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Minderheitsregierungen: In Deutschland verpönt, in Dänemark Alltag

Der deutschen Politik gehen die Optionen für eine Koalitionsregierung allmählich aus. Dennoch halten alle Parteien am Credo fest, dass eine Regierung auf jeden Fall über eine feste Mehrheit im Parlament verfügen muss. Warum eigentlich? Ein Blick nach Skandinavien ist aufschlussreich.

Die etablierte Politik in Deutschland steckt in einer Sackgasse und sucht fieberhaft nach einem Ausweg. Nach den Bundestagswahlen im September sind die Koalitionsverhandlungen zwischen CDU/CSU, FDP und den Grünen gescheitert. Einer Neuauflage der Grossen Koalition aus Union und SPD haben die Sozialdemokraten bereits kurz nach der Wahl eine Absage erteilt (wobei verschiedene Exponenten der Partei darauf drängen, auf diesen Entscheid zurückzukommen). Andere Koalitionsoptionen erreichen entweder keine Mehrheit im Bundestag (etwa SPD, Grüne und Linke) oder sind politisch unrealistisch. Der einzige Ausweg, so scheint es, sind Neuwahlen – wobei ungewiss ist, ob diese an den gegenwärtigen Stärkeverhältnissen so viel ändern würden, dass sich neue Optionen für eine Regierung ergeben.

Wobei: Eine Alternative gäbe es da noch: eine Minderheitsregierung. Diese Option scheinen deutsche Politiker aber zu fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat bereits erklärt, dass sie lieber nochmals einen Wahlkampf absolvieren als eine Minderheitsregierung bilden würde. Auch die anderen Parteien zeigen wenig Interesse an einer Regierung ohne Parlamentsmehrheit. Als Begründung wird jeweils reflexartig auf die fehlende Stabilität einer solchen Regierung verwiesen. Zudem habe dieses Modell in Deutschland «keine Tradition». Auf Bundesebene gab es seit Gründung der Republik noch nie eine Minderheitsregierung, wenngleich sich in den Ländern einige Beispiele finden.

Lange Tradition

In anderen Ländern geht man mit dem Thema deutlich unverkrampfter um. In Deutschlands nördlichem Nachbar Dänemark etwa ist derzeit eine Minderheitsregierung am Ruder. Die liberale Partei Venstre von Ministerpräsident Lars Løkke Rasmussen bildet zusammen mit der Liberal Alliance und der Konservativen Volkspartei das Kabinett. Diese drei Parteien haben im Parlament allerdings keine Mehrheit und sind auf die Unterstützung anderer Parteien angewiesen.

Minderheitsregierungen sind in Europa keine Seltenheit, und die skandinavischen Länder scheinen sich geradezu darauf spezialisiert zu haben: In Norwegen und Schweden konnten sich gemäss der Datenbank ParlGov über die Hälfte aller Regierungen seit 1950 nicht auf eine Mehrheit im Parlament stützen. Dänemark ist aber der unangefochtene Europameister, wenn es um Minderheitsregierungen geht: 1971 (!) wurde das Land letztmals von einer Koalition regiert, die im Folketing auf mehr als die Hälfte der Sitze zählen konnte. Seither waren nur Minderheitsregierungen an der Macht.

Dass diese sich nicht durch besondere Stabilität auszeichnen, ist nicht von der Hand zu weisen. Im Schnitt wechselte die Regierung alle zwei Jahre.[1] Allerdings ist die angebliche «Stabilität» von Mehrheitsregierungen eine trügerische, da die Parteien, die diesen angehören, oft wenig gemeinsam haben und jede von ihnen die Regierung jederzeit scheitern lassen kann.

Der Vorteil von Minderheitsregierungen ist demgegenüber, dass sie nicht immer auf den gleichen Partner angewiesen sind, um Vorlagen durchs Parlament zu bringen. In Dänemark führt dies zu einem «flexiblen und pragmatischen Gesetzgebungsprozess», wie der Politikwissenschaftler Asbjørn Skjæveland von der Universität Aarhus sagt. Im Zentrum stehen sachliche Lösungen statt die Interessen der Regierung.

Dänemark weist damit eine gewisse Ähnlichkeit mit der Schweiz auf, wo der Parlamentsbetrieb ebenfalls von variablen Mehrheiten geprägt ist. Das erscheint auf den ersten Blick paradox, gibt es in der Schweiz ja gerade keine Minderheitsregierungen, sondern im Gegenteil eine übergrosse Koalition in Form einer Konkordanzregierung. Im Prinzip spielen die Parteien aber in beiden Ländern ähnliche Rollen: In der Schweiz suchen formelle Regierungsparteien regelmässig die Opposition zur Regierung, während in Dänemark formelle Oppositionsparteien regelmässig Allianzen mit der Regierung suchen. In beiden Ländern ist das Parlament tatsächlich ein Ort von Verhandlung und Lösungssuche und nicht einfach ein «Redeparlament», wo aufgrund der Sitzstärken von Regierung und Opposition meist schon von Anfang an klar ist, wie das Ergebnis aussieht. «Im Bundesparlament würde nicht mehr die Regierungslinie abgenickt», sagte Politikwissenschaftler Werner Patzelt jüngst im Interview mit der «SonntagsZeitung».

Koalitionsbildungen werden nicht einfacher

Offenbar ist die Sehnsucht nach «Stabilität» und «starken Regierungen» in Deutschland aber so gross, dass man die Möglichkeit einer Minderheitsregierung gar nicht erst ernsthaft in Betracht zieht. Lieber bildet man nochmals eine Grosse Koalition, auch wenn diese bei den letzten Wahlen deutlich abgestraft wurde.

Mittelfristig wird man um ein Umdenken wohl nicht herumkommen. Nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa hat die Zahl der in den Parlamenten vertretenen Parteien in der jüngeren Vergangenheit deutlich zugenommen. Das ist ein Ausdruck der Vielfalt der Gesellschaften, hat aber den Nachteil, dass es die Bildung von dauerhaften Mehrheiten erschwert, vor allem, wenn gewisse Parteien von Beginn weg als Koaltionspartner ausgeschlossen werden. Natürlich ist es irgendwie möglich, aus Parteien, die sich im Wahlkampf noch scharf voneinander abgrenzten, am Ende eine Regierung zu formen. Wie viel Stabilität dadurch aber wirklich gewonnen ist, steht auf einem anderen Blatt.

 


[1] Wobei diese Zahl ausser Acht lässt, dass einige Regierungswechsel lediglich Umstellungen waren, etwa vergangenes Jahr, als Ministerpräsident Rasmussen zwei Parteien in die Regierung aufnahm, aber Regierungschef blieb.

Eine grosse Koalition ist noch keine Konsensdemokratie

CDU/CSU und SPD werden sich aller Voraussicht nach auf eine grosse Koalition einigen. Daraus einen Trend hin zu einer Konsensdemokratie abzuleiten, entbehrt aber der wissenschaflichen Grundlage. Wenn schon, geht der Trend in die andere Richtung.

Nach den Bundestagswahlen vom 22. September wird in Deutschland eine grosse Koalition zwischen CDU/CSU und der SPD immer wahrscheinlicher. Heute Sonntag gab der Parteikonvent der Sozialdemokraten grünes Licht für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen. Erste Gespräche sollen am Mittwoch stattfinden.

Das sich abzeichnende Zusammengehen zwischen den beiden grössten Parteien wertet Thomas Isler in der «NZZ am Sonntag» als Zeichen, dass Deutschland «auf dem Weg zur Konsensdemokratie» sei. Früher, so Isler, habe das Land ein Konkurrenzsystem gehabt und sich damit klar von der Schweiz mit ihrem Konsensmodell unterschieden. Die Bundestagswahlen 2013 hätten diese «Auffassung von deutscher und schweizerischer Politik (…) endgültig widerlegt».

Lijpharts Einteilung von 36 Staaten nach Merkmalen von Konsens- und Konkurrenzdemokratie. Die Pfeile zeigen die Verschiebungen vom Zeitraum von 1945 bis 1971 zur Zeit von 1971 bis 1996.

Lijpharts Einteilung von 36 Staaten nach Merkmalen von Konsens- und Konkurrenzdemokratie. Die Pfeile zeigen die Verschiebungen vom Zeitraum von 1945 bis 1971 zur Zeit von 1971 bis 1996.

Steuert Deutschland tatsächlich auf ein Konsenssystem zu? Um diese Frage zu beantworten, muss zunächst geklärt werden, was eine Konsensdemokratie ist. Die klassische Unterscheidung zwischen Konkurrenz- und Konsensdemokratie stammt vom niederländischen Politikwissenschafter Arend Lijphart. Er fasst die Konkurrenzdemokratie oder Mehrheitsdemokratie als Modell auf, das die Macht konzentriert und in dem starke Parteien möglichst uneingeschränkt und ohne Rücksicht auf Minderheiten regieren können.

Als Musterbeispiel einer Mehrheitsdemokratie sieht er Grossbritannien (er spricht deshalb auch vom «Westminster Model»). Demgegenüber ist die Konsensdemokratie laut Lijphart «a democratic regime that emphasizes consensus instead of opposition, that includes rather than excludes, and that tries to maximize the size of the ruling majority instead of being satisfied with a bare majority».[1] Lijphart analysierte 36 Staaten, inwiefern sie welchem Modell entsprechen (siehe Abbildung).[2] Grundsätzlich gilt: Je weiter links und je weiter unten ein Land in der Grafik, desto mehr entspricht es dem Modell der Konsensdemokratie; je weiter rechts und je weiter oben ein Land, desto stärker tendiert es zur Mehrheitsdemokratie.

Der kurze wissenschaftliche Exkurs ist notwendig, weil die Bezeichnung eines Landes als Konsensdemokratie davon abhängt, wie man Konsensdemokratie definiert. Hier unterscheidet sich Thomas Isler deutlich vom wissenschaftlichen Konsens (im wahrsten Sinne des Wortes). Im Wesentlichen stützt er seine These auf drei Merkmale:

  • Das Vorliegen einer grossen Koalition ist für Isler offenbar ein Indiz für eine Konsensdemokratie. Er weist darauf hin, dass CDU/CSU und SPD zusammen knapp 80 Prozent der Sitze im Bundestag innehaben. Das ist, wie er richtig feststellt, ein ähnlich hoher Wert wie die 84 Prozent der Sitze, die SVP, SP, FDP, CVP und BDP in der Bundesversammlung kontrollieren.[3] Allerdings ist die Grösse einer Koalition allein noch kein Indiz für das Vorliegen einer Konsensdemokratie. Ansonsten müsste auch Grossbritannien mit seiner Koalition aus Konservativen und Liberaldemokraten als Konsensdemokratie aufgefasst werden. Lijphart misst denn auch nicht die Grösse der Koalition, sondern schaut, ob einer Koalition mehr Parteien angehören, als für die absolute Mehrheit im Parlament nötig. Ist das nicht der Fall, spricht man von einer «minimum winning coalition». Sollten Unionsparteien und SPD zusammenspannen, würden sie das nicht tun, weil ihnen eine grosse Koalition besonders gut gefällt, sondern weil sie eine Mehrheit im Bundestag benötigen. Eine solche Koalition wäre eine «minimum winning coalition» – ein klassisches Merkmal einer Mehrheitsdemokratie. In der Schweiz dagegen könnte man jede der fünf Bundesratsparteien aus der Regierung ausschliessen, ohne dass diese die parlamentarische Mehrheit verlieren würde (eine so genannte «oversized coalition» oder übergrosse Koalition).
  • Als weiteres Indiz führt Isler die ideologische Nähe von CDU/CSU und SPD an. Merkel habe die Union zu einer «zweiten sozialdemokratischen Partei» gemacht, die «bestens zur SPD passt». Das mag richtig oder falsch sein. Die ideologische Nähe zwischen den Regierungsparteien ist jedoch kein Hinweis auf eine Konsensdemokratie – im Gegenteil: die Regierungsparteien in Konsensdemokratien liegen politisch tendenziell weiter auseinander als in Konkurrenzdemokratien. Gerade für Gesellschaften, die durch grosse ideologische, sprachliche oder kulturelle Unterschiede geprägt sind – etwa die Schweiz –, eignet sich das Konsenssystem besser, weil es verhindert, dass eine gesellschaftliche Gruppe dauerhaft dominiert. Übergrosse Koalitionen werden nicht geschaffen, weil man sich untereinander besonders gut versteht, sondern weil sie der politischen Stabilität dienen.
  • Schliesslich diagnostiziert Isler in Deutschland ein allgemeines «Bedürfnis nach Harmonie», eine «Sehnsucht nach Konsens». Ironischerweise führt er als Beleg dafür den Ausschluss der FDP und AfD aus dem Parlament durch die 5-Prozent-Hürde an. Dabei zeichnet sich eine Konsensdemokratie gerade dadurch aus, dass möglichst alle Bürger im Parlament vertreten sind und keine relevante gesellschaftliche Gruppierung ausgeschlossen wird. In dieser Hinsicht gleicht Deutschland eher dem britischen Westminster-Modell, das künstliche Mehrheiten schafft, indem es kleine Parteien bewusst schwächt. Davon abgesehen ist auch das Bedürfnis nach Harmonie und Konsens an sich noch kein Indiz für eine Konsensdemokratie, sondern bestenfalls eine günstige Voraussetzung dafür.

Interessanterweise liegt Isler mit seiner Beschreibung Deutschlands als Konsensdemokratie nicht einmal falsch – allerdings aus anderen Gründen als jenen, die er anführt. Das deutsche System zeichnet sich durch eine relativ starke Teilung der Macht aus. So sorgt das proportionale Wahlsystem für eine faire Repräsentation aller Parteien (mit Einschränkung durch die 5-Prozent-Hürde), während die starke Rolle der Bundesländer und des Verfassungsgerichts die Macht der Regierung zusätzlich beschränken. Wie die Analyse Lijpharts zeigt, ist Deutschland bereits seit 1945 durchgehend auf der Seite der Konsensdemokratien anzusiedeln. Wenn es einen Trend gibt, dann eher in die andere Richtung: In der Zeit von 1971 bis 1996 hat sich Deutschland eher in Richtung Mehrheitsdemokratie entwickelt, was Lijphart in erster Linie damit erklärt, dass die in der Anfangsphase nach 1945 zuweilen gebildeten übergrossen Koalitionen[4] verschwanden und nur noch «minimal winning coalitions» gebildet wurden – eine solche zeichnet nun erneut ab.[5]

Man mag eine grosse Koalition gut finden oder schlecht. Bei Schlussfolgerungen auf das politische System ist allerdings Vorsicht angebracht. Ein Konsens unter den zwei grössten Parteien macht noch lange keine Konsensdemokratie.


[1] Lijphart, Arend (1999): Patterns of Democracy. Government Forms and Performance in Thirty-Six Countries.

[2] Er teilte die Staaten gemäss zwei Dimensionen auf die beiden Modelle auf und verwendete dazu 10 Indikatoren: für die Exekutive-Parteien-Dimension die Grösse der Regierungskoalition, das Machtverhältnis zwischen Exekutive und Legislative, die (effektive) Anzahl Parteien, die Proportionalität des Wahlsystems und der Interessengruppen-Pluralismus; für die Föderalismus-Zentralismus-Dimension den Grad des Föderalismus, das Zweikammer-System, die Möglichkeit, die Verfassung zu ändern, die Verfassungsgerichtsbarkeit und die Unabhängigkeit der Zentralbank. Adrian Vatter erweiterte 2009 Lijpharts Analyse, indem er die direkte Demokratie mit einbezog (siehe: Vatter, Adrian (2009): «Lijphart Expanded: Three Dimensions of Democracy in Advanced OECD Countries?» [PDF], European Political Science Review 1 (1): 125-153).

[3] Im Unterschied zur Schweiz sind in Deutschland allerdings einige wichtige kleinere Parteien gar nicht im Parlament vertreten, weil sie an der 5-Prozent-Hürde scheiterten. Nimmt man die Wähleranteile als Mass, kommen CDU/CSU und SPD zusammen nur auf 67 Prozent, während die Bundesratsparteien in der Schweiz 78 Prozent der Wähler repräsentieren.

[4] Konrad Adenauer bildete in seinen zwei Amtszeiten als Bundeskanzler von 1953 bis 1957 und 1957 bis 1961 jeweils übergrosse Koalitionen.

[5] Ob die Schweiz noch als Musterbeispiel für eine Konsensdemokratie gesehen werden kann oder ob sie sich ebenfalls in Richtung Konkurrenzdemokratie entwickelt, steht auf einem anderen Blatt.

Wäre eine Wahlrechtsreform die Lösung für Italiens Probleme?

«Mamma mia» – das ist wohl der geeignete Kommentar zur gegenwärtigen Situation in Italien. Das Land kämpft mit massiven wirtschaftlichen Problemen: Die Wirtschaftsleistung sinkt, Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung steigen an. Doch anstatt sich diesen Problemen zu widmen, beschäftigt sich die Politik seit Wochen vorwiegend mit sich selbst. Seit den Wahlen Ende Februar herrscht politischer Stillstand. Immerhin hat das Land seit heute wieder eine Regierung, wenn auch deren Lebensdauer allgemein als begrenzt eingeschätzt wird.

UBS-Chefökonom Andreas Höfert hat im jüngsten Podcast [MP3] der Grossbank Interessantes zur Situation in Italien zu sagen. Auf die Herausforderungen der neuen Regierung angesprochen, nennt er als Erstes nicht etwa die Senkung der Staatsverschuldung oder die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit, sondern die Reform des Wahlsystems:

«Was diese Koalition machen soll, ist, eine Wahlreform einführen. […] Diese Wahlreformen werden vor allem dazu dienen, dass es nicht zu einer Pattsituation kommt, wo die beiden Kammern nicht die gleiche Mehrheit haben. Momentan hat das Parlament[1] eine leicht linke Mehrheit, aber der Senat hat eine rechte Mehrheit. Diese Form von geteiltem Parlament, wo das Unterhaus und das Oberhaus sich nicht einigen können, ist das, was Italien stets blockiert hat.»

Tatsächlich hat das Wahlrecht massgeblich zur politischen Blockade in Italien beigetragen. In einem Ranking der kompliziertesten Wahlsysteme der Welt wäre dem italienischen ein Spitzenplatz garantiert. Aus unerfindlichen Gründen wird das System als proportional bezeichnet, obschon es mit einer proportionalen Verteilung nicht viel gemein hat.

Die wichtigste Eigenschaft des italienischen Wahlsystems ist, dass bei den Wahlen für das Abgeordnetenhaus die grösste Partei automatisch die Mehrheit der Sitze erhält: So holte die Mitte-Links-Koalition bei den letzten Wahlen 29.6 Prozent der Stimmen, erhielt dafür aber 345 der 630 Sitze (54.8 Prozent) – nicht einmal im britischen Mehrheitssystem wird die grösste Partei derart bevorzugt.

Bei diesem «Mehrheitsbonus» scheint es sich um eine mediterrane Spezialität zu handeln, denn Griechenland und Malta sind die einzigen Staaten, die ein ähnliches System anwenden.[2] Man könnte an diesem System loben, dass es stabile Mehrheiten erzeugt. Schade nur, dass Italien – im Gegensatz zu Griechenland und Malta – noch eine zweite Parlamentskammer hat – den Senat –, wo sich das System nicht anwenden lässt, weil die Senatssitze nicht national, sondern (analog zum Schweizer Ständerat) in den einzelnen Regionen verteilt werden.[3] Und die Regierung muss in beiden Parlamentskammern eine Mehrheit haben.

Es ist also durchaus plausibel, dass das italienische Wahlsystem für die politische Blockade verantwortlich ist. Doch ist die Erklärung wirklich so einfach? Gibt es nicht auch in der Schweiz zwei Parlamentskammern? Und werden nicht beide von unterschiedlichen Mehrheiten dominiert? Trotzdem haben wir eine einigermassen funktionierende Regierung und eine politische Blockade ist nicht auszumachen.

Möglicherweise spielt die politische Kultur eine Rolle. In seinem Buch über die Konkordanz schrieb der Politologe Michael Hermann, diese sei in die «politische DNA» der Schweiz eingeschrieben. Hierzulande bilden die Parteien ganz selbstverständlich grosse Koalitionen, weil sie nichts anderes gewohnt sind. Die direkte Demokatie und die Heterogenität hatten irgendwann zu der Einsicht geführt, dass stabile Regierungen nur möglich sind, wenn alle politischen Kräfte daran beteiligt sind. In Italien scheint man vom exakten Gegenteil überzeugt zu sein. Die italienischen Parteien sträuben sich mit Händen und Füssen dagegen, mit ihren Gegnern eine Regierung zu bilden.

Ob eine Wahlrechtsreform die Lösung für das Schlamassel in Italien wäre, kann denn auch bezweifelt werden. Dadurch, dass mit der Fünf-Sterne-Bewegung von Beppe Grillo eine dritte grosse Kraft (neben der Rechten und der Linken) ins Parlament eingezogen ist, ist eine Mehrheit im Senat noch schwerer zu erreichen. Die Bildung von Koalitionen dürfte daher schwierig bleiben, selbst wenn der «Mehrheitsbonus» im Abgeordnetenhaus dereinst wegfallen sollte. Abgesehen davon ist es ohnehin ungewiss, ob sich die Parteien überhaupt auf eine Reform einigen können. Denn wie Andreas Höfert feststellt:

«[Eine Wahlrechtsreform] wird sehr schwierig sein: Es ist klar, dass jede Wahlreform die eine oder andere Partei schwächen könnte.»


[1] Gemeint ist wohl das Abgeordnetenhaus, die grössere der beiden Parlamentskammern.

[2] Im Unterschied zu Italien besteht der Bonus in diesen Ländern aber nicht in einer garantierten Mehrheit, sondern einer fixen Zahl von zusätzlichen Sitzen.

[3] Die meisten Regionen kennen zwar ebenfalls einen «Mehrheitsbonus», damit über das ganze Land hinweg eine absolute Merheit zu bekommen, ist allerdings ziemlich schwierig.