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Wird an der Landsgemeinde bald elektronisch abgestimmt?

Von alters her wird an der Landsgemeinde in Glarus per Handaufheben abgestimmt, die Stimmen werden nur geschätzt – so auch an der diesjährigen Versamlung am kommenden Sonntag. Dabei soll es bleiben, findet das Parlament. Es will keine technische Hilfe. Doch ein umtriebiger Unternehmer will sich damit nicht zufriedengeben.

Der Beitrag ist eine ausgebaute und aktualisierte Fassung eines Artikels, der am 4. April 2017 in der «Südostschweiz» erschienen ist.

1387 wurde in Glarus die erste belegte Landsgemeinde abgehalten. Damals legte die Versammlung einen Grundsatz fest, der bis heute gilt: nämlich, dass bei Abstimmungen die Mehrheit bestimmt und «der minder Theil» sich zu fügen hat. Doch wer entscheidet, welches die Mehrheit ist und welches die Minderheit? Diese Frage hat in der jüngeren Vergangenheit wiederholt für Diskussionen gesorgt.

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Seit über 600 Jahren stimmen die Glarner an der Landsgemeinde per Handaufheben ab.

Im Prinzip ist die Sache einfach: Wird an der Landsgemeinde abgestimmt, heben zunächst die Befürworter und danach die Gegner einer Vorlage ihre Stimmrechtsausweise in die Höhe. Der Landammann, der die Versammlung leitet, schätzt, welche Seite mehr Stimmen auf sich vereinigt. Ist er sich nicht sicher, kann er seine vier Regierungskollegen beiziehen. Am Ende entscheidet aber er alleine; sein Urteil ist nicht anfechtbar.

Fehleranfälliges Verfahren

Das Abschätzen von Mehrheiten birgt allerdings ein gewisses Risiko für Fehler. Bei knappen Resultaten ist es äusserst schwierig, die Mehrheit von blossem Auge zu erkennen. Seit Jahren kursieren daher in Glarus Vorschläge, wie man die Ergebnisse von Abstimmungen zuverlässiger ermitteln könnte. In Appenzell Innerrhoden, dem anderen der beiden verbliebenen Landsgemeinde-Kantone, werden die Stimmen bei knappen Abstimmungen ausgezählt, indem die Bürger den Ring durch verschiedene Ausgänge verlassen und dabei einzeln registriert werden. An der Glarner Landsgemeinde, die wesentlich grösser ist als jene in Appenzell, würde diese Lösung allerdings sehr viel Zeit in Anspruch nehmen. Den Vorschlag, bei knappen Ergebnissen eine Urnenabstimmung im Nachgang zur Versammlung durchzuführen, lehnte die Landsgemeinde 2009 mit deutlichem Mehr ab.

Die Diskussion fokussiert sich daher auf technische Hilfen an der Landsgemeinde. Bereits bei den Arbeiten zur Revision der Kantonsverfassung Ende der 1970er Jahre prüfte die zuständige Kommission, ob die Stimmen mittels eines elektronischen Systems gezählt werden könnten. Der Landrat wollte das Projekt damals nicht weiterverfolgen. Das Thema erschien später aber noch mehrmals auf der politischen Agenda. 2009 gab das Kantonsparlament einen Bericht darüber in Auftrag, welche Systeme in Frage kommen.

Der Bericht, den der emeritierte ETH-Professor Bernhard Plattner vergangenes Jahr vorlegte, identifizierte im Wesentlichen zwei Möglichkeiten: Entweder ein System, das die nach oben gestreckten Stimmrechtsausweise fotografisch erfasst und die Bilder auswertet, oder ein Verfahren mit drahtloser Kommunikation, bei dem jeder Bürger ein spezielles Gerät erhält, mit dem er seine Stimme abgeben kann, ähnlich wie es bei Generalversammlungen grosser Firmen eingesetzt wird. Letzteres System würde eine genauere Ermittlung des Ergebnisses zulassen, wäre aber auch mit mehr Aufwand verbunden, ausserdem bestünde die Gefahr von Manipulationen. Plattner spricht sich für das erste Modell aus, weil er es für besser kompatibel mit der Landsgemeinde hält.

Regierung und Landrat wollen allerdings nichts mehr von technischen Hilfen wissen. Das Parlament beschloss einstimmig, auf eine vertieftere Prüfung der Systeme zu verzichten. Neben den hohen Kosten zur Entwicklung eines elektronischen Systems wurde vor allem der spezielle Charakter der Landsgemeinde angeführt, der verloren ginge.

Unternehmer will elektronisches System einführen

Das vorerst letzte Wort in dieser Frage dürfte aber die Landsgemeinde haben. Ein einzelner Bürger, der Unternehmer Hansjörg Stucki, hat angekündigt, einen Memorialsantrag einzureichen, um den Einsatz elektronischer Systeme an der Landsgemeinde explizit zu ermöglichen. Ganz ohne Hintergedanken tut er das nicht: Stuckis Firma Nimbus bietet nämlich ein elektronisches System an, das seit 2003 bei Generalversammlungen zum Einsatz kommt und sich laut Stucki auch für die Landsgemeinde eignen würde.

Stucki ist sich bewusst, dass ein elektronisches System in einem öffentlichen Auswahlverfahren evaluiert werden müsste. Er verhehlt aber nicht, dass es ihn mit Stolz erfüllen würde, wenn sein System an der Landsgemeinde zum Einsatz käme. Er sei aber bereit, es dem Kanton «zu einem Freundschaftspreis» zur Verfügung zu stellen. Dass Glarus für die Entwicklung eines Abstimmungssystems einen siebenstelligen Betrag ausgeben müsste, wie das die Regierung schreibt, stimme jedenfalls nicht: «Es gibt bereits Systeme, die man einsetzen kann.» Stucki sagt, es gehe ihm vor allem darum, die Landsgemeinde zeitgemässer zu machen. «Technische Hilfsmittel würden die Landsgemeinde nicht schwächen, sondern stärken», ist er überzeugt.

Soziale Kontrolle

Ein weiterer Vorteil eines digitalen Systems wäre, dass im Gegensatz zum heutigen Verfahren das Stimmgeheimnis gewahrt wäre. Zwar erklärten in einer Umfrage der Universität Bern vergangenes Jahr nur gerade 4 Prozent der teilnehmenden Glarner Stimmberechtigten, dass sie die offene Abstimmung oft oder immer störe, bei 13 Prozent war dies selten der Fall. Der Politikwissenschaftler Hans-Peter Schaub, der an der Durchführung der Umfrage beteiligt war, findet dennoch, dass eine geheime Stimmabgabe Vorteile hätte. «Die offene Abstimmung ermöglicht eine soziale Kontrolle, die negative Auswirkungen haben kann.»

Schaub verweist ausserdem auf die Abschaffung der Landsgemeinde in Ob- und Nidwalden sowie Appenzell Ausserrhoden: «In allen drei Kantonen gehörten das Stimmgeheimnis und die genauere Ermittlung des Mehrs zu den Hauptargumenten für das Urnensystem.» Auch in Glarus könne die Stimmung schnell kippen, wenn es zwei oder drei umstrittene Entscheide bei emotionalen Themen gäbe.

Richtig knapp war das Ergebnis beim weitreichendsten Entscheid der jüngeren Vergangenheit: der Gemeindestrukturreform von 2006, als die Landsgemeinde auf einen Schlag aus 25 Gemeinden 3 machte. «In der Folge kamen prompt Stimmen auf, die den Fortbestand der Landsgemeinde in Frage stellten», sagt Schaub. Die Gemeindereform kam ein Jahr später an einer ausserordentlichen Landsgemeinde nochmals zur Abstimmung – und wurde klar angenommen. «Wenn es nochmals so knapp gewesen wäre wie beim ersten Mal, wäre die Landsgemeinde ernsthaft gefährdet gewesen», glaubt Schaub.

«Kleines Problem»

Stuckis Antrag werden keine grossen Chancen zugestanden. Zwar wäre es nicht das erste Mal, dass die Landsgemeinde einen Entscheid des Landrats kippt. Spricht man mit den Leuten, erhält man aber den Eindruck, dass die wenigsten das Abstimmungsverfahren als dringendes Problem wahrnehmen. Auch der grüne Landrat Mathias Zopfi hält das Abschätzen des Resultats durch den Landammann nur für ein «kleines Problem». «Die Landsgemeinde hat gewichtigere Probleme, beispielsweise, dass Kranke, Betagte oder Leute, die am Sonntag arbeiten müssen, nicht teilnehmen können», sagt Zopfi. Wenn man das Problem der Ergebnisermittlung löse, werde die Frage auftauchen, warum man nicht gleich auch diese Problematik im gleichen Zuge angehe. «Dann wird der Vorschlag kommen, dass man von zu Hause aus elektronisch abstimmen kann. Das wäre der Anfang vom Ende der Landsgemeinde.»

Wäre das Bestehen der Landsgemeinde durch die Einführung eines elektronischen Systems gefährdet? Oder eher durch das Festhalten am heutigen Verfahren? Darüber werden die Glarner Stimmberechtigten voraussichtlich in einem Jahr entscheiden – mittels Handaufheben, wie immer in den letzten 630 Jahren.

 

Weitere aktuelle Artikel zum Thema:

Burkas, Schwingfest, Wahlen: Vorschau auf die Glarner Landsgemeinde 2017 auf der Webseite zum Buch «Ds Wort isch frii» von Lukas Leuzinger.

Knöpfli im Stöckli – aber mit Köpfli!

In unserer Serie «Bundesbeamte erklären die Welt» widmen wir uns heute der Frage: Wie bedient man eigentlich eine elektronische Abstimmungsanlage?

Apparat des Grauens: Die neue ständerätliche Abstimmungsanlage. Bild: Sekretariat des Ständerates

Neuerung mit Tücken: Die ständerätliche Abstimmungsanlage. Bild: Sekretariat des Ständerates

In einem Anflug von Wagemut und Fortschrittsglaube – und unter dem Eindruck einer ganzen Reihe von Pannen – hat der Ständerat vor einem Jahr den Entschluss gefasst, künftig elektronisch abzustimmen. Anstatt wie bis anhin ihre Meinung per Handaufheben kundzutun, werden die Standesvertreter dies ab der Frühjahrssession mithilfe einer elektronischen Abstimmungsanlage tun.

Nun rückt der erste Sessionstag näher, und damit das Inkrafttreten des revidierten Geschäftsreglements. Das Lampenfieber unter den Parlamentarier nimmt allmählich zu. Denn das neue System ist zwar zuverlässiger, allerdings auch ungleich komplizierter als das bequeme Erheben des Armes. Die moderne Technik hat ihre Tücken: Mit welchem Knopf signalisiert man eigentlich ein Ja? Wie enthält man sich der Stimme? Was, wenn in der Hitze des Gefechts der Finger auf dem falschen Knopf landet? Oder – noch schlimmer! – aus reiner Gewohnheit versehentlich in die Höhe fährt und damit im ganzen Saal Spott auslöst? Solche Fragen bereiten einigen Ständeräten schlaflose Nächte.

Glücklicherweise können sich die weisen Damen und Herren auf ihr Ratssekretariat verlassen, das ihnen kompetent zur Hilfe eilt. Es hat keine Mühen gescheut, die «Chambre de réflexion» auf den Umstieg ins digitale Zeitalter vorzubereiten, und eine detaillierte «Gebrauchsanweisung» [PDF] für die neue Anlage verfasst. Das Papier wurde dieser Tage sämtlichen Ständeräten zugeschickt. Schritt für Schritt und wird darin erklärt, wie die vielen farbigen Bedienelemente des hochmodernen Armaturenbretts fachgerecht zu bedienen sind. Besonders praktisch: Die kompakte Anleitung findet auf einer A4-Seite Platz, sodass sie unter dem Pult gelagert und im Fall der Fälle diskret konsultiert werden kann.

Doch damit nicht genug. Das umsorgte Sekretariat anerbietet eine weitere Hilfeleistung: Ab der Frühjahrssession können sich die Ständeräte neu persönlich per SMS alarmieren lassen, sobald sich im Rat die Diskussion und Reflektion zu einem Traktandum dem Ende nähert und zur Abstimmung geschritten wird. Bisher wurden Abstimmungen einzig durch den Ton einer Glocke angekündigt, der in der hektischen Wandelhalle leicht überhört wird. Nicht nur beim Abstimmungsverfahren kommen künftig also die neuesten technischen Möglichkeiten zum Einsatz.

Ständeräte, die trotz der Unterstützung noch nicht sattelfest im Umgang mit der Elektronik sind, können sich damit beruhigen, dass der Nationalrat bereits seit 1994 elektronisch abstimmt und seine Mitglieder – von einzelnen Ausnahmefällen abgesehen – recht gut mit dem System umgehen können. Dem Vernehmen nach soll es bereits Nationalräte geben, die sich mit Nachhilfelektionen für überforderte Kollegen aus dem Stöckli ein kleines Zubrot verdienen.

Der Nachteil der Transparenz: Sie ist ungemütlich

Auch im Jahre 2013 nach Christus stimmt der Ständerat ab wie zu Zeiten der Tagsatzung. Die Damen und Herren strecken ihre Hand auf; wer wie gestimmt hat, erfährt die Öffentlichkeit nicht – jedenfalls bis vor Kurzem.

Die intransparenten Abstimmungen sind für die Ständeräte äusserst angenehm: Die Politiker können von niemandem auf ihre Meinung behaftet werden, und müssen sich vor der nächsten Wahl keine unangenehme Fragen gefallen lassen, ob sie in den vergangenen vier Jahre wirklich im Sinne ihrer Wähler gestimmt haben. Umso einfacher ist es, im Sinne anderer Interessen zu stimmen, insbesondere wenn diese Interessen das angemessen zu würdigen wissen.

Ironischerweise führen die Gegner von mehr Transparenz gerne das Argument der «Unabhängigkeit» an, die durch ein transparentes Abstimmungsverfahren gefährdet würde. So auch der Ökonom Yvan Lengwiler in seinem Meinungsbeitrag mit dem Titel «Transparenz bringt auch Nachteile» in der NZZ von heute (Artikel online nicht frei verfügbar). Transparenz mache es für die Ratsmitglieder viel schwieriger, von der Parteilinie abzuweichen, schreibt Lengwiler. Und macht dazu ein Beispiel:

«Es kommt eine Vorlage zur steuerlichen Unterstützung von kinderreichen Familien zur Abstimmung. Die CVP-Spitze vertritt diese Vorlage mit Vehemenz; ein Mitglied des Nationalrats, das auf der Liste der CVP gewählt wurde, kann sich aber nicht wirklich für die Vorlage begeistern. (…) Wird dieses CVP-Ratsmitglied den roten Kopf drücken und damit die Parteileitung desavouieren – oder wird es linientreu auf den grünen Knopf drücken? Der rote Knopf entspräche seiner Überzeugung. Allerdings ist sich das Ratsmitglied sicher, dass es von seinen Parteikolleginnen und -kollegen schief angeschaut würde, wenn da auf der Anzeigetafel an seinem Platz eine Lampe rot aufleuchtete, inmitten eines grünen Meers.»

Wenn das Ratsmitglied gegen die Vorlage ist, sollte es nicht versuchen, seine Kollegen in der Fraktion und im Parlament von den Nachteilen zu überzeugen? Ist es zu viel verlangt, dass ein Parlamentarier zu seiner Meinung steht? Sollten seine Wähler nicht genau das von ihm erwarten dürfen? Wenn unsere Politiker gegen ihre Überzeugung stimmen, weil sie nicht «schief angeschaut» werden möchten, dann haben wir in diesem Land wahrlich noch ganz andere Probleme als das Abstimmungssystem im Parlament. Ganz abgesehen muss auch ein CVP-Ständerat, der bei dieser Vorlage Nein stimmt, damit rechnen, schief angeschaut zu werden.

«Und wenn der CVP-Vertreter tatsächlich entsprechend seiner eigenen Überzeugung abstimmt (und das zu oft passiert), wird er seinen guten Listenplatz behalten können?»

Es ist schwer vorstellbar, dass die Schweizer Parteien derart diktatorisch geführt werden. Das wäre ohnehin relativ schwierig, weil die Kantonalparteien über die Listen entscheiden. Der Autor nennt auch keine Beispiele von Nationalräten, die wegen mangelnder Linientreue ihren Listenplatz verloren hätten. Mir sind ebenfalls keine bekannt. Dabei gibt es – gerade in der CVP – genug Parlamentarier, die weit weg von der Parteilinie politisieren.

Einmal abgesehen davon ist es etwas abwegig, mit Listenplätzen gegen mehr Transparenz im Ständerat zu argumentieren, wo doch die Ständeräte in der Regel nach dem Majorzverfahren gewählt werden. Es braucht schon einiges, um als wieder kandidierender Ständerat von der eigenen Partei nicht vorgeschlagen zu werden.

Ausserdem kommen bei den Nationalratswahlen offene Listen zur Anwendung, der Wähler kann also beliebig Namen von der Liste streichen oder hinzufügen, weshalb der Listenplatz nicht so entscheidend ist wie in anderen Ländern. Gemäss politikwissenschaftlichen Untersuchungen und dem gesunden Menschenverstand ist die Parteidisziplin in Systemen mit offener Listenwahl wesentlich kleiner als in solchen mit geschlossenen Listen.

Nichtsdestotrotz ist Lengwiler davon überzeugt, dass Transparenz zu mehr Parteidisziplin führe. Und damit nicht genug:

«Je strikter die Parteidisziplin durchgesetzt wird, desto undurchlässiger werden die Kommunikation und die Gestaltungsmöglichkeit der Parlamentarier zwischen den Parteilinien und desto weniger demokratisch ist letztlich die ganze Arbeit des Parlamentes.»

Der Sprung von transparenteren Abstimmungen im Parlament hin zu weniger Demokratie ist ziemlich abenteuerlich. Vor allem, wenn man den Fokus einzig auf das Verhältnis zwischen dem Parlamentarier und seiner Partei legt, und den Stimmbürger dabei vollständig ausklammert.

Eines der wesentlichen Merkmale einer Demokratie ist die Rechenschaftsfähigkeit: Die Volksvertreter sind gegenüber dem Volk rechenschaftspflichtig. Um ihre Vertreter zur Verantwortung ziehen zu können, müssen die Bürger aber darüber informiert sein, wie ihre Repräsentanten sie vertreten. Das ist unbequem für die Parlamentarier, doch es ist nötig, um die demokratische Rechenschaft zu gewährleisten. Dass sich die Parlamentarier einmal alle vier Jahre wählen lassen, um danach unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu entscheiden, wie sich das Lengwiler vorstellt, ist sicher im Sinne der Politiker. Ob die Arbeit des Parlaments damit wirklich besonders demokratisch wäre, darf allerdings bezweifelt werden.

Der Ständerat ist bereit für mehr Transparenz – die Medien auch?

Ein Gastbeitrag von Claudio Kuster, persönlicher Mitarbeiter von Ständerat Thomas Minder.

Durch mehr Transparenz die politischen Prozesse zu beleuchten, ist eine staatspolitisch wichtige Forderung, die auf immer breitere Unterstützung stösst. Doch Offenlegung alleine ist erst die halbe Miete, soll sie nicht bloss voyeuristische Triebe befriedigen. Denn hierauf sind insbesondere die Medien gefordert, Sachverhalte ein wenig differenzierter, ja akkurater darzustellen.

Just die Analyse des Tages-Anzeigers («Der Ständerat mag es halt doch schummrig», 31.10.2012) über die Reform der Stimmabgabe im Ständerat lässt dies allerdings vermissen: Im Artikel wird behauptet, mit der Annahme der Parlamentarischen Initiative «Transparentes Abstimmungsverhalten» von Ständerat This Jenny (siehe dazu auch hier) habe die kleine Kammer einen «Grundsatzentscheid getroffen, ihr anachronistisches Stimmgeheimnis abzuschaffen», indem fortan die Entscheidungen jedes einzelnen Ratsmitglieds elektronisch protokolliert würden.

Eine «Schlaumeierei» sei es nun von der vorberatenden Staatspolitischen Kommission des Ständerates, wenn diese in ihrem jüngst präsentierten Revisionsentwurf des Geschäftsreglements des Ständerates [PDF] bloss eine namentliche Veröffentlichung bei Gesamt- und Schlussabstimmungen, nicht jedoch für die – zugegebenermassen interessanteren – Detailberatungen der Gesetze vorsehe.

Mit Verlaub, von «Schlaumeierei» kann keine Rede sein, hat die Kommission doch nichts anderes getan, als den ausformulierten Vorstoss von Ständerat Jenny tel quel umzusetzen. Dieser sah nun einmal vor, bloss eine namentliche Veröffentlichung bei Gesamt- und Schlussabstimmungen zu erwirken. Die Idee hinter diesem Vorgehen ist offensichtlich: Der Initiant wollte nicht (von vornherein) komplette Transparenz über alle Abstimmungen im Rat forcieren, um dadurch dem Vorstoss überhaupt zum Durchbruch zu verhelfen. Dass das Plenum schliesslich der Initiative bloss hauchdünn mit 22 zu 21 Stimmen bei einer Enthaltung gefolgt ist, zeigt, dass dieses behutsame Prozedere richtig war. Gleichsam ist die grosse Minderheit zu respektieren, indem der Initiativtext nicht noch ausgedehnt wird, zumal ja diese Revision des Ratsreglements abermals vom Gesamtplenum in der Detailberatung sowie in der Gesamtabstimmung angenommen werden muss – wo wiederum knappe Entscheide zu erwarten sind.

Nichtsdestotrotz würde im Stöckli im neuen, transparenteren Regime gerade auch bei Detailberatungen mehr Klarheit vorherrschen. Denn die kleine Kammer soll (wie der Nationalrat) fortan mit einer Anzeigetafel ausgestattet werden, welche das individuelle Stimmverhalten für die Ständeräte selbst, aber gleichsam auch für Zuschauer auf Tribüne und Webcast visualisieren soll. Das heutige Handaufheben würde so immerhin durch grüne und rote Punkte dargestellt.

Ist Reflexion nur im Dunkeln möglich?

Ein peinlicher Vorfall hat am Donnerstag die Diskussion über das System der Handabstimmung im Ständerat befeuert. Nach der Abstimmung über eine Motion der SVP zur Entwicklungshilfe, die 22 zu 22 ausgegangen und mit dem Stichentscheid des Präsidenten angenommen worden war, stellte man durch Zufall fest, dass das Resultat unmöglich stimmen konnte, weil nur 43 Ratsmitglieder (ohne den Präsidenten) anwesend waren. Die Abstimmung wird nun morgen Montag wiederholt.

Dass der Lapsus nur wegen eines Einwands eines Ratsmitglieds überhaupt bemerkt wurde, lässt vermuten, dass die Dunkelziffer solcher Fehler relativ hoch ist. Dieser Meinung ist auch This Jenny (SVP, GL), der eine Parlamentarische Initiative zur Einrichtung einer elektronischen Abstimmungsanlage eingereicht hat. Angesichts der Tragweite der Entscheide sei die Fehleranfälligkeit der Handabstimmung nicht mehr tragbar, sagte er gegenüber der NZZ (Artikel nicht online verfügbar).

Nicht nur wegen der Häufigkeit von Fehlern stellt sich die Frage, ob die manuelle Auszählung im Ständerat heute noch sinnvoll ist. Im Nationalrat werden die Stimmen seit 1994 elektronisch erfasst. Das hat sich – von seltenen Ausnahmen abgesehen – bewährt. Der Wähler kann so feststellen, welche Politiker in seinem Sinne stimmen, und daraus Rückschlüsse für die nächsten Wahlen ziehen. Im Ständerat ist dies in aller Regel nicht möglich. Was der einzelne Ständerat stimmt, können seine Wähler nirgends überprüfen – es sei denn sie nehmen selbst den Weg nach Bern auf sich und schauen ihm im wahrsten Sinne des Wortes auf die Finger.

Zur Verteidigung dieser Intransparenz pflegen Ständeräte auf die besondere Rolle der kleinen Kammer als «chambre de réflexion» hinzuweisen. Die Handabstimmung diene dazu, die Parlamentarier «dem Druck ihrer Parteien zu entziehen», wie sich Ständeratspräsident Hans Altherr (FDP, AR) ausdrückt.

Diese Argumentation ist befremdlich. Zunächst einmal ist es naiv anzunehmen, dass Ständeräte der Kontrolle durch ihre Parteien vollständig entzogen wären. Ihre Parteikollegen können zwar nicht im Internet nachschauen, wie die Ständeräte abgestimmt haben. Sie können sich aber einfach im Rat umschauen, um zu sehen, ob alle der Parteilinie entsprechend die Hand hochhalten.

Hinzu kommt, dass es viele Ständeräte kein Geheimnis daraus machen, dass sie gelegentlich von der Parteidoktrin abweichen. Parlamentarier wie This Jenny pflegen ihren Ruf als Freigeister sogar aktiv und durchaus medienwirksam. Dass sie diesen Ruf ablegen und zu braven Parteisoldaten werden würden, wenn sie elektronisch abstimmen müssten, ist nicht zu erwarten.

Vor allem aber ist es ein Trugschluss zu glauben, dass der Ständerat seine Rolle als «chambre de réflexion» nur deshalb spielen könne, weil das Abstimmungsverhalten im Dunkeln bleibt. Dass die Ständeräte unabhängiger politisieren als ihre Kollegen im Nationalrat, liegt nicht an der Abstimmungsmethode. Entscheidend ist vielmehr das Wahlsystem: Die Nationalräte werden im Proporzverfahren gewählt. Sie verdanken ihren Sitz zu einem wesentlichen Teil dem Erfolg ihrer Partei – und stimmen deshalb eher im Sinne der Partei- bzw. Fraktionsleitung.

Ständeratswahlen sind dagegen Majorzwahlen. Gewählt werden nicht Parteien, sondern Personen. In der Regel hat jeder Ständerat mindestens die Hälfte der Wähler in seinem Kanton hinter sich. Das macht ihn unabhängiger vom Willen der Parteioberen.

An dieser Situation wird sich auch nichts ändern, wenn die Abstimmungen in der kleinen Kammer transparent sind. Zur Reflexion ist keine Dunkelkammer nötig.