage erschienen. Als Ergänzung zu den Kurzbiografien aller Bundesratsmitglieder seit 1848 legt der Freiburger Historiker mit «Vom Unruheherd zur stabilen Republik» nun den ersten Band eines Werks vor, das die Bundesräte in die politischen Themen und Entwicklungen ihrer Zeit einordnet.

Das Buch erzählt die Entstehung und Entwicklung des schweizerischen Bundesstaats und seiner sonderbaren Regierungsform bis zur Verfassungsrevision von 1874 grob chronologisch. Dabei wird der Leser daran erinnert, dass von der an Langeweile grenzende Stabilität des Bundesrats im 20. und 21. Jahrhundert zu den Anfangszeiten nichts zu spüren war. Die Konkordanzkultur funktionierte mehr schlecht als recht (in Bezug auf die katholische Minderheit sowieso) und die Bundesratswahlen waren geprägt von Intrigen und offenen Machtkämpfen. Auch der Streit über die Revision der Bundesverfassung sorgte für Unruhe und sogar den Rücktritt eines Bundesrats (Jakob Dubs 1872). Laut Altermatt werden diese Konflikte gerne ausgeblendet, weil sie nicht in die «Meistererzählung» passten, «die Politiker und Publizisten seit dem 19. Jahrhundert für die Entstehung des helvetischen Konsenses konstruiert haben».

Das Buch ist aber nicht nur lehrreich, sondern immer wieder auch unterhaltsam. So erfährt man, dass die Bundesräte ab den 1860er Jahren regelmässige «Bundesratsabende» durchführten, um die Kollegialität zu fördern. Über den Sinn solcher geselliger Treffen gingen die Meinungen freilich auseinander. So ärgerte sich der Berner Bundesrat Schenk in seinem Tagebuch über die ausufernden Würfelspiele: «Es wird mir bald unangenehm, weil es eine nutzlose Zeitverschwendung ist und weil es zu grösseren Ausgaben führt, als mir lieb ist.» Vielleicht würde es nicht schaden, wenn heutige Magistraten ihr Konkurrenzdenken bei gelegentlichen Würfelrunden auslebten statt im politischen Alltag.

Adrian Vatter: Der Bundesrat – Die Schweizer Regierung (NZZ Libro)
Ein weiteres Buch über den Bundesrat, wenn auch aus gänzlich anderer Perspektive, legt der Berner Politikwissenschafter Adrian Vatter vor. Im Gegensatz zu Altermatt fokussiert er nicht auf die historische Erzählung, sondern auf die wissenschaftliche Untersuchung der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit. Sein Anspruch macht dabei bereits der Titel klar: «Der Bundesrat» soll das Standardwerk über die Schweizer Regierung sein. Entsprechend breit geht er an sein Forschungsobjekt heran: Von der politikwissenschaftlichen Einordnung im internationalen Vergleich über die Wahlchancen in Abhängigkeit verschiedener Faktoren bis zur Analyse der Persönlichkeitsmerkmale der Bundesratsmitglieder wird alles abgedeckt. Selbst die Auftritte der Magistraten auf den Titelseiten der «Schweizer Illustrierten» und «L’Illustré» werden analysiert (wobei Adolf Ogi obenaus schwingt).

Neben dieser Breite (die leider zuweilen auf Kosten der Tiefe geht) hebt sich Vatters Buch auch dadurch ab, dass dafür eine schriftliche Umfrage unter sämtlichen amtierenden und noch lebenden ehemaligen Bundesratsmitglieder durchgeführt wurde, ergänzt durch rund ein Dutzend mündlicher Interviews. Auf Basis dieser Befragungen sowie weiteren Quellen kategorisiert Vatter die Bundesräte in sechs unterschiedliche Typen (z.B. «Regenten», «Verwalter» oder «Populäre»). Diese Typologisierung ist der öffentlichen Aufmerksamkeit für das Buch zweifellos nützlich, auch wenn ihr wissenschaftlicher Wert in Zweifel gezogen werden kann.

Insgesamt ist «Der Bundesrat» eine eindrückliche Übersicht über die Zusammensetzung der Schweizer Regierung und ihrer Funktionsweise. Wer sich regelmässig mit dem Bundesrat befasst, dem wird das Buch auf Jahre hinaus als Nachschlagewerk und Analyseinstrument wertvolle Dienste leisten.

Corsin Bisaz: Direktdemokratische Instrumente als «Anträge aus dem Volk an das Volk» – Eine Systematik des direktdemokratischen Verfahrensrechts in der Schweiz (Dike)
Corsin Bisaz (Zentrum für Demokratie Aarau/Universität Zürich) hat für den Titel seiner Habilitationsschrift eine so schöne wie passende, alte bundesgerichtliche Umschreibung des Volksinitiativrechts ausgegraben: «Anträge aus dem Volk an das Volk». Seine umfangreiche Untersuchung systematisiert das Verfahrensrecht der direktdemokratischen Instrumente in der Schweiz, von der Bundesebene über die Kantone bis tief hinein in die unterschiedlichsten kommunalen Formen der unmittelbaren Demokratie.

Im ersten Teil («Das Volk») wird das Subjekt des direktdemokratischen Verfahrens angesprochen: Wie ist das Stimmvolk als Staatsorgan zusammengesetzt? Wem genau kommt das Antrags-, Beratungs- und Beschlussrecht zu? – Der zweite Teil («Der Antrag») beleuchtet die mannigfaltigen Antragsarten, also Ordnungsanträge (beispielsweise Rückweisung des Geschäfts oder Schluss der Diskussion, aber auch die Volksinitiative auf Totalrevision der Verfassung oder das Referendumsrecht) auf der einen und Sachanträge auf der anderen Seite. Letztere sind etwa bekannt als Einzelinitiative an der Gemeindeversammlung, als Memorialsantrag an der Landsgemeinde oder als klassische Volksinitiative auf Teilrevision der Verfassung. Hier werden auch die Gültigkeitserfordernisse von Anträgen systematisiert, von Bekannterem (Einheit der Materie, Beachtung übergeordneten Rechts) über Speziellerem (Präzise Formulierung) bis hin zu Fragwürdigem (Einheit der Form, die bloss Probleme löst, die sie selbst erst schafft).

Teil 3 widmet sich dem Verfahren der direktdemokratischen Instrumente, vom Vorprüfungsverfahren über Unterschriftensammlungen und Gültigkeitsprüfungen bis hin zu Abstimmungsempfehlungen. Zuletzt (vierter Teil: «Die Beschlussfassung») wird die Art der Stimmabgabe sowie die verschiedenen Typen von Volksabstimmungen untersucht (Grundsatz-, Eventual-, Variantenabstimmung usw.). Hier wird ein besonderes Augenmerk auf die Herausforderungen bei Antragshäufung gelegt, wie also abgestimmt wird (oder werden sollte), wenn mehr als ein Antrag vorliegt. – Zum Schluss (fünfter Teil) wird die Natur und der Inhalt des Organakts Volksentscheid kurz umrissen.

Die eigentliche Stärke, ja das Novum des Buchs liegt darin, dass die direktdemokratischen Instrumente in ihrer Gesamtheit rechtsdogmatisch einheitlich erfasst und nicht in den sonst üblichen Dualismus Versammlungssystem/Urnendemokratie separiert werden («Heute liegen die direktdemokratischen Instrumente und Verfahren durch ihre Ausdifferenzierung merkwürdig isoliert nebeneinander.»). Dadurch, dass Bisaz die wesentlichen verfahrensrechtlichen Aspekte direkter Demokratie herausstellt, können darauf basierend Leitplanken für allfällige Weiterentwicklungen direktdemokratischer Verfahren aufgezeigt werden. Zu denken ist hier insbesondere an die etwaige Digitalisierung der direkten Demokratie, die letztlich ebenfalls Elemente (aber auch Nachteile und Gefahren) sowohl der Versammlungs- als auch der Urnendemokratie aufgreifen können wird.

Nadja Braun Binder / Thomas Milic / Philippe E. Rochat: Die Volksinitiative als (ausser-)parlamentarisches Instrument? – Eine Untersuchung der Parlamentsmitglieder in Initiativkomitees und der Trägerschaft von Volksinitiativen (ZDA/Schulthess)
Wie viel «Volk» steht eigentlich in den hiesigen Volksinitiativen? Staatsrechtsprofessorin Nadja Braun Binder und die beiden Politikwissenschafter Thomas Milic und Philippe E. Rochat wollten genauer erfahren, welche Akteure die direkte Demokratie effektiv nutzen. In ihrer aufwendigen empirischen Studie analysieren und kategorisieren sie hierzu hunderte Initiativkomitees seit den 1970er Jahren respektive die einzelnen Mitglieder deren, um auf dieser Basis schliesslich diverse quantitative Aussagen zu den Urhebern abzuleiten.

Acht von zehn lancierten Initiativen stammen entweder von Parteien oder etablierten Verbänden und Organisationen. Das «Volk» demgegenüber ist weit seltener direktdemokratisch aktiv: Ausserparlamentarische, zivilgesellschaftliche Gruppierungen stehen nur gerade hinter 17 Prozent aller Volksbegehren. Besonders initiativfreudig sind die (Bundes-)Parlamentarier der SP: In jedem dritten Initiativkomitees sind SP-Parlamentarier vertreten. SVP- und Grüne-Parlamentarier sind ebenfalls relativ oft als Urheber von Volksinitiativen anzutreffen (in jeder vierten Initiative vertreten). Parlamentsmitglieder in den eigenen Reihen zu haben, scheint zu helfen: Komitees mit Parlamentariern bringen zu 77 Prozent ihre Initiative zustande, während solche rein zivilgesellschaftlicher Provenienz nur gerade zu 36 Prozent die Hürde der Unterschriftensammlung meistern.

Dass die Parteien so oft zu diesem Instrument greifen, mag erstaunen, hält man sich vor Augen, dass die SP, die Grünen, die FDP und die CVP noch kein einziges ihrer als «Parteiinitiative» kategorisierter Begehren erfolgreich durch die Volksabstimmung brachten. Diese Diskrepanz hat verschiedene Gründe: Zum einen dienen Initiativen auch anderen (Profilierungs-)Zwecken, Zum anderen forcieren sie oftmals Gegenvorschläge. – Die an der Urne erfolgreichste Partei ist die SVP, was insofern erstaunlich ist, als die grösste Partei erst seit dem EWR-Nein überhaupt davon Gebrauch macht. Ein paar Jahre vorher wollte sie das Volksrecht in dieser Form gar noch abschaffen.

Matthias Lanz: Bundesversammlung und Aussenpolitik – Möglichkeiten und Grenzen parlamentarischer Mitwirkung (Dike)
Die Aussenpolitik ist traditionelle Domäne der Regierung. Durch die Internationalisierung haben sich zudem in den letzten Jahrzehnten wichtige Entscheidprozesse von der Staats- auf bilaterale oder gar globale Ebene verschoben – man denke nur an die Europapolitik, diverse Freihandelsverträge oder den Uno-Migrationspakt. Auch wenn der Bundesrat die Schweiz nach aussen vertritt und die auswärtigen Angelegenheiten besorgt, sind hier dem Parlament die Hände keineswegs gebunden: «Die Bundesversammlung beteiligt sich an der Gestaltung der Aussenpolitik […]» – so räumt die Bundesverfassung in Artikel 166 der Legislative ein Mitwirkungsrecht ein. Matthias Lanz (Universität Bern) systematisiert in seiner rechtswissenschaftlichen Dissertation das erstaunlich mannigfaltige Instrumentarium, das Nationalrätinnen und Ständeraten offensteht, um aussenpolitischen Einfluss zu üben.

Einerseits stehen dem Parlament die Stammfunktionen wie die Rechtsetzung, die Finanzkompetenzen, die Oberaufsicht und die verschiedenen Vorstossarten zur Verfügung, die es allesamt vermehrt für aussenpolitische Fragen einsetzt. Ein Nischendasein fristet, auch in diesem Bereich, die politische Planung (wie Grundsatzbeschlüsse oder die Legislaturplanung), die praktisch kaum fruchtbar gemacht wird. Andererseits existieren diverse spezifische parlamentarische Kompetenzen in der Aussenpolitik wie die Genehmigung von völkerrechtlichen Verträgen, das Informations- und Konsultationsrecht der Aussenpolitischen Kommissionen oder die ständigen Delegationen der Bundesversammlung (etwa für EFTA/EU, Europarat oder OSZE). – Lanz zeigt die Möglichkeiten, aber auch Grenzen der parlamentarischen Mitwirkung anschaulich auf. Leider problematisiert er unnötigerweise den punktuellen Gebrauch des Motionsrechts, mit dem das Parlament, die oberste Gewalt im Bund, dem Bundesrat Aufträge erteilen kann – auch in der Aussenpolitik.

Felix E. Müller: Kleine Geschichte des Rahmenabkommens – Eine Idee, ihre Erfinder und was Brüssel und der Bundesrat daraus machten (NZZ Libro)
Um das institutionelle Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der EU ist es im vergangenen Jahr ziemlich ruhig geworden – die Pandemie hat hüben wie drüben andere Probleme in den Vordergrund gerückt. Felix E. Müller (ehemaliger Chefredaktor der «NZZ am Sonntag») hat diese Ruhe vor dem Sturm genutzt und in seiner «Kleinen Geschichte des Rahmenabkommen» die Entstehungsgeschichte dieses Ende 2018 veröffentlichten Vertragsentwurfs recherchiert. Dabei konnte er auf die Erfahrungen und das Wissen diverser involvierter Diplomaten (wie Michael Ambühl, Roberto Balzaretti und Yves Rossier) und der beiden alt Bundesräte Johann Schneider-Ammann und Micheline Calmy-Rey zurückgreifen – Letztere hat gar ein ausführliches Vorwort beigesteuert.

Das Rahmenabkommen wurde nicht, wie vielleicht breite Kreise annehmen, von Brüsseler Technokraten ersonnen, sondern ist ursprünglich eine genuin helvetische Idee: Bereits Ende der 1990er Jahre hat eine Genfer «Groupe de réflexion» um den ehemaligen Ständerat Franz Muheim (UR, CVP) ein Assoziationsabkommen skizziert und dieses später in den politischen Prozess eingespiesen. Die Motivation dahinter war, den damals eingeleiteten Bilateralismus (der aus Sicht der EU ja nur ein Übergangsregime zum Vollbeitritt darstellte!) langfristig abzusichern. Teilweise wurde damit aber auch eine politische Integration angestrebt. Erst viel später konnte sich dann auch die EU mit dieser Idee anfreunden, zumal sie darin einen Hebel erkannte, um die stetige Aktualisierung der bestehenden Verträge zu vereinfachen und den Binnenmarkt zu homogenisieren. – Herausgekommen sei unterdessen aber ein Abkommen, das sichtlich von den Erwartungen und Zielen abweiche, die dessen Vordenker um das Jahr 2000 formuliert hatten. Der damalige Ständerat Philipp Stähelin reichte damals als erster einen Vorstoss ein, um einen Rahmenvertrag für die zukünftigen bilateralen Verträge mit der EU auszuloten. Heute gebe er zu bedenken, man habe damals an ein ganz anderes Abkommen gedacht als dasjenige, das nun vorliege. Es sei ihnen um eine Art Steuerungsmechanismus gegangen, um einen Standard, um einheitliche Prozeduren und Abläufe. Im nun vorliegenden Vertragsentwurf habe es demgegenüber viel mehr Inhaltliches. Er spielt damit auf die aktuellen materiellen Diskrepanzen wie die flankierenden Massnahmen/Lohnschutz, Unionsbürgerrichtlinie und Staatsbeihilfen an.

Müller schliesst sein nüchternes und dennoch spannendes Büchlein ohne Empfehlung zum Vertragsentwurf. Früher oder später werde der Entscheid von einer Kosten-Nutzen-Rechnung abhängen, die das Schweizer Volk werde vornehmen müssen. «Es wird ein Entscheid sein, der die Furcht vor drohenden wirtschaftlichen Nachteilen gegen Bedenken über souveränitätsrechtliche Einschränkungen abzuwägen hat. Die Schweiz ist ja in ihrem Verhältnis zur EU stets hin und her gerissen zwischen diesen beiden Aspekten, was auch erklären dürfte, weshalb ihre Haltung in der ganzen Diskussions- und Verhandlungsphase um ein Rahmenabkommen nie sehr kohärent war.»

Oliver Zimmer: Wer hat Angst vor Tell? – Unzeitgemässes zur Demokratie (Echtzeit)
Als Schweizer Geschichtsprofessor, der an der Oxford University lehrt, ist Oliver Zimmer nicht der naheliegendste Autor, um eine Fundamentalkritik an den liberalen Eliten und der «Hyperglobalisierung» zu üben. Andererseits verleiht sein persönlicher Hintergrund seinem neuen Buch auch eine gewisse Glaubwürdigkeit. «Wer hat Angst vor Tell?» ist eine provokative Kritik dessen, was Zimmer als «neuen Liberalismus» bezeichnet, der einen «Hang zu technokratischen Lösungen mit einem auf das Individuum und seine Rechte zentrierten Supranationalismus» verbindet und seine Anhängerschaft in einer «Allianz von Geld und Geist» findet. Die Idee einer einheitlichen globalistischen Ideologie, welche die Politik dominiert, wirkt etwas konstruiert, zumal die Politik in westlichen Demokratien in den vergangenen Jahren nicht eine sonderlich liberale Richtung eingeschlagen hat.

Letztlich geht es Zimmer aber um etwas anderes, nämlich um das schwierige Verhältnis des Liberalismus zur Demokratie. Er stellt fest, dass «ein republikanischer Liberalismus, der auf demokratische Teilnahme und bürgerliche Verantwortung setzt, (…) fast überall zur gefährdeten Spezies geworden» ist. Der Bezug auf Wilhelm Tell im Titel verweist darauf, dass liberale Freiheitsrechte für Zimmer notwendigerweise in einer kollektiven Gemeinschaft verwurzelt und verankert sein müssen. Hier setzt seine Kritik am «neuen Liberalismus» an, der den Nationalstaat als vormodern und moralisch defizitär verachtet, während er supranationale Institutionen wie die EU mit der selben mythologischen Verklärung betrachtet, die er am Nationalismus belächelt. Anhand von Beispielen wie der Rechtsprechung des EuGH und des EGMR zeigt er auf, wie unter Berufung auf höhere Zwecke die Demokratie auf nationalstaatlicher Ebene unterhöhlt wird. Als mögliches Gegenmodell tönt Zimmer einen Konservatismus an, der «‹progressive›, nach ‹Europa› und ‹zur Welt› hin führenden Mythenerzählungen genauso ab[lehnt] wie die nationalistischen, die uns im ‹nationalen Reduit› verewigen wollen».

Beat Kappeler: Der Superstaat – Von Bürokratie und Parteizentralen und wie man den schlanken Staat zurückgewinnt (NZZ Libro)
Regierungen erpressen Parlamente und hebeln die Gewaltenteilung aus, Politiker delegieren schleichend Kompetenzen an inter- und supranationale Organisationen, Zentralbanken spannen mit der Politik zusammen und öffnen die Geldschleusen, um deren Schulden zu bezahlen oder zu entwerten. Die Vorgänge der jüngeren Vergangenheit in westlichen Demokratien sind beunruhigend. Gemeinsam ist ihnen, dass die Macht konzentriert und zentralisiert wird. Die Staatsmacht dehnt sich aus, während sie sich immer mehr vom Bürger und seiner Kontrolle entfernt. Das ist die Kernthese des Publizisten Beat Kappeler in «Der Superstaat». Wie man es von seinen früheren Kolumnen gewohnt ist, kritisiert und analysiert er mit spitzer Feder den Ausbau der Staatsmaschinerie. Dabei taucht er tief in diese Maschinerie ein und beschreibt etwa die Auswirkungen der Vertrauensfrage, die als Kontrollinstrument des Parlaments gegenüber der Regierung gedacht war, tatsächlich aber der Regierung hilft, dem Parlament ihren Willen aufzudrücken. Oder die Macht der Parteizentralen, die oft die Zusammensetzung der Parlamente und Kabinette bestimmen. Oder die Tendenz internationaler Gremien und Organisationen, den eigenen Auftrag auszuweiten.

Gegen diese Tendenzen helfen laut Kappeler institutionelle Regeln. So reduziert die Möglichkeit des Panaschierens auf Wahllisten die Macht der Parteizentralen, und das Proporzsystem bricht die Macht selbst der stärksten Parteien, Entscheide allein durchzudrücken. Ein explizites Verbot von Staatsfinanzierung über die Notenpresse würde die Politik zwingen, die Verantwortung für Schulden nicht auf die Notenbanken abzuschieben.

Tamara Ehs: Krisendemokratie – Sieben Lektionen aus der Coronakrise (Mandelbaum)
Tamara Ehs (Politikwissenschafterin an der Universität Wien und selbstständige Beraterin für mehr Demokratie in österreichischen Städten und Gemeinden) zeigt in ihrem Essay «Krisendemokratie» auf, wie sich die ersten Monate der Pandemie auf Österreichs Demokratie und Rechtsstaat ausgewirkt haben. Die Akutphase der Covid-Krise habe «wie ein Brennglas den Blick auf die Stärken und Schwächen der österreichischen Demokratie ermöglicht. Wo es gute Routinen gab, funktionierten die Abläufe auch im Stress der Ausnahmesituation. Jene Bereiche, in denen das politische System aber schon im Regelzustand holprig läuft, gerieten in der Krise zum Stolperstein.» In sieben kurzen Lektionen legt Ehs ihren Finger auf Problembereiche wie der heruntergefahrene Parlamentsbetrieb und die schludrige Gesetzgebungsarbeit, die mangelnde Transparenz der Entscheidungsgrundlagen sowie die Angst- und Kriegsrhetorik der Regierung Sebastian Kurz. Weiter bemängelt sie die zahlreichen grundrechtlichen Eingriffe in die Demonstrationsfreiheit, die Medienarbeit sowie Demokratiedefizite wie verschobene Wahlen.

Welche strukturellen Massnahmen wären nun im politischen System Österreichs gemäss der Autorin zu ergreifen? Tamara Ehs plädiert etwa für mehr parlamentarische Minderheitenrechte und dadurch ein neues Selbstbewusstsein des Parlaments gegenüber der Regierung, die Einrichtung von Bürgerräten als konsultative Erweiterung des repräsentativen Systems, die gesetzliche Verankerung und Konkretisierung der Informationsfreiheit und von Transparenzvorschriften, die Schaffung einer qualitätsorientierten Medienförderung oder auch die bessere personelle Ausstattung der demokratischen Institutionen. Im Grunde gehe es um «eine die Krise überdauernde Anerkennung von ‹mehr Staat› als Basis einer gerechten, auf Ausgleich bedachten Gesellschaft, die die sozialen Voraussetzungen von Demokratie» schaffe.

Der Essay ist auch aus Schweizer Sicht lesenswert, weil die meisten – aber nicht alle – demokratiepolitischen und rechtsstaatlichen Probleme auch hierzulande virulent geworden sind. Man fragt sich einzig, wieso Ehs in ihren Reformansätzen letztlich trotz allem ihren Blick vom rein repräsentativen System nicht auch hin zur direktdemokratischen Variante weitet – wenn nicht in Österreich, wo sonst?

Andreas Kley: Verfassungsgeschichte der Neuzeit – Grossbritannien, die USA, Frankreich und die Schweiz (Stämpfli)
Andreas Kley (Professor für öffentliches Recht, Verfassungsgeschichte sowie Staats- und Rechtsphilosophie an der Universität Zürich) legt seine «Verfassungsgeschichte der Neuzeit» in vierter Auflage neu auf. Wie dem Untertitel zu entnehmen ist, konzentriert sich das Buch auf die Entstehung und Entwicklungen der Verfassungen Grossbritanniens, der USA, Frankreichs und der Schweiz. Dass gerade diese Staaten konstitutionell untersucht werden, ist natürlich kein Zufall, handelt es sich hier doch um die zentralen Schauplätze des «atlantischen Kreislaufs moderner Staatsideen», wie ihn vor geraumer Zeit Alfred Kölz in seiner Verfassungsgeschichte hervorgehoben hat. Konsequenterweise wurde so auch gegenüber der Vor-Auflage der Teil «Deutschland» weggelassen.

Verfassungsgeschichte, so Kley im einleitenden, eher anspruchsvollen Methodik-Teil, sei «immer auch politische Ideengeschichte». Jedoch sei sie «nicht der Ort für Superlative in dem Sinne, dass ein Gedanke oder die Idee einer Institution ‹zum ersten Mal› geäussert worden ist». Festzustellen, wer der Erste war, sei nicht sinnvoll, verlaufe die Rezeption von Ideen nicht in einer einzigen Richtung und gradlinig, sondern flächenartig vernetzt, und die Übertragungswege liessen sich nur schwer ausmachen. Kley hält sich daher wenig bei einzelnen Akteuren auf, zeigt dafür die Verfassungswerdung im jeweiligen aussen- und innenpolitischen und insbesondere sozialen Kontext auf.

Das Standardwerk ist aus einem Vorlesungsskript entstanden, das sich da und dort noch bemerkbar macht. So werden die einzelnen Teile jeweils mit einer übersichtlichen Zeittafel und einem Katalog aus anspruchsvollen Fragen abgerundet. Es richtet sich aber keineswegs nur an Jusstudenten, sondern an eine breite verfassungsgeschichtlich interessierte Leserschaft.

René Roca (Hrsg.): Naturrecht und Genossenschaftsprinzip als Grundlage für die direkte Demokratie (FIDD)
Nachdem das Forschungsinstitut direkte Demokratie in einer ersten Trilogie von Konferenzen die Bedeutung von Katholizismus, Liberalismus und Frühsozialismus für die direkte Demokratie untersuchte, haben sich zwei weitere Tagungen dem Naturrecht sowie dem Genossenschaftsprinzip angenommen. Die wichtigsten Vorträge der letzten beiden Konferenzen sind im von Tagungsleiter und Historiker René Roca herausgegebenen Doppel-Tagungsband zu finden.

Das Naturrecht ist ein schillerndes Ordnungsprinzip mit Bezügen zur Philosophie, Recht, Ethik und Theologie. Der Begriff bezeichnet jenes Recht, das dem vom Menschen selbst geschaffenen Recht vorgelagert und übergeordnet ist – daher auch «überpositives Recht» genannt. Im Wesentlichen umfasst es jene Grundsätze, die für das menschliche Zusammenleben unabdingbar sind. Das Naturrecht, sei es religiös oder rational begründet, ist damit Vorläufer und Grundlage der Menschenrechte, aber auch des Völkerrechts. In ihren Vorträgen nähern sich Alfred Dufour, René Roca, Moritz Nestor und Christian Machek unterschiedlichen Aspekten des Naturrechts an. Hervorzuheben – der Tagungsort war schliesslich Neuchâtel – ist die Westschweizer Naturrechtsschule und ihr Vertreter Emer de Vattel, die im 18. Jahrhundert eine massgebliche Rolle spielten.

Eine weitere wichtige Grundlage für die Entstehung der direkten Demokratie der Schweiz ist das Genossenschaftsprinzip. Die jahrhundertealte Form kollektiver Selbstverwaltung verbreitete sich ursprünglich vor allem in voralpinen und Gebirgsregionen für landwirtschaftliche Zwecke (Allmenden, Alpkorporationen, Talgenossenschaften usw.), wie René Rocas Beitrag aufzeigt. Später, im Kontext der Industrialisierung erfasste die Genossenschaftsbewegung weitere Bereiche wie den Handel (Konsumvereine, heute Coop und Volg), den Wohnungsbau sowie das Spar- und Kreditwesen (Raiffeisen). Wolf Linder zeigt inhaltliche Parallelen zwischen dem Genossenschaftsprinzip und der direkten Demokratie auf: Beide «Aussenseiter-Systeme» fussen auf der Idee «Eine Person, eine Stimme», beide sind stark ans Lokale gebunden und stellen dadurch einen Kontrapunkt zur Hyperglobalisierung dar. Pirmin Meier durchforstet die Schweizer Literatur nach Referenzen zum Genossenschaftswesen und wird fündig bei Zschokke, Gotthelf, Keller und Federer.

Schaffner Furcht vor dem VolkMartin Schaffner: Furcht vor dem Volk (Schwabe)
Martin Schaffner, emeritierter Historiker (Universität Basel), legt mit «Furcht vor dem Volk» eine Sammlung von acht Essays vor, die während 20 Jahren seines Schaffens zur Demokratiegeschichte Europas und der Schweiz entstanden sind. Im zentralen Beitrag «Direkte Demokratie: ‹Alles für das Volk – alles durch das Volk›» fokussiert Schaffner auf die drei Knotenpunkte der Schweizer Geschichte des 19. Jahrhunderts: die Umwälzungen von 1830/31, den Aufruhr von 1839–1841 sowie die Demokratische Bewegung(en) der 1860er Jahre. «Die Volksbewegungen der Jahre 1839–1841 wandten sich gegen die repräsentative Demokratie liberaler Prägung, wie sie nach 1830 in ihren Kantonen verwirklicht worden war, und gegen die Regierungen, die damals an die Macht gekommen waren.» Und schliesslich durchlief ab 1862 eine dritte Welle politischer Mobilisierung die schweizerischen Kantone, verlangten Tausende von Bürgern die Neuordnung der staatlichen Entscheidungsverfahren. Die Demokratische Bewegung habe damit das politische System der Schweiz in seiner noch heute bestehenden Grundform begründet.

Ein weiterer lesenswerter Essay «Rousseau und Condorcet über das Volk in der Französischen Revolution» stellt die beiden Demokratiekonzeptionen dieser zwei namhaften politischen Philosophen gegenüber. Dasjenige Condorcets «setzte auf die einzelnen Bürger, billigte ihnen individuelle Interessen zu und definierte Verfahren, durch welche aus unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Präferenzen ein staatlicher Gemeinwille entstehen, eine vernünftige Gesetzgebung entstehen konnten». Der Verfahrensdimension kam also zentrale Geltung zu, die Bürger sollten ihren Willen wirksam ausdrücken können; massgeblich war das Mehrheitsprinzip. Kontrastierend dazu stehe Rousseaus Demokratiemodell, das das Volk als homogenen politischen Körper betrachte und in dem Repräsentanten (also Parlamente) nicht vorgesehen waren.

In seinem letzterschienenen Aufsatz «Krise der Demokratie – Krise der Demokratiegeschichte» reflektiert Schaffner schliesslich die Historiographie und ihren Beitrag zum derzeitigen Demokratiediskurs: Er bedauert, dass die Einsichten, welche die hiesige Demokratieforschung der letzten Jahrzehnte erarbeitet hat, bisher keinen Widerhall in den aktuellen politischen Debatten gefunden hätten. – Das Fazit, das sich letztlich aus dem Werk von Martin Schaffner ziehen lässt, kann in seinen Worten wie folgt resümiert werden: «Nicht den liberalen und radikalen Eliten der Kantone und des Bundesstaats waren die Errungenschaften der Demokratie zu verdanken, sondern dem Druck von Volksbewegungen, welche Instrumente wie die Gesetzesinitiative und das Referendumsrecht gegen den Widerstand der Eliten erzwungen hatten.»

Christian Moser: Der Jurakonflikt – Eine offene Wunde der Schweizer Geschichte (NZZ Libro)
Der 26. Kanton der Schweiz, der Jura, existiert seit 42 Jahren. Der damaligen Sezession vom Kanton Bern zugrundeliegende Jurakonflikt schwelt aber bis zum heutigen Tag an. Dies zeigt bereits die kürzliche Volksabstimmung in Moutier über den Kantonswechsel von Bern in den Kanton Jura, die aufgrund von unzulässigen Interventionen der kommunalen Behörden gerichtlich aufgehoben worden ist und 2021 wiederholt werden muss. Dieser «offenen Wunde der Schweizer Geschichte» nimmt sich Jurakenner Christian Moser in seinem Buch an, der als Journalist seit 1979 die Geschehnisse mitverfolgt.

Moser erzählt die Geschichte der Abspaltung und Kantonswerdung des Jura nicht traditionell chronologisch, sondern biografisch aus der Sicht von Marcel Boillat, dem schillernden Anführer der dreiköpfigen Terrororganisation Front de Libération Jurassien (FLJ). Die separatistische Bewegung – etwa die Jugendgruppe Béliers – trat ab den 1960er Jahren mit unzähligen spektakulären, öffentlichkeitswirksamen Aktionen in Erscheinung: So wurden nicht nur Berner Wappen entlang der Strassen des Berner Juras mit dem jurassischen Bischofsstab überpinselt, sondern auch einmal der Nationalratssaal gestürmt, Tramgeleise in Bern zubetoniert, Schweizer Botschaften in Frankreich und Belgien besetzt, Statuen niedergerissen oder der Unspunnenstein gestohlen (zuletzt 2005). Boillat und dem FLJ genügten derlei symbolische Aktionen jedoch nicht. Das Trio radikalisierte sich zusehends und schrak auch vor Brandstiftungen auf Bauernhäuser von Bern-Treuen und Sprengstoffanschlägen auf SBB-Geleise und die Berner Kantonalbank in Delsberg nicht zurück.

Vom Buch «Der Jurakonflikt» darf keine umfassende Gesamtschau über jegliche Aspekte der komplexen Geschichte um die Entstehung des Kantons Jura erwartet werden. Die akribische Recherche Mosers – von Gerichtsakten über Ratsprotokolle bis hin zu Interviews mit Boillat in seinem Exil in Spanien –, lässt die Leser aber in die polarisierende und bisweilen explosive Stimmung im Nordwesten der Schweiz eintauchen, die bis heute nachhallt.

Stiftung für direkte Demokratie / Che Wagner / Daniel Graf / Philippe Kramer (Hrsg.): Macht Direkte Demokratie (buch & netz)
Im vergangenen Sommer wurde die «Stiftung für direkte Demokratie» gegründet, die neu hinter den digitalen Polit-Plattformen «WeCollect» (Online-Unterschriftensammlung), «Crowd-Lobbying» (Online-Lobbying) und weiteren Projekten der digitalen Demokratie steht. Da die Stiftung pandemiebedingt nicht wie intendiert eine physische Gründungsfeier durchführen konnte, haben die Herausgeber Che Wagner, Daniel Graf und Philippe Kramer stattdessen kurzerhand eine kleine Festschrift «Macht direkte Demokratie» innert wenigen Wochen aus dem Boden gestampft.

Die 39 Autorinnen und Autoren aus Wissenschaft, Politik und Kultur zeigen darin in je einem kurzen Beitrag auf, wo und weshalb die hiesige direkte Demokratie ein Update benötige. Im ersten Themenblock «Ausbauen» werden neue Partizipationsformen wie deliberative Demokratie (Maximilian Stern, Linda Sulzer) oder E-Collecting propagiert (Sandro Scalco), jedoch etwa auch die E-Voting-Versuche stark kritisiert (Franz Grüter). Rahel Freiburghaus regt an, das Vernehmlassungsverfahren zu modernisieren und öffnen, ohne jedoch die damit einhergehenden Zielkonflikte ausser Acht zu lassen. – Der zweite Themenbereich «Teilhaben» widmet sich der Inklusion, also dem Zugang zur Demokratie und dessen Erweiterung: Ob Menschen mit Behinderungen, Ausländer, Frauen oder Junge, es gibt immer noch diverse soziodemografische Bevölkerungsgruppen, die einen reduzierten oder gar keinen institutionalisierten Einfluss auf die Demokratie haben. Dazu gehört aber auch die Chancengleichheit im demokratischen Prozess, der durch die oft höchst ungleich verteilten finanziellen Mitteln über Gebühr strapaziert wird (Marco Kistler).

Im dritten Teil «Neudenken» schliesslich werden Schlaglichter auf eine breite Themenpalette der Demokratisierung im weitesten Sinne geworfen: Philippe Wampfler skizziert eine Handvoll Grundsätze, wie Demokratiebildung in der Schule erfolgreich implementiert werden kann, während Elia Blülle dafür plädiert, den Wahltag statt als eher lustlos-formellen Behördengang als Volksparty zu zelebrieren. Auch hier werden aber nicht nur technologiegläubige Utopien präsentiert, sondern auch kritische Stimmen berücksichtigt, etwa zur politischen Macht der Daten (André Golliez) oder der «digitalen Militanz» (Michael Hermann).

 

Siehe auch:

Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2019
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2018
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2017
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2016
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2015

Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2014

 

Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2019

Traditionsgemäss stellt «Napoleon’s Nightmare» zum Jahresende ein Dutzend lesenswerte Neuerscheinungen von 2019 vor. Im Fokus stehen heuer das Demokratiedefizit der EU, das unter Druck stehende Schweizer Miliz- und Konkordanzsystem, die Umsetzung von Volksinitiativen sowie eine imaginäre neue Bundesverfassung.

Von Claudio Kuster und Lukas Leuzinger

 

Dirk Jörke: Die Größe der Demokratie – Über die räumliche Dimension von Herrschaft und Partizipation (Suhrkamp)
Wie gross soll eine Demokratie sein? Diese Fragestellung führt bis in die griechischen Stadtstaaten zurück. Für den Genfer Rousseau stand ohne Zweifel fest, dass eine freiheitliche Regierung, unabhängig ob demokratisch, aristokratisch oder monarchisch verfasst, Kleinräumigkeit voraussetze. Grössere Staaten würden zur Despotie neigen, da die Aufrechterhaltung der Herrschaft nur mittels Zwang möglich sei. Auch die amerikanischen Anti-Federalists standen der Ausdehnung der Demokratie kritisch gegenüber, da sich die Repräsentanten im fernen Philadelphia viel zu sehr von den einfachen Bürgern entfremden würden. Und je grösser eine Demokratie sei (bezogen auf Fläche und Anzahl Einwohner), desto heterogener werde sie und damit auch weniger gemeinwohlorientiert.

Der deutsche Politikwissenschafter Dirk Jörke greift diese (und viele weitere) ideengeschichtliche Quellen, aber auch aktuelle empirische Daten zur Demokratiequalität diverser Staaten auf, um den Effekt der räumlichen Ausdehnung auf die Volksherrschaft zu eruieren. Im Fokus hat Jörke dabei aber weniger die grossen Flächenstaaten wie Australien, Indien, USA oder Russland, sondern eine andere Entität – die Europäische Union. Die EU ist also zu gross geworden. Ein oftmals vorgebrachtes Rezept, ihrem Demokratiedefizit entgegenzuwirken, ist die Übertragung der bewährten nationalstaatlichen Institutionen und Verfahren auf die supranationale Ebene. Gemäss Jörke zäumten diese naiven Ideen aber das Pferd von hinten auf, denn trotz aller Bemühungen existierten immer noch keine europäischen Parteien und keine europäische Öffentlichkeit. «Es gibt weiterhin keinen gemeinsamen Diskursraum und keinen europäischen Demos. Im Gegenteil: Europa ist nach inzwischen sieben Erweiterungsrunden schlichtweg zu heterogen geworden, als dass es eine gemeinsame Identität geben könnte, wie vor allem in den letzten Jahren, etwa bei den Diskussionen über die Eurorettungspolitik oder die Aufnahme von Flüchtlingen, mehr als deutlich geworden ist.»

Was tun? Jörke schliesst seinen lesenswerten Essay, indem er einen Ausweg aus der postdemokratischen Sackgasse skizziert: Vorab sei die einzelstaatliche Handlungsfähigkeit wiederzubeleben, jedoch gerade nicht verbunden mit der Förderung nationalstaatlicher Egoismen, sondern unter Beibehaltung und in einigen Bereichen auch Stärkung der supranationalen Kooperation. Gestärkt werden sollte insbesondere eine gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik – also zurück zu den Ursprüngen des Föderationsgedankens. Umgekehrt komme man nicht umhin, den Nationalstaaten gewisse Kompetenzen zurück zu übertragen, so in der Wirtschafts-, Währungs-, Handels- und Finanzpolitik.

Niklaus Nuspliger: Europa zwischen Populisten-Diktatur und Bürokraten-Herrschaft (NZZ Libro)
An Literatur zum Zustand und zur Zukunft der Europäischen Union herrscht derzeit kein Mangel. Dennoch ist das Buch «Europa zwischen Populisten-Diktatur und Bürokraten-Herrschaft» lesenswert. Als Brüssel-Korrespondent der NZZ ist Niklaus Nuspliger nahe am Thema dran, um die Entwicklungen und Dilemmata der EU präzise zu analysieren, bringt aber auch die nötige kritische Distanz mit, dank der sich seine Analyse von anderen, ideologie-lastigeren und (an)klagenden Werken abhebt. Nuspliger stellt einerseits in vielen europäischen Ländern ein Erstarken von Kräften fest, die Populismus und nationalistische Ideologie verbinden. Dabei besorgt ihn weniger die (europa-)politische Ausrichtung dieser Parteien als die Tatsache, dass sich diese zunehmend mit autoritären Politikstilen verbindet. Auf der anderen Seite kritisiert er die heutige Machtstruktur, die durch eine Konzentration der Macht auf demokratisch kaum legitimierte Akteure, Hinterzimmer-Deals und mangelnden Einfluss nicht nur von Bürgern, sondern auch nationaler Politiker geprägt ist. Seine Kritik untermauert er mit detaillierten Beschreibungen und staatspolitischen Analysen, etwa wenn er den Exekutivföderalismus mit dem Ministerrat als zentralem Entscheidungsorgan hinterfragt, der nicht zuletzt die Gewaltenteilung untergräbt.

Auf ein klares Bekenntnis für «mehr Nationalstaat» oder «mehr Europa» verzichtet Nuspliger bewusst. Stattdessen stellt er demokratiepolitische Reformen in den Fokus. Ihm schwebt eine Stärkung der Bürgerbeteiligung vor, einerseits durch eine Stärkung der Europäischen Bürgerinitiative, Einführung direktdemokratischer Instrumente sowie deliberative Elemente wie Bürgerversammlungen. Dabei sollten aus seiner Sicht auch die Möglichkeiten der Digitalisierung stärker genutzt werden. Das Buch ist kurzweilig und auch für EU-Laien verständlich geschrieben. So fasst der Autor etwa seine Erkenntnisse am Ende in zehn Thesen zusammen. Über den Erkenntnisgewinn der Horrorfilm-mässigen Beschreibung der zwei Dystopien «Europa der Populisten» und «Superstaat» lässt sich hingegen streiten. Nichtsdestotrotz ist das Buch ein hilfreicher Beitrag zu einer breiten Debatte über die EU, die der Autor fordert und die, wie es scheint, verstärkt auch stattfindet.

Urs Marti: Staat, Volk, Eidgenossen – Anmerkungen zum politischen System der Schweiz (Orell Füssli)
Bei Louis XIV. war es noch einfach. «L’État c’est moi», lautete das absolutistische Motto. Heute ist die Sache komplizierter. In unserer Demokratie bilden die Bürger die Grundlage staatlicher Macht. Zugleich prägt sie dieser Staat von der Wiege bis zur Bahre. Dabei bleibt oft unklar, wie der Bundesstaat im Hintergrund funktioniert. Wie entstehen Gesetze? Welche Rechte haben Parlamentarier? In welchem Verhältnis stehen die legislative, die exekutive und die judikative Gewalt zueinander? Mit dem Buch «Staat, Volk, Eidgenossen» hat Urs Marti es sich zur Aufgabe gemacht, den Lesern das Funktionieren unseres Staatswesens näherzubringen. Als früherer Bundeshauskorrespondent der NZZ kennt er den Maschinenraum des Staates in- und auswendig. Die Ausführungen reichert er mit Anekdoten an. So erzählt er, wie Bundesrat Nello Celio ihn einmal spontan in sein Büro bestellte, weil er es «nicht ertrage, den ganzen Tag nur Beamte um mich zu haben». Solche Episoden sind heute kaum vorstellbar, nicht nur wegen der deutlich gestiegenen Arbeitsbelastung der Bundesräte.

Von der Wählbarkeit ins Parlament über die Entstehung des Zweikammersystems bis zu den Zuständigkeiten der einzelnen Bundesgerichtsabteilungen behandelt Marti so ziemlich jeden Aspekt des Bundesstaats. Dabei geht er immer wieder auf die Gründungszeit des Bundesstaats sowie der Eidgenossenschaft zurück und ordnet die Institutionen geistesgeschichtlich ein. Das ist eine Schwäche des Buches: Es ist eine Kombination von Handbuch des politischen Systems, historischer Abhandlung und philosophischer Analyse und doch nichts davon so richtig. Ein stärkerer Fokus hätte dem Buch mehr Tiefe verliehen. Gleichwohl erfährt, wer eine Übersicht über den Staat und seine Institutionen sucht, darin auf kurzweilige Weise viel Neues.

Markus Freitag / Pirmin Bundi / Martina Flick Witzig: Milizarbeit in der Schweiz – Zahlen und Fakten zum politischen Leben in der Gemeinde (NZZ Libro)
Das Milizsystem sei in der Krise, wird immer wieder beklagt. Doch was heisst das und was sind die Gründe? Wer sind die schätzungsweise 100’000 Schweizer Bürger, die allein im Bereich der Gemeindepolitik Milizarbeit leisten? Was motiviert und bewegt sie? Diesen Fragen gehen die Politikwissenschafter Markus Freitag, Pirmin Bundi und Martina Flick Witzig von der Universität Bern im Buch «Milizarbeit in der Schweiz» nach. Das Buch, das passend zu dem vom Schweizerischen Gemeindeverband ausgerufenen Jahr der Milizarbeit veröffentlicht wurde, basiert auf einer Befragung von rund 1800 Miliztätigen aus 75 Gemeinden in der ganzen Schweiz, wobei die Auswahl der Kommunen auf solche zwischen 2000 und 20’000 Einwohnern eingeschränkt wurde. Befragt wurden erstmalig sowohl Exekutiv- als auch Legislativpolitiker sowie Mitglieder von Kommissionen.

Das Buch gibt einige Hinweise zu den Herausforderungen des Milizsystems. Die am häufigsten genannten Motive für die Übernahme eines Milizamts sind, sich uneigennützig für das Gemeinwohl einzusetzen, in der Gemeinde mitzubestimmen und die eigenen Talente und Kenntnisse einzusetzen. Dies lässt die Vermutung zu, dass höhere Entschädigungen alleine die Probleme des Milizsystems nicht zu lösen vermögen. Auffallend ist, dass gemäss der Befragung nur etwa ein Drittel der Miliztätigen Frauen sind und nur ein Zehntel über 64 Jahre alt. Hier liegt viel Potenzial brach, dessen Ausschöpfung aber womöglich auch eine andere Ausgestaltung der Milizämter erfordert. Insbesondere auch, wenn man bedenkt, dass gerade in grösseren Gemeinden viele Befragte angeben, die Schwierigkeiten und den Aufwand für das Amt unterschätzt zu haben. Zugleich wünschen sich viele grössere Entscheidungskompetenzen. Ein möglicher Ausweg wäre eine klarere Fokussierung auf strategische Fragen und eine Entlastung von operativen Aufgaben.

Das Buch gibt einen praxisnahen Überblick über die (politische) Milizarbeit in den Schweizer Gemeinden. Die endgültige Lösung, wie diese wieder attraktiver gemacht werden können, kann von einem solchen Werk nicht erwartet werden. Diese liegt letztlich wohl in der Verantwortung der Gemeinden selber – vor allem aber auch der Bürger.

Marc Bühlmann / Anja Heidelberger / Hans-Peter Schaub (Hrsg.): Konkordanz im Parlament – Entscheidungsfindung zwischen Kooperation und Konkurrenz (NZZ Libro)
Die Klage über die Krise der Konkordanz ist in den letzten Jahren zum Mainstream geworden, und seit den Wahlen 2019 stellen sich Fragen über die Zukunft des schweizerischen Regierungsmodells noch dringlicher. Dabei wird in der Regel der Fokus auf die Regierung gelegt. Vergessen geht, dass die Konsensdemokratie mehr umfasst als eine ausgeglichene Zusammensetzung des Bundesrats. Das Fundament der Konkordanz wird im parlamentarischen Alltag gelegt.

Politikwissenschafter der Universität Bern haben sich genauer damit beschäftigt und ihre Erkenntnisse im Buch «Konkordanz im Parlament» dokumentiert. Dabei legen sie den Konkordanzbegriff weit aus und beleuchten nicht nur die Zusammenarbeit unter den Parteien. So erfährt man etwa, dass die Frauen im Parlament im Allgemeinen etwa ihrem Sitzanteil entsprechend zu Wort kommen (wobei es deutliche Unterschiede zwischen den Fraktionen gibt), dass hingegen die italienische und die rätoromanische Sprache in den Debatten deutlich zu kurz kommen oder dass die Zahl der kantonalen Amtsträger unter der Bundeshauskuppel abnimmt, während die Kombination eines nationalen Parlamentsmandats mit einem Sitz im Gemeinderat sich ungebrochener Beliebtheit erfreut – nicht zuletzt bei den Gemeinden, die dadurch ihre Interessen effizient einbringen können. Einige Beiträge wenden innovative Methoden an, wobei allerdings die Aussagekraft zuweilen bescheiden ist.

Durch den gesamten Band zieht sich die Erkenntnis, dass die Konsenskultur im Parlament schwächer geworden ist. Die Trends des verstärkten Parteienwettbewerbs und der Polarisierung erschwert Kompromisse. Das zeigt sich etwa daran, dass die Abstimmungen im Nationalrat seit 1975 deutlich umstrittener geworden sind – gemessen an der Knappheit der Mehrheitsverhältnisse. (Im Ständerat ist eine solche Tendenz interessanterweise nicht zu erkennen.) Die Suche nach breit abgestützten Lösungen wird vermehrt ersetzt durch die Suche nach einfachen Mehrheiten. Der Parlamentsbetrieb kann auch so funktionieren, allerdings stellt sich die Frage, welche Konsequenzen das für die direkte Demokratie hat. Das Buch, das auf die beschreibende Analyse fokussiert, gibt darauf keine eindeutige Antwort. Allerdings lässt die Tatsache, dass die Volksrechte massgeblich zur Entstehung der Konkordanz beitrugen, erwarten, dass umgekehrt die Schwächung der Konkordanz nicht ohne Folgen für die direkte Demokratie bleibt.

Corina Fuhrer: Die Umsetzung kantonaler Volksinitiativen (Dike)
Über die direkte Demokratie und das daraus fliessende Volksinitiativrecht existiert unzählige Literatur. Wird eine Volksinitiative aber einmal vom Souverän angenommen, so ist der Gesetzgebungszyklus keineswegs bereits beendet. Denn zu ihrer tatsächlichen Verwirklichung bedarf ein Volksbegehren meistens gewisser Folgehandlungen der Behörden. Dieser Umsetzung kantonaler Volksinitiativen widmet sich die Dissertation von Corina Fuhrer (Zentrum für Demokratie Aarau), die damit eine wichtige Lücke schliesst. – Dass die Verwirklichung gutgeheissener Volksinitiativen in den Händen der Behörden liegt, stelle einen gewissen Wiederspruch dar. Ein Begehren werde aus Sicht des Initiativkomitees überhaupt erst erforderlich, weil das betreffende Anliegen bisher auf der politischen Agenda keine Beachtung fand. Das Vorbringen sei folglich aus der Perspektive des Parlaments inhaltlich meist unerwünscht und «generell eine Störung des regulären Arbeitsvorgangs». Die Umsetzung von Volksinitiativen bedinge daher «regelmässig ein Handeln gegen den Willen der in der Pflicht stehenden Akteure, weshalb gewisse Umsetzungsschwierigkeiten grundsätzlich vorprogrammiert sind».

Ihre These belegt Fuhrer, indem sie neun angenommene Volksinitiativen respektive deren Umsetzung und Rechtsschutzmöglichkeiten in detaillierten Fallstudien untersucht. Die erste Gruppe umfasst drei Initiativen in Form der allgemeinen Anregung (u.a. Kohleinitiative [GR] und Kulturlandinitiative [ZH]). Erstaunlicherweise erfährt gerade diese als gemeinhin eher «schwach» apostrophierte Initiativart griffige Durchsetzungsmethoden. Denn gegen als ungenügend umgesetzt erachtete Erlasse kann Beschwerde in Stimmrechtssachen erhoben werden, die umfassenden Rechtsschutz bietet. – Anders ist die Lage bei der Umsetzung von Initiativen in Form des ausgearbeiteten Entwurfs. Nach Annahme wird hier der Initiativtext zwar direkt in einen Gesetzes- respektive Verfassungsartikel umgegossen. Oftmals müssen solche Novellen aber auf tieferer Ebene (Verordnungs- respektive Gesetzesstufe) konkretisiert und vollzugstauglich gemacht werden, wie Fuhrer wiederum anhand sechs umstrittenen Fällen aufzeigt (u.a. Gesichtsverhüllungsverbot [TI] und Initiative zum Schutz vor Passivrauchen [GE]). Will hier die Umsetzung einer Volksinitiative geprüft werden, so muss dies im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle geschehen. Diese Überprüfungsmöglichkeit existiert aber nicht in allen Kantonen und teilweise bloss eingeschränkt, desgleichen vor Bundesgericht. Aufgrund des schwachen Rechtsschutzes kommt dem kantonalen Gesetzgeber daher ein weitgehender Spielraum bei der Umsetzung von ausgearbeiteten Volksinitiativen zu.

Nagihan Musliu: Die Umsetzung eidgenössischer Volksinitiativen (Dike)
Noch prekärer als auf kantonaler Ebene sind die Schwierigkeiten bei der Umsetzung von eidgenössischen Volksinitiativen, wie die Dissertation von Nagihan Musliu aufzeigt. Sie beleuchtet detailliert den Umsetzungsprozess einer Hand voll angenommener Initiativen im Bund, in so unterschiedlichen Sachbereichen wie Raumplanungs-, Migrations-, Gesellschafts- und Strafrecht. Dass hierbei der Volkswille arg strapaziert werde, gehört zur Standardrhetorik politischer Akteure und Stammtische. Musliu schält nüchtern heraus, es könne tatsächlich konstatiert werden, dass der Bundesgesetzgeber insbesondere bei der Verwahrungs-, Ausschaffungs-, Zweitwohnungs- und Masseneinwanderungsinitiative in verfassungswidriger Weise legiferiert habe. Denn auch das Anwendungsgebot der Bundesgesetze (Art. 190 BV schreibt vor, dass die Gesetze und nicht die Verfassung massgebend sind, also die Verfassungsgerichtsbarkeit ausgeschlossen wird) stelle keine Blankovollmacht für das Parlament dar, die Verfassung im Rahmen der Umsetzung von Volksinitiativen zu missachten.

Als Gegenreaktion hierauf werden Volksinitiativen vermehrt sehr detailliert und als ganz oder zumindest teilweise direkt anwendbare Verfassungsbestimmungen formuliert. Zur Entfaltung der Verfassungsnovelle bedarf es daher eigentlich gar nicht zwingend einer Konkretisierung durch den Gesetzgeber. Anerkannt ist dies etwa bei der Minarettinitiative, doch auch die Zweitwohnungs-, Abzocker- und Ausschaffungsinitiativen haben zumindest einen «harten Kern», der so klar ist, dass er durch Verwaltung und Gerichte sofort und direkt hätte angewendet werden können. Zumindest solche «autoritativen Grenzziehungen» und «jüngere Willensäusserungen des Verfassungsgebers» gingen selbst widersprechendem Völkerrecht vor. Kritisch sieht Musliu aber auch die Tendenz, via Übergangsbestimmungen den Bundesrat mit der temporären Umsetzung von Volksinitiativen durch eine Verordnung zu verpflichten. Hierdurch könne zwar das Parlament unter Druck gesetzt werden, innert der vorgegebener Frist das Umsetzungsgesetz zu erlassen. Es bestehe aber die Gefahr, dass die Verordnung dadurch zum mittel- bis längerfristigen Ersatz werde, etwa im Falle der bundesrätlichen «Verordnung gegen übermässige Vergütungen bei börsenkotierten Aktiengesellschaften», die bereits seit sechs Jahren die ausbleibende parlamentarische Umsetzung der Abzockerinitiative substituiert. – Die Arbeit setzt einen wohltuenden Kontrapunkt zur ansonsten dem Institut Volksinitiative eher reserviert gegenüberstehenden Staatsrechtslehre.

Sophie Weerts / Colette Rossat-Favre / Christine Guy-Ecabert / Anne Benoit / Alexandre Flückiger (Hrsg.): Révision imaginaire de la Constitution fédérale – Mélanges en hommage au prof. Luzius Mader (Helbing Lichtenhahn)
Eine Festschrift der etwas anderen Art wird Luzius Mader überreicht, dem kürzlich abgetretenen, langjährigen Vizedirektor des Bundesamts für Justiz. Dem Buch formell Pate gestanden hat die bundesrätliche Botschaft über die neue Bundesverfassung anno 1996, an der Mader selber massgeblich beteiligt war. Und so stellen die knapp 70 Beiträge keine Aufsätze wie üblich dar, sondern sind allesamt als ausformulierte Verfassungsnovellen verfasst, inklusive Kurzkommentierung auf je ein paar Seiten. Diverse Autoren schlagen einen neu einzufügenden Verfassungsartikel vor, viele passen bereits bestehende Normen an, vereinzelt soll auch ein bestehender Artikel ersatzlos aufgehoben werden. Viele Änderungen haben ernsthaften Hintergrund und Motivation, einige sind aber auch mit einem Augenzwinkern oder als bewusste Provokation zu verstehen. In ihrer Gesamtheit fügen sich all diese imaginären Verfassungsänderungen schliesslich zu einer neuen, praktisch totalrevidierten Bundesverfassung.

Stefan G. Schmid etwa möchte den Bundesfeiertag verschieben. Nicht nur vom etwas deplatzierten Arbeitsartikel 110 BV ganz nach vorne zu weiteren Identitätselementen wie den Landessprachen. Sondern vor allem vom 1. August auf den 12. September, um endlich den Geburtstag des Bundesstaats und damit seine erste Bundesverfassung gebührend zu feiern, die am 12. September 1848 als angenommen erklärt worden ist (wie auch schon hier vorgeschlagen). – Andreas Kley schlägt einerseits vor, die Ausübung der politischen Rechte der Auslandschweizer zu verschärfen: Jene sollen nur noch dann das nationale Stimmrecht ausüben können, wenn sie mindestens zehn Jahre in der Schweiz gewohnt haben, der letzte Aufenthalt nicht länger als zehn Jahre zurückliegt und sie keine weitere Staatsangehörigkeit besitzen. Nur Bürger mit einem minimalen Bezug zur Schweiz sollen mitbestimmen dürfen. Zweitens fordert er: «Die Verwendung fernmeldetechnischer Übermittlungsverfahren zur Stimmabgabe ist verboten.» E-Voting soll also unterbunden werden, da die bekannten Verfahren die Vertraulichkeit und Unverfälschtheit des Stimmvorgangs nicht gewährleisten könnten.

Tobias Jaag will die Anzahl Ständeratssitze der jeweiligen Kantonsgrösse anpassen und abgestuft je einen, zwei respektive drei Sitze verteilen. Pascal Sciarini und Frédéric Varone wünschen sich endlich ein gestärktes Bundespräsidium, indem sie dieses Amt gleich für vier Jahre vergeben. Jean-Daniel Delley plädiert für fairere Nationalratswahlen gemäss Doppelproporz. Einer Vollverfassung entsprechend finden aber auch ganz andere sowie neue Themen Eingang, so der Schutz der digitalen Persönlichkeit, das Öffentlichkeitsprinzip, Raumplanung und Umweltschutz, die Fortpflanzungsmedizin, ein Ombudsmann usw. – Weniger kreativ und demokratisch sind einzig jene Vorschläge (Francesco Maiani/Peter Uebersax, Catherine Kropf), die unlängst explizit qua Volksinitiative eingebrachte Anliegen (Ausschaffungen, Masseneinwanderung, Minarettbauverbot) bereits wieder eliminiert haben möchten.

Julia Hänni: Rechtsphilosophie – In a nutshell (Dike)
Julia Hänni war Professorin für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Universität Luzern, ehe sie im letzten Sommer von der Vereinigten Bundesversammlung zur Bundesrichterin gewählt worden ist. Die Zweite öffentlich-rechtliche Abteilung des Bundesgerichts, in der Hänni nun einsitzt, behandelt unter anderem Rechtsgebiete wie Ausländerrecht, Steuern, Glaubens- und Gewissensfreiheit oder Tierschutz. Gerade solche Rechtsfragen und -normen lassen sich oftmals auf Jahrhunderte und Jahrtausende alte Ideen, Schriften und Dispute zurückführen.

Im Band «Rechtsphilosophie» aus der Reihe «In a Nutshell» stellt Julia Hänni diese verschiedenen Grundlagen systematisch und übersichtlich dar, die sich Philosophen als Interpretation der Wirklichkeit und der Gerechtigkeit angeeignet haben. Themenschwerpunkte stellen das antike Griechenland (Heraklit bis Aristoteles), die christliche Philosophie (Augustinus und Thomas von Aquin), das Naturrecht und die Vertragstheorien (Hobbes, Pufendorf und Locke) sowie die Erkenntnistheorie Kants dar. Aber auch Konzepte und Denker des 20. Jahrhunderts werden vorgestellt, so insbesondere der Rechtspositivismus sowie Rawls, Habermas und Luhmann. Ein Einblick in die Asiatische Rechtsphilosophie (Hinduismus und Buddhismus) rundet das Buch ab.

Erhellend sind schliesslich die zahlreichen konkreten Beispiele heutiger Gesetzesnormen (insbesondere Verfassungsartikel und Grundrechte), die Hänni auf bestimmte Theorien und Philosophen zurückführt. Die Gleichheit der Menschen (Art. 8 BV) etwa gehe auf Gregor von Nyssa (338–394) zurück, der diese aus der Ebenbildlichkeit Gottes der Menschen herleitete. Für John Locke (1632–1704) wiederum durfte der Staat nur dort tätig sein, wo er seine Legitimation durch die Bürger beziehe – heute bekannt unter dem Legalitätsprinzip (Art. 5 Abs. 1 BV). Die Gleichheit in der Ehe wiederum lasse sich auf Samuel Pufendorf (1632–1694) zurückverfolgen, dessen Erkenntnisse das Schweizerische Zivilgesetzbuch erst Jahrhunderte später (Reform 1988) rezipieren sollte.

Daniel Kübler / Andreas Glaser / Monika Waldis (Hrsg.): Brennpunkt Demokratie – 10 Jahre Zentrum für Demokratie Aarau (Hier und Jetzt)
Das Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA), 2009 gegründet, feiert mit dem Sammelband «Brennpunkt Demokratie» sein 10-jähriges Jubiläum. Angehörige des Instituts, dem eine politologische, eine rechtswissenschaftliche und eine geschichtsdidaktische Abteilung angehören, geben in zehn Beiträgen Einblicke in ihre Studienergebnisse und den jeweiligen Forschungsstand – stets in sehr verständlicher Sprache verfasst. Katja Gfeller, Nadja Braun Binder und Uwe Serdült beleuchten den holprigen Weg der Digitalisierung der hiesigen direkten Demokratie mit E-Voting und E-Collecting. Patrick Zamora und Stefan Walter stellen die von ihnen entwickelten Politik-Simulationsspiele wie «Schulen nach Bern» vor, welche den abstrakten Gesetzgebungsprozess anschaulich und interaktiv in die Schulstuben tragen.

Jasmin Gisiger und Thomas Milic wiederum widmen sich dem «kompensatorischen Stimmverhalten» bei Volksinitiativen. Durchschnittlich legten jeweils sechs Prozent der Stimmbürger bei Initiativen ein «Ja» ein, obschon sie ihnen inhaltlich eigentlich zu weit gingen. Sie antizipierten dabei aber den Umsetzungsprozess, der die Initiativforderungen regelmässig «abschleift». Eine spannende Erkenntnis, doch schade, dass die Politologen hier ihre Vermutung der mangelhaften Umsetzung nicht mit just ebendiesen Befunden der Rechtswissenschafterinnen (wenige Seiten weiter vorne) untermauern. Dieses Beispiel ist symptomatisch: Es ist zu wünschen, dass das ZDA in den nächsten 10 Jahren seine Interdisziplinarität vermehrt fruchtbar macht.

Nebst den zehn Einblicken ins wissenschaftliche Schaffen finden sich einige unterhaltsame Zwischenkapitel: Zunächst wird die nicht ganz triviale Entstehungsgeschichte des ZDA rekapituliert (es ist wohl das einzige Demokratieinstitut, das selber direktdemokratisch legitimiert ist: der Aarauer Souverän stimmte 2007 der Gründung mit 58 % Ja zu). Es folgt ein Projekt- und Reisebericht aus der Mongolei, als das ZDA für einige Jahre den ostasiatischen Gebirgsstaat beriet, nichts weniger als die direkte Demokratie einzuführen (was dann letztlich nach einem Regierungswechsel leider misslang). Schliesslich wird ein (fiktives) Interview mit Heinrich Zschokke wiedergegeben, dem Pädagogen, Schriftsteller, Aufklärer und Staatsreformer, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert massgeblich zur Entwicklung des Aargaus und des Bundesstaats beitrug – und in der Villa «Blumenhalde» residierte, wo heute das ZDA untergebracht ist.

Julia Hänni / Sebastian Heselhaus / Adrian Loretan (Hrsg.): Religionsfreiheit im säkularen Staat – Aktuelle Auslegungsfragen in der Schweiz, in Deutschland und weltweit (Dike/Nomos)
Der interdisziplinäre Sammelband «Religionsfreiheit im säkularen Staat» gibt eine Reihe rechtlicher, politologischer und theologischer Diskussionsbeiträge wieder, die an den «Luzerner Adventsgesprächen zur Verfassung» entstanden sind. In ihrem einleitenden Beitrag gibt Co-Herausgeberin Julia Hänni einen Überblick über die aktuelle Auslegung der Glauben- und Gewissensfreiheit (Art. 15 BV) durch das Bundesgericht. Hierzu stellt sie einige kürzliche Leitentscheide zum Religionsverfassungsrecht vor, die das Spektrum und Funktionen dieses Grundrechts aufzeigen. Fälle von «Kopftuchverbot St. Margrethen» bis «Yogaübungen im Kindergarten» illustrieren den breiten Schutzbereich der Religionsfreiheit. – Peter Karlen (alt Bundesrichter) knüpft an dieses Dilemma des säkularen Staates bei der Umschreibung und Beurteilung der Religion an. Denn weder der Religionsbegriff als solcher noch der ihn umgebende Schutzbereich können objektiv definiert werden, wodurch sich letztlich die Glaubensfreiheit im Kern nach subjektiven Gesichtspunkten bestimme. Sprich, Religion ist, was der Einzelne selber als solche versteht.

Völkerrechtler Sebastian Heselhaus erörtert die Religionsfreiheit gemäss der EMRK respektive des Gerichtshofs für Menschenrechte anhand einiger «Leading Cases» wie den vielbeachteten Kruzifix-, Kopftuch-, Burka- oder Sexualkunde-Fällen. Er nimmt dabei stets Bezug auf die Debatte und Rechtslage in der Schweiz. Während «Strassburg» in anderen Rechtsgebieten zusehends eher strenge Vorschriften zu machen scheint, wird den hinsichtlich Religion und Staat doch sehr heterogenen Mitgliedstaaten – als Ausfluss der neuen «Margin of appreciation»-Doktrin – eine erstaunlich eigenständige Regulierung zugestanden. – Die religionsverfassungsrechtlichen Grundlagen und aktuelle Probleme Deutschlands erläutert Verfassungsrechtler Peter Unruh, so zu Fragen zum Arbeitsrecht, Sonn- und Feiertagen oder islamischem Religionsunterricht. Erwähnenswert ist, dass eine Handvoll Artikel der Weimarer Reichsverfassung von 1919, die das Verhältnis von Kirche und Staat regeln, bis heute in Kraft stehen. – Weitere Beiträge beleuchten die «Handschlag-Affäre Therwil», die Diskriminierung der Frauen beim Zugang zu religiösen Ämtern oder die religionspolitischen Vorstösse der letzten Dekaden. Abschliessend referiert Heiner Bielefeldt (ehem. Uno-Sonderberichterstatter für Religionsfreiheit) eindrücklich über die zahlreichen Verletzungen der Religionsfreiheit und ihrer mannigfaltigen Erscheinungsformen in aller Welt.

Fathi Derder: Les Petits Secrets du Palais – ou la politique suisse pour les apprentis démocrates (Slatkine)
Acht Jahre sass Fathi Derder für die FDP im Nationalrat. Grosse Stricke zerrissen hat der Journalist, der sich vor allem mit Digitalisierungs- und Bildungsthemen beschäftigt, in dieser Zeit nicht, dafür die wohl beste Kolumne über den Schweizer Politikbetrieb geschrieben. Auf diesen Kolumnen basiert sein Buch, das zu seinem Rücktritt unter dem Titel «Les Petits Secrets du Palais» erschienen ist. Unter dem Untertitel «Schweizer Politik für demokratische Lehrlinge» beschreibt Derder mit feiner Ironie seine Erfahrungen unter der Bundeshauskuppel. Mit spitzer Feder nimmt er die allmächtige Verwaltung, aufdringliche Lobbyisten, sensationslüsterne Journalisten und nicht zuletzt auch sich und seine Kollegen aufs Korn. Grossartig etwa die Schilderung, was die Folgen der zahllosen parlamentarischen Vorstösse sind (neben der Arbeitsbeschaffung für Beamte), darunter einer Derders zur Cybersicherheit, den der Bundesrat mit viel Verwaltungssprech in dem Sinn beantwortete, dass er nichts zu tun gedenke (inzwischen hat er sich des Themas dann doch noch etwas ernsthafter angenommen).

Zwar ist nicht alles, was Derder schreibt, überzeugend; und nicht selten wirken seine Angriffe auch etwas billig oder uninspiriert, etwa als er sich über Forderungen nach mehr Transparenz beim Lobbyismus mokiert oder sich auch fünf Jahre nach dessen Rücktritt noch an Christoph Blocher und seiner SVP abarbeitet. Die Geschichten sind mit einem Augenzwinkern zu verstehen. Derder ist allerdings kein Zyniker. Hinter den humorvollen Volten stehen stets ernsthafte Anliegen. Und letztlich eine grosse Wertschätzung für das schweizerische System, allen Schwächen und Ineffizienzen zum Trotz. Das zeigt sich im Epilog, in dem Derder ungewohnt ernsthaft seine Sorge um die Zukunft des Schweizer Erfolgsmodells äussert, über die serbelnde Debattenkultur, den «Populismus» von rechts und links (vor allem von rechts, in Derders Augen). Nach acht Jahren im Parlament kehrt Derder nun zurück «ins richtige Leben», wie er sich ausdrückt. Die erhellenden Beobachtungen des Politikbetriebs werden uns wohl erhalten bleiben, wenn auch nunmehr wieder aus der Perspektive des Aussenstehenden.

 

Siehe auch:

Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2018
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2017
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2016
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2015

Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2014

Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2018

Auf das endende Jahr 2018 hin hat die «Napoleon’s Nightmare»-Redaktion ihre persönlichen Buchempfehlungen zusammengetragen. Die Publikationen betreffen die Bundesstaatsgründung, die Landsgemeinde, den Frühsozialismus, das Volksinitiativrecht, den Parlamentarismus, digitale und sterbende Demokratien sowie diverse Aspekte des Völkerrechts.

Von Claudio Kuster und Lukas Leuzinger

 

Rolf Holenstein: Stunde Null – Die Neuerfindung der Schweiz 1848 – Die Privatprotokolle und Geheimberichte (Echtzeit)
Vor 170 Jahren wurde die Schweizer Bundesverfassung in Kraft gesetzt. Sie war zur damaligen Zeit ein Pionierwerk und ist in ihrer Grundstruktur bis heute weitgehend unverändert geblieben. Dabei war sie in relativ kurzer Zeit erarbeitet worden. Weniger als zwei Monate brütete eine Kommission aus Vertretern aller Kantone (ausser Neuenburg und Appenzell Innerrhoden) über die Ausgestaltung des neu zu schaffenden Bundesstaats. Der Entwurf wurde anschliessend von der Tagsatzung mit kleineren Änderungen angenommen. Was geschah in dieser Zeit von Februar bis April genau, in denen grundlegende Entscheide über Wesen und Zukunft des schweizerischen Bundesstaats gefällt wurden? Darüber wusste man bis heute relativ wenig. Die Kommission tagte hinter verschlossenen Türen, es gab nur ein anonymisiertes offizielles Protokoll.

Das Buch «Stunde Null» von Rolf Holenstein bringt nun Licht ins Dunkel. Der Historiker und Publizist hat sich den Umstand zu Nutzen gemacht, dass viele der Mitglieder der Kommission Privatprotokolle führten. Er hat sämtliche noch vorhandenen Protokolle sowie Schriftwechsel der Mitglieder mit ihren Kantonen zusammengetragen und analysiert. – Der erste Teil des Buches soll einen Überblick über die Kommissionsmitglieder geben, ist mit knapp 200 Seiten allerdings eher ein biografisches Lexikon geworden. Spannend ist vor allem der zweite Teil, der den Prozess der Verfassungsgebung nacherzählt und der sich wie ein Krimi liest. Erstaunlich ist vor allem, dass Dinge, die wir heute als selbstverständlich ansehen, mehr als einmal auf der Kippe standen, teilweise gar als historische Zufälle bezeichnet werden können. Beispielsweise das Zweikammersystem, das erst vorgebracht wurde, als die Diskussion zwischen Zentralisten und Föderalisten hoffnungslos blockiert war; oder das Wahlsystem für den Nationalrat, den zunächst eine Mehrheit in einem einzigen (!) Wahlkreis besetzen wollte (mit der Begründung, dass er ja die ganze Nation repräsentieren sollte und es für die Vertretung der Kantone den Ständerat gebe).

Anschliessend macht Holenstein einen Schritt zurück und geht auf die Denker und Geistesströmungen ein, die die Schaffung des Bundesstaats beeinflussten. Darunter finden sich bekannte Namen wie Jean-Jacques Rousseau, aber auch vergessene wie der Genfer Naturrechtler Jean-Jacques Burlamaqui, dem er eine besonders wichtige Rolle zugesteht (ob zu Recht oder nicht, sei dahingestellt). Den Abschluss bilden die Abschriften der privaten Protokolle, wo man die Verhandlungen im Detail nachlesen kann. – «Stunde Null» ist ein eindrückliches Werk, das nicht nur neue Erkenntnisse über die Zeit der Bundesstaatsgründung bringt, sondern auch die Gegenwart in neuem Licht erscheinen lässt.

Lukas Leuzinger: Ds Wort isch frii – Die Glarner Landsgemeinde: Geschichte, Gegenwart, Zukunft (NZZ Libro)
Lukas Leuzinger (Chefredaktor dieses Blogs mit Glarner Wurzeln) hat während grob eines Jahres in und um Glarus recherchiert und sich der Urinstitution Landsgemeinde angenommen. Das daraus hervorgegangene Buch blickt zunächst im umfangreichsten ersten Teil auf die Entstehung dieser Demokratieform zurück. Hierfür muss weit zurückgeblättert werden, ins Jahr 1387 nämlich, in welchem die Glarner Landsgemeinde erstmals dokumentiert ist. Leuzinger ist sichtlich gelegen, nicht nur die Eckpfeiler der über 600-jährigen Geschichte der Landsgemeinde zu rekapitulieren, sondern die Institution, den Kanton Glarus und auch die Eidgenossenschaft in den jeweiligen geschichtlichen Kontext zu setzen, um dieses Demokratiemodell mit ihren Vorzügen und Nachteilen einordnen und nachvollziehen zu können. Wer hätte beispielsweise gedacht, dass es in Glarus bis ins 19. Jahrhundert gleich drei parallele Landsgemeinden gab – eine protestantische, eine katholische und eine gemeinsame?

Im zweiten Teil (Die Landsgemeinde heute: Demokratisches Vorbild oder undemokratisches Kuriosum?) schaut Leuzinger zunächst weit über den «Zigerschlitz» hinaus, indem er auf die gegenwärtige weltweite «Krise der Demokratie» eingeht und die Landsgemeinde quasi als Antithese gegenüberstellt. Schliesslich – Wie die Landsgemeinde funktioniert – wird auf die eigentlichen Befugnisse und Verfahren der Institution eingegangen. Leuzinger hält wenig vom Traditionalismus und Pomp rund um die Landsgemeinde. Er hebt demgegenüber besonderes zwei funktionale Aspekte hervor: Das Rederecht und das Antragsrecht. Dank letzterem kann jeder Stimmberechtigte mittels Memorialsantrag – eine Art Volksinitiative, für die bloss eine einzige Unterschrift vonnöten ist – sein individuelles Begehren auf die Traktandenliste setzen. Durch das Antragsrecht wurden immer wieder fortschrittliche Lösungen eingebracht und durchgesetzt, so ein Fabrikgesetz 1864 zum Schutz der Arbeiter und Kinder, die Einführung des Frauen- und später des Jugendlichenstimmrechts (ab 16 Jahren). – Leuzinger verhehlt aber keineswegs die Nachteile dieser Demokratieform, etwa das mangelnde Stimmgeheimnis, die Zählmethode durch Schätzen sowie die erschwerte Zugänglichkeit der Versammlungsdemokratie.

In einem kurzen dritten Teil schliesslich widmet sich Leuzinger der Zukunft der Landsgemeinde. Er geht der Frage nach, inwiefern sich die Landsgemeinde heute Reformen unterziehen könnte, um einige der genannten Nachteile zu beheben und damit als Institution langfristig vital zu bleiben. – Die Veröffentlichung ist sehr flüssig und spannend geschrieben, richtet sich an ein breites Publikum und schliesst damit eine echte Lücke. Das Buch wird durch eine Fotoreihe und neun Testimonials («Stimmen zur Landsgemeinde») von Glarner Politikern und Bürgerinnen abgerundet (siehe auch: Landsgemeinde für Nicht-Landleute). (ck)

René Roca (Hrsg.): Frühsozialismus und moderne Schweiz (Schwabe)
In seiner Reihe «Beiträge zur Erforschung der Demokratie» legt Historiker René Roca (Forschungsinstitut direkte Demokratie) den dritten Tagungsband vor, der die erste Trilogie abschliesst. Nachdem sich die beiden Vorgänger-Bände der anderen beiden grossen politischen Ideologien (des Katholizismus/Konservativismus sowie des Liberalismus) und ihres Einflusses auf die Entstehung der hiesigen direkten Demokratie angenommen haben, wird nun der unterschätzte Frühsozialismus gewürdigt.

Der Herausgeber führt zunächst in den Begriff und die Entstehung des Frühsozialismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein und nimmt dabei die notwendige Abgrenzung gegen andere, spätere sozialistische Strömungen wie den Marxismus vor. Im Gegensatz zu letzterem strebten die Frühsozialisten – ihren utopischen Vorstellungen zum Trotz – keine revolutionäre Umwälzung durch das Proletariat an. Vielmehr intendierten sie genossenschaftliche Wirtschafts- und Lebensformen im Privaten zu verbreiten und damit den mit der Industrialisierung einhergehenden sozialen Probleme an der Wurzel entgegenzuwirken. – Publizist Werner Wüthrich knüpft hier an und stellt die faszinierenden frühsozialistischen Vordenker Charles Fourier und seine Schüler Victor Considerant und Karl Bürkli vor. Ihr Einfluss auf die (Zürcher und mittelbar auch schweizweite) Demokratiebewegung ab den 1860er Jahren kann kaum überschätzt werden. Bürkli – Gegenspieler von Alfred Eschers «System» – gründete nicht nur den Konsumverein (heute: Coop) und verbreitete das Genossenschaftswesen, sondern forcierte auch die revolutionär-demokratische Zürcher Verfassung 1869 mit dem ausgebauten Volksinitiativrecht. Damit nicht genug, propagierten Considerant und Bürkli schon früh das Proporzwahlsystem, das im folgenden Jahrhundert die meisten Kantonsparlamente demokratisieren sollte.

Weitere vertiefende Detailstudien stammen von den Historikern Olivier Meuwly (über den heterogenen Westschweizer Radikalismus um den Genfer Revolutionär James Fazy und den Waadtländer Radikalliberalen Louis-Henri Delarageaz) und Ruedi Brassel (über Leonhard Ragaz’ religiösen Sozialismus). Rechtshistoriker Michael Lauener schliesslich widmet sich dem Volksschriftsteller Jeremias Gotthelfs, der sich dem Kampf gegen frühsozialistische wie radikalliberale Ideen verschrieb. Dem reformierten Pfarrer widerstrebte nicht nur die Säkularisierung, sondern auch die Volkssouveränität, welcher er die «gänzliche Urteilsunfähigkeit der Menge» entgegenhielt.

Silvano Moeckli: So funktioniert direkte Demokratie (utb)
Vor Jahresfrist haben wir an dieser Stelle Silvano Moecklis Büchlein «So funktioniert Wahlkampf» empfohlen. Nach der repräsentativen Demokratie erklärt der emeritierte Professor für Politikwissenschaft nun das Funktionieren der direkten Demokratie. Der Band ist eine aktualisierte und erweiterte Wiederauflage seines vergriffenen Bands «Direkte Demokratie» der Reihe «Kompaktwissen/Rüegger» – der hierzulande wohl besten Einführung in dieses Thema.

Der Autor definiert zunächst die Begriffe des direktdemokratischen Verfahrens und führt kurz in seine historischen Ursprünge ein (Antike, Schweiz, USA, Frankreich). Danach werden die Instrumente Volksinitiative und Referendum, ihre Verfahren, Erfordernisse und Möglichkeiten für diverse Staaten umrissen. Weitere Kapitel befassen sich mit den organisierenden und partizipierenden Akteuren (Regierung, Parlament, Justiz, Parteien, zivilgesellschaftliche Gruppen usw.), Statistiken zu Verbreitung und Gebrauch der Volksrechte und natürlich viele konkrete Beispiele von Sachfragen, über die irgendwo auf der Welt befunden worden ist.

Politikwissenschafter Moeckli verhehlt im Vorwort nicht, dass er als Schweizer Bürger eine positive Grundhaltung zur direkten Demokratie hat. Denn «die Gefahr beispielsweise, dass die Anliegen von Minderheiten übergangen oder gar unterdrückt werden, gibt es in jeder Form von Demokratie, nicht nur in der direkten». Sein optimistisches Bekenntnis zu dieser Demokratieform ist durchaus spürbar und hebt sich wohltuend von den zahlreichen Volksrechte-kritischen Debatten und Publikationen der letzten Jahre ab. Nichtsdestotrotz beleuchtet Moeckli aber durchaus zahlreiche (zumindest potentielle) «Dysfunktionen» im Kontext der direkten Demokratie, etwa die Schwächung von Parteien und Parlament, die Überforderung der Stimmbürgerschaft oder die Verschärfung politischer Konflikte. Besonders heikel – zumal international stark verbreitet, nicht nur bei «Brexit» – sind insbesondere plebiszitäre Volksabstimmungen, die von der herrschenden Regierung oder Parlamentsmehrheit ausgelöst werden. Moeckli aber hält fest: «Wesensmerkmal der direkten Demokratie sind nicht Abstimmungen über Sachfragen, sondern ist der minoritäre Charakter der Auslösung einer Sachabstimmung. Ein Teil des Elektorats kann gegen den Willen der politischen Mehrheit eine Sachabstimmung auslösen.»

Goran Seferovic: Volksinitiative zwischen Recht und Politik – Die staatsrechtliche Praxis in der Schweiz, den USA und Deutschland (Stämpfli)
Rechtsvergleichende Studien der direkten Demokratie zwischen der Schweiz und Deutschland respektive den USA sind kein Novum. Den hiesigen politischen Behörden scheint es in den letzten Jahren jedoch zusehends schwerer zu fallen, Volksinitiativen in das politische System zu integrieren – so führt gerade die Umsetzung von angenommenen Volksinitiativen auf Bundesebene bekanntlich regelmässig zu Schwierigkeiten. Goran Seferovic nimmt sich deshalb im Hinblick dieser neuen Ausgangslage in seiner Habilitationsschrift diesem politisch-rechtlichen Spannungsverhältnis an, in der Hoffnung, die Praxis der US-amerikanischen Gliedstaaten (insbesondere Kalifornien und Oregon) und der Bundesländer Deutschlands für die Schweiz fruchtbar machen zu können.

Hierzu wird im ersten Kapitel in straffer Form die Entstehung und Entwicklung der direkten Demokratie in den drei Vergleichsländern rekapituliert. Spannend (wenngleich längst andernorts untersucht) ist der Export des damals neuen direktdemokratischen Instrumentariums (Referendum, Volksinitiative, Volkswahl und Abberufung von Behörden) aus der Schweiz in die USA Ende des 19. Jahrhunderts. In Deutschland ist das Volksbegehren auf Länderebene demgegenüber noch verhältnismässig jung und geriet erst nach der Wiedervereinigung 1991 in Schwung. – Das zweite Kapitel vergleicht die sogenannten Homogenitätsklauseln in den Verfassungen der drei Bundesstaaten. Damit sind die Minimal-, vor allem aber auch die Maximalanforderungen an die direkte Demokratie in den Gliedstaaten gemeint. Gerade Deutschland sticht hier mit dem Finanzvorbehalt (Volksbegehren dürfen den Finanzhaushalt nur minim belasten) sowie strengen Sammelhürden und Beteiligungs- beziehungsweise Zustimmungsquoren hervor, die den Ausbau der Volksgesetzgebung doch stark erschweren.

Kapitel 3 nimmt sich dem Antagonismus Volksinitiative–Parlament an. Dazu gehören eher bekannte Problemfelder wie die behördlichen Informationen im Vorfeld der Abstimmungen, die Finanzierung der Abstimmungskämpfe und das Gegenvorschlagsrecht des Parlaments. Erhellend sind sodann die Ausführungen über die Umsetzung und die Abänderung von angenommenen Volksinitiativen, wozu Seferovic zahlreiche Fallbeispiele aus den USA und der Schweiz vorbringt. – Das ausführliche letzte Kapitel widmet sich dem Verhältnis zwischen Volksinitiativen und Gerichten. Hier sind die unterschiedlichen Gültigkeitserfordernisse ebenso angesprochen wie die vorgängigen oder nachträglichen Kontrollen durch Behörden und Gerichte. Gerade in den US-Gliedstaaten wird die Mehrheit aller an der Urne erfolgreichen «Propositions» später durch die Gerichtsinstanzen getragen, welche wiederum eine Mehrheit der Volksentscheide kassieren. – Der Schrift fehlt teilweise der rote Faden (auch, weil einige Kapitel aus früheren Publikationen bestehen) und wirkt manchmal etwas gar Einzelfall-bezogen. Auch überzeugen die vagen Schlussfolgerungen nicht vollends. Dennoch beleuchtet die gut lesbare Schrift diverse bisher kaum beachtete Spannungsfelder des Initiativrechts.

Adrian Vatter (Hrsg.): Das Parlament in der Schweiz (NZZ Libro)
Man kann nicht sagen, dass das Parlament hierzulande eine übermässig erforschte Institution wäre. Das mag mit seiner im internationalen Vergleich eher schwachen Stellung insbesondere im Verhältnis zum Stimmvolk zusammenhängen, die ein höheres Gewicht der Abstimmungsforschung rechtfertigt. Nichtsdestotrotz erstaunt es, dass in der politikwissenschaftlichen Literatur die Bundesversammlung eher wenig Beachtung findet, von den kantonalen Parlamenten ganz zu schweigen. Adrian Vatter, Professor für Schweizer Politik an der Universität Bern, möchte mit dem von ihm herausgegebenen Buch «Das Parlament in der Schweiz» diese Lücke füllen.

Das Werk versammelt Beiträge zu verschiedenen Aspekten des Parlaments. So erfährt man, welche Faktoren die Erfolgschancen parlamentarischer Vorstösse beeinflussen, wie sich die Rollen von Parlamenten in den Kantonen unterscheiden oder wie National- und Ständerat im Rahmen von Differenzbereinigung und Einigungskonferenzen zusammenarbeiten. Interessant ist etwa die Erkenntnis von Sereina Dick, dass sich der Ständerat in der Gesetzgebung öfter durchsetzt als der Nationalrat und insbesondere Geschäften, bei denen er als Erstrat fungiert, seinen Stempel aufzudrücken vermag. Dieser Vorteil hat sich seit 2006 gegenüber früheren Zeitperioden verstärkt, während zugleich die Konfliktivität zwischen den beiden Kammern zugenommen hat. Ein spannendes Thema, das bisher kaum Beachtung gefunden hat, ist die Rolle von Gemeinderäten in kantonalen Parlamenten. Die Untersuchung Tobias Arnolds zeigt nicht nur, dass deren Anteil sich zwischen den Kantonen stark unterscheidet, sondern dass er konkrete Auswirkungen auf politische Entscheide haben kann, wie am Beispiel der Aufteilung der Sonderschulkosten zwischen Kanton und Gemeinden gezeigt wird.

Manche Kapitel basieren auf bereits bekannten Erkenntnissen, während andere bisher unerforschte Aspekte beleuchten. Zuweilen wünschte man sich zu den Auswertungen etwas mehr Einordnung; immerhin versucht Adrian Vatter im Einleitungskapitel, die Kapitel zusammenfassend zu verknüpfen, und analysiert die Ergebnisse. So ist ein lesenswertes Überblickswerk entstanden. Der Untertitel «Macht und Ohnmacht der Volksvertretung» bringt die Rolle des Schweizer Parlaments gut auf den Punkt, das trotz der in der jüngeren Vergangenheit aufgewerteten Bedeutung immer noch etwas zwischen Stuhl und Bank scheint.

Daniel Graf / Maximilian Stern: Agenda für eine digitale Demokratie – Chancen, Gefahren, Szenarien (NZZ Libro)
Eigentlich ist es paradox, dass die Schweiz bei der Entwicklung der digitalen Demokratie ziemlich abseits steht. Immerhin ist sie die direkte Demokratie schlechthin, und auch der hiesige Denk- und Forschungsplatz wäre dem Thema Digitalisierung nicht per se abgeneigt. Es sind aber Länder wie Island, Taiwan oder Estland, welche den Staat und die Partizipationsmöglichkeiten der Bürger in das digitale Zeitalter transformieren. Und selbst die regelmässig als «undemokratisch» gescholtene EU ermöglicht längst, die EU-Bürgerinitiative online zu unterzeichnen. – Derweil müht sich die Schweiz mit schwammigen E-Government-Visionen und umstrittenen E-Voting-Versuchen ab.

Campaigning-Spezialist Daniel Graf und Politologe Maximilian Stern beleuchten in ihrer «Agenda für eine digitale Demokratie» dieses Abseitsstehen und skizzieren Wege zur digitalen Evolution, wobei sie stets den individuellen Bürger und seinen Wunsch nach Mitbestimmung vor Augen haben. Das Vernehmlassungsverfahren für Gesetzesentwürfe, welches heute primär Verbände interessiert, möchten sie digitalisieren, damit jedermann frühzeitig seine Meinung zur Gesetzesvorhaben einbringen kann. Die zähen Unterschriftensammlungen für Referenden, Petitionen und Initiativen sollen vom Marktplatz in die digitale Sphäre gehievt werden. Und selbst vor dem erhabenen, papierenen Abstimmungsbüchlein machen sie nicht Halt: Dieses würden sie gerne in eine deliberative Onlineplattform transformieren, wo die Bundeskanzlei Fragen der Stimmberechtigten beantwortet und Fakten richtigstellt.

Zwischen den Kapiteln streuen die Autoren stets augenzwinkernd kurze utopisch-naive Szenarien ein, welche sich in nicht allzu ferner Zukunft ereignen könnten. Da wird etwa flugs ein virtueller 27. Kanton ausgerufen (die «République digitale»), die Bürger mittels «Fondue Score» vermessen (Ähnlichkeiten mit dem Sozialkreditsystem in einem ostasiatischen Land sind rein zufällig) oder mit der «Ciao Parlament»-Initiative gar die repräsentative Demokratie durch eine dauernde Online-Landsgemeinde ersetzt (Beppe Grillo lässt grüssen). – Das sehr angenehm zu lesende und sich nie in technischen oder rechtlichen Details verlierende Buch schliessen die optimistischen Autoren mit dem Fazit: «Die Digitalisierung ist eine Wegbereiterin zunehmend kollaborativ ausgerichteter Institutionen und Prozesse, die den Bürgerinnen und Bürgern mehr Gestaltungsspielraum und Entscheidungsmacht übertragen. Sie sind immer weniger nur Zuschauerinnen und Zuschauer am Rand der Politik, sondern können aktiv ins Geschehen eingreifen und die Agenda beeinflussen.»

Steven Levitsky / Daniel Ziblatt: Wie Demokratien sterben – Und was wir dagegen tun können (DVA)
In der jüngeren Vergangenheit gab es wahrlich keinen Mangel an Büchern, welche in schrillen Tönen von einem Zusammenbruch der Demokratie warnen oder einen solchen gar bereits in vollem Gange sehen. Der Titel des Werks von Steven Levitsky und Daniel Ziblatt lässt ähnliches erwarten. Tatsächlich sehen die beiden Politikwissenschafter durchaus besorgt auf den Zustand der Demokratie in den USA. Zum Chor der Alarmisten kann man sie aber nicht zählen (2015 schrieb Levitsky sogar ein Buchkapitel mit dem Titel «The Myth of Democratic Recession»).

«How Democracies Die» ist in erster Linie eine sachliche und überzeugende Analyse darüber, wie demokratisch verfasste Staaten (vermeintlich) plötzlich zu Autokratien werden. Der Fokus des Buches auf die USA ist insofern erstaunlich, als die Autoren keineswegs Spezialisten für US-Politik sind: Levitskys Spezialgebiet ist Lateinamerika, Ziblatt beschäftigt sich vor allem mit Europa. Dort fanden sie gewisse Muster, die zu beobachten waren, bevor Länder den Pfad der Ent-Demokratisierung beschritten. Beispielsweise untersuchten sie, wie sich Autokraten in verschiedenen Ländern verhielten, bevor sie an die Macht kamen. In allen Fällen stiessen sie auf vier typische Merkmale: Die späteren Machthaber stellten die demokratischen Spielregeln infrage, weigerten sich, ihre Gegner als legitime Mitstreiter anzuerkennen, tolerierten Gewalt oder riefen sogar dazu auf, und sie zeigten sich bereit, die Grundrechte von Kritikern, etwa gewisser Medien, zu beschneiden. Donald Trump, so Ziblatt und Levitsky, erfüllt alle vier Punkte.

Dies bedeutet noch nicht, dass das Land auf dem Weg in den Autoritarismus ist. Die Autoren betonen auch, dass es unter Trumps Präsidentschaft bisher keine Anzeichen dafür gab. Gleichwohl halten sie die US-Demokratie heute für weniger stabil als auch schon. Trump sehen sie dabei weniger als Grund des Übels denn als Symptom einer Entwicklung, die bereits seit längerer Zeit im Gang ist: die extreme Polarisierung der amerikanischen Politik und, damit einhergehend, eine schleichende Erosion demokratischer Normen. Die amerikanische Demokratie hatte in der Vergangenheit immer wieder Krisen zu überstehen. Die demokratischen Normen, so betonen Levitsky und Ziblatt, verhinderten in diesen Zeiten ein Abdriften ins Autoritäre. – In der gegenwärtigen Situation mag die amerikanische Demokratie auch ohne Leitplanken weiterfunktionieren. Die wirkliche Bewährungsprobe für die Resilienz der demokratischen Ordnung aber könnte kommen – und zwar spätestens dann, wenn die USA einer schweren wirtschaftlichen oder aussenpolitischen Krise gegenüberstehen, die alle ihre Kräfte beansprucht.

Lilliana Mason: Uncivil Agreement – How Politics became our Identity (University of Chicago Press)
Seit den 1980er und 1990er Jahren stellt die Politikwissenschaft über sämtliche etablierte Demokratien hinweg eine Abschwächung der traditionellen Parteibindungen fest. Doch während die politischen Parteien als Organisationen an Mitgliedern und Vertrauen einbüssen, ist ihre soziale Integrationskraft ungebrochen stark. So stark, dass Lilliana Mason in ihrem Buch «Uncivil Agreement» die Anhängerschaft zu einer Partei als eigenständige Identität definiert.

Mason geht von der Beobachtung einer zunehmenden Polarisierung der amerikanischen Politik aus. Sie sieht diese aber nicht in erster Linie durch unterschiedliche politische Positionen begründet. Vielmehr fühlten sich Menschen einer Partei verbunden, weil Leute wie sie diese Partei wählen. Sie stellt fest, dass sich die Parteizugehörigkeit immer stärker mit anderen Eigenschaften wie Wohnort, Hautfarbe oder Religiosität überschneidet. Die Parteien werden so von Vertretern bestimmter politischer Positionen zu Trägern einer sozialen Identität. Aufgrund von Umfragen zeigt Mason überzeugend, dass Personen, die typische Eigenschaften «ihrer» Partei aufweisen, deutlich negativere Ansichten der jeweils anderen Partei gegenüber haben – unabhängig von ihren politischen Ansichten.

Wahlen werden so von einem Wettbewerb der Ideen zu einem Kampf, bei dem es nur darum geht, dass das eigene «Team» gewinnt. Das sind keine guten Nachrichten für die amerikanische Demokratie. Denn wenn die Wähler sich nicht aufgrund von Programmen oder Leistungen für eine Partei entscheiden, sondern aufgrund ihrer Identität, werden Parteien und Kandidaten auch nicht mehr für schlechte Leistungen zur Rechenschaft gezogen.

Amy Chua: Political Tribes – Group Instinct and the Fate of Nations (Penguin Press)
Um Polarisierung geht es auch im Buch von Amy Chua, «Political Tribes». Die Jus-Professorin geht das Thema aber grundsätzlicher an. Sie zeigt aufgrund von Beispielen weltweit, wie Politik von mehr oder weniger abgetrennten, auf bestimmten Merkmalen wie Ethnizität beruhenden Gruppen geprägt wird. Sie fokussiert vor allem auf Entwicklungs- und Schwellenländer wie Irak, Vietnam oder Venezuela, um dann im letzten Teil die Frage zu stellen, ob die USA zu einem Land geworden sind, das hinsichtlich dem «politischen Tribalismus» eine beunruhigende Ähnlichkeit zu manchen dieser Länder entwickelt hat.

Wie Lilliana Mason stellt sie eine Tendenz in der amerikanischen Bevölkerung fest, sich vermehrt in abgesonderte Gruppen aufzuteilen und sich fast nur noch mit Mitgliedern derselben abzugeben. Das müssen nicht (primär) politische Gruppen sein, Chua nennt etwa Nascar-Fans oder abstruse (aber sehr populäre) religiöse Bewegungen wie jene des «Charity Gospel» als Beispiele. Dennoch haben sie oft auch ein politisches Zusammengehörigkeitsgefühl, besonders wenn es um politisch bedeutsame Merkmale wie Ethnizität, Religiosität oder sexuelle Orientierung geht. Die wichtigste «Stammesidentität» ist laut Chua indes jene des Anti-Establishment, welche Donald Trump zu seinem Wahlsieg verhalf. Diese Identität findet ihr Gegenstück in der Gruppe der aufgeschlossenen, kosmopolitischen «Citizens of the World», die ironischerweise in Sachen Stammesdenken der von ihr verspotteten nationalistischen weissen Unterschicht in nichts nachsteht.

Die verstärkte Identifizierung mit spezifischen gesellschaftlichen Gruppen vermindert laut Chua nicht nur das gegenseitige Verständnis, sondern geht vor allem auf Kosten des Zusammengehörigkeitsgefühls über die individuellen Unterschiede hinweg, welches den Kern des amerikanischen Nationalgefühls ausmache. Im Gegensatz zu Mason hält sich Chua weniger mit empirischen wissenschaftlichen Erkenntnissen auf, was eine Schwäche des Buches darstellt, und fokussiert auf die grosse Geschichte. Diese schliesst sie mit einer optimistischen Note: Sie spüre ein Bedürfnis, die Blockade des politischen Tribalismus zu überwinden, schreibt sie.

Oliver Diggelmann: Völkerrecht – Geschichte und Grundlagen – mit Seitenblicken auf die Schweiz (Hier und Jetzt)
Alleine im vergangenen Jahr hat die Schweiz 541 neue Staatsverträge abgeschlossen. Doch im Gegensatz zu «gewöhnlichen» Bundesgesetzen, haftet dem Völkerrecht etwas Intransparentes, Unkontrollierbares und letztlich Undemokratisches an. Umgekehrt, mit Blick auf Brennpunkte von der Krim über die Türkei bis nach Syrien, scheint das Völkerrecht auch nicht wirkungsvoll genug, um Menschenrechtsverletzungen und kriegerische Auseinandersetzungen zu verhindern. Oliver Diggelmann, Völkerrechtsprofessor, greift in seinem Buch dieses Unbehagen – und wohl auch breite Unwissen – über das Völkerrecht auf, um diese Rechtsordnung einem interessierten (Laien)Publikum auf sehr verständliche wie unideologische Weise näherzubringen.

In der ersten Hälfte wird die historische Entstehung und Entwicklung des Völkerrechts nachgezeichnet. Ein erster Markstein waren die Friedensverträge nach dem Dreissigjährigen Krieg 1648, als sich eine Reihe moderner Territorialstaaten herausbildete. Nach dem militärischen Patt bedurften die konfessionell getrennten Staaten eines neutralen, säkularisierten Rechts. Wichtiges (wie irritierendes) Merkmal war das «Ius ad bellum», das Recht zum Krieg, das zur Selbstverteidigung und Wiederherstellung des Friedens angerufen werden durfte. Im 19. Jahrhundert sind der Wiener Kongress, die Kolonialisierung, der Freihandel und die Schiedsgerichte die Stationen. Im 20. Jahrhundert schliesslich stehen die nach den beiden Weltkriegen erfolgten völkerrechtlichen Entwicklungswellen im Vordergrund: Der Völkerbund, der die Friedensfrage kollektivieren sollte, später die UNO inklusive Sicherheitsrat, welcher die Sanktionsgewalt zentralisierte, sowie die Menschenrechte. – Diggelmann ergänzt die einzelnen Kapitel je mit spezifischen Seitenblicken auf die Schweiz, etwa wenn sie sich schon früh als beliebter Hauptsitz für internationale Organisationen etablierte, später dafür umso zögerlicher ebensolchen (z.B. EMRK, UNO) beitreten sollte.

Der zweite Teil erläutert systematisch das Völkerrecht als Rechtsordnung. Die Unschärfen beginnen hier bereits bei den massgeblichen Rechtsquellen: Was gehört überhaupt dazu? Hat Vertragsrecht Vorrang vor Gewohnheitsrecht? Weiter werden die Völkerrechtssubjekte unter die Lupe genommen, also die Träger von Rechten von Pflichten, von den anerkannten Staaten über internationale Organisationen bis hin zum Individuum. Zur Durchsetzung des Völkerrechts dienen Sanktionen, Gegenmassnahmen und Retorsionen. Ein gerade in der Schweiz virulentes rechtspolitisches Thema ist überdies die innerstaatliche Umsetzung (und Entstehung) völkerrechtlicher Normen. Diese «Verzahnungsfrage» ist ein Abwägen zwischen völkerrechtlicher Vertragstreue und innenpolitischer Legitimation. – Diggelmann schliesst mit der Aufforderung, sich «der unangenehmen Frage zu stellen, welche demokratische Legitimation für den interdependenten Staat des 21. Jahrhunderts bei nüchterner Betrachtung überhaupt realisierbar ist». Die Substanz der Demokratie werde tendenziell dünner.

Kilian Meyer / Adrian Riklin (Hrsg.): Frau Huber geht nach Strassburg (WOZ)
Der laute und schrille Abstimmungskampf über und vor allem gegen die «Selbstbestimmungsinitiative» ist vorbei – was aber noch weit über den 25. November 2018 hinaus bleibt, ist der Sammelband «Frau Huber geht nach Strassburg». Herausgegeben von Oberrichter Kilian Meyer und «Wochenzeitung»-Journalist Adrian Riklin vereint dieser die gleichnamige Serie, die über die letzten zwei Jahren verstreut in der «WOZ» erschienen ist. Die neun Reportagen gehen langwierigen und zähen Gerichtsverfahren nach, welche bis nach Strassburg an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gezogen wurden – allesamt mit Fallbezeichnung «X contre Suisse».

Die Beschwerdeführer werden darin aber keineswegs als anonyme Damen und Herren X. notiert, sondern werden in empathischen und eindrücklichen Geschichten portraitiert – mal ein Herr Müller, dann eine Frau Huber. Sie wehren sich hier gegen eine ungerechtfertigte, wochenlange Untersuchungshaft, dort gegen eine Busse wegen einer unterstellten Teilnahme an einer illegalen Demonstration. Andere Fälle betreffen die Kunstfreiheit, die Wehrpflichtersatzabgabe oder Verjährungsfristen. Einige Urteile sind 40 Jahre her, andere erst kürzlich gesprochen. So unterschiedlich die Sachverhalte und Rechtsprobleme auch sind, haben alle diese Fälle gemeinsam, dass mutige Rechtssuchende bis an die allerhöchste Gerichtsinstanz gelangten und dort die Schweizer Rechtsfortentwicklung massgeblich und nachhaltig prägten.

Dem Band kommt somit das Verdienst zu, dass neben den manchmal fragwürdigen Strassburger Entscheiden (Stichworte: Geschlechtsumwandlung, Namensrecht, Hausbesetzung) – auf die sich Medien und Politik jeweils genüsslich stürzen –, auch auf die positive Auswirkungen dieser «fremden Richter» und damit einhergehenden Errungenschaften für die hiesige Rechtsordnung aufgezeigt werden: Unabhängige Haftrichter, praktikable Verjährungsregeln, Meinungsäusserungsfreiheit, rechtliches Gehör. – Die Geschichten werden jeweils durch eine kleine rechtliche Würdigung abgerundet (die durchaus noch hätten erweitert werden dürfen), während in vier Zwischenkapiteln (u.a. von Regina Kiener) kurze Exkurse zur Thematik der Menschenrechte eingeflochten werden (einzig die Abstimmungspolemik von Andrea Huber von «Schutzfaktor M» wäre nicht nötig gewesen). Und besonders hervorgehoben werden muss schliesslich die äusserst attraktive Gestaltung, von der kreativen Bindung im Kartoneinband über die Illustrationen der Protagonisten bis hin zum abwechselnden Papierformat für die Zwischenkapitel. Alleine diese Äusserlichkeiten machen die Lektüre zum haptisch-optischen Hochgenuss.

Andreas Th. Müller / Werner Schroeder (Hrsg.): Demokratische Kontrolle völkerrechtlicher Verträge – Perspektiven aus Österreich und der Schweiz (Nomos/Dike/Facultas)
Die Aussenpolitik und damit insbesondere die Aushandlung internationaler Verträge sind klassischerweise eine exekutive Angelegenheit, womit jedoch ein demokratisches Defizit des Völkerrechts einhergeht. Der vorliegende Tagungsband widmet sich diesem Spannungsverhältnis mit Blick auf die Situation in Österreich und der Schweiz. Aus schweizerischer Sicht hervorzuheben sind vier Beiträge: Andreas Glaser und Carla Müller beleuchten die Mitwirkung der Bundesversammlung beim Abschluss völkerrechtlicher Verträge. Dem Parlament steht immerhin die Genehmigung solcher Verträge zu. Parallel zur fortschreitenden Internationalisierung hat sich die Bundesversammlung sukzessive weitere Mitwirkungsrechte bei den auswärtigen Angelegenheiten zurückerobert: Einerseits kommen den Aussenpolitischen Kommissionen während der Vertragsverhandlungen Informations- und Konsultationsrechte zu. Andererseits wurde die (den späteren Parlamentsbeschluss stark präjudizierende) vorläufige Anwendung von Staatsverträgen durch die Regierung eingeschränkt, indem die zuständigen Parlamentskommissionen hiergegen das Veto ergreifen können. Eine Novelle wird zudem künftig die Änderung und Kündigung von Staatsverträgen demokratisieren: Das Verfahren für den Vertragsabschluss soll auch auf Vertragsänderungen und -kündigungen angewandt werden.

Lorenz Langer wendet sich der demokratischen Kontrolle von Kompetenzübertragungen an internationale Institutionen zu. Der Staatsvertragsreferendum sei seiner Natur nach statisch und punktuell. Es richte sich bloss einmalig auf den Zeitpunkt des Vertragsabschlusses aus. Sind danach aber einmal Rechtsetzungskompetenzen an ausländische Organe abgetreten, kann das darauf fussende, sich weiterentwickelnde, «dynamische» Recht kaum mehr kontrolliert werden. Die Problematik manifestiere sich nicht nur beim EGMR, sondern insbesondere bei den bilateralen Verträgen. Zwar kann der Schweizer Souverän eine der zahlreichen «Schengen/Dublin»-Weiterentwicklungen ablehnen, doch fielen damit letztere für die Schweiz automatisch dahin. Remedur gegen diese Aushöhlung der direkten Demokratie gebe es keine.

Daniel Moeckli lotet die (völkerrechtlichen) Grenzen der Umsetzung von angenommenen Volksinitiativen aus. Er plädiert gegen irgendwelche formellen oder inhaltlichen Hürden fürs Initiativrecht, ebenso gegen eine feste Hierarchie von Völker- und Verfassungsrecht. Das Parlament habe einen grossen Spielraum bei Umsetzung von Initiativen, welche grundsätzlich völkerrechtskonform auszulegen seien. – Stephan Michel schliesslich hebt die Problematik von Soft Law hervor. Solche Regeln sind zwar rechtlich nicht verbindlich und damit nicht als völkerrechtliche Verträge zu qualifizieren, womit auch keine parlamentarische Mitsprache und Kontrolle einhergeht. Oftmals erweisen sich solche «weichen» Regeln dennoch als politisch unausweichlich. – Der erhellende Band hebt also Demokratiedefizite an diversen Orten hervor, leider aber zumeist ohne aufzuzeigen, wie die Mitwirkung des Parlaments (und des Volks) verbessert werden könnte.

Markus Müller: Religion im Rechtsstaat – Von der Neutralität zur Toleranz (Stämpfli)
Die Serie «Kleine Schriften zum Recht» möchte dem Leser die Essenz einer komplexen juristischen Materie in leicht verdaulicher Art präsentieren und dabei ein Thema auch einmal unter einem anderen Gesichtswinkel betrachten. Markus Müller, Berner Professor für Staats- und Verwaltungsrecht, ist Mitbegründer dieser Serie und beleuchtet in dieser Ausgabe das Spannungsverhältnis von Religion und Kirche auf der einen und Recht und Staat auf der anderen Seite.

Müller überrascht zunächst (etwa in Kontrast zu Lorenz Engis letztjähriger Schrift) mit seiner Kritik an der aus der Religionsfreiheit ausfliessenden Neutralität des Staats: Das Dogma wirke bei näherer Betrachtung matt und abgebleicht. Ziehe man in Betracht, dass die mit der Umsetzung betrauten staatlichen Akteure allesamt religiös geprägt seien, erscheine fraglich, ob sich religiöse Neutralität glaubwürdig umsetzen lasse. Der Staat solle daher nicht länger diesem Mythos anhängen. «Die realen Gegebenheiten legen ihm nahe, sich als tiefgreifend christlich-jüdisch geprägt zu erkennen und zu akzeptieren.» Um die Schutzziele der Religionsfreiheit besser umschreiben, wahren und durchsetzen zu können, sei es erstrebenswerter, von einer religiösen Toleranz (statt Neutralität) auszugehen. Dadurch würden Behörden und Individuen gleichermassen verpflichtet, Andersgläubigen mit Achtung, Respekt und Empathie zu begegnen. Umgekehrt müssten dabei aber auch die öffentlich-rechtlich anerkannten Kirchen vermehrt in die grundrechtliche Pflicht genommen werden.

Konsequenterweise geht Müller daher etwa mit dem Verbot der Frauenordination der römisch-katholischen Kirche hart ins Gericht: Entweder öffne sich die Kirche und lasse beide Geschlechter zu den geistlichen Ämtern zu. Oder sie verharre weiterhin in ihrer tradierten Haltung und verzichte fortan auf ihre privilegierte Stellung als öffentlich-rechtlich anerkannte Gemeinschaft (mit allen dazugehörigen, insbesondere finanziellen Vorteilen). Nur wenn der Rechtsstaat in solchen Fällen gravierender Grundrechtsmissachtung nicht weiter wegschaut, könne er glaubwürdig bleiben und dereinst auch fremden Religionsgemeinschaften, die mit unserer Rechts- und Gesellschaftsordnung konfligieren, berechtigte Vorbehalte entgegenhalten und durchsetzen.

Samuel Glättli / Marc Zollinger: Globi und die Demokratie (Orell Füssli)
Globi erkundete bereits das Schlaraffenland und den Meeresgrund, besuchte die Indianer und die Feuerwehr. Der bei Jung und Alt populäre und nie erwachsen werdende Papagei-Mensch stillt seine Neugier seit einiger Zeit aber auch in der Reihe «Globi Wissen», die aktuelle Themen kindgerecht in Sach- und Erzähltexten vermittelt. Anlässlich des 170-Jahr-Jubiläums der Bundesverfassung am 12. September 2018 reist Globi zusammen mit seiner Begleiterin Helvetia an diverse Schauplätze in der Schweiz, um mehr über die Idee der Demokratie zu erfahren.

Ausgangspunkt seiner Reise ist das Rütli, wo Globi nicht nur etwas über den Bundesbrief von 1291 erfährt, sondern auch noch Wilhelm Tell über den Weg läuft (ohne dass der Autor dabei die Mythen verklärt). Weitere Stationen sind Aarau (1798-1803 Hauptstadt der Helvetischen Republik), der Landsgemeindeort Glarus und natürlich das Bundeshaus in Bern, wo sogar Bundesrat Cassis den blauen Vogel zu einer Audienz einlädt. «Ganz ehrlich, als Kind wollte ich lieber Tramchauffeur werden», verrät ihm der Aussenminister. Anhand diverser solcher Orte und Begegnungen erfährt Globi und damit ebenso wissbegierige Kinder (ab etwa 9 Jahren), was es mit dem Bundesstaat und der Gewaltenteilung, der Viersprachigkeit, der Zauberformel oder einer Gemeindeversammlung auf sich hat. – Globi erfährt dabei freilich auch, dass nicht alle Staaten Demokratien sind, was eine Monarchie oder einDiktatur ist, dass Menschenrechte nicht überall gelten.

Speziell kinderfreundlich sind sodann Globis Besuch eines Klassenrats sowie die Ausführungen über die UNO-Kinderrechtskonvention und daraus ausfliessenden Kinderrechte. Schade einzig, dass hier nicht auf die mannigfaltigen weiteren Partizipationsmöglichkeiten für Kinder wie die Kinder-/Jugendparlamente, Petitions- und Motionsrechte oder die Jungparteien eingegangen wird. – Das von der Neuen Helvetischen Gesellschaft unterstützte und liebevoll illustrierte Kindersachbuch möge die Idee der Demokratie zu einer weiteren Generation weitertragen.

 

Siehe auch:

Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2017
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2016
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2015

Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2014

Landsgemeinde für Nicht-Landleute

Die Glarner Landsgemeinde ist bekannt als traditionsreiche Urform der Demokratie. Ihre Geschichte, ihre aktuelle Verfassung, die Vorzüge und Nachteile dieser Demokratieform bringt nun Lukas Leuzingers Buch «Ds Wort isch frii» einer breiteren Leserschaft näher.

«Ds Wort isch frii» (176 Seiten, Fr. 36.–) ist 2018 bei NZZ Libro erschienen.

Gäbe es den perfekten Autoren für ein Portrait über die Glarner Landsgemeinde in Buchform, er müsste Glarner Wurzeln haben, aber dennoch den unabhängigen Blick von aussen wahren können. Er müsste Politikwissenschaft studiert haben, der sich als auf Demokratiefragen spezialisierter Journalist einen gut verständlichen Schreibstil angeeignet hat. – Lukas Leuzinger (südlich des Linthkanals ausgesprochen als «Lüüziger»), Chefredaktor dieses Blogs, ist ein solcher Autor.[*]

Leuzinger hat während grob eines Jahres in und um Glarus recherchiert und sich der Urinstitution Landsgemeinde Glarus angenommen. Dieses traditionsreiche und dennoch auf der «roten Liste» der gefährdeten Demokratieformen fungierende Kuriosum ist schliesslich nur noch in zwei Kantonen anzutreffen, nebst Glarus noch in Appenzell Innerrhoden. Höchste Zeit, dass der Glarner Landsgemeinde eine Veröffentlichung gewidmet wird, die sich insbesondere an ein breiteres Publikum richtet und damit eine echte Lücke schliesst.

Wie bereits dem Untertitel zu entnehmen, gliedert sich das Buch in die drei Teile Geschichte, Gegenwart und Zukunft. Um auf die Entstehung dieser Institution zurückblicken zu können, muss im umfangreichsten ersten Teil (Die Geschichte der Landsgemeinde) ziemlich weit zurückgeblättert werden, ins Jahr 1387 nämlich, in welchem die Glarner Landsgemeinde erstmals dokumentiert ist. Damals wurde nicht über ein Radroutengesetz oder die Finanzierung des Hochwasserschutzes «gemehrt und gemindert» (wie an der diesjährigen Landsgemeinde), sondern über Leben und Tod gerichtet (Blutgerichtsbarkeit), über Krieg und Frieden befunden.

Landsgemeinde als Antithese zur Demokratiekrise

Leuzinger ist sichtlich gelegen, nicht nur die Eckpfeiler der über 600-jährigen Geschichte der Landsgemeinde zu rekapitulieren, sondern die Institution, den Kanton Glarus, sein Volk und auch die Eidgenossenschaft in den jeweiligen geschichtlichen Kontext zu setzen, um ebendieses Demokratiemodell mit ihren Vorzügen und Nachteilen einordnen und nachvollziehen zu können. Wer hätte so gedacht, dass es in Glarus bis ins 19. Jahrhundert beispielsweise gleich mehrere parallele Landsgemeinden gab? Im Kontext der Glaubensspaltung, die andernort gar zu Krieg und Kantonstrennungen führte, ist nachvollziehbar, dass es in Glarus eine protestantische und eine katholische Landsgemeinde gab. – Der Autor hätte den historischen Teil durchaus noch ausbauen und insbesondere dem interessierten Leser ein paar weitere umstrittene Landsgemeinde-Traktanden oder Wahlen näher bringen dürfen.

Im zweiten Teil (Die Landsgemeinde heute: Demokratisches Vorbild oder undemokratisches Kuriosum?) schaut Leuzinger zunächst weit über den «Zigerschlitz» hinaus, indem er auf die gegenwärtige weltweite «Krise der Demokratie» eingeht und die Landsgemeinde quasi als Antithese gegenüberstellt. Schliesslich – Wie die Landsgemeinde funktioniert – wird auf die eigentlichen Befugnisse und Verfahren der Portraitierten eingegangen. Leuzinger hält wenig vom Traditionalismus und Pomp rund um die jahrhundertealte Institution. Er hebt demgegenüber besonderes zwei funktionale Aspekte hervor: Das Rederecht und das Antragsrecht.

Wer sein Anliegen sachlich, kurz und klar vorbringt, kann mit einer Rede den Ausschlag für ein Ja oder Nein geben. Die Unvorhersehbarkeit macht den Reiz der Landsgemeinde aus. Natürlich haben Glarner ebenso wie Stimmbürger in anderen Kantonen mehr oder weniger gefestigte Ansichten und werden durch Parteiparolen oder eigene Vorurteile beeinflusst. Der Unterschied zum Urnensystem besteht darin, dass die Landsgemeinde einen zusätzlichen Kanal für die Meinungsbildung darstellt. Das Besondere an diesem Kanal ist, dass er im Vergleich zu anderen sehr ausgeglichen ist: Jeder hat die gleiche Möglichkeit, zu seinen Mitbürgern zu reden und sie von seiner Meinung zu überzeugen. Gleichzeitig ist jeder den Argumenten – jenen der Befürworter ebenso wie jenen der Gegner – in gleichem Masse ausgesetzt.

Das Juwel der Glarner Demokratie ist jedoch das Antragsrecht. Einerseits kann jeder Stimmberechtigte mittels Memorialsantrag – eine Art Volksinitiative, für die bloss eine einzige Unterschrift vonnöten ist – sein individuelles Begehren auf die Traktandenliste setzen. Andererseits können die Teilnehmer sogar noch an der Landsgemeinde selbst spontane Änderungsanträge einbringen. Resultat dieses unmittelbaren Mitwirkungsrechts war beispielsweise die extreme (und rechtswidrige) Gemeindezwangsfusion vor zwölf Jahren, als von den damaligen 25 Gemeinden zur Überraschung aller plötzlich nur noch deren 3 übrig geblieben sind. Mittels Antragsrecht wurden indes zumeist fortschrittliche Lösungen eingebracht und durchgesetzt, so ein Fabrikgesetz 1864 zum Schutz der Arbeiter und Kinder, die Einführung des Frauen- und später des Jugendlichenstimmrechts (ab 16 Jahren).

Das eigentlich Spezielle an der Landsgemeinde ist aber nicht die direkte Demokratie, sondern die tiefe Schwelle zur Mitbestimmung: Jeder einzelne Bürger kann per Antragsrechts Gesetzes- und sogar Verfassungsänderungen vorschlagen, und statt an der Versammlung nur Ja oder Nein zu sagen, kann jeder Teilnehmer Änderungsvorschläge zu traktandierten Vorlagen einbringen. Bezüglich des Zugangs der Bürger zum politischen Prozess ist das Antragsrecht an der Glarner Landsgemeinde sehr radikal. Trotzdem werden die Behörden nicht mit Anträgen überflutet, und die Antragsteller können ihre Anliegen meist vernünftig begründen. Das zeigt: Wenn man den Bürgern Verantwortung überträgt, verhalten sie sich verantwortungsvoll. Betrachtet man sie als störendes Element, werden sie sich auch so verhalten.

Makel der Vorzeigeinstitution

Leuzinger verhehlt aber auch die Nachteile dieser Demokratieform keineswegs, indem er das mangelnde Stimmgeheimnis, die Zählmethode (es wird selbst bei knappen Ergebnissen nicht gezählt, sondern geschätzt) sowie die gegenüber der Urnenwahl erschwerte Zugänglichkeit der Versammlungsdemokratie vorhält. Die Vorzeigeinstitution Glarus’ vermöge nämlich lediglich 20 bis 30 Prozent der Stimmberechtigten an den Zaunplatz zu locken (die Stimmbeteiligung muss unterdessen sogar noch auf durchschnittlich grobe zehn Prozent herunterkorrigiert werden!).

Auszug aus der Fotoreihe in «Ds Wort isch frii».

 

In einem kurzen dritten Teil schliesslich widmet sich Leuzinger der Zukunft der Landsgemeinde. Darin wird beleuchtet, inwiefern sich die Landsgemeinde heute Reformen unterziehen könnte, um einige der genannten Nachteile zu beheben und damit als Institution langfristig vital zu bleiben. Im Vordergrund steht dabei das Hilfsmittel der elektronischen Auszählung. Wie aber bereits so oft in der Vergangenheit, dürfte es auch dieses Landsgemeinde-Update sehr schwer haben. – Das sehr flüssig und spannend geschriebene Buch wird durch eine Fotoreihe und neun Testimonials («Stimmen zur Landsgemeinde») von Glarner Politikern und Bürgerinnen abgerundet.

 


[*] Der Rezensent hat eine frühe Fassung des hier vorgestellten Buchs gegengelesen.

Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2017

Im Folgenden präsentiert die Redaktion von «Napoleon’s Nightmare» ein Dutzend Bücher des vergangenen Jahres 2017, die besonderes herausgestochen sind. Sie beleuchten die Entstehung der direkten Demokratie, den religiös neutralen Staat, die politische Chancengleichheit und Beteiligung, die Verfassungsgerichtsbarkeit, den Kalten Krieg, die Psyche der Wähler – und eine Anleitung gegen Tyrannen.

Von Claudio Kuster und Lukas Leuzinger

 

Rolf Graber: Demokratie und Revolten – Die Entstehung der direkten Demokratie in der Schweiz (Chronos)
Wie ist die (direkte) Demokratie in der Schweiz entstanden? Mit dieser Frage haben sich zahlreiche Historiker und Juristen beschäftigt. Während die einen den Einfluss der französischen Revolution betonen, sehen die anderen die Wurzeln in älteren Formen der Mitsprache, in den Landsgemeinden und Gemeindeversammlungen, die bereits bis ins Mittelalter oder die frühe Neuzeit zurückreichen. Der Historiker Rolf Graber verneint weder die einen noch die anderen Einflüsse. In seinem Buch «Demokratie und Revolten» stellt er aber einen anderen Aspekt der Demokratiegeschichte in den Vordergrund: die inneren Konflikte.

Aus seiner Sicht konnte die moderne Demokratie in der Schweiz nur entstehen, weil sich unterschiedliche Gruppen immer wieder gegen die jeweiligen Herrscher auflehnten und ihre Rechte einforderten. Diese Aufstände und Revolten werden in der Geschichtsschreibung wie auch im Geschichtsunterricht etwas stiefmütterlich behandelt, dabei war die Eidgenossenschaft auch im internationalen Vergleich lange ein sehr unruhiges Land. Beispiele sind die zahllosen Aufstände in den Untertanengebieten der Alten Eidgenossenschaft, der Widerstand der benachteiligten Landbevölkerungen in Zürich, Basel oder Bern gegen die dominierenden Städte oder die Protestbewegung der Demokraten gegen die freisinnige Vormachtstellung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Graber beschreibt und analysiert diese Bewegungen im Detail und portraitiert ihre Anführer. Er bringt so eine interessante Perspektive in die schweizerische Demokratiegeschichte ein, die er der «unilinearen liberalen Meistererzählungen» gegenüberstellt. (Siehe auch: Mit Protest und Revolten zur direkten Demokratie)

Andrea Töndury: Toleranz als Grundlage politischer Chancengleichheit (Dike)
Wie selbstverständlich wir doch heute die Grundsätze unserer demokratischen Gesellschaft nehmen und dabei oft völlig ausblenden, welche langen geistesgeschichtlichen Weg, welche Konflikte und welche Anstrengungen nötig waren, um diese Grundsätze zu verankern. Andrea Töndury führt dies in seiner Habilitationsschrift über die politische Chancengleichheit beispielhaft vor Augen. Er zeigt auf, was Geistesgrössen von der Antike bis zur Aufklärung – von Platon über Thomas von Aquin bis hin zu Condorcet – über Toleranz gedacht und geschrieben haben, wobei er nicht nur weit zurückgeht, sondern sich auch sehr fundiert mit den verschiedenen Theorien und Auffassungen auseinandersetzt. Die zeigt den engen Zusammenhang zwischen Vorstellungen über Toleranz und solchen über politische Chancengleichheit überzeugend auf.

Erst wenn man Andersdenkende als gleichwertig akzeptiert, kann man ihnen auch gleiche politische Rechte zugestehen. Das erklärt auch die Ablehnung vieler früher Denker der Demokratie gegenüber. Der Prozess hin zu einer gewissen Akzeptanz Andersdenkender dauerte Jahrhunderte. Selbst bei Aufklärern wie Kant und Rousseau ist Toleranz mit Einschränkungen verbunden und ihre Theorien sind geprägt von paternalistischen Vorstellungen, wie Töndury schreibt. Er selbst leitet aus der Idee der Toleranz strenge Grundsätze für die politische Chancengleichheit ab: Diese erfordert einerseits, dass es innerhalb des Kreises der Stimmberechtigten keine Abstufungen gibt. Andererseits reicht es nicht, dass formal alle Stimmberechtigten die gleichen Rechte haben. Sie müssen auch in der Praxis die gleichen Chancen haben, diese auszuüben.

Aus der geistesgeschichtlichen Analyse zieht Töndury im letzten Teil seiner Studie Schlussfolgerungen für die Ausgestaltung demokratischer Institutionen heute. Nach seiner Auffassung wird auch in heutigen Demokratien dem Grundsatz der politischen Chancengleichheit nur ungenügend nachgelebt. Etwa, wenn bei Majorzwahlen starke Minderheiten von einer Repräsentation ausgeschlossen werden. Oder wenn die Transparenz über die Finanzierung politischer Kampagnen eingeschränkt beziehungsweise nicht vorhanden ist. Denn wechselseitige Toleranz im politischen Wettbewerb setze auch das Wissen über den politischen Gegner voraus.

Lorenz Engi: Die religiöse und ethische Neutralität des Staates (Schulthess)
Die Habilitationsschrift von Rechtsphilosoph Lorenz Engi widmet sich einem so abstrakten wie auch virulenten Thema, das religiöse, kirchliche, staatsphilosophische, historische, rechtliche, politische und gesellschaftliche Aspekte beschlägt: die ethische und religiöse Neutralität des Staates. Gemäss Engi verlangt diese, dass der Staat gegenüber umfassenden Lehren des guten Lebens und religiösen Glaubenssystemen neutral ist. Im Kern bedeute diese Neutralitätsforderung ein Gebot der Begründungsneutralität: Der Staat müsse sein Handeln mit Gründen rechtfertigen können, die von ethischen oder religiösen Lehren unabhängig sind. Staatliche Massnahmen dürften sich dabei aber durchaus auf unterschiedliche Gruppierungen oder Anschauungen unterschiedlich auswirken. Immerhin müsse der Staat jedoch in all seinen Handlungen und Äusserungen hinreichende Distanz zu religiösen und ethischen Lehren wahren.

Im zweiten, staatsrechtlichen Teil, entwirft Engi ein Prüfprogramm, an welchem sich später konkrete Problemstellungen daran messen lassen, ob sie der Neutralitätsforderung genügen. Zu berücksichtigen ist vorneweg, ob staatlicher Zwang aktiviert ist. Nur bei zwingenden Normen und Massnahmen sei das Neutralitätsgebot zu beachten (nicht aber etwa bei Symbolik). Weiter sei zu prüfen, ob jeweils überzeugende religiös und ethisch neutrale Gründe für das staatliche Handeln angeführt werden können und ob der hinreichende Abstand zu den religiösen Lehren eingehalten ist. – Das Institut der öffentlich-rechtlichen Anerkennung von Religionsgemeinschaften etwa sei zu rechtfertigen. Denn gerade um den notwendigen Abstand zum Staat zu gewinnen, sei den Religionsgemeinschaften ein besonderer Rechtsstatus einzuräumen. Die Anerkennung habe nicht den Sinn einer Einbeziehung der Kirchen und Religionsgemeinschaften in den Bereich staatlicher Gewalt, sondern im Gegenteil, ihnen einen Raum autonomer Gestaltung zu eröffnen. Beleuchtet werden sodann die finanzielle Unterstützung und die Steuererhebung durch den Staat, der Religionsunterricht, die theologischen Fakultäten sowie die Formen der Lebensgemeinschaften.

Im dritten und letzten Teil schliesslich prüft Engi diverse konkrete und durchaus aktuelle und teilweise umstrittene Einzelfragen, ob sie der Neutralitätsforderung genügen: Kreuze in Schulzimmern, die Gottesanrufung in Verfassungen, Schweizer Wappen und Landeshymne, Kopftuch-Tragen durch Lehrerinnen und Schülerinnen, Sonntag und Feiertage, Schimmunterricht, Minarettverbot (einzig das Burkaverbot fehlt). – Auch wenn seine Ergebnisse rechtspolitisch nicht immer zu überzeugen vermögen (so die Problematisierung des Kreuzes in Schulhäusern bei gleichzeitiger Akzeptanz von Kopftuch-tragenden Lehrerinnen), legt Engi eine für diverse aktuelle wie zukünftige Religions-Debatten wichtige und nüchterne, überdies äusserst systematische und lesbare Schrift vor.

Timothy Snyder: Über Tyrannei – Zwanzig Lektionen für den Widerstand (C.H.Beck)
Das «Ende der Geschichte» wurde bekanntlich vertagt. Doch auch die Geschichte, die sich wiederholt, kann nicht als historische Grundregel herhalten. Immerhin aber, so einleitend Timothy Snyder (US-Historiker, Fachgebiete Osteuropäische Geschichte und Holocaust), könne man aus ihr lernen. So wie die damaligen Gründervater der amerikanischen Verfassung die antiken Demokratien und Republiken untersuchten, aus ihrem Abgleiten in Oligarchien und Imperien die richtigen Schlüsse zogen und darob das Recht und die Gewaltenteilung als Grundpfeiler ihrer neuen demokratischen Ordnung etablierten.

Lernen aus vergangenen Tyranneien müssten aber nicht nur Verfassungsväter, Politiker und andere Eliten – sondern gerade die Zivilgesellschaft, die ganz gewöhnlichen Bürgerinnen und Bürger, an die sich die 20 Lektionen das schmalen Büchlein mit dem etwas alarmistisch-polemischen Titel richten. «Verteidige Institutionen» lautet eine der ersten Anweisungen: Staatliche und private Institutionen wie Gerichte, Medien, Gewerkschaften, NGOs usw. schützten sich nicht hinreichend selber, sondern bedürften der Verteidigung aus der Gesellschaft. Man solle daher Partei ergreifen für eine Institution, die einem am Herzen liege. – Eine andere Lektion mahnt: «Führe ein Privatleben». Denn Tyrannen und ihre Regimes würden alles, was sie über einem wissen, dazu verwenden, um ihn oder sie zu schikanieren. Statt E-Mail, das von jedermann gelesen werden kann, solle auf alternative Kommunikationskanäle ausgewichen werden, ja ohnehin vom Internet weniger Gebrauch gemacht werden. – Oder: «Achte auf gefährliche Wörter» wie «Extremismus» oder «Terrorismus», mit welchen allzu oft ein (Dauer)Ausnahmezustand ausgerufen und legitimiert werde.

Die 20 Lektionen mögen da und dort gar weit hergeholt erscheinen, Snyder begründet sie jedoch einzeln und prägnant anhand zahlreicher Gegebenheiten, Entwicklungen und Missstände des 20. Jahrhunderts. Etwa Beispiele von Soldaten und Polizisten, Anwälten und Ärzten, die sich – quasi freiwillig – zu Erfüllungsgehilfen des nationalsozialistischen Regimes gemacht haben, obschon sie nicht einmal dazu aufgefordert wurden. Oder vormalige Vielparteienstaaten, die sukzessive in Einparteienstaaten wie der kommunistischen Tschechoslowakei oder Russland abgleiteten. – Letztlich ist es aber irrelevant, auf welcher «Gefahrenstufe der Tyrannei» sich ein Staat befindet: Snyders allgemeingültige Lektionen haben selbst, ja gerade in «Musterdemokratien» ihre Rechtfertigung, in denen die «Demokratie als Hüterin der Menschenrechte» (Zaccaria Giacometti) wacht.

Wolf Linder / Sean Müller: Schweizerische Demokratie – Institutionen/Prozesse/Perspektiven (Haupt)
Jeder Politologie-Student in der Schweiz kennt das berüchtigte blaue Buch, in dem Wolf Linder die «Schweizerische Demokratie» erklärt und uns damit unzählige lehrreiche, spannende und (vor Prüfungen) nervöse Stunden beschert hat. Nun ist das Standardwerk in der 4. Auflage erschienen. Der Inhalt wurde dabei aber nicht nur aktualisiert. Vielmehr hat der inzwischen emeritierte Professor Linder mit seinem ehemaligen Studenten Sean Müller das Buch grundlegend überarbeitet, was auch die Ergänzung der Autorenschaft rechtfertigt. Auf über 100 zusätzlichen Seiten gehen die beiden insbesondere auf jüngere Entwicklungen ihres Fachgebiets wie auch der schweizerischen Politik ein.

So wird etwa das Schlagwort des «Populismus» erstmals (und durchaus differenziert) behandelt und die Veränderung der politischen Prozesse in der Schweiz insbesondere in Folge der Globalisierung beschrieben. Die gewichtigste Neuerung findet sich aber im letzten Kapitel, das sich der «Zukunftsfähigkeit der schweizerischen Institutionen» widmet. Diese Zukunftsfähigkeit sehen Linder und Mueller im Grunde gegeben, zugleich sehen sie im Kontext von Globalisierung und Internationalisierung der Politik grosse Herausforderungen für die schweizerische Demokratie. Der helvetische Weg der bilateralen Verträge mit der EU (die als «neoliberales Programm» bezeichnet wird), ist den Autoren zufolge die Strategie mit den «grössten Risiken und geringsten Wirkungen», weil jede Ablehnung eines neuen Abkommens die gesamten Beziehungen zur EU aufs Spiel setze. Erstaunlich positiv fällt dagegen das Urteil über die Option eines EU-Beitritts aus, den sie als durchaus vereinbar mit den Volksrechten sehen. Auch auf das Thema von Initiativen, die mit internationalem Recht oder rechtsstaatlichen Prinzipien kollidieren, gehen Linder und Mueller ein, wobei sie sich für politische Lösungen solcher Konflikte statt juristisch-dogmatischer aussprechen.

Trotz dieser Neuerungen bleibt die «Schweizerische Demokratie» im Grunde das, was sie schon seit der 1. Auflage war: ein ungemein hilfreiches Werk nicht nur für jene, die mehr über das politische System der Schweiz erfahren möchten, sondern auch für jene, die zum Nachdenken darüber angeregt werden möchten.

Martin Schubarth: Verfassungsgerichtsbarkeit (Stämpfli)
Die Verfassungsgerichtsbarkeit ist ein schillerndes Phänomen, über das schon vieles publiziert worden ist. Im Wesentlich geht es dabei um eine Normenkontrolle von unterrangigen Erlassen auf Konformität mit übergeordnetem Recht durch ein Gericht, typischerweise um die Frage, ob ein Gesetz der höherrangigen Verfassung genügt. Der streitbare ehemalige Bundesgerichtspräsident Martin Schubarth legt nun die zweite, stark erweiterte Auflage seiner Schrift «Verfassungsgerichtsbarkeit» vor.

Er versucht dabei gar nicht erst, dieses Konzept systematisch und institutionell zu beleuchten. Im ersten Teil untersucht er stattdessen rechtsvergleichend die Evolution der Verfassungsgerichtsbarkeit: Wann und unter welchen Bedingungen entsteht sie? Indem er die meisten europäischen Staaten betrachtet und die Entstehung – und mindestens ebenso wichtig: ihre Inexistenz oder gar Abschaffung – von Verfassungsgerichten darlegt, zeigt er schlüssig auf, dass diese Institution nicht einfach vom Himmel fällt. Im Gegenteil, Verfassungsgerichtsbarkeit entsteht oft in ausserordentlichen Konstellationen, sie ist zumeist Folge von postrevolutionären Zuständen, sei es in Nachkriegs-Deutschland, den östlichen Transitionsstaaten Polen, Ungarn, Rumänien, dem geteilten Zypern oder den Nachfolgestaaten Jugoslawiens. Länder mit einer kontinuierlichen Verfassungsentwicklung wie die Niederlande, Grossbritannien, die skandinavischen Länder oder die Schweiz kennen sie demgegenüber nicht. Gemäss Schubarth ist die Verfassungsgerichtsbarkeit daher keineswegs die «Krönung des Rechtsstaats».

Im zweiten Teil nimmt sich Schubarth einem Gerichtshof an, der eigentlich gar kein Verfassungsgericht ist, sich aber zusehends so gebärde: der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg. Die Rechtsprechung des EGMR sei in gewissen Bereichen überbordend und greife unnötig in die Hoheit der nationalen Parlamente ein. Da sich der Gerichtshof illegitimerweise zu einem gesamteuropäischen Gesetzgeber aufschwinge, komme dies einem Staatsstreich gleich. Diese harsche Kritik – Schubarth bezeichnet sich aber explizit nicht als EMRK-Gegner, sondern als Anhänger der ersten Stunde – wird mit diversen Beispielen belegt, so etwa wenn der EGMR entscheidet, ob Jungen von Finnland bis Portugal den Namen «Axl» tragen dürfen oder nicht. – Eine manchmal etwas polemische, aber aufgrund ihrer rechtspolitischen Relevanz lesenwerte und letztlich überzeugende richterliche Minderheitsmeinung.

Thomas Buomberger: Die Schweiz im Kalten Krieg 1945–1990 (Hier und Jetzt)
Der Kalte Krieg, das atomare Wettrüsten zwischen den USA und der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg, erhitzte während Jahrzehnten auch die (sicherheits-)politische Stimmung und militärische Doktrin in der Schweiz – gerade im neutralen Kleinstaat, der so gar nie im Fokus der zwei Grossmächte stand. Historiker Thomas Buomberger zeichnet die hiesigen Entwicklungen der Nachkriegszeit in einer quellenreichen und detaillierten Gesamtübersicht nach, die vor allem die Phase von 1945 bis 1970 genauer beleuchtet.

Die Ende der 1930er Jahre von Bundesrat Philipp Etter ersonnene «Geistige Landesverteidigung» wider die faschistischen Ideologie konnte nach dem Weltkrieg quasi um 180 Grad gedreht werden und diente fortan als helvetisches Leitprogramm gegen den Kommunismus, dem Staatsfeind schlechthin. Diese Abwehrhaltung manifestierte sich hauptsächlich gegen den vermeintlichen Feind im Inneren, namentlich die Mitglieder der kommunistischen Partei der Arbeit – und alle weiteren Personen, die sich verdächtig machten, «Moskau-gesteuert» zu sein. – Weitere Stationen der paranoiden «totalen Landesverteidigung»: Aufbau des Aufklärungsdienstes, psychologische Kriegsführung mit «Soldatenbuch» und «Zivilverteidigungsbüchlein», Schnüffelei und Denunziantentum, Atom-Euphorie inklusive Pläne zum Bau eigener nuklearer Waffen, aber auch der Skandal um das Mirage-Kampfflugzeug und später die Zivilschutzbunker, in denen die Bevölkerung selbst den Atomkrieg hätte unbeschadet überleben sollen.

Buomberger erzählt Dutzende Beispiele von rückblickend tatsächlich absurdem Verhalten der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Elite und zieht damit mehr oder weniger die gesamte bürgerliche Schweiz ins Lächerliche, was in der Ex post-Betrachtung doch nicht durchwegs gerechtfertigt erscheint. Trotz dieser etwas einseitigen Brille ein sehr gut lesbares und verständliches sowie lückenfüllendes Werk mit umfangreichen Quellenangaben, Literatur- und Personenregistern.

René Roca (Hrsg.): Liberalismus und moderne Schweiz (Schwabe)
Historiker René Roca und sein «Forschungsinstitut direkte Demokratie» führen regelmässige Konferenzen zur – hierzulande sträflich vernachlässigten – historischen Aufarbeitung der (direkten) Demokratie durch. Die jährlichen Tagungen widmen sich jeweils besonderen Ideologien – so etwa des Einflusses des Katholizismus, des Frühsozialismus, des Naturrechts oder der Genossenschaften auf die Schweizer Demokratie. Der aktuelle Tagungsband untersucht den Einfluss des (Früh-)Liberalismus respektive liberaler Denker auf die Demokratisierung. Herausgeber Roca bietet in seinem umfangreichen Einstiegskapitel einen guten Überblick über die Quellen, Vordenker und Akteure des schweizerischen Liberalismus, um diesen anschliessend – gerade im Kontext der direkten Demokratie – in die Trias Liberalismus–Radikalismus–Demokratismus aufzufächern.

Historiker Paul Widmer nimmt sich den frühliberalen Denkern Emmanuel Sieyès und Benjamin Constant an, die beide die direkte Demokratie ablehnten. Der Rousseau’schen Idee der Volkssouveränität standen sie kritisch gegenüber, aus Sorge um Freiheitsrechte, Minderheitenschutz, Despotismus. In einer arbeitsteiligen Gesellschaft sah insbesondere Constant das Repräsentativsystem als adäquate politische Form. – Robert Nef (Liberales Institut) untersucht derweil, ob der klassische Liberalismus mit der direkten Demokratie kompatibel ist, wofür er den Staatsrechtler Zaccaria Giacometti und den liberalen Ökonomen Friedrich August von Hayek beizieht. Nef beschäftigt sich insbesondere mit dem der Demokratie inhärenten Mehrheitsprinzip, das bezüglich der Freiheit ambivalent zu betrachten, ja eigentlich mit der liberalen Privatautonomie unvereinbar sei.

Der Beitrag von Historiker Werner Ort widmet sich der Suche Heinrich Zschokkes nach der «richtigen» Demokratie. Auch jener war kein Freund der direkten Demokratie. Zschokke unterstellte ihr Irrationalismus und Eigennutz, sie würde den Konsens in der Gesellschaft und in der Tendenz die nötigen Reformen verhindern. Selbst lange Zeit im Aargauer Grossen Rat einsitzend, befürwortete auch Zschokke den Parlamentarismus. – Auch wenn die Autoren den Einfluss «der Liberalen» auf die Demokratie (die Verdienste etwa von Ludwig und Wilhelm Snell, Thomas Bornhauser, Henri Druey usw. werden kaum bis gar nicht gewürdigt) letztlich etwas einseitig abhandeln, bringen sie dennoch wichtige und oftmals unterschlagene Vorbehalte gegen den «liberalen Gründungsmythos» vor.

Silvano Moeckli: So funktioniert Wahlkampf (utb)
Auf kompakten 200 Seiten nimmt sich Silvano Moeckli (emeritierter Professor für Politikwissenschaft) dem Dauerthema Wahlkampf an. Im Gegensatz zu den hiesigen Standardwerken von Mark Balsiger versteht sich Moecklis Publikation weniger als «Wahlkampf-Anleitung» für Kandidaten – obschon der Autor als langjähriger Wahlexperte und internationaler Wahlbeobachter durchaus viel Praxiswissen mitbringt –, sondern als Einführung, die sich an eine breite Leserschaft richtet. Sein Büchlein ist in zehn Kapitel gegliedert.

Einleitend weist Moeckli auf den jeweiligen Kontext eines Wahlkampfes hin, so das Wahlsystem oder die Medienlandschaft, die gegebenenfalls matchentscheidend sein können. Danach wird die Wahlkampfstrategie («die planmässige Ausrichtung eines Wahlkampfes auf eine Idee unter Berücksichtigung des Kontextes und der verfügbaren Ressourcen») und die unterschiedlichen Kommunikationsstrategien erläutert, so das Agenda-Setting oder das Erlangen von Aufmerksamkeit durch provokative Plakate. Moeckli hinterlegt dabei die zugrundeliegenden theoretischen Konzepte mit unzähligen anschaulichen Beispielen aus der Praxis, vornehmlich aus der Schweiz, Deutschland und den USA, aber auch anhand Wahlkämpfen aus vielen anderen Staaten.

Nach den «Themen im Wahlkampf», die man setzen (oder vermeiden) kann, folgt das zentrale und ausführliche Kapitel «Instrumente im Wahlkampf». Darin werden die mannigfaltigen mittelbaren und unmittelbaren Kommunikationskanäle besprochen, wie Inserate, Direktkontakte, Direktmarketing, Leserbriefe, Meinungsumfragen, Videos, Social Media oder Big Data – Instrumente also, um an das Elektorat zu gelangen und zu mobilisieren. Weitere Kapitel beschlagen den Typus der Kandidierenden, die Wählertypen und ihre Wahlentscheidung sowie abschliessend der Wandel der Wahlkämpfe («Amerikanisierung»). – Positiv hervorzuheben ist Moecklis (er war früher selber SP-Kommunalpolitiker und St. Galler Kantonsrat) unideologischer Umgang mit Parteien, Kandidaten und Kampagnen aus dem ganzen politischen Spektrum, was leider zusehends selbst in wissenschaftlichen Publikationen keine Selbstverständlichkeit mehr darstellt.

Markus Freitag: Die Psyche des Politischen (NZZ Libro)
Die Wahl Donald Trumps und die Spekulationen über den Einfluss von auf die Persönlichkeit angepasste Werbung auf Facebook haben das Thema in die Schlagzeilen gebracht. Die Wissenschaft beschäftigt sich hingegen schon länger mit der Frage, welchen Einfluss die Psyche auf politische Entscheide hat. Der sogenannte sozial-psychologische Ansatz ist eines der drei klassischen Modelle zur Erklärung von Wählerverhalten (neben dem sozial-strukturellen und dem Rational-choice-Ansatz). Untersuchungen zur Schweiz dazu sind bislang allerdings eher dünn gesät.

Mit «Die Psyche des Politischen» leistet der Politikwissenschaftler Markus Freitag hier Aufholarbeit. Das Buch liefert nicht nur neue Erkenntnisse auf der Grundlage von vier Umfragen mit insgesamt 15’000 Befragten, sondern ist auch anschaulich geschrieben und daher nicht nur für Politologen von Interesse. Freitags Untersuchung basiert auf dem sogenannten Fünf-Faktoren-Modell, gemäss dem sich Persönlichkeitseigenschaften in fünf Grunddimensionen einteilen lassen: Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extrovertiertheit, Verträglichkeit und Neurotizismus. Auf Basis der Umfragedaten stellt Freitag fest, dass die Ausprägungen dieser Eigenschaften massgeblich mit politischen Einstellungen zusammenhängen. So sind etwa gewissenhafte Personen eher konservativ eingestellt. Für sie ist die Einhaltung von Recht und Ordnung sowie Preisstabilität wichtig, während offenen Personen die Garantie der Meinungsfreiheit ein zentrales Anliegen ist. Offene befürworten auch die Zuwanderung am stärksten. Für Verträgliche ist vor allem ein starker Sozialstaat wichtig. Gewissenhafte befürworten in beiden Bereichen eher eine Begrenzung.

Die Befragungen decken diverse Politikbereiche ab, selbst der Einfluss der Persönlichkeit auf den Medienkonsum wird untersucht (interessant ist beispielsweise, dass neurotische Leute eine starke Präferenz für den «Blick» haben, während Gewissenhafte durch die NZZ abgeschreckt werden, was Freitag damit erklärt, dass die tiefgründigen Analysen des Blatts dem Effizienzstreben gewissenhafter Menschen entgegenlaufen). Insgesamt erwies sich die Persönlichkeit laut Freitag in den meisten Analysen als ebenso wichtig wie die Bildung, das Geschlecht oder andere soziodemografische Einflussgrössen. Deshalb ist es durchaus gerechtfertigt, sich mit der Persönlichkeit als Einflussgrösse auf die Politik zu beschäftigen. Und natürlich auch, um eine Grundlage zu haben, um dem Missbrauch dieses Faktors etwas entgegenzusetzen.

participationgapRussell J. Dalton: The Participation Gap (Oxford University Press)
Das allgemeine Stimm- und Wahlrecht basiert auf der Idee, dass jeder Bürger, jede Bürgerin die gleiche Möglichkeit hat, an kollektiven Entscheiden mitzuwirken. Doch nicht alle machen in gleichem Masse von dieser Möglichkeit Gebrauch. In der Schweiz etwa ist die Beteiligung von unter 30-Jährigen an Abstimmungen etwa halb so hoch wie jene der über 60-Jährigen. Auch die Bildung spielt eine entscheidende Rolle für die Ausübung der politischen Rechte. Ist das ein Problem? Ja, ist Russell Dalton überzeugt. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler hat für sein Buch «The Participation Gap» die Unterschiede der Beteiligung zwischen verschiedenen soziodemografischen Gruppen in 20 etablierten Demokratien untersucht.

Er beschränkte sich dabei nicht auf die Wahlbeteiligung, sondern analysierte auch andere Formen der politischen Partizipation, etwa die Teilnahme an Protesten oder politische Aktivität im Internet. Die Bedeutung dieser Beteiligungsformen wächst tendenziell, was grundsätzlich zu begrüssen ist. Allerdings nehmen dadurch die Unterschiede zwischen den Bevölkerungsgruppen noch zu, weil, wie Dalton zeigt, der «Participation gap» bei diesen Aktivitäten noch grösser ist als bei der Wahlbeteiligung. Dies stelle eine Gefahr für die Demokratie dar. Denn wer im Chor der Stimmbürger nicht oder nur leise mitsingt, wird von den Politikern nicht gehört. Haben bestimmte Gruppen dauerhaft ein tieferes Gewicht bei Entscheidungen, gerät das Grundprinzip der Demokratie aus der Balance: dass jene, die betroffen sind, entscheiden sollen.

Jason Brennan: Gegen Demokratie (Ullstein)
Es scheint zur Mode zu werden, Bücher zu publizieren, die im Titel mit grossen Lettern verkünden, dass man gegen irgendetwas sei, das für den Rest der Menschheit selbstverständlich ist. Medienauftritte und Platzierungen auf Bestseller-Listen sind garantiert. Was bei David van Reybroucks «Gegen Wahlen» funktioniert hat, scheint auch Jason Brennan mit «Gegen Demokratie» gelungen zu sein. Brennan, Professor für politische Philosophie an der Georgetown University versteht es offensichtlich, seine Thesen öffentlichkeitswirksam zu platzieren, auch wenn sie nicht wirklich neu sind. Zugutehalten muss man ihm aber, dass er nicht einfach provoziert, sondern seine Argumente sauber und verständlich fundiert und so auch überzeugte Demokraten zum (gewinnbringenden) Nachdenken verleitet. Zum Beispiel darüber, unter welchen Umständen Menschen dazu legitimiert sind, Entscheidungen über andere zu fällen, und ob diese (Mit-)Entscheidungsmacht nicht an gewisse Bedingungen gekoppelt werden sollte.

Die Hauptaussage des Buches, dass den meisten Leute das grundlegendste Wissen fehle, um informierte politische Entscheidungen zu fällen und dass daher nur noch «informierte» Bürger das Stimmrecht haben bzw. ein höheres Stimmgewicht erhalten sollten, ist per se nicht völlig abwegig, wenn man vernachlässigt, dass für die Qualität von politischen Entscheidungen auch Repräsentativität und Rechenschaft von (enormer) Bedeutung sind. Die eigentliche Schwäche des Buches besteht darin, dass Brennan die Demokratie zwar mit scharfen Worten kritisiert, aber recht kleinlaut wird, wenn es darum geht, konkrete Alternativen vorzuschlagen. «Epistokratie», also die Herrschaft der Wissenden, sei die Lösung, und für deren Umsetzung gebe es verschiedene Möglichkeiten, heisst es nur. Dem wortgewandten Philosophen ist wohl bewusst, dass die Mängel der von ihm angetönten Modelle allzu offensichtlich würden, wären sie im Detail bekannt.

 

Siehe auch:

Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2016
Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2015

Littérature napoléonienne – Buchempfehlungen 2014