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Das Parlament erwacht aus der Schockstarre

Nachdem sich National- und Ständerat zu Beginn der Corona-Pandemie selbst aus dem Spiel genommen haben, nehmen sie mit der ausserordentlichen Session ihre Tätigkeit wieder auf. Gut so – denn gerade in Krisenzeiten ist die Kontroll- und Aufsichtsfunktion des Parlaments unerlässlich.

Die Vollmachtenregime in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehörten zu den düstersten Zeiten der schweizerischen Demokratie. Der Bundesrat schränkte mit weitreichenden Verordnungen die Freiheitsrechte der Bürger stark ein, setzte die Volksrechte vorübergehend ausser Kraft, gängelte die Presse und hob die Wirtschaftsfreiheit zu grossen Teilen auf.

Die Türen der Ratssäle sind geschlossen. Die Räte tagen stattdessen in der Bernexpo. Bild: Parlamentsdienste

Dass die Regierung einer demokratischen Republik eine quasi-diktatorische Praxis einführt, ist beunruhigend genug. Fast noch irritierender ist aber, dass sie die Ermächtigung dazu vom Parlament erhielt und dieses keine Anstalten machte, die Regierung bei ihren Exzessen im Zaun zu halten. National- und Ständerat übertrugen dem Bundesrat 1914 und 1939 unbeschränkte Vollmachten und gaben damit ihre eigene Funktion bereitwillig auf. Mehr noch: Sie vergassen auch ihre kardinale Aufgabe, die Regierung zu beaufsichtigen und zu kontrollieren. Schubladisierung von Volksinitiativen? Verbote von Firmengründungen? Weitgehende Zensur der Medien und Überwachung der Kommunikation? Das Parlament schluckte alles, Widerspruch gab es kaum.

Natürlich ist die gegenwärtige Corona-Krise nur sehr beschränkt mit einer kriegerischen Bedrohungslage vergleichbar. Doch auch nun legiferiert der Bundesrat mit seinen Notrechtsverordnungen sehr weit ins Leben der Bevölkerung und in die Volkswirtschaft hinein. Die Verfassungskonformität ist bei gewissen Massnahmen nicht über jeden Zweifel erhaben. Nichtsdestotrotz liess das Parlament der Regierung zu Beginn freie Hand und hielt sich zurück. Die Ratsbüros brachen die Frühjahrssession ab, ohne dass National- und Ständerat darüber hätten befinden können.[1]

Mehr noch: Auch die parlamentarischen Kommissionen wurden unnötigerweise weitgehend heruntergefahren und damit ein wesentlicher Teil der Aufsichtsfunktion der Legislative ausgesetzt. Während die Sitzungen des siebenköpfigen Bundesrats wie gewohnt abgehalten wurden, betrachtete man jene der nicht viel grösseren Kommissionen als nicht zu verantwortendes Risiko.

Erst nach einigen Wochen kamen die Kommissionen wieder zusammen. Und begnügten sich zunächst damit, vorsichtige Empfehlungen an den Bundesrat zu richtigen, da und dort wurden immerhin Motionen eingereicht.

Diese Woche sind nun National- und Ständerat zur ausserordentlichen Session zusammengekommen und tagen damit erstmals seit Ausrufung der «ausserordentlichen Lage» wieder. Es ist absehbar, dass sie die Weisungen des Bundesrats teilweise anpassen und präzisieren. Auf der Traktandenliste stehen etwa eine Verlängerung der Rückzahlungsfrist für die vom Bund verbürgten Kredite oder Mieterlasse. Die Lobbyisten haben offensichtlich in der Krise nicht geschlafen.

Das Parlament kann aber auch die vom Bundesrat verfügten Einschränkungen unter die Lupe nehmen und gegebenenfalls anpassen. Die teilweise kafkaesk anmutenden Differenzierungen, welche Geschäfte nun ab wann was verkaufen dürfen, haben einschneidende Konsequenzen für die KMU.

Auch muss die Bundesversammlung ihre Aufsichtsfunktion wahrnehmen. Dazu gehört etwa, den Kurs des Bundesrats und der Verwaltung zu hinterfragen und allfällige Fehler klar zu benennen. Die zum Teil widersprüchliche Kommunikation etwa oder das Fehlen elementarer medizinischer Ausrüstung wie Ethanol, Schmerzmittel oder Schutzmasken wirft nicht eben ein gutes Licht auf das Krisenmanagement von Bundesrat und Verwaltung. Doch auch im Fall, dass die Regierung alles richtig gemacht hat, ist es unerlässlich, dass das Parlament seine Arbeit wieder auf- und seine Funktion wahrnimmt. Nur schon, dass das Notrecht für den Bundesrat nicht zum Gewohnheitsrecht wird, wie geschehen in früheren, dunkleren Zeiten.

Zu unterstreichen ist indes, dass damals auch das Parlament selber eine problematische Rolle spielte, indem es Gesetze für dringlich erklärte und sie damit dem fakultativen Referendum entzogen. Es brauchte 1949 die Annahme der Volksinitiative «für die Rückkehr zur direkten Demokratie», damit seither immerhin dringliche Bundesbeschlüsse, die länger als ein Jahr dauern, dem nachträglichen Referendum unterstellt werden.

Krisenzeit, so sagt man, ist die Zeit der Exekutive. Aber genau wegen der ausgebauten Macht der Regierung ist ein alertes und kritisches Parlament umso wichtiger. Gerade in diesen Zeiten ist es unerlässlich, dass es seine Aufgaben wahrnimmt – wenn auch mit Schutzmasken und zwei Meter Abstand.

 


[1] Siehe dazu das Kurzgutachten von Felix Uhlmann und Martin Wilhelm.

Fünf verblüffende Anekdoten aus den letzten 50 Wahlen

Bevor die Schweiz in einer Woche ihr Parlament neu besetzt, werfen wir einen Blick zurück. In den 50 eidgenössischen Wahlen seit der Bundesstaatsgründung hat sich einiges an Überraschungen, Kuriositäten und Sonderfällen ereignet. Wir präsentieren fünf davon.

Schweizer Wahlen stehen nicht im Ruf, besonders ereignisreich zu sein. Erdrutschartige Verschiebungen, Parteien, die plötzlich implodieren, oder Bewegungen, die über Nacht zu dominanten Kräften aufsteigen – das alles gibt es in anderen Ländern wesentlich häufiger zu beobachten.

Und doch: Wer in der jüngeren und älteren Geschichte gräbt, stösst immer wieder auf bemerkenswerte und sonderbare Ereignisse.[1] Wir haben fünf davon herausgepickt, die wir an dieser Stelle erzählen. Es hätte genug weitere Anekdoten gegeben, die es ebenso wert gewesen wären zu erzählen. Man denke etwa an die Wahlen 1854, bei denen der Tessiner Stefano Franscini beinahe sein Amt verloren hätte, wären ihm nicht einige Parteifreunde zur Hilfe gekommen, so dass er letztlich im vierten (!) Wahlgang gewählt wurde – und zwar nicht im Tessin, sondern in Schaffhausen.[2] Auch die teilweise dreisten Wahlfälschungen und Manipulationen in den Gründungsjahren wären zu erwähnen.[3] Oder die ersten Wahlen im Proporz vor genau 100 Jahren, für die der Begriff Erdrutsch für einmal angebracht ist.[4] Oder die ersten Nationalratswahlen unter Beteiligung der Frauen 1971, die nicht annähernd so grosse Verschiebungen brachten, dafür viele neuen Gesichter – unter anderem jene von Frauen, die in ihrem Kanton noch gar nicht stimmberechtigt waren.

Hier widmen wir uns fünf anderen Geschichten, die mindestens so erwähnenswert sind:

Der Ralph Nader von Obwalden

Sechs Kantone haben derzeit nur einen Sitz im Nationalrat. Diese Sitze werden im Majorzverfahren besetzt – allerdings im Unterschied zu den Ständeratssitzen nicht in zwei Wahlgängen, sondern nur in einem. Massgebend ist das relative Mehr. Das hat zur Folge, dass der Wahlsieger unter Umständen deutlich weniger als 50 Prozent der Stimmen auf sich vereint. Der Minus-Rekord wurde 2007 aufgestellt, und zwar in Obwalden.[5]

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Luke Gasser. (Foto: www.lukegasser.ch)

Der Obwaldner Nationalratssitz war seit 1848 praktisch ununterbrochen in den Händen der CVP. Und deren Kandidat Patrick Imfeld hätte unter normalen Umständen wohl einem sicheren Sieg entgegenblicken können. Doch diesmal waren die Umstände anders. Nicht nur trat die SP das erste Mal mit einem eigenen Kandidaten an. Auch der politisch unerfahrene Filmemacher Luke Gasser bewarb sich um den Sitz. Und: Gasser, dessen Vater lange für die CVP im Regierungsrat sass, kündigte an, sich im Fall einer Wahl der CVP-Fraktion anzuschliessen. Damit war absehbar, dass der Aussenseiter viele CVP-Wähler abwerben würde.

Und tatsächlich: Bei den Wahlen am 21. Oktober 2007 holte Imfeld 32.5 Prozent der Stimmen – der schlechteste Wert für die CVP in Obwalden seit der Gründung des Bundesstaats. Gasser schaffte mit 23 Prozent einen Achtungserfolg, der SP-Kandidat Beat von Wyl kam auf 11.6 Prozent. Der lachende Vierte war der Kandidat der SVP, Christoph von Rotz, der mit 32.9 Prozent – nur gerade 300 Stimmen mehr als Imfeld – die Wahl in den Nationalrat schaffte. So wie in den USA im Jahr 2000 der Grüne Ralph Nader dem Demokraten Al Gore die Wahl zum Präsidenten vereitelt hatte, verhinderte der Christdemokrat in spe Gasser den Sieg des Christdemokraten Imfeld.

Auch in anderen Majorzkantonen wurden schon Kandidaten gewählt, die deutlich unter dem absoluten Mehr blieben. Der früheren FDP-Fraktionschefin Gabi Huber reichten 2003 bei ihrer ersten Kandidatur in Uri 36.6 Prozent der Stimmen. Und bei den Nationalratswahlen 2015 erkoren 36.1 Prozent der Ausserrhoder David Zuberbühler (SVP) zum Vertreter des Kantons in der grossen Kammer. In allen drei Fällen führten aussergewöhnliche Konstellationen zu einer eigentlichen Lotterie um den zu vergebenden Sitz. Wäre ein Kandidat weniger (oder mehr) angetreten, wäre das Resultat womöglich völlig anders ausgefallen.

Solche absurden Effekte liessen sich mit anderen Mehrheitswahlsystemen verhindern, etwa dem System der übertragbaren Stimmgebung (Single Transferable Vote) oder dem bewährten Verfahren mit zwei Wahlgängen. Zudem kommt die relative Mehrheitswahl tendenziell grösseren Parteien zugute, weil die Wähler faktisch gezwungen werden, ihre Stimmen auf chancenreichere Kandidaten zu konzentrieren, wenn sie nicht für den Papierkorb stimmen wollen. Es erstaunt daher nicht, dass es bisher keine Bestrebungen dieser Parteien für ein faireres Verfahren gab. Im Gegenteil: In der Vernehmlassung zum neuen Bundesgesetz über die politischen Rechte, das 1976 beschlossen wurde, sprachen sich die Majorzkantone explizit gegen die Einführung eines zweiten Wahlgangs aus, wie ihn der Bundesrat vorschlug.

Stille Wahl, heilige Wahl

Erich Ettlin und Hans Wicki haben es geschafft: Sie sind als Ständeräte in Ob- und Nidwalden wiedergewählt. Und das bereits vor dem Wahltag. Weil keine Gegenkandidaten angetreten sind, hat eine stille Wahl stattgefunden. Bei Majorzwahlen in kleinen Kantonen sind stille Wahlen keine Seltenheit. In der Vergangenheit kamen sie aber auch schon bei Proporzwahlen vor. Das Wahlgesetz sieht vor, dass, wenn insgesamt nicht mehr Kandidaten zur Wahl antreten als Sitze zu vergeben sind, alle Kandidaten als gewählt erklärt werden.[6]

Besonders viele stille Wahlen gab es bei den Wahlen 1939, nämlich in nicht weniger als neun Kantonen. Während des Kriegs war die Lust der Parteien auf Wahlkämpfe gering.[7] Unter den neun waren auch grosse Kantone wie die Waadt (15 Sitze) oder Luzern (9 Sitze). In der Regel einigten sich die Parteien auf die Sitzverteilung gemäss den vorangehenden Wahlen.

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Die letzten zwei still gewählten Nationalräte: Hans-Rudolf Früh (FDP) und Herbert Maeder (parteilos). (Fotos: www.parlament.ch)

Unangefochtener Rekordhalter in Sachen stillen Wahlen ist der Kanton Appenzell Ausserrhoden: Dort wurden die Nationalratssitze seit 1919 nicht weniger als neunmal vergeben, ohne dass ein einziger Wähler einen Wahlzettel ausfüllen musste. Zunächst hielt der Kanton noch drei Sitze in der grossen Kammer, von denen jeweils zwei den Freisinnigen und einer der SP zufiel; ab 1931 waren es zwei Sitze, die bis 1983 stets an FDP und SP gingen. Mit dieser Aufteilung schienen beide Seiten leben zu können, weshalb sie regelmässig auf einen Wahlkampf verzichteten. Von 1939 bis 1947 fanden drei Nationalratswahlen in Folge still statt. Allmählich nahm die politische Konkurrenz jedoch zu. 1975 trat die CVP erstmals in Ausserrhoden an. Acht Jahre später bewarb sich der parteilose Herbert Maeder mit einer eigenen Liste um einen Sitz – und schaffte mit 25.9 Prozent der Stimmen die Wahl. Als 1987 die beiden Bisherigen wieder antraten, wagte es niemand, sie herauszufordern. Es war die letzte stille Wahl in Ausserrhoden wie auch in einem Proporzkanton überhaupt. Seit 2003 hat Ausserrhoden nur noch einen Sitz im Nationalrat, dieser ist dafür umstritten, wie das Beispiel der Wahl 2015 zeigt (siehe oben). Stille Wahlen sind jedenfalls auch in Ausserrhoden Geschichte.

Bis dass das Los entscheidet

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Marco Romano unmittelbar nach dem Losentscheid. Rechts ist Staatsrat Marco Borradori zu sehen, der das Los gezogen hatte. (Screenshot: SRF Tagesschau)

Trotz des in jüngerer Vergangenheit gestiegenen Interesses am Losverfahren in Demokratien setzt die Schweiz bei der Besetzung ihrer Parlamentskammern nach wie vor auf Wahlen. Ausnahmen bestätigen aber auch hier die Regel: Zwei Abgeordnete haben in der Geschichte des Bundesstaats ihr Mandat dem Zufall zu verdanken.

Der jüngste Fall dürfte vielen noch in Erinnerung sein: Bei den Nationalratswahlen 2011 kamen im Tessin zwei CVP-Kandidaten auf genau gleich viel Stimmen.[8] Das Los musste zwischen Monica Duca und Marco Romano entscheiden. Die Schweiz schaute gespannt auf das Tessin, wo am 25. Oktober 2011 die Auslosung mittels Computer Duca zur Siegerin kürte. Doch die Freude der CVP-Politikerin war verfrüht: Aufgrund mehrerer Beschwerden hob das Bundesgericht das Ergebnis auf: Die elektronische Auslosung wie auch der Ausschluss der Öffentlichkeit waren gesetzeswidrig.[9] Die Auslosung wurde einen Monat später wiederholt, öffentlich und manuell – und diesmal war das Glück auf der Seite Romanos.

Der erste Fall, in dem das Los einen Nationalrat kürte, hatte sich schon einiges früher ereignet, nämlich 1939.[10] Damals war es keine Seltenheit, dass die Mitglieder kantonaler Exekutiven gleichzeitig im Bundesparlament sassen. In einzelnen Kantonen allerdings, darunter Baselland, schränkte die Kantonsverfassung diese Praxis ein, indem sie festlegte, dass maximal ein Regierungsrat im National- oder Ständerat Einsitz nehmen durfte.[11] Dessen waren sich auch die beiden Regierungsräte Hugo Gschwind (Katholisch-Konservative) und Walter Hilfiker (SP) bewusst. Gleichwohl versuchten beide ihr Glück als Kandidaten für den Nationalrat. Beide wurden gewählt.

Hugo Gschwind

Hugo Gschwind. (Foto: StABL)

Weil nicht beide im Parlament einsitzen konnten und keiner auf das Amt verzichten wollte, stellte sich die Frage, wer antreten durfte. Das kantonale Recht legte zwar fest, dass nur ein Regierungsrat im Nationalrat sitzen durfte, enthielt jedoch keine Bestimmung darüber, wie man in einem solchen Fall bestimmt, wer das sein sollte. Die Anhänger beider Regierungsräte brachten verschiedene Kriterien vor, die man heranziehen könnte (Alter, Amtsdauer, Stimmenzahl usw.). Weil aber für keines davon eine Rechtsgrundlage bestand, entschied der Regierungsrat, dass der Zufall entscheiden musste.

Am 10. November 1939 wurde in der Sitzung des Regierungsrats das Los gezogen. Dabei wurden zwei Kuverts mit den Namen der beiden Gewählten mit acht leeren Kuverts gemischt und dann eines nach dem anderen geöffnet, bis eines mit einem Namen gezogen wurde. Der Zufall erwählte den Konservativen Gschwind. Hilfiker musste seinen Sitz dem Zweiten auf der SP-Liste überlassen. Das dürfte ihn deshalb besonders geärgert haben, weil er mehr als doppelt so viele Stimmen geholt hatte als sein Kontrahent Gschwind, dessen Partei nur dank einer Listenverbindung mit den Freisinnigen ein Mandat errang.

Gschwind blieb das Glück allerdings nicht lange hold. 1943 verloren die Konservativen ihr Mandat bereits wieder – und zwar an die SP, die einen zweiten Sitz dazu gewann. Diesen wiederum sicherte sich ein gewisser Walter Hilfiker.

Der Pfarrer, der kein Geistlicher sein wollte

Arnold Knellwolf. (Foto: Das Rote Kreuz [1945])

Die Bundesverfassung von 1848 gab zwar (zumindest theoretisch) allen männlichen Bürgern das aktive Wahlrecht. Beim passiven Wahlrecht schränkte sie den Kreis allerdings ein. Gemäss Artikel 64 war «jeder stimmberechtigte Schweizer Bürger weltlichen Standes» in den Nationalrat wählbar.[12] Geistliche waren damit vom Einsitz in der grossen Kammer ausgeschlossen. Die Bestimmung geht auf den Kulturkampf zurück und das Misstrauen der Freisinnigen gegenüber papsttreuer Ultramontaner, die den Staat unterwandern könnten. Betroffen von der Einschränkung waren aber nicht nur katholische, sondern auch protestantische Pfarrer.

In der Praxis wurde die Regelung so angewandt, dass Angehörige des geistlichen Standes zwar zur Wahl antreten konnten, im Fall einer Wahl aber entweder auf ihr Pfarramt oder auf das Parlamentsmandat verzichten mussten. So erklärte Ernst Sieber nach seiner Wahl als EVP-Nationalrat 1991 den Verzicht auf sein Pfarramt in Zürich per Februar 1992.

Einer allerdings wollte die Unvereinbarkeit von geistlichem und politischem Amt nicht akzeptieren und kämpfte vehement darum, beides behalten zu dürfen. Dabei handelte es sich nicht um einen konservativen Ultramontanen, sondern einen protestantischen Sozialdemokraten. Arnold Knellwolf, Pfarrer im Berner Dorf Erlach, wurde 1917 für die SP gewählt.[13] Vor dem Wahltag erklärte er auf Anfrage der Berner Regierung zunächst, im Fall einer Wahl auf sein Pfarramt zu verzichten. Wenig später tönte es allerdings anders: In einem an den Nationalrat gerichteten Brief schrieb er, dass er bereit sei, von seinem kirchlichen Amt zurückzutreten – unter dem Vorbehalt, dass es ihm nicht erlaubt würde, dieses Amt zu behalten. Warum sollte das Parlament gerade bei ihm eine Ausnahme machen? Knellwolf argumentierte, dass der besagte Artikel nur für Katholiken gelte. Reformierte Pfarrer hingegen gehörten nicht dem geistlichen Stand an. Diese Interpretation stand im Widerspruch zur vorherrschenden Rechtslehre. Der Nationalrat validierte denn auch die Wahl Knellwolfs nur unter der Bedingung, dass er sein Pfarramt niederlege.

Knellwolf allerdings hatte andere Pläne. Kaum im Parlament, forderte er vom Bundesrat via Motion einen Bericht, um die Frage zu prüfen, ob Artikel 75 der Verfassung auch auf reformierte Pfarrer anwendbar sei. Das Parlament überwies den Vorstoss, doch lag der Bericht des Bundesrats noch nicht vor, als Knellwolf 1919 zur Wiederwahl antrat – nach wie vor in kirchlichem Amt und Würden. Trotz der deutlichen Sitzgewinne der Sozialdemokraten verpasste «der temperamentvolle Pfarrherr von Erlach», wie ihn ein Ratskollege einmal nannte, die Wiederwahl. Damit wurde ihm die Wahl zwischen kirchlichem und politischem Amt erspart.

Die Episode hätte damit als abgeschlossen betrachtet werden konnte, wenn nicht eineinhalb Jahre später SP-Nationalrat August Rikli zurückgetreten wäre. Knellwolf konnte nachrücken, und die Frage seiner Wählbarkeit stellte sich erneut. Diesmal beharrte der Pfarrer, der kein Geistlicher sein wollte, ultimativ auf seinem kirchlichen Amt. Er erklärte, dass er zumindest solange Pfarrer bleiben wollte, bis das Parlament über das weitere Schicksal von Artikel 75 entschieden hätte. Der Bundesrat hatte inzwischen seinen Bericht vorgelegt, in dem er die Auffassung bekräftigte, dass der Artikel auch für Protestanten gelte. Auch der Nationalrat wollte von einer Praxisänderung nichts wissen und verweigerte die Validierung von Knellwolfs Wahl.[14]

So endete die Karriere des politisierenden Pfarrers, und 1923 erklärte sich der Nationalrat mit den Schlussfolgerungen des Bundesrats einverstanden, so dass Knellwolfs Anliegen gescheitert war. Erst 1999 sah man die Gefahr des politischen Einflusses von Geistlichen im Nationalrat gebannt und strich den Artikel aus der Verfassung.

Der Hans Dampf in allen Kantonen

Gottlieb Duttweiler. (Karikatur: Nebelspalter [1939])

Im Gegensatz zu Ländern mit Präsidialsystem gibt es in der Schweiz kein Amt, das von allen Stimmbürgern des Landes gewählt wird. Die Volkswahl des Bundesrats wurde zwar immer wieder diskutiert, aber genauso oft verworfen – erstmals bereits in der Verfassungskommission von 1848. Ein Argument gegen die Volkswahl war damals, dass ein landesweiter Wahlkampf zu teuer wäre und sich nicht genug «fähige Männer» für die Regierung finden würden.

Dennoch haben die Politiker früh die Vorzüge des grenzüberschreitenden Wahlkampfs erkannt. Bereits in den Anfangsjahren, als noch im Majorz gewählt wurde, war es keine Seltenheit, dass Kandidaten in mehreren Wahlkreisen antraten. In der Regel waren es besonders bekannte und populäre Köpfe, die als «Wahlkampflokomotiven» eingesetzt wurden und die Wähler der eigenen Seite mobilisieren sollten. So liess sich der nachmalige Bundesrat Ulrich Ochsenbein bei den ersten Nationalratswahlen 1848 in vier der sechs Berner Wahlkreise aufstellen.

Mit der Einführung des Proporzes und der damit verbundenen Vergrösserung der Wahlkreise verlor diese Strategie an Relevanz, zumal nur wenige Politiker über ihren Kanton (der ja nun ihr Wahlkreis war) hinaus Bekanntheit erlangten. Doch es gab Ausnahmen. Eine davon war Gottlieb Duttweiler. Der Migros-Gründer war bereits landesweit bekannt, als er 1935 in die Politik einstieg und in Zürich, Bern und St. Gallen «Unabhängige Listen» für die Nationalratswahlen lancierte (aus denen später der Landesring der Unabhängigen entstehen sollte).[15] Seiner nationalen Ausstrahlung bewusst, trat er in allen drei Kantonen gleich selber als Spitzenkandidat an.

Der Coup gelang: Die neue Bewegung gewann auf Anhieb sieben Sitze. Und wenig überraschend erzielte Duttweiler sowohl in Zürich als auch in Bern und St. Gallen jeweils mit Abstand das beste Resultat seiner Liste. Er konnte also auswählen, welchen Kanton er im Nationalrat vertreten wollte. Schliesslich entschied er sich, die Wahl in Bern anzunehmen. In Zürich und St. Gallen rückten Ersatzkandidaten nach.

Bei den anderen Parteien kam Duttweilers Dreifachkandidatur indes nicht besonders gut an. Bald wurden Stimmen laut, die solche Manöver unterbinden wollten. Aufgrund einer Motion erarbeitete die zuständige Kommission des Nationalrats eine Vorlage für eine Ergänzung des Bundesgesetzes betreffend die Wahl des Nationalrats. Die neue Bestimmung legte fest, dass niemand in mehr als einem Kanton als Nationalratskandidat antreten dürfe. Die Vorlage wurde von National- und Ständerat in der Sommersession 1939 angenommen, gerade noch rechtzeitig für die Wahlen im Oktober.

Der Hauptbetroffene der «Lex Duttweiler» hielt sich an die neue Regel, doch scheint sich Duttweiler weiterhin schwergetan zu haben, sich politisch auf einen Kanton festzulegen: Er trat nämlich nicht mehr in Bern zur Wahl an, sondern in Zürich. Dort schaffte er 1949 auch die Wahl in den Ständerat, verpasste zwei Jahre später jedoch die Wiederwahl und wurde erneut Nationalrat, diesmal wieder für den Kanton Bern, den er bis zu seinem Tod 1962 in der grossen Kammer vertrat.

 


[1] Der vorliegende Artikel ist massgeblich inspiriert von: Hans-Urs Wili (2002): Nationalratswahlen. Präzedenzfälle.

[2] Siehe Der unbekannte Schaffhauser Bundesrat.

[3] Siehe unter anderem Als in Luzern nach Gesteinsarten gewählt wurde und Chaos, Manipulationen und Rekorde.

[4] Siehe Der Machtverlust des Freisinns – und wer davon wirklich profitierte.

[5] BBl 2007 8103-8104.

[6] Art. 45 Bundesgesetz über die politischen Rechte (BPR).

[7] In den Majorzwahlkreisen sind stille Wahlen erst seit 1994 möglich.

[8] BBl 2011 8529-8530.

[9] BGE 138 II 13.

[10] BBl 1939 II 674.

[11] Ab diesen Wahlen ist der gleichzeitige Einsitz im Regierungsrat und im Bundesparlament ganz ausgeschlossen (Siehe Was ist neu bei den Wahlen 2019? [Teil II: kantonales Recht])

[12] In der totalrevidierten Bundesverfassung von 1874 als Artikel 75 übernommen.

[13] BBl 1917 IV 706-708.

[14] Verhandlungen des Nationalrats, 21.4.1921.

[15] BBl 1935 II 677.

Das Wahlsystem, das Zürcher Wähler vom Bauchweh befreien (und gleichzeitig den Berner Staatshaushalt um 500’000 Franken entlasten) könnte

Das Verfahren, mit dem in der Schweiz die Ständeräte gewählt werden, hat offensichtliche Mängel. Höchste Zeit, über Alternativen zu diskutieren.

Die SVP-Wähler im Kanton Zürich stehen vor einem Dilemma: Am kommenden Sonntag müssen sie einen zweiten Ständerat bestimmen, und wenn es – aus Sicht der SVP – blöd läuft, wird auch der Zweite aus dem linken Lager kommen. Dann nämlich, wenn sich die Stimmen der bürgerlichen Wähler auf SVP-Kandidat Hans-Ueli Vogt und FDP-Kandidat Ruedi Noser aufteilen, während das linke Lager geschlossen für den Grünen Bastien Girod stimmt und dieser damit obenauf schwingt. Verhindern liesse sich dies am besten, indem sich die bürgerlichen Stimmen auf den aussichtsreicheren Kandidaten konzentrieren – wohl also Ruedi Noser. Sollen also die SVP-Wähler ihren bevorzugten Kandidaten Vogt wählen oder ihn zugunsten von Noser verschmähen, um Girod zu verhindern?

Die Wähler auf der anderen Seite des politischen Spektrums befinden sich im umgekehrten Dilemma: Den meisten SP-Wählern steht Bastien Girod näher als Ruedi Noser. Geben sie ihre Stimme aber Girod, gehen sie das Risiko ein, dass SVP-Kandidat Vogt mit ihrer Mithilfe in den Ständerat gewählt wird. Sollen sie ihrem bevorzugten Kandidaten Girod die Stimme geben oder besser aus taktischen Gründen Noser wählen, um Vogt zu verhindern?

Vor analogen Dilemmata stehen viele Wähler auch im Nachbarkanton Aargau, der ebenfalls am Sonntag seinen zweiten Ständeratssitz besetzt. Wähler aus dem linken politischen Spektrum würden wohl am liebsten CVP-Frau Ruth Humbel wählen, viele von ihnen werden aber versucht sein, stattdessen FDP-Kandidat Philipp Müller zu unterstützen, weil ihnen dieser immer noch lieber ist als SVP-Mann Hansjörg Knecht. Umgekehrt müssen sich SVP-Wähler fragen, ob sie wirklich ihrem eigenen Kandidaten die Stimme geben wollen, wenn dadurch die Chancen der CVP-Kandidatin Humbel steigen.

Einladung zum taktischen Wählen

Den meisten Wähler bereitet es eher Bauchweh als Freude, vor solchen Entscheidungen zu stehen. Leider konfrontiert sie das Wahlsystem, das in den meisten Kantonen[1] für den Ständerat zur Anwendung kommt, immer wieder damit. Es lädt dazu ein, taktisch zu wählen.[2] Umso erstaunlicher, dass es in der öffentlichen Diskussion in den Kantonen kaum einmal in Frage gestellt wird. Dabei gäbe es durchaus Alternativen, die in mehrerer Hinsicht vorteilhaft wären.

Gehen wir beispielsweise einmal davon aus, die Zürcher Wähler könnten nicht einfach einen Namen auf den Wahlzettel schreiben, sondern könnten die drei Kandidaten nach ihren Präferenzen ordnen. In einem einfachen Beispiel sieht das so aus:

 

Wähler A Wähler B Wähler C Wähler D Wähler E
Hans-Ueli Vogt (SVP) 1 1 2 3 3
Ruedi Noser (FDP) 2 2 1 1 2
Bastien Girod (Grüne) 3 3 3 2 1

 

Jeder Wähler hat also angegeben, welcher Kandidat ihm am liebsten ist, aber auch, wen er bevorzugen würde, falls sein Lieblingskandidat nicht gewählt würde.

Wie geht man nun mit diesem Präferenzen um?

  • Zunächst schaut man, ob ein Kandidat von einer Mehrheit der Wähler als erste Wahl angegeben wird. Dieses Vorgehen entspricht jenem in den ersten Wahlgängen der Ständeratswahlen. Das absolute Mehr liegt bei 3 Stimmen. Diese Marke erreicht keiner der drei Kandidaten.
  • Daher wird als zweiten Schritt der Kandidat, der am wenigsten Erstpräferenzstimmen erhalten hat, ausgeschlossen. In diesem Beispiel ist das Bastien Girod. Die Stimmen seiner Wähler gehen jedoch nicht verloren, sondern werden gemäss ihren Präferenzen an die anderen Kandidaten verteilt. In diesem Beispiel hat Bastien Girod nur einen Wähler (Wähler E), dessen zweite Präferenz Ruedi Noser ist. Seine Stimme geht daher an Noser.
  • Nun schaut man erneut, ob jemand das absolute Mehr erreicht hat. In diesem Beispiel hat Noser nun 2+1=3 Stimmen. Er ist damit gewählt.

Dieses Wahlsystem ist unter dem Namen Single Transferable Vote (auch Präferenzwahlverfahren) bekannt.[3] Es kommt unter anderem in Australien, Indien, Irland und Nordirland zur Anwendung.

Nun werden bei Ständeratswahlen in den meisten Kantonen nicht nur ein Sitz, sondern zwei Sitze vergeben. Das System lässt sich aber auch da problemlos anwenden. Dabei muss ein Anteil der Stimmen definiert werden, mit dem ein Kandidat gewählt ist. (In der Regel verwendet man die so genannte Droop-Quote, die bei zwei Sitzen 33.3 Prozent der Stimmen entspricht, es gibt aber auch andere Optionen, etwa die Hare-Quote, die in diesem Fall bei 50 Prozent liegt.) Liegt ein Kandidat darüber, ist er gewählt und seine «übriggebliebenen» Stimmen werden an die anderen Kandidaten verteilt.

Dieses System hat mehrere Vorteile:

  • Erstens kann verhindert werden, dass ein Kandidat nur deshalb gewählt wird, weil sich seine Gegner gegenseitig Stimmen wegnahmen. Dank den Präferenzen, die jeder Wähler angeben kann, ist keine Stimme verloren.
  • Zweitens gibt es viel weniger Anreize, taktisch zu wählen – dadurch fällt auch das Bauchweh weg, das damit verbunden ist. Im obigen Beispiel konnte Wähler E die Stimme seinem bevorzugten Kandidaten geben, ohne befürchten zu müssen, dass er damit seinem am wenigsten bevorzugten Kandidaten zur Wahl verhelfen könnte.
  • Drittens ist schon nach dem ersten Wahlgang klar, wer in den Ständerat einzieht.
  • Viertens sparen sich Wähler und Behörden damit den Aufwand, einen zweiten Wahlgang durchzuführen. So könnte der Kanton Bern, der jedes Jahr über eine Milliarde Franken aus dem Finanzausgleich erhält, seine Staatskasse pro Wahl um 500’000 Franken entlasten (bei den anderen Kantonen dürfte sich der Betrag in ähnlicher Grössenordnung bewegen).

Spätestens das letzte Argument sollte die kostenbewussten Schweizer davon überzeugen, alternative Wahlsysteme zumindest einmal zu prüfen. Denn eine Diskussion darüber fehlte bislang fast gänzlich, trotz der offensichtlichen Nachteile des geltenden Systems.

 


[1] Ausnahmen bilden die Kantone Jura und Neuenburg, die im Proporzverfahren wählen.

[2] Grund dafür ist, dass im zweiten Wahlgang das relative Mehr zur Anwendung kommt, dass also jener Kandidat gewinnt, der die meisten Stimmen hat, auch wenn er nicht die absolute Mehrheit der Stimmen erreicht.

[3] Kommt das System in Einerwahlkreisen zur Anwendung, wird es meist Alternative Vote oder Instant-runoff voting genannt.

Was ist eine Durchsetzungsinitiative?

Die Staatspolitische Kommission des Ständerats will Durchsetzungsinitiativen erschweren. Das ist praktisch allerdings nicht ganz einfach – und demokratietheoretisch fragwürdig.

Unterschriften Bundesplatz

Die «Durchsetzung» von angenommenen Volksinitiativen scheint unerwünscht. Bild: Hansjoerg Walter

Die Staatspolitische Kommission des Ständerats (SPK-S) will Durchsetzungsinitiativen ausschalten. Sie schlägt vor, dass die zweieinhalbjährige Frist zur Behandlung solcher Initiativen erst dann zu laufen beginnt, wenn das Parlament die gesetzliche Umsetzung des Verfassungsartikels, den sie betreffen, fertig beraten hat. Die Volksvertreter sollen so in Ruhe ihrer Arbeit nachgehen können, ungestört von irgendwelchen Volksrechten. Stein des Anstosses ist die Durchsetzungsinitiative zur Ausschaffungsinitiative: Die SVP hat das Begehren eingereicht, um gezielt Druck auf die eidgenössischen Räteauszuüben, die über die Umsetzung der 2010 angenommenen Ausschaffungsinitiative berieten. Sie bot an, die Durchsetzungsinitiative zurückzuziehen, wenn der Verfassungsartikel in ihrem Sinn umgesetzt wird – was am Ende jedoch nicht geschah, sodass die Durchsetzungsinitiative in der ersten Hälfte des kommenden Jahres vors Volk kommt.

Über das Anliegen wie auch über Durchsetzungsinitiativen im Allgemeinen kann man geteilter Meinung sein. Doch der Vorschlag der SPK-S ist heikel. Artikel 192 Absatz 1 der Bundesverfassung besagt: «Die Bundesverfassung kann jederzeit ganz oder teilweise revidiert werden.» Dieser Artikel wird zumindest geritzt, wenn die Fristen für gewisse Volksinitiativen willkürlich verlängert werden. Man fühlt sich an die Zeit des Vollmachtenregimes erinnert, als der Bundesrat Initiativen teilweise jahrelang schubladisierte, bis er sie irgendwann abschrieb oder die Initianten sie entnervt zurückzogen.[1] Diese Praxis war indes nicht auf die Kriegszeit beschränkt; auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschleppten Bundesrat und Parlament die Behandlung von Initiativen regelmässig. Dies sorgte verschiedentlich für Ärger und letztlich dafür, dass die Bundesversammlung unter öffentlichem Druck die Behandlungsfristen für Volksinitiativen markant verkürzte.

Knifflige Defintion

Doch selbst wenn sich dieser Konflikt mit der Verfassung auflösen liesse (etwa indem man Art. 192 BV änderte), birgt der Vorschlag weitere Fallgruben. Denn: Wenn das Parlament Durchsetzungsinitiativen erschweren will, muss es zuerst definieren, was genau unter einer Durchsetzungsinitiative zu verstehen ist. Eine naheliegende Möglichkeit wäre, jene Initiativen als Durchsetzungsinitiative zu definieren, die sich auf einen Verfassungsartikel beziehen, der noch nicht umgesetzt ist. Die Durchsetzungsinitiative zur Ausschaffungsinitiative würde damit in der Schublade verschwinden.

Dieser Definition würde allerdings auch die Initiative «Raus aus der Sackgasse» (Rasa) zum Opfer fallen, bezieht sich diese doch explizit auf Artikel 121a der Bundesverfassung, der noch nicht umgesetzt ist. Kann das Parlament die Initiative nicht behandeln, verliert diese ihren Sinn, der ja explizit darin bestand, dass das Volk nochmals über besagten Artikel abstimmen kann, und zwar bevor dieser umgesetzt ist.

Wäre das fair? Ist es nicht ein legitimer Gebrauch des Initiativrechts, einen Artikel in der Bundesverfassung, der einem nicht genehm ist, wieder aufzuheben zu versuchen? Müssen solche Initiativen – de facto ein abgrogatives Verfassungsreferendum wirklich erschwert werden?

Hinzu kommt ein weiteres Problem: Eine Durchsetzungsinitiative lässt sich problemlos umformulieren, ohne explizit Bezug zu nehmen auf den Artikel, der durchgesetzt werden soll (das gilt sowohl für die Durchsetzungsinitiative der SVP als auch für die Rasa-Initiative).

Gefahr der Rechtsunsicherheit

Alternative Definitionen könnten diese Umgehungsmöglichkeit versperren, bringen aber neue Probleme. Man könnte beispielsweise all jene Initiativen blockieren, die ein Anliegen eines Artikels betreffen, der noch nicht umgesetzt ist. Das wäre allerdings eine sehr vage Definition. Müsste die «Ecopop»-Initiative als Durchsetzunginitiative zur Masseneinwanderungsinitiative der SVP verstanden werden, weil sie das gleiche Anliegen – die Begrenzung der Zuwanderung – verfolgt? Und die «1:12» als Durchsetzungsinitiative zur «Abzocker»-Initiative? Eine klare Grenze zu ziehen, ist unmöglich, und somit würde erhebliche Rechtsunsicherheit entstehen.

Besser wäre, ganz auf eine derartige Regelung zu verzichten. Durchsetzungsinitiativen mögen nicht durch Konzessionsbereitschaft und Verfassungsästhetik glänzen. Müssen sie deshalb aber – zumal bisher noch nie eine an der Urne obsiegte – gleich unterbunden werden? Nein. Man kann sie aber mit einem bewährten Mittel bekämpfen, ohne sich in juristischen Feinheiten zu verzetteln: durch politische Argumente.


[1] Den Rekord setzte die Initiative der Sozialdemokraten «für die Wahrung der Pressefreiheit», die 1935 eingereicht wurde und 1978 – nach 43 Jahren – abgeschrieben wurde (Andreas Kley: Von Stampa nach Zürich. Der Staatsrechtler Zaccaria Giacometti, sein Leben und Werk und seine Bergeller Künstlerfamilie, Zürich 2014, S. 282).

Chaos, Manipulationen und Rekorde

Dieses Jahr wählt die Schweiz zum 50. Mal ein neues Parlament. Aus diesem Anlass blicken wir zurück auf die bedeutendsten der 49 bisherigen Wahlen. Wir beginnen mit den ersten eidgenössischen Wahlen 1848 – die alles andere als sauber abliefen.

Am 18. Oktober werden National- und Ständerat neu gewählt. Die Vorbereitungen dazu beginnen aber schon lange vorher. Die Bundeskanzlei und die kantonalen Behörden haben bereits kurz nach den Wahlen 2011 damit begonnen.

So viel Zeit für Vorbereitungen stand bei den ersten nationalen Wahlen 1848 nicht zur Verfügung. Nachdem der Sonderbundskrieg im November 1847 mit einer Niederlage der Konservativen endete, ging es Schlag auf Schlag: Die siegreichen Freisinnigen setzten eine Kommission ein, die eine neue Verfassung ausarbeitete. Im Sommer 1848 liess die Tagsatzung darüber abstimmen. 15½ von 22 Kantonen stimmten zu. Daraufhin setzte die Tagsatzung die Bundesverfassung am 12. September in Kraft. Zwei Tage später verabschiedete sie ein Dekret für die eidgenössischen Wahlen.

Bereits am 6. November sollte die erste Sitzung des neuen Parlaments eröffnet werden – es blieben also weniger als zwei Monate. Für die Besetzung des Ständerats, deren Mitglieder zumeist von den kantonalen Parlamenten bestimmt wurden[1], war das weniger ein Problem, wohl aber für die Wahl des Nationalrats. Bedenkt man die Geschwindigkeit der damaligen Kommunikationsmittel, so zeigt sich erst recht, vor welcher logistischen und organisatorischen Herausforderung die Kantone damals standen.

Einer- oder eher Pluralwahlkreise?

Die ersten Wahlen im neuen Bundesstaat waren somit mit Abstand die chaotischsten. Da der neue Staat über kein Wahlgesetz verfügte, überliess die Tagsatzung die Durchführung der Nationalratswahlen vollkommen den Kantonen. (Immerhin verteilte sie vorab noch die damaligen 111 Nationalratssitze: Am meisten erhielt Bern, deren 20.[2]) Das führte dazu, dass überall nach unterschiedlichen Regeln gewählt wurde.[3] So vergaben manche Stände (etwa Tessin oder Aargau) ihre Sitze in einem einzigen grossen Wahlkreis, während andere (etwa Graubünden oder Thurgau) das Kantonsgebiet in lauter Einerwahlkreise aufteilten.[4]

Auch der erforderliche Stimmenanteil für eine erfolgreiche Wahl war nicht überall gleich. Während in 13 Kantonen zwingend das absolute Mehr für eine Wahl nötig war, reichte in den anderen nach dem ersten Wahlgang eine relative Mehrheit.

Nach zahlreichen Wahlgängen endlich versammelt: Der erste Nationalrat nach den Wahlen 1848. Bild: Erich Gruner: Die Schweizerische Bundesversammlung 1848-1920

Nach zahlreichen Wahlgängen endlich versammelt: Der erste Nationalrat nach den Wahlen 1848.[5]

Nicht einmal einen einheitlichen Wahltermin gab es. Als erster Kanton wählte Graubünden am 1. Oktober. Die anderen Kantone folgten im Verlauf des Monats, wobei vielerorts die Entscheidung nicht im ersten Wahlgang fiel. Denn die kurze Vorbereitungszeit erschwerte es auch den «Parteien»[6], sich vorzubereiten und sich auf einen oder mehrere Kandidaten zu einigen. Die Zahl der Kandidaten erreichte denn auch ein Mass, das bis zur Einführung des Proporzsystems 1919 nie mehr erreicht werden sollte.

Acht Wahlgänge zum Glück

Vielerorts stand hinter der «Kandidatenflut» aber nicht nur mangelnde Organisation, sondern auch Absicht. Parteien portierten Kandidaten oft in mehreren Wahlkreisen, um ihre Wähler zu mobilisieren und ihren Gegnern Stimmen wegzunehmen. So stellten die Berner Freisinnigen den damaligen Regierungsrat Ulrich Ochsenbein gleich in vier von sechs Wahlkreisen des Kantons auf. In dreien wurde er auch tatsächlich gewählt (wobei er die Wahl natürlich nur in einem annehmen konnte).

Geradezu rekordverdächtig war der Auftritt von Guillaume-Henri Dufour: Der siegreiche General im Sonderbundskrieg kandidierte nicht nur in mehreren Wahlkreisen, diese befanden sich auch noch in drei verschiedenen Kantonen. Zunächst stellten ihn im Kanton Aargau die Liberal-Konservativen auf, um am 15. Oktober gegen die Radikalen anzutreten.[7] Im sehr grossen Kandidatenfeld holte Dufour allerdings nur 14.4 Prozent der Stimmen.

Daraufhin versuchte er eine Woche später sein Glück in seinem Heimatkanton Genf als Kandidat der Liberalen. Dort gewann er auch, doch die radikale Regierung annullierte die Wahl wegen angeblicher Unregelmässigkeiten. Aus Protest dagegen boykottierten die Liberalen die Wiederholung der Wahl am 28. Oktober und Dufour erhielt nur noch ein paar Sympathiestimmen.

Damit war der Zug ins Parlament für den General aber noch nicht abgefahren: Im Kanton Bern waren nach zwei Wahlgängen noch nicht alle Sitze besetzt, und so wurde Dufour dort ebenfalls noch in drei Wahlkreisen aufgestellt, diesmal wiederum von den Konservativen.

Am 5. November wurde er im Wahlkreis Emmental glanzvoll gewählt, schlug allerdings die Wahl aus, um am 12. November beim nächsten Wahlgang in den anderen beiden Wahlkreisen nochmals ins Rennen zu gehen. Er siegte in beiden und nahm schliesslich die Wahl im Wahlkreis Seeland an.

Wegen der kurzen Frist für die Durchführung der Wahlen, aber auch wegen taktischer Spielchen der Parteien, brauchte es vielerorts zwei oder mehr Wahlgänge, bis sämtliche Vertreter eines Wahlkreises feststanden. Die Bürger im Wahlkreis Mittelland im Kanton Bern wurden sogar innerhalb weniger Wochen nicht weniger als sechsmal an die Urne gerufen (zum letzten Mal am 26. November, nachdem Ulrich Ochsenbein in den Bundesrat gewählt worden war und ein Nachfolger bestimmt werden musste).[8]

Mit Tricks gegen die Konservativen

Die knappe Zeit liess auch einen eigentlichen Wahlkampf nicht zu. Die Sieger des Sonderbundskriegs konzentrierten sich darauf, die Bedeutung der neuen Verfassung zu betonen und davor zu warnen, das Rad würde zurückgedreht, sollten die Konservativen gewinnen. Die Katholisch-Konservativen ihrerseits waren nach dem Sonderbundskrieg geschwächt und verspürten wenig Lust, am verhassten neuen Staat teilzunehmen. Vielerorts wurden sie allerdings auch benachteiligt, etwa im Kanton Luzern, wo die liberale Regierung die Wahlversammlungen, an denen die Bürger ihre Stimme abgaben, so platzierte, dass die konservativen Wähler teilweise sehr weite Wege zu bewältigen hatten. Zudem wurden die Versammlungen von Regierungsvertretern geleitet, was die Chancen der Konservativen ebenfalls nicht verbesserte. Mit Philipp Anton von Segesser schaffte es in Luzern denn auch nur gerade ein Konservativer ins Parlament (der dafür in den kommenden Jahren zum unangefochtenen Wortführer der Opposition werden sollte).

Nach heutigen Standards waren die ersten nationalen Wahlen in der Schweiz wohl nicht sonderlich demokratisch.[9] Am Ende trug der Freisinn einen ungefährdeten Sieg davon. Eine klare ideologische Zuordnung ist zwar schwierig, doch stützt man sich auf Gruners Auswertung, kam der freisinnige Block[10] auf 96 von 111 Nationalratssitzen, wobei innerhalb dieses Blocks die Radikalen (freisinnige Linke) mit 79 Sitzen dominierten.

Die Katholisch-Konservativen holten nur 9 Sitze. Ihre Zeit im neuen Bundesstaat stand erst bevor – unter anderem mit den Beiträgen zum Ausbau der direkten Demokratie, zur Konkordanz und nicht zuletzt zur Einführung des Proporzwahlrechts. Doch dazu mehr im nächsten Teil unserer Serie.

 

Dieser Beitrag ist der erste Teil der dreiteiligen Serie «Wegweisende eidgenössische Wahlen».

 


[1] Einzig in den beiden Appenzell, Freiburg, Glarus, Ob- und Nidwalden bestimmte die Landsgemeinde die Standesvertreter (vgl. Schweizerische BundeskanzleiWie liefen die ersten Parlamentswahlen 1848 ab?, ch.ch).

[2] Siehe zur Sitzverteilung Wieso Aargau, Wallis und Zürich 2015 mehr Nationalräte bekommen sowie Nenad Stojanovic/Anja Giudici (2013): Seelen zählen, Sitze verteilen, NZZ 28.08.2013; Werner Seitz (2014): Ein Jahr vor den Nationalratswahlen, Journal21.ch 07.10.2014.

[3] Die Informationen für diesen Beitrag stammen grösstenteils aus Erich Gruner et. al. (1978): Die Wahlen in den schweizerischen Nationalrat 1848–1919.

[4] Zu den Wahlkreismanipulationen, die bald Einzug halten sollten, siehe Als in Luzern nach Gesteinsarten gewählt wurde.

[5] Der Begriff wird hier verwendet, obschon es damals noch keine Parteien im eigentlichen Sinn gab. Vielmehr handelte es sich um ideologische Gruppierungen, die teilweise aber nicht scharf voneinander abzugrenzen waren.

[6] Bild in: Erich Gruner et. al. (1966): Die Schweizerische Bundesversammlung 1848–1920.

[7] Die ideologische Zuordnung basiert auf den Angaben von Erich Gruner et. al. (1978).

[8] Zur Komplimentswahl von Bundesräten siehe Der unbekannte Schaffhauser Bundesrat.

[9] Von den zahlreichen Menschen, die vom Stimmrecht ausgeschlossen waren, ganz zu schweigen, siehe Kein Stimmrecht für Trunkenbolde und Sozialhilfebezüger?.

[10] Darin sind protestantische Konservative nicht eingerechnet.

Wie viel Transparenz bringt die «Lex Markwalder»?

Die «Kasachstan-Affäre» rund um Nationalrätin Christa Markwalder hat einen Schwall neuer Vorstösse ausgelöst. Was sich in Sachen Lobbyismus und Transparenz bald ändern könnte.

Bundeshaus Dunkel? (Foto: Flickr)

Nicht nur die Lichtshow soll Licht ins Dunkel bringen. (Foto: Flickr)

Am schnellsten war Lukas Reimann (SVP/SG). Nur wenige Stunden nach der Publikation des «NZZ»-Artikels «Der lange Arm der Lobbyisten ins Bundeshaus», der die folgenden Wochen hohe Wellen schlagen sollte, reichte er seine Motion ein. Über ein Dutzend weitere Vorstösse werden es bis zum Ende der kürzlich geschlossenen Sommersession sein, die den Lobbyisten – aber auch den Parlamentariern selbst – mehr Transparenz verordnen wollen.

Lobbyismus: Transparenz über Mandate oder ein neues Akkreditierungssystem?

Vier neue Vorstösse zielen direkt auf die umstrittenen und vieldebattierten Strippenzieher. Doch wirklich neu sind die vorgebrachten Ideen nicht – die Urheber haben vormals gescheiterte oder versandete, eigene Initiativen rezykliert. So greift Reimanns Motion «Transparentes Lobbyregister» seine Eingabe wieder auf, die 2009 ein solches Register einführen wollte. Das Lobbyregister wurde unterdessen (2011) zwar installiert, doch einige von Reimanns damaligen Fragen blieben in der Tat unbeantwortet: «In wessen Auftrag sind die Lobbyisten tätig? Wer bezahlt sie?» Denn wenn etwa Lobbyistin Marie-Louise Baumann, die im Zentrum der «Kasachstan-Affäre» gestanden ist, als Interessenbindung schlicht «MLB Communications» angibt – ihre eigene Agentur als Einzelunternehmung –, so verkommt das Register zur reinen Farce.

In die gleiche Kerbe schlägt eine Initiative von Andrea Caroni (FDP/AR). Während er in den letzten Jahren als Promotor eines Akkreditierungssystems hervorgetreten ist, begenügt er sich vorerst einmal mit mehr «Transparenz über die Mandate von Lobbyisten im Bundeshaus». Lobbyisten gäben nach heutiger Praxis einzig eine Public-Affairs-Unternehmung an, für die sie arbeiteten. «Im Dunkeln bleibt aber das, was wirklich interessiert, nämlich die Organisationen, die sie mandatieren.» Wie Reimann fordert denn auch auch Caroni: «Lobbyisten sollen auch die einzelnen Mandate angeben, für die sie jeweils aktuell im Bundeshaus tätig sind.»

Auf einem grundlegenden Systemwechsel beharrt derweil Ständerat Didier Berberat (NE/SP). Er will das geltende «Götti-System» (jeder Parlamentarier kann bis zu zwei Zutrittskarten frei vergeben) begraben und in ein Akkreditierungssystem umkrempeln, wie es etwa für die Bundeshausjournalisten angewandt wird. Wer zu bestimmende Voraussetzungen erfüllt (für Journalisten etwa: zu mindestens 60 Prozent über das Geschehen im Bundeshaus berichten für ein Medium, das einem breiten Publikum zugänglich ist), der gelangt in den Genuss eines «Bundeshaus-GA». Hüterin über die begehrten Lobby-Badges wäre fortan also etwa die Bundeskanzlei. – Gegenüber seiner fast gleichlautenden Initiative 2011 hat Berberat aber einen wichtigen Nebensatz hinzugefügt, eine Frage, an welcher sich die Geister noch scheiden werden: «[…] ihre Anzahl [der Lobbyisten] ist allenfalls zu begrenzen.»

Einen neuen Aspekt bringt immerhin die Grüne Fraktion ein: Abgesehen von den erwähnten Lobby-Dauerausweisen, die so lange gültig sind, bis sie der ausstellende Parlamentarier widerruft, existiert noch eine wenig bekannte, zweite Kategorie: sozusagen das «Tages-GA». Diese Türöffner müssen zwar für jeden Tag neu beantragt werden. Ihr «Vorteil» besteht jedoch darin, dass weder Gast noch «Götti» in irgendeinem Register auftauchen. Die grüne Initiative «Transparenz über das Lobbying via Tages-Zugangsbewilligungen» will daher auch die Bundesberner Kurzaufenthalter mit Name und Funktion in ein öffentlich einsehbares Register aufnehmen.

Parlamentarier: Offenlegung der Entschädigungen im Stufenmodell?

Fünf weitere parlamentarische Initiativen adressieren die finanziellen Verbandelungen der National- und Ständeräte selbst. Peter Keller (SVP/NW) wartet dabei gleich mit einem Trio an Vorstössen auf. Seine erste Initiative «Unterscheidung von ehrenamtlichen und bezahlten Tätigkeiten» will die Interessenbindungen der Parlamentarier differenzierter darstellen. Heute werden alle Mandate wild durcheinander aufgelistet, egal, ob es sich dabei um einen lukrativen Verwaltungsratssitz einer börsenkotierten Aktiengesellschaft handelt oder aber um das Präsidium des Eidgenössischen Schwing- und Älplerfests. Ehrenamtliche Tätigkeiten (höchstens 1200 Franken Spesenentschädigung jährlich) sollen daher gesondert publiziert werden.

Kellers Zweitling «Freiwillige Deklaration ehrenamtlicher und bezahlter Tätigkeiten» würde den Parlamentsbetrieb ebenfalls kaum aus den Angeln heben: Die Liste der Mandate soll durch die Parlamentarier um die Angabe über die jeweilge Höhe der Entschädigung ergänzt werden können – fakultativ. Die monetären Selbstdeklarationen, wie sie einige wenige Nationalräte wie Christian Wasserfallen (FDP/BE) oder Cédric Wermuth (SP/AG) seit einigen Jahren auf ihren eigenen Internetauftritten betreiben, erschienen so in ein wenig «offiziellerem» Licht.

Mehr Fleisch am Knochen bietet der Keller’schen Trilogie letzter Teil, die «Offenlegungspflicht für Einkünfte aus Tätigkeiten». In Anlehnung an die Stufenregelung zur Publikation der Nebentätigkeiten der Abgeordneten des Deutschen Bundestags sollen auch hierzulande alle einzelnen Mandatsentschädigungen in eine von zehn Vergütungs-Stufen kategorisiert werden. Die Stufe 1 würde dabei kleinere Einkünfte zwischen 1200 und 3500 Franken umfassen, die höchste Stufe 10 Vergütungen jenseits von 250’000 Franken.

Ähnlich zur Provenienz der eingangs erwähnten Vorstösse zur Lobbyismus-Regulierung stammen auch jene in Sachen Transparenz der Vergütungen der Parlamentarier entweder vonseiten SVP oder aber von Links-Grün. Eine weitere Initiative der Grünen Fraktion will «Parlamentarische Interessenbindungen mit Angabe der finanziellen Entschädigung ergänzen», wobei denkbar sei, «statt der exakten Entschädigung verschiedene Kategorien zu schaffen und die Ratsmitglieder deklarieren müssen, in welche Kategorie die jeweilige Entschädigung fällt». Also dasselbe in grün.

Die SP-Fraktion schliesslich geht aufs Ganze und will mit der Initiative «Transparenz der Einkünfte und Interessenbindungen der Parlamentsmitglieder» auf den Rappen genau wissen, wer wo wie viel verdient. Immerhin: Der öffentliche Lohnausweis soll erst ab einer bestimmten Höhe je Entschädigung greifen. Und vor allem soll die berufliche Haupttätigkeit ausgeklammert werden, es sei denn, diese sei «geeignet, den Anschein der Abhängigkeit des Parlamentsmitglieds von Interessengruppen zu erwecken, unabhängig davon, ob diese in selbständiger oder unselbständiger Tätigkeit ausgeführt werden».

Regelung im Umgang mit Spenden und Reisen

Nationalrätin Nadine Masshardt (SP/BE) sieht weiteren Handlungsbedarf. Mit ihrer Initiative «Mehr Transparenz. Regelung bei Spenden» verlangt sie, über Einzelspenden ab 5000 Franken gesondert Rechnung zu führen, die Parlamentarier für ihre politische Tätigkeit erhalten. Solche seien «unter Angabe des Namens in einem von den Parlamentsdiensten erstellten öffentlichen Register aufzuführen». Aus Spenden könnten Abhängigkeiten entstehen, weshalb diese offengelegt gehörten.

Eine zweite Initiative Masshardt «Mehr Transparenz. Regelung für Informationsreisen» nimmt sich den parlamentarischen Reisetätigkeiten an, die in der «Affäre Kasachstan» ebenfalls eine Rolle gespielt haben. Die Parlamentsmitglieder sollen Einladungen schweizerischer oder internationaler Interessenorganisation zu einer Informationsreise nur noch annehmen dürfen, sofern sie die Reisekosten selber bezahlen. Masshardt bezieht sich dabei auf ein Empfehlungsschreiben der parlamentarischen Büros an die Ratsmitglieder («Information über das Korruptionsstrafrecht»), in welchem letzteren ebendiese Regelung nahe gelegt wurde.

Auch Nationalrat Alfred Heer (SVP/ZH) sind die Parlamentarier-Reisen ein Dorn im Auge. Seine Initiative «Auskunftspflicht über die Reisetätigkeiten von Mitgliedern der Bundesversammlung» zielt indes nicht auf ein Verbot zur Annahme solcher Einladungen. Heer, als Mitglied des Europarats zuweilen selber in politischer Mission unterwegs, will die Reisetätigkeiten dem Öffentlichkeitsprinzip unterstellen. Auf Anfrage hin sollen Reisefreudige Auskunft geben müssen über ihre Engagements für den Europarat, OSZE, UNO, die Aussenpolitischen Kommissionen usw.

Infrastruktur: Persönliche Mitarbeiter und öffentliche Unterlagen der Kommissionen

Nationalrat Matthias Aebischer (SP/BE) wiederum beobachtet, dass «sich die Parlamentsarbeit in den letzten Jahren stark verändert hat und umfangreicher und komplexer geworden ist». Viele Parlamentsmitglieder seien stark überlastet und überfordert, nicht nur mit der eigentlichen Parlaments-, sondern auch mit der Recherchearbeit. Aebischer mahnt gar: «Nicht selten bleiben die inhaltliche Arbeit und vor allem auch visionäre Ideen auf der Strecke. Hauptmanko sind derzeit die fehlenden personellen und zeitlichen Ressourcen, weshalb hier anzusetzen ist.» Seine Initiative «Persönliche Mitarbeitende für Parlamentsmitglieder» will daher die derzeit nur allzu rudimentäre administrative und politisch-wissenschaftliche Assistenz für die Bundesparlamentarier institutionalisieren und ausbauen.

Ginge es schliesslich nach Ständerat Thomas Minder (SH/unabhängig), so hätte es den «Fall Markwalder» gar nicht erst gegeben. Seine Initiative «Parlamentarische Kommissionen. Öffentlichkeit der sekundären Unterlagen» will derzeit vertrauliche Papiere wie Schreiben, Aktennotizen, Gutachten, Gesetzesentwürfe, Stellungnahmen, Statistiken und Synopsen der Verwaltung und der Kommissionssekretariate dem Öffentlichkeitsprinzip unterstellen (nicht aber die Wortprotokolle). Sogenannte schriftliche Antworten des Bundesrats auf Themenanträge – der Stein des Anstosses – könnten so fortan an interessierte Kreise und die Öffentlichkeit getragen werden, wie es auch alt Staatsschreiber Kurt Nuspliger vorschlägt.

Fazit: Lobby-Transparenz, aber Lobbyistenflut

Die Prognose erscheint nicht allzu kühn, dass in der kommenden Legislatur der Schleier, der derzeit die Lobbyistentätigkeiten und die Mandatsentschädigungen der Parlamentarier noch umgibt, sukzessive gelüftet werden wird.

Die Zeiten, in denen sich Interessenvertreter hinter der Fassade ihrer PR-Agentur verstecken konnten, neigen sich dem Ende zu. Offen bleibt nur noch, ob gleichzeitig durch die Einführung eines Akkreditierungssystems die heutige Badge-Vergabe über Bord geworfen werden soll. Tendenziell wird eine erhöhte Transparenz der Lobbyisten-Mandanten diesem Ansinnen Vorschub leisten, da sich die «Badge-Göttis» vermehrt für ihr «Schleppertum» rechtfertigen müssen – auch dank Plattformen wie Lobbywatch.ch.

Umgekehrt konnte noch niemand schlüssig darlegen, inwiefern in einem Akkreditierungssystem quantitative Hürden vor einer Lobbyistenflut schützen könnten. Alleine Burson-Marsteller beschäftigt 40 Mitarbeiter, Farner etwa 60, der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse knapp 80, und der WWF Schweiz gar über 200. Die meisten dieser Interessenverterter würden den qualitiativen Anforderung wohl genügen und kämen noch so gerne in den Genuss der begehrten Zutrittskarte. Die Wandelhalle würde im Nu unpassierbar.

Praktikabel und mehrheitsfähig dürfte aber immerhin eine gewisse Kategorisierung der Interessenbindungen der Parlamentarier sein. Lukas Reimann wird dereinst auch hier der Erste gewesen sein. Seine Volksinitiative «Für die Offenlegung der Politiker-Einkünfte (Transparenz-Initiative)» ist zwar 2012 mangels genügend Unterschriften vorübergehend gestrandet. In ein, zwei Legislaturen wird sein Volksbegehren dennoch umgesetzt sein.

Wenn sich Parlamentarier selbst zu Berufspolitikern machen

Die Schweiz hat nur noch dem Namen nach ein Milizparlament. Dafür sind nicht zuletzt die Volksvertreter selbst verantwortlich. Wir präsentieren drei Reformvorschläge.

«Das Wertvolle an der Milizarbeit ist ja nicht, dass
sie gratis geleistet wird, sondern dass die Miliz-
tätigen ein zweites Standbein im Leben haben.»
Andreas Ladner[1]

Avenir Suisse Bürgerstaat

Der neue Avenir Suisse-Band mit neun Beiträgen zum Milizsystem.

Der Milizpolitik gehen die Politiker aus. So liesse sich – etwas verkürzt – die Lageanalyse zusammenfassen, welche die Denkfabrik Avenir Suisse in einem neuen Buch zum Milizsystem macht. In den vergangenen Tagen drehte sich die Diskussion vor allem um die Gemeindeebene, was vielleicht auch damit zusammenhängt, dass Avenir Suisse den kontroversen (wenn auch nur bedingt neuen) Vorschlag eines «allgemeinen Bürgerdienstes» zur Debatte stellte.

Tatsächlich haben die Gemeinden zunehmend Mühe, ausreichend Personal für ihre Exekutiven zu finden. Kaum jemand will heute noch den Aufwand eines politischen Amtes auf sich nehmen.[2]

Anders sieht es auf Bundesebene aus. Hier können die Parlamentarier scheinbar nicht genug von der Politik bekommen und investieren mit Freude immer mehr ihrer Zeit darin, wie Sarah Bütikofer in ihrem Buchbeitrag aufzeigt.[3]

Inzwischen gibt es demnach im Bundeshaus kaum noch wirkliche Milizpolitiker[4]. Besonders deutlich ist der Trend im Ständerat: Dort machten die Berufspolitiker in den 1970er Jahren noch knapp einen Viertel der Mitglieder aus, heute stellen sie die Mehrheit. Als Hauptgrund dafür kann der steigende Arbeitsaufwand infolge der wachsenden Zahl von Geschäften, aber auch deren zunehmenden Komplexität sowie die höhere internationale Regeldichte identifiziert werden.

Nun kann man sich darüber streiten, ob diese Entwicklung so schlimm ist. Man kann argumentieren, dass Parlamentarier, die mehr Zeit mit Politik verbringen, auch bessere politische Entscheide treffen. Tatsächlich scheint man sich etwa in Deutschland eher Sorgen zu machen, dass Politiker zu wenig ihrer produktiven Zeit in ihr Amt investierten.

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Die Anzahl Vorstösse hat sich in den letzten 20 Jahren verdoppelt. Dabei erfreuen sich Motionen, vor allem aber Interpellation und die Fragestunde erhöhter Beliebtheit. Dazu wird etwa all 300 Vorstösse eine Volksinitiative ins Parlament getragen.[5]

 

Zusehends homogenere Zusammensetzung des Parlaments

Die Schweiz hat mit ihren «Laienparlamentariern» indes nicht die schlechtesten Erfahrungen gemacht.[6] Es scheint durchaus seine Vorteile zu haben, wenn Politiker noch ein zweites Standbein haben und auch die Welt ausserhalb der Wandelhalle kennen – nur schon um sich der Wirkung der von ihnen beschlossenen Gesetze bewusst zu werden. Wer jedoch sein gesamtes Einkommen aus der Politik bestreitet, wird von seinem Amt abhängig. Es liegt auf der Hand, dass man dadurch eher geneigt ist, allein zur Rechtfertigung seines Amtes Vorstösse einzureichen und den Parlamentsbetrieb auf Trab zu halten. Schliesslich ist es auch ein Teil des Schweizer Staatsverständnisses, dass Politiker aus der Mitte des Volkes stammen und quasi jeder Bürger Parlamentarier werden kann.

Gerade aus dieser Perspektive muss ein zweiter Trend fast noch mehr zu denken geben: Unser Parlament wird in seiner Zusammensetzung immer homogener. Aufgrund der steigenden Belastung dominieren in den Ratskammern Berufsgruppen, die ihre Zeit relativ frei einteilen können: Unternehmer, Anwälte und Berater (und natürlich Berufspolitiker). Demgegenüber sind Angestellte (insbesondere Führungskräfte) im Gegensatz zu früher kaum noch im Ratssaal anzutreffen. Immer mehr Bundesparlamentarier steigen nach dem Studium mehr oder weniger direkt in die Politik ein, praktisch ohne Erfahrung in der Arbeitswelt.[7]

Somit gehen die Vorteile des Milizsystems allmählich verloren und es stellt sich in der Tat die Frage, wie zeitgemäss dieses Modell noch ist. Bevor wir es jedoch leichtfertig über Bord werfen, sollte vielleicht zunächst versucht werden, es durch innere Reformen zu neuem Leben zu erwecken.

Unser Blog präsentiert deshalb drei Denkanstösse:

1. Professionalisierung des Umfelds: Damit Parlamentarier Zeit für andere berufliche Tätigkeiten einsetzen können, sind sie darauf angewiesen, dass sie ihre politischen Verpflichtungen einigermassen effizient erledigen können. Daher sollten (persönliche oder wissenschaftliche) Mitarbeiter sie so weit wie möglich entlasten, sodass sich die Volksvertreter auf ihre wesentlichen Aufgaben konzentrieren können. Die Parlamentarier erhalten schliesslich seit einem guten Jahrzehnt eigens Geld für persönliche Mitarbeiter.[8]

Allerdings machen davon nicht alle Gebrauch: Einige stecken den Batzen lieber in die eigene Tasche und übernehmen selbst einfachere Büroarbeiten wie die Bearbeitung des täglich anfallenden Stapels Post, den Ausdruck von Dokumentationen oder die Terminverwaltung selbst. Auch zeitaufwändige Rechercheaufträge oder das Verfassen von Voten liessen sich gut an Mitarbeiter delegieren.[9]

2. Finanzielle Interessenbindungen offenlegen: Bütikofer weist darauf hin, dass der Aufwand für das Parlamentsmandat heute so gross ist, dass faktisch nur noch Bürger vom passiven Wahlrecht Gebrauch machen können, die über ausreichend zeitliche und finanzielle Ressourcen verfügen. Dies erhöhe die Offenheit «für Mandate und Aufträge im Namen von Interessenorganisationen und Grossfirmen».[10] Sollte dieser Zusammenhang tatsächlich vorhanden sein, wäre dies ein Worst-case-Szenario: Aufgrund der Beanspruchung können Parlamentarier kaum oder nicht mehr einem «normalen» Beruf nachgehen, nehmen zum Ausgleich aber Mandate von Organisationen oder Unternehmen an, die gut bezahlen und wenig verlangen (nämlich im Wesentlichen, dass ihre Interessen vertreten werden).

Diese Entwicklung lässt sich zwar nicht stoppen. Die Parlamentarier würden aber zumindest etwas diszipliniert, wenn sie gezwungen wären, ihre finanziellen Interessenbindungen offenzulegen, also ihre Einkünfte, die sie aus Anstellungen, Mandate usw. beziehen.[11] Es wäre ein Anreiz, das eigene Brot wieder vermehrt auf dem angestammten Beruf zu verdienen.

3. Weniger Vorstösse: Schliesslich sind nicht zuletzt auch die Parlamentarier selbst gefordert. Denn sie sind nicht unwesentlich mitverantwortlich für die Arbeitsbelastung, mit der sie kämpfen. Sie, die gerne über die angebliche «Initiativenflut» klagen[12], produzieren selbst eine eigentliche «Vorstossflut», die alles, was an Volksbegehren in der Pipeline steckt, in den Schatten stellt (siehe Abbildung oben).

Die Zahl der eingereichten Vorstösse hat sich in den letzten zwanzig Jahren verdoppelt. Auch der Umfang der Gesetzessammlung und die Kadenz von Revisionen nimmt unaufhaltsam zu.[13] Natürlich, die Welt ist komplexer geworden; es gibt mehr Dinge, die reguliert werden können. Dennoch stünde dem Parlament etwas mehr gesetzgeberische Zurückhaltung gut an. Nur schon aus Rücksicht auf die eigene Arbeitslast.

 


[1] Andreas Ladner (2015): Die Abhängigkeit der Gemeinden von der Milizpolitik, S. 123, in: Andreas Müller (Hrsg.) (2015): Bürgerstaat und Staatsbürger – Milizpolitik zwischen Mythos und Moderne, Zürich 2015.

[2] Vgl. Oliver Dlabac, Andreas Rohner, Thomas Zenger, Daniel Kübler (2014): Die Milizorganisation der Gemeindeexekutiven im Kanton Aargau – Rekrutierungsprobleme und Reformvorschläge, Studienberichte des Zentrums für Demokratie Aarau, Nr. 4, Oktober 2014; Oliver Dlabac (2015): Wie man das Milizsystem verändern muss, damit es überlebt, NZZ am Sonntag 25.01.2015; Adrian Vatter (2014): Das politische System der Schweiz, Baden-Baden 2014, S. 143 ff.

[3] Sarah Bütikofer (2015): Fiktion Milizparlament, in: Andreas Müller (Hrsg.) (2015): Bürgerstaat und Staatsbürger – Milizpolitik zwischen Mythos und Moderne, Zürich 2015.

[4] Nach Bütikofer (2015), S. 87 f. sind Milizparlamentarier definiert als Parlamentarier, die höchstens einen Drittel ihrer Arbeitszeit für ihr Amt aufwenden. Vollzeit- oder Berufspolitiker wenden demgegenüber mehr als zwei Drittel dafür auf. (Dazwischen liegen die Teilzeitpolitiker, die zwischen einem und zwei Drittel ihrer Arbeitszeit verwenden.)

[5] Zahlen aus Parlamentsdienste (2012): Gesamtanzahl eingereichter parlamentarischer Vorstösse NR/SR, 14.05.2012; Geschäftsdatenbank Curia Vista (für 2014) sowie (für Volksinitiativen) Bundesblatt der entsprechenden Jahrgänge. Vgl. Bütikofer (2015), S. 86.

[6] Hans Geser (2015): Rückenwind für Amateure, in: Andreas Müller (Hrsg.) (2015): Bürgerstaat und Staatsbürger – Milizpolitik zwischen Mythos und Moderne, Zürich 2015.

[7] Bütikofer (2015), S. 90 ff.

[8] «Die Ratsmitglieder erhalten eine Jahresentschädigung von 33’000 Franken als Beitrag zur Deckung der Personal- und Sachausgaben, die der Erfüllung ihres parlamentarischen Mandates dienen.» (Art. 3a Parlamentsressourcengesetz); Bütikofer (2015), S. 95; gleiche Forderung bei Vatter (2014), S. 269 f.

[9] Vgl. Carola Pavia/Oliver Heer (2014): Art. 9, Rz. 19, in: Martin Graf/Cornelia Theler/Moritz von Wyss (Hrsg.) (2014): Kommentar zum ParlG, Basel 2014. Um derlei Zweckentfremdung entgegenzuwirken, sah der Nationalrat beim Erlass des oben (Fn. 8) erwähnten Parlamentsressourcengesetzes (PRG) vor, die persönlichen Mitarbeiter direkt durch die Parlamentsdienste zu entschädigen. Der Ständerät jedoch widersetzte sich diesem Ansinnen, wodurch die aktuelle Regelung (Art. 3a PRG) entstand (Pavia/Heer (2014), Rz. 13).

[10] Bütikofer (2015), S. 99. Vgl. ebenso Ruth Lüthi (2014): Die Stellung der Bundesversammlung im politischen System der Schweiz, Rz. 51, in: Martin Graf/Cornelia Theler/Moritz von Wyss (Hrsg.) (2014): Kommentar zum ParlG, Basel 2014.

[11] Siehe die bisherigen (allesamt erfolglosen) Vorstösse in diese Richtung:

  • Parlamentarische Initiative Jeanprêtre (89.220), Einkommen der Parlamentarier;
  • Motion Zisyadis (95.3113), Offenlegung von Einkommen und Vermögen der Parlamentsmitglieder;
  • Postulat Rennwald (01.3124), Interessenbindungen, Löhne und Vermögen der Parlamentarier. Transparenz;
  • Interpellation Bühlmann (01.3272), Interessenbindungen. Transparenz und Kontrolle der Offenlegung;
  • Postulat Mörgeli (03.3406), Ämterkumulierung. Offenlegung der Bezüge;
  • Parlamentarische Initiative der Staatspolitischen Kommission NR (05.469), Offenlegung der Interessenbindungen. Revision des Parlamentsgesetzes;
  • Motion Bühlmann (05.3212), Transparentes Parlament;
  • Parlamentarische Initiative Schelbert (06.462), Offenlegung der finanziellen Interessenbindungen;
  • Parlamentarische Initiative Sommaruga (06.480), Geschenke und andere unentgeltliche Leistungen an Parlamentarierinnen und Parlamentarier;
  • Parlamentarische Initiative Freysinger (07.467), Finanzielle Auswirkung von Interessenbindungen;
  • Parlamentarische Initiative Rielle (10.419), Für mehr Transparenz bei Einkünften, Entschädigungen und anderen Vorteilen von Mitgliedern der eidgenössischen Räte;
  • Postulat Widmer (10.3268), Vertrauen durch Transparenz;
  • Parlamentarische Initiative Tschümperlin (11.463), Offenlegungspflicht für Ratsmitglieder;
  • Parlamentarische Initiative Moret (12.423), Interessenbindungen. Unterscheidung zwischen bezahlten und ehrenamtlichen Tätigkeiten;
  • Petition der Jugendsession 2012 (12.2073), Transparenz bei der Finanzierung der politischen Parteien und bei den Einkünften der Parlamentarier;
  • ebenso die Eidgenössische Volksinitiative «Für die Offenlegung der Politiker-Einkünfte (Transparenz-Initiative)» (BBl 2011 4521).

[12] Vgl. zur dieser Debatte Claudio Kuster/Lukas Leuzinger (2013): Von Parlamentes Gnaden?, NZZ 31.10.2013; Lukas Leuzinger/Claudio Kuster (2013): Auf der Suche nach der «Initiativenflut»; dies. (2014): Unliebsames Erfolgsmodell, Weltwoche 28/2014.

[13] Vgl. zur Qualität der Gesetzgebung die Beiträge in: Alain Griffel (Hrsg.) (2014): Vom Wert einer guten Gesetzgebung, Zürich 2014; weniger kritisch hierzu Vatter (2014), S. 285 f.

Knöpfli im Stöckli – aber mit Köpfli!

In unserer Serie «Bundesbeamte erklären die Welt» widmen wir uns heute der Frage: Wie bedient man eigentlich eine elektronische Abstimmungsanlage?

Apparat des Grauens: Die neue ständerätliche Abstimmungsanlage. Bild: Sekretariat des Ständerates

Neuerung mit Tücken: Die ständerätliche Abstimmungsanlage. Bild: Sekretariat des Ständerates

In einem Anflug von Wagemut und Fortschrittsglaube – und unter dem Eindruck einer ganzen Reihe von Pannen – hat der Ständerat vor einem Jahr den Entschluss gefasst, künftig elektronisch abzustimmen. Anstatt wie bis anhin ihre Meinung per Handaufheben kundzutun, werden die Standesvertreter dies ab der Frühjahrssession mithilfe einer elektronischen Abstimmungsanlage tun.

Nun rückt der erste Sessionstag näher, und damit das Inkrafttreten des revidierten Geschäftsreglements. Das Lampenfieber unter den Parlamentarier nimmt allmählich zu. Denn das neue System ist zwar zuverlässiger, allerdings auch ungleich komplizierter als das bequeme Erheben des Armes. Die moderne Technik hat ihre Tücken: Mit welchem Knopf signalisiert man eigentlich ein Ja? Wie enthält man sich der Stimme? Was, wenn in der Hitze des Gefechts der Finger auf dem falschen Knopf landet? Oder – noch schlimmer! – aus reiner Gewohnheit versehentlich in die Höhe fährt und damit im ganzen Saal Spott auslöst? Solche Fragen bereiten einigen Ständeräten schlaflose Nächte.

Glücklicherweise können sich die weisen Damen und Herren auf ihr Ratssekretariat verlassen, das ihnen kompetent zur Hilfe eilt. Es hat keine Mühen gescheut, die «Chambre de réflexion» auf den Umstieg ins digitale Zeitalter vorzubereiten, und eine detaillierte «Gebrauchsanweisung» [PDF] für die neue Anlage verfasst. Das Papier wurde dieser Tage sämtlichen Ständeräten zugeschickt. Schritt für Schritt und wird darin erklärt, wie die vielen farbigen Bedienelemente des hochmodernen Armaturenbretts fachgerecht zu bedienen sind. Besonders praktisch: Die kompakte Anleitung findet auf einer A4-Seite Platz, sodass sie unter dem Pult gelagert und im Fall der Fälle diskret konsultiert werden kann.

Doch damit nicht genug. Das umsorgte Sekretariat anerbietet eine weitere Hilfeleistung: Ab der Frühjahrssession können sich die Ständeräte neu persönlich per SMS alarmieren lassen, sobald sich im Rat die Diskussion und Reflektion zu einem Traktandum dem Ende nähert und zur Abstimmung geschritten wird. Bisher wurden Abstimmungen einzig durch den Ton einer Glocke angekündigt, der in der hektischen Wandelhalle leicht überhört wird. Nicht nur beim Abstimmungsverfahren kommen künftig also die neuesten technischen Möglichkeiten zum Einsatz.

Ständeräte, die trotz der Unterstützung noch nicht sattelfest im Umgang mit der Elektronik sind, können sich damit beruhigen, dass der Nationalrat bereits seit 1994 elektronisch abstimmt und seine Mitglieder – von einzelnen Ausnahmefällen abgesehen – recht gut mit dem System umgehen können. Dem Vernehmen nach soll es bereits Nationalräte geben, die sich mit Nachhilfelektionen für überforderte Kollegen aus dem Stöckli ein kleines Zubrot verdienen.

Der lange Schatten des Schwyzer Wahlsystems

Der Streit um das Wahlrecht im Kanton Schwyz ist inzwischen zu einem regelrechten Politkrimi geworden. Nachdem der Ständerat die neue Schwyzer Kantonsverfassung im Dezember vollständig gewährleistet hatte, stellte sich der Nationalrat vergangene Woche – äusserst knapp mit 94 zu 92 Stimmen – auf die Seite des Bundesrats und sprach sich dafür aus, dem umstrittenen Paragraf 48 Absatz 3 die Gewährleistung zu verwehren. Das Geschäft ging zurück in die kleine Kammer, die am Donnerstag auf ihrem Standpunkt beharrte und sich für die vollständige Gewährleistung aussprach.

Der Ball liegt nun wieder beim Nationalrat, der heute – nur eine Woche nach der ersten Abstimmung – erneut über das Schwyzer Wahlrecht befinden muss.

Weshalb das Schwyzer Wahlrecht mit dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit in der Bundesverfassung in Konflikt steht, wurde in diesem Blog bereits ausgeführt. Ein Aspekt, der in der Diskussion vernachlässigt wird, sind die Auswirkungen auf andere Kantone.

Bei der Gewährleistung der Schwyzer Kantonsverfassung geht es nur vordergründig um das Schwyzer Wahlsystem. Tatsächlich steht das Wahlrecht sämtlicher Kantone zur Diskussion. Sollte das Parlament die Schwyzer Verfassung integral gewährleisten, würde es damit die jahrelange Praxis des Bundesgerichts auf den Kopf stellen. Dieses hatte die Wahlsysteme mehrerer Kantone – unter ihnen der Kanton Schwyz – für verfassungswidrig befunden, da diese das Gebot der Wahlrechtsgleichheit gemäss Artikel 34 der Bundesverfassung verletzten. Die Kantone Zürich, Schaffhausen und Aargau änderten in direkter oder indirekter Reaktion auf die Rechtssprechung ihre Wahlverfahren, so dass diese eine faire Sitzverteilung im Verhältnis zu den Wählerstärken der Parteien ermöglichten.

Wie wäre es nun diesen Kantonen zu erklären, dass das Schwyzer Wahlrecht – obschon im Widerspruch zur Bundesverfassung stehend – den Segen von oben erhielte, nachdem sie selbst ihre Wahlsysteme – deren Verzerrungen im Vergleich zu Schwyz noch moderat ausgefallen waren – mit einigem Aufwand den Anforderungen des obersten Gerichts angepasst hatten? Faktisch würde das Parlament damit zwei Klassen von Kantonen schaffen: jene, auf die die Anforderungen des Bundesrechts Anwendung finden, und jene, die davon ausgenommen sind.

Noch direkteren Einfluss hat die Entscheidung des Bundesparlaments auf jene Kantone, in denen die Reform des Wahlsystems gerade auf dem Weg ist, namentlich Zug, Nidwalden und Freiburg. Veranschaulicht wurde dieser Einfluss im Januar im Kanton Zug: Das Parlament stimmte zwar einer Änderung des Wahlsystems hin zum «doppelten Pukelsheim» zu. Die vorberatende Kommission kündigte aber bereits an, im Falle einer Gewährleistung des Schwyzer Wahlverfahrens durch das Bundesparlament ebenfalls eine Verfassungsänderung zu beantragen, welche die eben vom Kantonsrat beschlossene Reform verbieten würde.

Das Signal, welche mit einer Gewährleistung des Schwyzer Wahlrechts an die anderen Kantone ausgesendet würde, ist klar: Künftig könnte jeder Kanton, dessen Wahlrecht der Bundesverfassung widerspricht, die Urteile des Bundesgerichts ignorieren. Alles, was er machen müsste, wäre, das bundesverfassungswidrige Wahlsystem ganz einfach in die eigene Verfassung zu schreiben. Vom Parlament hätte er nichts zu befürchten, und dem Bundesgericht wären die Hände gebunden, da es einmal gewährleistete Bestimmungen in Kantonsverfassungen nicht mehr auf ihre Vereinbarkeit mit der Bundesverfassung überprüft.

Viele Parlamentarier scheinen davon auszugehen, es gehe in diesem Geschäft allein um das Schwyzer Wahlrecht, und stellen sich daher auf den Standpunkt, darüber solle man die Schwyzer Bevölkerung entscheiden lassen. Doch der Entscheid des Parlaments betrifft nicht nur den Kanton Schwyz, sondern sämtliche anderen Kantone ebenso.

Der Nachteil der Transparenz: Sie ist ungemütlich

Auch im Jahre 2013 nach Christus stimmt der Ständerat ab wie zu Zeiten der Tagsatzung. Die Damen und Herren strecken ihre Hand auf; wer wie gestimmt hat, erfährt die Öffentlichkeit nicht – jedenfalls bis vor Kurzem.

Die intransparenten Abstimmungen sind für die Ständeräte äusserst angenehm: Die Politiker können von niemandem auf ihre Meinung behaftet werden, und müssen sich vor der nächsten Wahl keine unangenehme Fragen gefallen lassen, ob sie in den vergangenen vier Jahre wirklich im Sinne ihrer Wähler gestimmt haben. Umso einfacher ist es, im Sinne anderer Interessen zu stimmen, insbesondere wenn diese Interessen das angemessen zu würdigen wissen.

Ironischerweise führen die Gegner von mehr Transparenz gerne das Argument der «Unabhängigkeit» an, die durch ein transparentes Abstimmungsverfahren gefährdet würde. So auch der Ökonom Yvan Lengwiler in seinem Meinungsbeitrag mit dem Titel «Transparenz bringt auch Nachteile» in der NZZ von heute (Artikel online nicht frei verfügbar). Transparenz mache es für die Ratsmitglieder viel schwieriger, von der Parteilinie abzuweichen, schreibt Lengwiler. Und macht dazu ein Beispiel:

«Es kommt eine Vorlage zur steuerlichen Unterstützung von kinderreichen Familien zur Abstimmung. Die CVP-Spitze vertritt diese Vorlage mit Vehemenz; ein Mitglied des Nationalrats, das auf der Liste der CVP gewählt wurde, kann sich aber nicht wirklich für die Vorlage begeistern. (…) Wird dieses CVP-Ratsmitglied den roten Kopf drücken und damit die Parteileitung desavouieren – oder wird es linientreu auf den grünen Knopf drücken? Der rote Knopf entspräche seiner Überzeugung. Allerdings ist sich das Ratsmitglied sicher, dass es von seinen Parteikolleginnen und -kollegen schief angeschaut würde, wenn da auf der Anzeigetafel an seinem Platz eine Lampe rot aufleuchtete, inmitten eines grünen Meers.»

Wenn das Ratsmitglied gegen die Vorlage ist, sollte es nicht versuchen, seine Kollegen in der Fraktion und im Parlament von den Nachteilen zu überzeugen? Ist es zu viel verlangt, dass ein Parlamentarier zu seiner Meinung steht? Sollten seine Wähler nicht genau das von ihm erwarten dürfen? Wenn unsere Politiker gegen ihre Überzeugung stimmen, weil sie nicht «schief angeschaut» werden möchten, dann haben wir in diesem Land wahrlich noch ganz andere Probleme als das Abstimmungssystem im Parlament. Ganz abgesehen muss auch ein CVP-Ständerat, der bei dieser Vorlage Nein stimmt, damit rechnen, schief angeschaut zu werden.

«Und wenn der CVP-Vertreter tatsächlich entsprechend seiner eigenen Überzeugung abstimmt (und das zu oft passiert), wird er seinen guten Listenplatz behalten können?»

Es ist schwer vorstellbar, dass die Schweizer Parteien derart diktatorisch geführt werden. Das wäre ohnehin relativ schwierig, weil die Kantonalparteien über die Listen entscheiden. Der Autor nennt auch keine Beispiele von Nationalräten, die wegen mangelnder Linientreue ihren Listenplatz verloren hätten. Mir sind ebenfalls keine bekannt. Dabei gibt es – gerade in der CVP – genug Parlamentarier, die weit weg von der Parteilinie politisieren.

Einmal abgesehen davon ist es etwas abwegig, mit Listenplätzen gegen mehr Transparenz im Ständerat zu argumentieren, wo doch die Ständeräte in der Regel nach dem Majorzverfahren gewählt werden. Es braucht schon einiges, um als wieder kandidierender Ständerat von der eigenen Partei nicht vorgeschlagen zu werden.

Ausserdem kommen bei den Nationalratswahlen offene Listen zur Anwendung, der Wähler kann also beliebig Namen von der Liste streichen oder hinzufügen, weshalb der Listenplatz nicht so entscheidend ist wie in anderen Ländern. Gemäss politikwissenschaftlichen Untersuchungen und dem gesunden Menschenverstand ist die Parteidisziplin in Systemen mit offener Listenwahl wesentlich kleiner als in solchen mit geschlossenen Listen.

Nichtsdestotrotz ist Lengwiler davon überzeugt, dass Transparenz zu mehr Parteidisziplin führe. Und damit nicht genug:

«Je strikter die Parteidisziplin durchgesetzt wird, desto undurchlässiger werden die Kommunikation und die Gestaltungsmöglichkeit der Parlamentarier zwischen den Parteilinien und desto weniger demokratisch ist letztlich die ganze Arbeit des Parlamentes.»

Der Sprung von transparenteren Abstimmungen im Parlament hin zu weniger Demokratie ist ziemlich abenteuerlich. Vor allem, wenn man den Fokus einzig auf das Verhältnis zwischen dem Parlamentarier und seiner Partei legt, und den Stimmbürger dabei vollständig ausklammert.

Eines der wesentlichen Merkmale einer Demokratie ist die Rechenschaftsfähigkeit: Die Volksvertreter sind gegenüber dem Volk rechenschaftspflichtig. Um ihre Vertreter zur Verantwortung ziehen zu können, müssen die Bürger aber darüber informiert sein, wie ihre Repräsentanten sie vertreten. Das ist unbequem für die Parlamentarier, doch es ist nötig, um die demokratische Rechenschaft zu gewährleisten. Dass sich die Parlamentarier einmal alle vier Jahre wählen lassen, um danach unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu entscheiden, wie sich das Lengwiler vorstellt, ist sicher im Sinne der Politiker. Ob die Arbeit des Parlaments damit wirklich besonders demokratisch wäre, darf allerdings bezweifelt werden.