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Wie war das nochmal mit «keine staatliche Parteienfinanzierung»?

Hierzulande würden die Parteien nicht vom Staat subventioniert, sondern von der Zivilgesellschaft getragen, heisst es in den Sonntagsreden der Politiker. Über diverse Wege akzeptieren sie staatliche Parteienfinanzierung trotzdem gerne.

Von Lukas Leuzinger und Claudio Kuster

Die Schweiz, so erklären uns Politiker gebetsmühlenartig, kenne keine staatliche Parteienfinanzierung. Die Politik lebe hierzulande eben – anders als in den meisten anderen Ländern – allein vom privaten Engagement der Bürger, betonte auch der Bundesrat gegenüber der Gruppe gegen Korruption (Greco) des Europarats, als diese wieder einmal auf die Intransparenz der Finanzierung der schweizerischen Politik hinwies. Die fehlende staatliche Finanzierung ist das Königsargument gegen die Offenlegung von Grossspenden an Parteien, Politiker oder Komitees. Denn wo der Staat nichts bezahlt, da hat er auch nichts zu befehlen, so die (nicht sehr logische) Gleichung.

Doch bezahlt der Staat tatsächlich nichts? Wer genauer hinschaut, erkennt, dass das sorgsam gepflegte Selbstbild in der Realität ziemlich verzerrt ist. Zwar finanziert der Bund (sowie die meisten Kantone) Parteien nicht direkt. Hingegen tut er das indirekt gleich über mehrere Kanäle, die zusammengenommen einen beträchtlichen Betrag zugunsten der Parteien ausmachen:

1. Fraktionsbeiträge

Direkte Beiträge erhalten zwar nicht die Parteien, jedoch ihre Fraktionen. Die Grenze zwischen beiden ist naturgemäss fliessend, die Personenkreise sind zu einem hohen Grad kongruent: Mitarbeiter, die formell für die Fraktion arbeiten, erledigen oft auch Aufgaben für die Partei und umgekehrt. Offensichtlich wird der enge Austausch, wenn die Parteien nach verlorenen Wahlen sich anschliessend darüber beklagen, nun vor finanziellen Problemen zu stehen und bei Abstimmungskampagnen sowie Parteianlässen sparen zu müssen. Solche Engpässe könnten kaum entstehen, wenn die Fraktionsbeiträge nicht auch der Partei zugutekämen (siehe dazu Fraktionsbeiträge für die Parteikasse).

Finanzielle Bedeutung: sehr hoch – mit steigender Tendenz. Mit dem Wachstum der Fraktionsbeiträge kann nicht einmal das chinesische Bruttoinlandprodukt mithalten. Zuletzt wurde der Geldhahn 2009 zusätzlich aufgedreht – auf nunmehr 144’500 Franken Grundbetrag plus 26’800 Franken je Fraktionsmitglied. Gesamthaft derzeit 7.6 Millionen Franken pro Jahr.

2. Mandatsbeiträge

Einen indirekten Vorteil erlangen Parteien auch dadurch, dass sie ihre Mandatsträger dazu verpflichten, einen Teil ihres Gehalts an die Partei abzugeben. Das können ein paar Prozent sein, je nach Partei und Einkommensklasse aber auch deutlich über 10 Prozent (nationale Partei, kantonale und Gemeindesektion zusammengenommen). Bei einer grösseren Partei können etwa die Abgaben der höheren Richter allein auf Bundesebene mehrere zehntausend Franken ausmachen. Da die Parlamentarier ihren Lohn (wie auch jenen von Bundesräten und Richter) selber festlegen können, ist davon auszugehen, dass sie bei der Festsetzung der Höhe die Mandatssteuer berücksichtigen.

Finanzielle Bedeutung: unterschätzt. Gemäss einer neueren empirischen Studie werden die Parteibeiträge der National- und Ständeräte im Mittel auf 10’500 Franken veranschlagt.[1] (Fast genau so viel beträgt der maximal zulässige Abzug bei der direkten Bundessteuer – ein Schelm, wer Böses denkt.) Die höchsten genannten Beträge betragen dabei 25’000 (Nationalrat) respektive 22’000 Franken (Ständerat). Auch bei diesen obligatorischen Abgaben sind im Übrigen die Destinatäre Partei und Fraktion nicht sauber getrennt. Unter dem Strich werden die Parteikassen dank dieser Abgaben mit etwa 2.5 Millionen Franken jährlich geäufnet.

Geht man von schätzungsweise weiteren 2.5 Millionen Franken für die ungleich zahlreicheren Mandate auf Kantons- und Gemeindeebene aus, liegt man in der Grössenordnung von 5 Millionen Franken jährlich.

3. Steuerabzug für Parteibeiträge

Wer einer Partei Geld spendet, muss zwar niemandem darüber Rechenschaft ablegen, darf aber dem Steueramt davon erzählen und sich einen Steuerrabatt dafür abholen. Seit 2011 können in allen Kantonen Beiträge an politische Parteien bis zu einem bestimmten Betrag (je nach Kanton unterschiedlich, bei den direkten Bundessteuern 10’100 Franken) von den Einkommenssteuern abgezogen werden. Als Parteibeiträge gelten auch Mandatsbeiträge. Es verwundert denn auch nicht, dass der schweizweite Steuerabzug sowohl im National- als auch im Ständerat mit grosser Mehrheit abgesegnet wurde – die Parlamentarier profitieren davon sehr direkt. Auch Unternehmen dürfen in den meisten Kantonen (nicht aber auf Bundesebene) Spenden an Parteien von der Gewinnsteuer abziehen – sofern es sich um einen «geschäftsmässig begründeten Aufwand» handelt (was bedeutet, dass das Geld einen Einfluss auf politische Entscheide hat).

Finanzielle Bedeutung: beträchtlich. Aufgrund einer Umfrage unter den Kantonen kann davon ausgegangen werden, dass die natürlichen Personen schweizweit Beiträge an Parteien in der Höhe von rund 50 Millionen Franken von den Steuern abziehen. Dadurch dürften Bund, Kantonen und Gemeinden zusammen rund 10 Millionen Franken Steuereinnahmen pro Jahr entgehen (siehe hierzu 50 Millionen für die Parteien).

4. Direkte Finanzierung von Jungparteien

Eine direkte Finanzierung von Parteien durch den Bund gibt es bei den Jungparteien. Diese erhalten im Rahmen der «ausserschulischen Kinder- und Jugendförderung» von Jugendorganisationen Beiträge aus dem Topf des Bundesamts für Sozialversicherungen. Geld gibt es etwa für Standaktionen, Ferienlager oder Parties. Die Grenzen zur Mutterpartei dürften auch bei den Jungparteien fliessend sein. Hinter vorgehaltener Hand erklären einem Jungpolitiker, wie man beispielsweise relativ mühelos aus einer Sammelaktion der Mutterpartei einen Anlass der Jugendsektion machen und so den Bundesbeitrag «optimieren» kann.

Finanzielle Bedeutung: vergleichsweise bescheiden. 2016 erhielten alle Jungparteien zusammen 286’000 Franken. Zum Vergleich: Der Dachverband Schweizer Jugendparlamente erhält für drei Jahre 3.3 Millionen Franken. Für die Jungparteien ist das Geld aber eine bedeutende Einnahmequelle.

5. Rückerstattung von Wahlkampfkosten

Direkte staatliche Parteienfinanzierung ist in der Schweiz selten, wird aber in Freiburg und Genf praktiziert. Der Anspruch der Parteien und Wählergruppen auf teilweise Rückersattung der Wahlkampfkosten hängt vom erreichten Wahlresultat ab.

Im Kanton Genf profitieren seit 1971 jene Parteien von staatlichen Zuschüssen, die einen Wähleranteil von mindestens fünf Prozent erreicht haben. Bei Majorzwahlen sind nur jene Gruppierungen anspruchsberechtigt, deren Kandidaten 20 Prozent der Stimmen erlangt haben. Wer diese Hürden erreicht, wird mit 10’000 (kantonale Wahlen) respektive 6000 Franken (Wahlen Stadt Genf) unterstützt. – In Freiburg kommen generell alle Parteien respektive Kandidaten in den Genuss staatlicher Beiträge, die ein Prozent der Stimmen erlangt haben (Proporz und Majorz), dies nicht nur bei kantonalen, sondern auch bei den Nationalratswahlen. Die Beiträge sind in Freiburg aber nicht fix, sondern werden proportional zum jeweiligen Wähleranteil verteilt.

Finanzielle Bedeutung: insgesamt minim, lokal aber bedeutsam. Mit 10’000 Franken lässt sich in mittelgrossen Kantonen wenig ausrichten. Gesamthaft betrugen die Zuschüsse im Kanton Genf aber immerhin 325’000 (Jahr 2003), 170’000 (2005) respektive 289’000 Franken (2007). Im Kanton Freiburg werden innerhalb einer Legislaturperiode rund 650’000 Franken bereitgestellt (Grossrats-, Staatsrats-, Ständerats- und Nationalratswahlen).[2]

6. Unterstützung bei der Wahlwerbung

Auf kantonaler Ebene ist ein weiteres Instrument der indirekten staatlichen Finanzierung verbreitet: die Übernahme der Kosten für den Versand von Wahlwerbung. Diese kantonale Regelung ist etwa in Aargau, Bern, Jura, Nidwalden und Solothurn bekannt: Durch einen gemeinsamen Versand des Werbematerials wird den politischen Gruppierungen (respektive bei Majorzwahlen: allen Kandidaten) ermöglicht, ihren Wahlprospekt den Wählern zustellen zu lassen. In die gleiche Kategorie fällt die Zurverfügungstellung von Werbeflächen auf öffentlichem Grund für Werbeplakate der Parteien. Diese kennen etwa die Kantone Genf und Neuenburg sowie die Stadt Bern.[3]

Finanzielle Bedeutung: ansehnlich. Die Instrumente gibt es zwar nur auf lokaler Ebene, dort dürften sie indes einen nicht unwesentlichen Betrag ausmachen. Beispielsweise kostet der Versand eines Grossbriefes von 500 Gramm an alle 530’000 Haushalte im Kanton Bern über 279’000 Franken.

Fazit

Eine Schätzung, wie viel diese Fördermassnahmen zusammengenommen ausmachen, ist natürlich mit Vorsicht zu geniessen. Grob veranschlagt dürfte die Summe aber gegen 20 Millionen Franken pro Jahr betragen. All diese Fördermassnahmen sind per se nicht problematisch. Es gibt durchaus legitime Gründe dafür, dass der Staat politische Parteien finanziell unterstützt, wenn in der Bundesverfassung schon ihre Bedeutung für die demokratische Meinungs- und Willensbildung betont wird. Aber dann sollte man wenigstens ehrlich sein, wenn es wieder einmal um Transparenz bei der Politikfinanzierung geht: Den Mythos der fehlenden staatlichen Parteienfinanzierung dagegen ins Feld zu führen, ist heuchlerisch.

 


[1] Pascal Sciarini/Frédéric Varone/Giovanni Ferro-Luzzi/Fabio Cappelletti/Vahan Garibian/Ismail Muller, Studie über das Einkommen und den Arbeitsaufwand der Bundesparlamentarierinnen und Bundesparlamentarier, Genf 2017, 17 f.

[2] Martina Caroni, Geld und Politik, Habil. Bern 2009, 91 ff.

[3] Versand der Wahlwerbung: § 16 Abs. 4 ff. GPR-AG; Art. 48 f. PRG-BE; Art. 14a LDP-JU; Art. 40 Abs. 3 WAG-NW; § 63 ff. GpR-SO. Plakatflächen: Art. 19 Reklamereglement Bern. Vgl. Caroni, 77 f.

50 Millionen für die Parteien

Rund 50 Millionen Franken Beiträge an politische Parteien ziehen Steuerpflichtige in der Schweiz pro Jahr von den Steuern ab. Dadurch entgehen dem Staat Millionen – und die Politiker profitieren.

Publiziert in der «Zentralschweiz am Sonntag» und in der «Ostschweiz am Sonntag» vom 30.7.2017.

wahlkampf

Spenden an Parteien, die damit – wie hier in St. Gallen – Wahlkampf betreiben, können von den Steuern abgezogen werden. (Foto: Flickr/hdz)

Parteien spielen eine wichtige Rolle in der Demokratie. Die Schweizer Bundesverfassung attestiert ihnen, dass sie an der Meinungs- und Willensbildung mitwirken. Diese Rolle weiss der Bund auch finanziell zu würdigen: Seit 2011 können Beiträge an politische Parteien von der direkten Bundessteuer abgezogen werden (bis zu einem Betrag von 10’000 Franken). Die Parteien wurden damit den gemeinnützigen Organisationen gleichgestellt. Zugleich verpflichtete das Parlament die Kantone, den Abzug bei der Staats- und Gemeindesteuer ebenfalls einzuführen.

Nun zeigt eine Auswertung erstmals detailliert den Umfang dieses Steuerrabatts. Diese fusst auf einer Umfrage an sämtliche Kantone, wie viele Beiträge an Parteien jährlich von den Steuern abgezogen werden. 17 von 26 Kantonen konnten konkrete Zahlen liefern. In diesen Kantonen werden pro Jahr mehr als 30 Millionen Franken abgezogen. Hochgerechnet auf die ganze Schweiz dürfte die Summe der Abzüge etwa 50 Millionen Franken betragen. Diese Zahl umfasst Mitgliederbeiträge, Abgaben von Amtsträgern an ihre Parteien sowie Spenden – allerdings nur bis zu einem Höchstbetrag, welcher je nach Kanton zwischen 5000 und 20’000 Franken liegt. Was darüber hinausgeht, ist nicht berücksichtigt.

Kanton Höchstabzug für natürliche Personen Summe der Zuwendungen an politische Parteien Jahr
Zürich

10’000 (20’000 bei Ehepaaren)

keine Angabe

Bern

5200

13’376’933

2015

Luzern

5300

1’800’000

2014

Uri

10’100

127’642

2014

Schwyz

6000

633’419

2013

Obwalden

10’000

169’134

2015

Nidwalden

20% des Nettoeinkommens (zusammen mit Zuwendungen an gemeinnützige Institutionen)

keine Angabe

Glarus

10’100

150’000

Durchschnitt der letzten Jahre
Zug

20’000

912’567

2015

Freiburg

5’000

745’586

2014

Solothurn

20’000

1’362’896

2015

Basel-Stadt

10’000

1’654’000

2014

Basel-Land

10’000

1’900’000

2013-2015

Schaffhausen

15’000

677’096

2014

Appenzell-Ausserrhoden

10’000

keine Angabe

Appenzell-Innerrhoden

10’000

keine Angabe

St. Gallen

20’000

1’450’700

2014

Graubünden

10’000

791’832

2015

Aargau

10’000

3’000’000

2011

Thurgau

10’000

902’122

2013

Tessin

10’100

keine Angabe

Waadt

10’100 (bzw. 20% des Nettoeinkommens)

keine Angabe

Wallis

20’000

1’115’218

2014

Neuenburg

5’000

keine Angabe
Genf

10’000

keine Angabe
Jura

9’800

keine Angabe
Total

30’769’145

Schweiz (direkte Bundessteuer)

10’100

keine Angabe

Im Durchschnitt werden über 300 Franken gespendet

Die Antworten zeigen auch, dass man sich in der Schweiz mit Transparenz hinsichtlich der Finanzierung von Parteien nach wie vor schwertut. Viele Kantone gaben an, dass sie über keine Zahlen zu den Abzügen verfügten, erklärten diese für vertraulich oder verlangten eine Entschädigung für den Aufwand der Auswertung. In den Kantonen, welche Auskunft gaben, machten insgesamt rund 4 Prozent der Steuerpflichtigen einen Abzug geltend für Beiträge an politische Parteien. Im Durchschnitt brachten sie über 300 Franken in Abzug, wobei es allerdings grosse Unterschiede zwischen den Kantonen gibt: Während in Uri im Schnitt nur rund 200 Franken abgezogen werden, sind es in Basel-Stadt fast 800; der Höchstabzug liegt in beiden Kantonen bei 10’000 Franken.

Angaben dazu, wie viel die Abzüge den Staat (und damit letztlich die Steuerzahler) kosten, konnte nur eine Minderheit der Kantone machen. Immerhin kann man auf Grundlage dieser Zahlen sowie der kantonalen Steuersätze eine konservative Schätzung vornehmen, gemäss der Bund, Kantone und Gemeinden insgesamt etwa 10 Millionen Franken pro Jahr weniger einnehmen, als wenn Beiträge an Parteien nicht abzugsfähig wären. Zugute kommen diese Ausfälle unter anderem den Politikern: Die Mandatssteuern, die sie jedes Jahr an ihre Parteien abgeben müssen – je nach Partei zwischen 5 und deutlich über 10 Prozent ihres Einkommens –, fallen ebenfalls unter die abzugsberechtigten Beiträge. Es erstaunt nicht, dass der schweizweite Steuerrabatt 2009 sowohl im National- als auch im Ständerat deutliche Zustimmung fand.

Spenden von Firmen: Tappen im Dunkeln

Nicht nur Privatpersonen, auch Unternehmen können in den meisten Kantonen Beiträge an Parteien von den Steuern abziehen – allerdings in der Regel nur, wenn es sich um «geschäftsmässig begründete Aufwendungen» handelt. Zahlen dazu lieferte keiner der 26 angefragten Kantone.

Auskunft gaben auf Anfrage einzelne Unternehmen. So bestätigt die Raiffeisenbank, dass sie die 246’000 Franken, die sie pro Jahr an die in der Bundesversammlung vertretenen Parteien auszahlt, als geschäftsmässig begründeten Aufwand von der Gewinnsteuer abzieht. Auch Novartis zieht Zuwendungen an Parteien von den Steuern ab, über deren Höhe das Unternehmen allerdings keine Angaben macht.

SP fordert Offenlegung

Auch SP-Nationalrätin Nadine Masshardt, die im Kanton Bern den Maximalbetrag von 5200 Franken pro Jahr von ihrem steuerbaren Einkommen abzieht, findet den Abzug zur Unterstützung der Parteien richtig, fordert im Gegenzug aber, dass grössere Spenden transparent gemacht werden müssen. Oft werde als Argument gegen eine Offenlegung vorgebracht, Parteispenden seien Privatsache und die Schweiz habe keine staatliche Parteienfinanzierung, so Masshardt. «Dieses Argument ist widersprüchlich: Denn mit dem Steuerabzug leistet der Staat eine indirekte Unterstützung an die Parteien. Entsprechend ist es auch legitim, Transparenz zu schaffen.»

Bei den bürgerlichen Parteien stösst diese Forderung nach mehr Transparenz bei der Parteienfinanzierung allerdings auf breite Ablehnung. SVP-Nationalrat Maximilian Reimann, der mit einer parlamentarischen Initia­tive den Anstoss gegeben hatte für den schweizweiten Steuerabzug, sagt, es sei nicht relevant, ob es sich dabei um eine indirekte staatliche Parteienfinanzierung handle. «Entscheidend ist einzig und allein, dass das der Bundesgesetzgeber so entschieden hat. Dagegen hätte das Referendum ergriffen werden können, was allerdings unterblieb.»

Abbild eines vielfältigen Landes

In kaum einem Parlament gibt es so viele Parteien wie im israelischen. Das ist wohl weniger auf das Wahlsystem zurückzuführen als auf die grosse Diversität der Gesellschaft.

Wer das israelische Parlament besucht, sieht von dem imposanten Bau auf einem Hügel im Westen Jerusalems erst einmal nicht viel. Denn zunächst muss er durch eine Sicherheitskontrolle, die strenger ist als an jedem Flughafen. Die Sicherheitskontrolle befindet sich ca. 200 Meter vom Parlamentsgebäude entfernt – sicher ist sicher, scheinen sich die Behörden auch hier gedacht zu haben. Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern ist nicht nur wegen der strengen Sicherheitsvorkehrungen allgegenwärtig.

Knesset, Jerusalem
Baujahr 1966
Legislatives System unikameral
Sitze 120
Wahlsystem Proporz
Wahlkreise 1
Legislaturperiode 4 Jahre
Parteien 10

In der Eingangshalle des eigentlichen Parlamentsgebäudes hängt die Unabhängigkeitserklärung, die 1948 von der Knesset beschlossen wurde. Daneben sind verschiedene Kunstwerke jüdischer Künstler ausgestellt. Zusammen mit dem Heer von israelischen Flaggen, die auf dem Platz vor der Knesset aufgereiht sind, erinnern sie den Besucher an die jüdische Identität des Staates – auch wenn dessen Bevölkerung zu einem Viertel nicht-jüdisch ist (zählt man das Westjordanland und den Gazastreifen hinzu, die Israel zu seinem Staatsgebiet zählt, aber unter palästinensischer Verwaltung stehen, ist es sogar rund die Hälfte).

Die eigentliche Parlamentskammer ist ziemlich schlicht gestaltet. Die 120 Sitze sind hufeisenförmig angeordnet. Speziell ist, dass die Regierungsmitglieder gleichzeitig dem Parlament angehören können. Auch der Ministerpräsident darf in den Abstimmungen im Parlament mitstimmen. Dieses Modell existiert sonst vor allem in Ländern, die vom britischen Westminster-System geprägt sind, neben Grossbritannien etwa auch Kanada oder Australien. Es zeugt zwar von einer etwas seltsamen Auffassung von Gewaltenteilung, passt aber zur starken gegenseitigen Abhängigkeit von Parlament und Regierung. Die Regierung ist auf eine Mehrheit des Parlaments angewiesen, umgekehrt bedarf die Parlamentsmehrheit einer funktionierenden Regierung, weil der Regierungschef das Parlament jederzeit auflösen kann (was in Israel auch oft genug vorkommt).

Hohe Anzahl Parteien als Spiegel isrealischer Diversität

knesset1

An Flaggen mangelt es nicht vor dem Eingang zum Parlament. (Bild: Eigene Aufnahme)

Die Bildung von Regierungen ist in Israel traditionell ziemlich schwierig, und die Kurzlebigkeit der Regierungen ist schon fast legendär. Das hat einerseits mit dem Wahlsystem zu tun. Eine Einteilung in Wahlkreise bei Parlamentswahlen kennt Israel nämlich nicht (was insofern nicht überrascht, als die Regionen nicht historisch gewachsen, sondern das Ergebnis einer relativ willkürlichen Einteilung sind). Die 120 Abgeordneten werden im Proporzsystem über das ganze Land gewählt. Die grosse Zahl von Parteien ist allerdings nicht nur auf das Wahlsystem zurückzuführen, sondern auch ein Spiegel der israelischen Gesellschaft und ihrer ausserordentlichen Diversität.

Da gibt es einerseits den Graben zwischen der jüdischen Mehrheit und der arabischen Minderheit. Letztere wird in der Knesset seit vergangenem Jahr durch eine Partei vertreten.[1] Mindestens so tief sind die Gräben innerhalb des jüdischen Teils der Gesellschaft. Die Unterschiede zwischen einem Siedler im Westjordanland, einem liberalen Juden in Tel Aviv und einem Ultraorthodoxen in Jerusalem sind immens. Politisch drücken sie sich in nationalistischen, linken und orthodoxen Blöcken aus. Innerhalb dieser gibt es wiederum verschiedene Abstufungen. Parteien mit solch unterschiedlichen Ausrichtungen in einer Regierung zu vereinen, ist nicht ganz einfach. Entsprechend finden vor und nach der Regierungsbildung ausgedehnte Kuhhändel unter den (potenziellen) Koalitionspartnern statt. Und regelmässig überleben Regierungen die vierjährige Legislaturperiode nicht.

knesset2

Die 120 Sitze sind hufeisenförmig angeordnet. (Bild: Eigene Aufnahme)

Volkswahl der Regierung: untauglich

Im Laufe der Zeit wurden verschiedene Versuche unternommen, die Stabilität der Regierungen zu verbessern. So beschloss das Parlament 1992 eine Verfassungsänderung, gemäss welcher der Regierungschef nicht mehr vom Parlament, sondern vom Volk gewählt werden sollte. Das Ziel der Reform war es, eine höhere demokratische Legitimation zu erreichen, um so die Position der Regierung bzw. des Regierungschefs zu stärken – auch gegenüber seinen Koalitionspartnern. Das funktionierte aber mehr schlecht als recht, sodass die Verfassungsänderung nach nicht einmal zehn Jahren wieder rückgängig gemacht wurde.

In jüngerer Zeit konzentrierten sich die Anstrengungen darauf, die Zahl der Parteien im Parlament zu verkleinern, um die Koalitionsverhandlungen zu erleichtern und die Stabilität der Regierung zu erhöhen. So erhöhte die Knesset das Quorum für die Parteien, um ins Parlament einzuziehen, 1992 von 1 auf 1.5 Prozent, 2003 auf 2 Prozent und vor zwei Jahren schliesslich auf 3.25 Prozent. Ob bei diesen Erhöhungen tatsächlich das Ziel der Regierungsstabilität im Vordergrund stand oder ob die dominierenden Parteien nicht vielmehr den eigenen Machterhalt im Fokus hatten, sei dahingestellt. Jedenfalls nimmt man mit solch einer Reform in Kauf, dass die Vielfalt der israelischen Gesellschaft im Parlament nur unzureichend abgebildet wird.

Dieser Beitrag ist der zweite Teil der Serie «ParliamentHopping», in der wir Parlamente rund um die Welt porträtieren.


[1] Die Vereinigte Liste ist der Zusammenschluss von vier arabischen Parteien, die zuvor alleine zu den Wahlen angetreten waren. Dass sie fusionierten, ist auf die 2014 beschlossene Erhöhung des Quorums zurückzuführen (siehe unten).

Das Ende des Kantönligeists

Einst stark regional verankert, sind die Schweizer Parteien heute zunehmend national aufgestellt. Doch nicht allen gelang dieser Wechsel gleich gut.

Publiziert in der «Neuen Luzerner Zeitung» am 27.02.2016.

Die Erwartungen von Toni Brunner sind hoch. «Guy Parmelin wird uns in der Romandie 4 Prozent mehr Wählerstimmen bringen», prophezeite der SVP-Präsident in der «Zentralschweiz am Sonntag», kurz nachdem der Waadtländer zum neuen Bundesrat gewählt worden war. Tatsächlich hat die SVP in der Westschweiz noch Wachstumspotenzial. Zugleich hat sie dort in den letzten 20 Jahren bereits einen eindrücklichen Aufstieg hinter sich: Lag ihr Stimmenanteil bei den Nationalratswahlen 1995 noch unter 5 Prozent, stieg er bis 2015 um mehr als das Vierfache auf 21 Prozent.

Doch nicht nur in der Westschweiz holte die SVP auf. Sie hat es wie keine andere Partei vor ihr geschafft, in kürzester Zeit von einer regional verankerten Kraft zu einer Partei mit nationaler Ausstrahlung zu werden.

Einen weiteren Beleg dafür bietet die Zentralschweiz. Noch Anfang der 1990er-Jahre war die SVP in unserer Region weitgehend inexistent. In Luzern trat sie 1995 erstmals überhaupt zu kantonalen Wahlen an (und holte auf Anhieb 11 Sitze), in Ob- und Nidwalden sogar erst 2002. Die Partei, die bis dahin fast ausschliesslich in protestantischen Deutschschweizer Kantonen präsent war, zog vermehrt auch konservative Wähler in katholisch geprägten sowie in Westschweizer Kantonen an. Auslöser war die EWR-Abstimmung 1992, wo sich die SVP, angeführt von Christoph Blocher, auf die Seite der Gegner schlug und sich so als öffnungskritische Kraft etablierte.

Studie zeigt erhöhten Nationalisierungsgrad

Der Aufstieg der SVP mag eine Ausnahmeerscheinung sein – die zunehmende nationale Ausbreitung der Parteien ist es nicht. Dies zeigt eine neue Studie von Politikwissenschaftlern der Universitäten Zürich und Bern, welche die Nationalratswahlen von 1991 bis 2015 analysiert. Sie vergleicht das Abschneiden der Parteien in den einzelnen Kantonen. Das Fazit: Die kantonalen Unterschiede nehmen ab. Sprich: Der Stimmenanteil einer Partei im Kanton St. Gallen unterscheidet sich weniger stark von ihrem Stimmenanteil in Genf oder Uri, als dies früher der Fall war. Dargestellt werden kann dies anhand des sogenannten Nationalisierungsgrads, wobei ein hoher Grad auf tiefe kantonale Unterschiede hindeutet (siehe Grafik). Seit 2007 ist der durchschnittliche Nationalisierungsgrad relativ konstant geblieben, was auch mit dem Aufkommen der neuen Parteien GLP und BDP zu tun hat. Während sich die GLP ähnlich der SVP sehr schnell national etabliert hat, ist die Präsenz der BDP im Wesentlichen auf einzelne Deutschschweizer Kantone beschränkt geblieben.

Nationalisierungsgrad der Schweizer Parteien.

Nationalisierungsgrad der Schweizer Parteien.

 

Einen wesentlichen Grund für den Trend zur Nationalisierung sehen die Studienautoren in der Verschiebung der politischen Gräben. Der Gegensatz zwischen liberalen und konservativen Kräften, der die Schweizer Politik lange Zeit dominierte, war stark territorial geprägt. Die CVP war in katholischen Kantonen tonangebend. Der Freisinn war breiter aufgestellt, aber in urbanen und protestantischen Gebieten stärker. Die Sozialdemokraten dagegen waren seit ihrer Gründung national orientiert und nicht konfessionell geprägt.

In den 1990er-Jahren gewann ein neuer Gegensatz an Bedeutung: jener zwischen Befürwortern einer Öffnung des Landes nach aussen und Gegnern dieser Öffnung. Dieser Konflikt ist im Gegensatz zu früheren politischen Gegensätzen weniger geografisch geprägt. Die SVP wusste sich dieser Veränderung am besten anzupassen. «Die SVP hat sich neu erfunden», sagt Daniel Bochsler, Politikwissenschaftler an der Universität Zürich und einer der Autoren der Studie. Dadurch sei es ihr auch gelungen, aus ihren traditionellen Stammlanden in der protestantischen Deutschschweiz auszubrechen.

Ganz anders die CVP: Die Christdemokraten haben zwar ebenfalls versucht, ausserhalb ihrer Hochburgen zuzulegen. Doch es gelang ihnen nicht, in urbanen Gebieten über den Status einer Kleinpartei hinauszukommen. Dafür trieb ihre Öffnung nach links in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts viele konservative Wähler in die Arme der SVP.

«Nationalisierung des Wahlkampfs»

Eine weitere Erklärung dafür, dass die kantonalen Unterschiede bei den Wahlen an Bedeutung verlieren, ist die Organisation der Parteien. Der Politikberater Mark Balsiger spricht von einer «Nationalisierung des Wahlkampfs». Das heisst: Die Parteien richten ihre Wahlkämpfe national aus und versuchen, in allen Kantonen mit den gleichen Themen zu punkten. «Die Parteizentralen haben inzwischen erkannt, dass es einen einheitlichen Auftritt braucht, um Erfolg zu haben.» Die Umsetzung gelinge aber nicht allen Parteien gleich gut. Während bei SVP und SP die nationale Partei die Richtung vorgebe, spielten bei den föderalistisch gewachsenen Parteien CVP und FDP die Kantonalsektionen eine wichtigere Rolle. «Das ist ein Grund, warum sie seit 30 Jahren Wähleranteile verlieren», so Balsiger.

Je grösser die Wahlkreise, desto fairer die Sitzverteilung

Eine Analyse der kantonalen Parlamentswahlen der letzten vier Jahre zeigt den starken Einfluss der Wahlkreisgrösse auf die Mandatsverteilung: Werden die Mandate über den ganzen Kanton hinweg verteilt, ist das Wahlergebnis weniger verzerrt.

Von Lukas Leuzinger, Sandro Lüscher und Claudio Kuster[*]

Seit dem letzten Jahr publiziert das Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA) zusammen mit dem Bundesamt für Statistik (BFS) eine neue Erhebung zu den Wähleranteilen der Parteien in den kantonalen Parlamenten. Die Daten geben nicht nur erstmals eine präzise Übersicht über die Parteistärken in den Kantonen, sondern bieten auch Möglichkeiten für weitergehende Analysen. So kann beispielsweise die Differenz zwischen dem jeweiligen Wähleranteil und dem Sitzanteil einer Partei berechnet werden. Diese gibt einen Hinweis darauf, wie proportional ein Wahlsystem ist.

Das geläufigste Mass dazu ist der «Index of Disproportionality», der vom Politikwissenschaftler Michael Gallagher entwickelt wurde und der in diesem Blog auch schon Beachtung fand. Der Index berechnet die Disproportionalität im Wesentlichen, indem er für jede Partei die Differenz zwischen ihrem Wähleranteil und ihrem Sitzanteil nimmt, diese quadriert (um grösseren Verzerrungen mehr Beachtung zu schenken) und alle die Werte aufaddiert («Methode des kleinsten Quadrats»).[1] Die neue Statistik lässt nun auch eine präzise Anwendung auf die Kantone zu.[2]

Je höher der Gallagher-Index-Wert, desto disproportionaler die jeweilige Wahl.

Je höher der Gallagher-Index-Wert, desto disproportionaler die jeweilige Wahl.

 

Die Auswertung der Daten ergibt, dass die Unterschiede zwischen Wähler- und Sitzanteilen der Parteien im Kanton Zürich am kleinsten sind.[3] Der Gallagher-Index-Wert von 0.34 bedeutet eine sehr geringe Disproportionalität, der sich – abgesehen vom verzerrungsarmen Wahlverfahren – aufgrund des schweizweit grössten Parlaments (180 Sitze) ergibt.

Akkurate Abbildung durch Doppelproporz und Einheitswahlkreis

Dahinter folgen mit Zug, Aargau, Tessin, Nidwalden und Schaffhausen weitere fünf Kantone mit tiefen Werten von 0.72 bis 1.07. Dass die Mandatsverteilung in diesen Kantonen ziemlich genau mit den Wähleranteilen der jeweiligen Parteien übereinstimmt, erstaunt ebenfalls nicht. Denn nebst Zürich haben just auch diese Kantone das doppeltproportionale Wahlverfahren (Doppelproporz) eingeführt, welches die Mandate über den ganzen Kanton hinweg auf die Parteien aufteilt. Das Tessin wiederum wählt – als einziger Kanton neben Genf – in einem Einheitswahlkreis. Beide Systeme lassen eine sehr genaue Abbildung der Parteistärken im Parlament zu.

Am unteren Ende der Tabelle, mit Index-Werten zwischen 3.00 und 4.00, finden sich jene Kantone mit vergleichsweise verzerrten, disproportionalen Kantonsratswahlen. Diese wählen durchwegs im herkömmlichen Hagenbach-Bischoff-Verfahren, welches die grösseren Parteien begünstigt. Auch Mindestquoren wie in Wallis, Genf und Basel-Stadt führen zu Verzerrungen – schliesslich gehen dadurch kleineren Parteien, welche diese Hürde nicht erreichen, gleich alle Mandate verlustig.

Zum Vergleich sei an dieser Stelle auch der Gallagher-Index für die Nationalratswahlen erwähnt. Bei den vorletzten Wahlen 2011 betrug er 3.66, heuer 3.70. Das ist sehr hoch – nur einer der 23 untersuchten Kantone liegt darüber. Am disproportionalsten ist das Wahlsystem gemäss der Analyse in Basel-Landschaft, das auf einen Index-Wert von 3.78 kommt. «Schuld» an diesem Spitzenplatz der basellandschaftlichen Wahlen 2015 ist mitunter das Proporzglück der SVP: Mit einem Wähleranteil von 26.7 Prozent ergatterte sie gleich 31.1 Prozent aller Landrats-Mandate (28 von 90) – eine so grosse Differenz zwischen Wähler- und Sitzanteil gibt es sonst nirgends.[4]

Starker Zusammenhang

Zwar ist der Vergleich zwischen Kantonen (ebenso wie zwischen Ländern) auf Grundlage des Gallagher-Index nicht unproblematisch, namentlich deshalb, weil die Zahl der Parteien einen Einfluss auf den Index-Wert hat (je mehr Parteien, desto höher tendenziell die Disproportionalität). Dennoch ist die Frage interessant, ob sich der Einfluss des Wahlsystems statistisch feststellen lässt. Zu diesem Zweck haben wir den Gallagher-Index in Relation zur effektiven durchschnittlichen Wahlkreisgrösse gesetzt. Diese sagt aus, auf wie viele Sitze sich die Anteile der Parteien im Durchschnitt verteilen. In den Kantonen mit Doppelproporz entspricht die effektive durchschnittliche Wahlkreisgrösse der Grösse des Kantonsparlaments, weil die Sitze jeweils über den ganzen Kanton hinweg auf die Parteien verteilt werden (die Unterzuteilung in den Wahlkreisen ändert dann an den gesamtkantonalen Sitzanteilen der Parteien nichts mehr).

Um den Einfluss der Zahl der Parteien auf den Index zu berücksichtigen, wurde zusätzlich für jeden Kanton die effektive Anzahl Parteien berechnet.[5] Anschliessend wurde eine lineare Regression durchgeführt, mit dem Gallagher-Index als abhängige Variable, der effektiven Wahlkreisgrösse als erklärende Variable sowie der effektiven Anzahl Parteien als zweite erklärende Variable bzw. Kontrollvariable.[6]

 

Variable Koeffizient Standardfehler
Effektive durchschnittliche Wahlkreisgrösse -0.016178 0.003476
Effektive Anzahl Parteien 0.443274 0.191682

 

Das Ergebnis stützt die Hypothese, dass die Wahlkreisgrösse einen Einfluss auf die Disproportionalität hat, klar. Gemäss der Berechnung führt eine Erhöhung der durchschnittlichen effektiven Wahlkreisgrösse um 10 Sitze im Durchschnitt zu einem um 0.16 Punkte tieferen Wert des Gallagher-Index (siehe Tabelle). Der Zusammenhang ist stark signifikant, nämlich auf dem 0.1-Prozent-Niveau. Das heisst, dass die effektive Wahlkreisgrösse mit über 99.9-prozentiger Wahrscheinlichkeit einen negativen Einfluss auf den Gallagher-Index hat.

Die Zahl der Parteien hängt wie erwartet positiv mit dem Gallagher-Index zusammen. Dieser Zusammenhang ist allerdings viel weniger signifikant – und weniger wichtig: Die Wahlkreisgrösse ist für 86.2 Prozent der durch das Modell erklärten Varianz verantwortlich.[7]

 Zusammenhang zwischen effektiver durchschnittlicher Wahlkreisgrösse und Gallagher-Index

Abbildung 1: Zusammenhang zwischen effektiver durchschnittlicher Wahlkreisgrösse (x-Achse) und Gallagher-Index (y-Achse). Die rote Linie zeigt die lineare Regression.

 

Abbildung 1 veranschaulicht den Zusammenhang zwischen effektiver durchschnittlicher Wahlkreisgrösse und Disproportionalität. Die Verteilung der Werte legt den Schluss nahe, dass der Zusammenhang nicht linear ist, sondern umso stärker ist, je geringer die Wahlkreisgrösse ist. Das macht auch intuitiv Sinn: Eine Erhöhung der Wahlkreisgrösse von 3 auf 6 dürfte die Proportionalität des Wahlsystems deutlich verbessern. Demgegenüber ist der Effekt bei einer Erhöhung von 103 auf 106 Sitze wahrscheinlich nur noch gering.

Abbildung 2: Der Zusammenhang zwischen effektiver durchschnittlicher Wahlkreisgrösse und Gallagher Index mit einer quadratischen Regression (schwarze Linie).

 

In Abbildung 2 wird der Einfluss der Wahlkreisgrösse mittels einer quadratischen Regressionskurve (mithilfe von Excel) dargestellt. Sie zeigt tatsächlich einen abnehmenden Effekt.

Quorum macht positiven Effekt zunichte

Natürlich spielen bei der Mandatsverteilung auch noch andere Faktoren eine Rolle. Beispielsweise führt ein gesetzliches Quorum, wie es immerhin zehn Kantone (in sehr unterschiedlicher Höhe) kennen, zu einer weniger proportionalen Verteilung der Mandate. Das erklärt zumindest teilweise den relativ hohen Wert des Gallagher-Index im Kanton Genf, der trotz Einheitswahlkreis im interkantonalen Vergleich im hinteren Mittelfeld rangiert. Auch das Verfahren der Mandatszuteilung (Hagenbach-Bischoff-, Sainte Laguë- oder Bruchzahlverfahren) hat einen Einfluss.

Dennoch kann als Fazit festgehalten werden: Auf je mehr Sitze sich die Parteien in einem Kanton aufteilen, desto proportionaler können ihre Mandate verteilt werden. Wie wir gesehen haben, braucht es dazu nicht zwingend einen Einheitswahlkreis. Auch wenn die Wahlkreise (wie in Zug und Nidwalden) relativ klein sind, ist eine sehr proportionale Verteilung über den ganzen Kanton möglich, indem das doppelproportionale Verfahren zur Anwendung kommt.

 


[*] Dieser Beitrag wurde bereits am 13.05.2015 publiziert und hier in einer überarbeiteten und aktualisierten Fassung wiederveröffentlicht.

[1] Zu beachten ist, dass die Methode lediglich eine Aussage über die Proportionalität einer Mandatsverteilung einer konkreten Wahl macht und nicht aber über die Proportionalität des Wahlsystems an sich. Schliesslich kann auch ein sehr unfaires Wahlsystem durch Zufall die Wähleranteile ziemlich adäquat abbilden. Wie nicht zuletzt dieser Beitrag zeigt, erlaubt der Index dennoch Aussagen zum Wahlsystem.

[2] Für die Kantone Graubünden und die beiden Appenzell, deren Parlamente (weitestgehend) im Mehrheitswahlsystem gewählt werden, liegen keine Daten zu den Wähleranteilen vor, weshalb sie hier nicht berücksichtigt werden können.

[3] Zur Methodik: Untersucht wurden Wähler- und Sitzanteile in 23 Kantonen. Berücksichtigt wurden alle kantonalen Wahlen bis Oktober 2014 (die letzte war jene im Kanton Zug). Die Anteile von Parteien, die als «Übrige» aufgeführt sind, wurden in der Analyse nicht berücksichtigt.

[4] Adrian Vatter hat in seinem Buch «Das politische System der Schweiz» ebenfalls den Gallagher-Index für die Kantone berechnet. Er stützte sich dabei auf etwas weniger präzise Zahlen. Zudem ist der Erhebungszeitpunkt nicht der gleiche wie bei der vorliegenden Analyse. Dennoch kommt er auf vergleichbare Ergebnisse. Gemäss seinen Berechnungen weist der Kanton Tessin die niedrigste Disproportionalität auf (1.6), Uri die höchste (7.0).

[5] Die effektive Anzahl Parteien (effective number of parties) erhält man, indem man die Wähleranteile aller Parteien quadriert, die erhaltenen Werte zusammenzählt und anschliessend den Kehrwert der Summe berechnet.

[6] Für die Berechnung wurde das Statistik-Programm «R» verwendet.

[7] Die vollständige statistische Auswertung ist hier verfügbar.

Kleine Parteien werden bei der Sitzverteilung schlecht bedient

Der Wählerwillen wird bei den Nationalratswahlen teilweise beträchtlich verzerrt. Das Wahlsystem wird der Vielfalt der Parteienlandschaft immer weniger gerecht.

Publiziert in der «Neuen Luzerner Zeitung» am 20.10.2015.

Die kleinen Parteien waren die grossen Verlierer des Wahlsonntags: Die Grünen verloren vier Sitze im Nationalrat, bei der BDP waren es zwei, und die Grünliberalen mussten gar fünf Mandate ziehen lassen. Die deutlichen Einbussen sind nicht allein auf Stimmenverluste zurückzuführen. Kleine Parteien werden auch durch das Wahlsystem benachteiligt. Bei Nationalratswahlen bildet jeder Kanton einen Wahlkreis. Diese sind teilweise sehr klein. Vielerorts sind nur wenige Sitze zu vergeben – entsprechend hoch ist die Hürde, um ins Parlament zu kommen.

Das musste am Sonntag die GLP erfahren. Die Partei verlor 0,8 Prozent Stimmenanteil, aber fast die Hälfte der Sitze. «2011 waren wir mit zwölf Sitzen gut bedient, dieses Mal war die Ausbeute extrem schlecht», sagt Parteipräsident Martin Bäumle. «In vielen Kantonen hat unser Wähleranteil ganz knapp nicht gereicht für einen Sitz.»

Beträchtliche Differenzen
Das Wahlsystem für den Nationalrat führt dazu, dass die Stimmenanteile der Parteien und die Sitzanteile teilweise weit auseinanderliegen. So kamen die Grünen auf 7,1 Prozent der Stimmen, erhielten dafür aber nur 5,5 Prozent der Sitze (11 von 200). Auf der anderen Seite hat die SP mit 43 Sitzen mehr Mandate, als ihr aufgrund ihrer 18,8 Prozent Wähleranteil zustehen würden. Auch die SVP ist mit ihren 65 Sitzen gut bedient, gemessen an ihrem Stimmenanteil.

GallagherAus der Differenz zwischen Stimmen- und Sitzanteil berechnet sich auch das in der Wissenschaft gebräuchliche Mass für die Proportionalität von Wahlsystemen, der sogenannte Gallagher-Index. Dieser summiert die Differenzen zwischen den beiden Anteilen. Je höher der Wert ist, desto weniger proportional ist ein Wahlergebnis. Für die Nationalratswahlen vom Sonntag kommt man auf einen Wert von 3,68. Das ist der höchste Wert der letzten Jahre, auch wenn er gegenüber 2011 nur leicht gestiegen ist (siehe Grafik). Die Ergebnisse sind also stärker verzerrt als früher.

Laut Adrian Vatter, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bern, bildet das Schweizer Wahlsystem die Stimmenanteile im Vergleich mit anderen Ländern ziemlich gut ab. Dass es in jüngerer Vergangenheit unproportionaler geworden ist, könnte mit dem Aufkommen neuer Parteien wie GLP oder BDP zu tun haben, sagt Vatter gegenüber unserer Zeitung. Wenn Sitze auf mehr Parteien verteilt werden, nehmen die Verzerrungen tendenziell zu.

Kleine Parteien fordern Änderung
Um solche Verzerrungen zu vermeiden, schlagen Vertreter der kleinen Parteien eine Änderung des Wahlsystems vor. Künftig soll der Nationalrat nach dem sogenannten doppelt proportionalen Zuteilungsverfahren mit Standardrundung (kurz: Doppelproporz) gewählt werden. Bei diesem werden die Sitze so verteilt, dass sie über alle Wahlkreise in etwa den Stimmenanteilen entsprechen. Dieses System, das auch unter dem Namen «doppelter Pukelsheim» bekannt ist, haben für kantonale Wahlen bereits sechs Kantone eingeführt, darunter Zug, Schwyz und Nidwalden.

Geht es nach GLP-Präsident Bäumle, soll auch der Nationalrat im Doppelproporz bestellt werden. «Mit dem heutigen System sind Stimmen für die GLP in Solothurn oder Zug verloren, wir haben dort keine Chance auf einen Sitz. Mit dem Pukelsheim-System würden uns diese Stimmen zugutekommen.» Unterstützung erhält er von der EVP. Die Partei kommt schweizweit auf knapp 2 Prozent Wähleranteil, was vier Nationalratssitzen entsprechen würde – in der Realität hält sie nur halb so viele. ­«Kleine Parteien wie die EVP können nur in Kantonen wie Bern und Zürich ein Mandat erringen und müssen sich die übrigen erhaltenen Stimmen ans Bein streichen», sagt Mediensprecher Dirk Meisel. Die EVP spricht sich deshalb schon seit längerem für einen Systemwechsel aus. Einen solchen befürworten auch die Grünen.

Politisch aussichtslos
Im Parlament wurde die Einführung des Doppelproporzes allerdings wiederholt abgelehnt, zuletzt 2012. «Die grossen Parteien haben wohl Angst davor, Sitze zu verlieren», sagt Martin Bäumle. Zudem gebe es in den Kantonen noch zu viel Respekt vor einem Systemwechsel. Er will nun einen neuen Anlauf starten: «In der kommenden Legislatur werde ich das Thema im Parlament aufgreifen», kündigt er an. Das habe er schon in der auslaufenden Legislatur geplant, sei jedoch aus Zeitgründen nicht dazu gekommen. Die SP steht der Idee «skeptisch» gegenüber – aber nicht aus Angst vor Sitzverlusten, wie Mediensprecher Michael Sorg betont. «Das Pukelsheim-System ist sinnvoll, wenn es relativ grosse und einheitliche Wahlkreise gibt. In der kleinräumigen Schweiz mit den historisch verankerten Kantonen ist das nicht der Fall.» Auch die SVP lehnt ab. Eine Änderung dränge sich nicht auf, sagt Generalsekretär Martin Baltisser.

Politologe Adrian Vatter spricht von einem «Zielkonflikt»: Einerseits könnte der Doppelproporz die Repräsentationsfunktion des Parlaments besser gewährleisten. «Andererseits könnte das System zu einer weiteren Zersplitterung des Parteiensystems führen.» Es könnten mehr (kleine) Parteien ins Parlament einziehen. Das würde es schwieriger machen, Mehrheiten zu finden, sagt Vatter. Derzeit sei eine Systemänderung politisch ohnehin aussichtslos. Mit den Sitzverschiebungen zu Lasten der kleinen Parteien am Sonntag dürfte das erst recht gelten.

Der Machtverlust des Freisinns – und wer davon wirklich profitierte

Die ersten nationalen Wahlen nach dem Proporzsystem brachten erdrutschartige Verschiebungen in der politischen Landschaft der Schweiz. Der Freisinn büsste die absolute Mehrheit im Nationalrat ein, die SP verdoppelte ihre Vertretung. Grosse Siegerin war aber eine andere Partei.

Der Wandel des schweizerischen politischen Systems von der freisinnigen Hegemonie zum Prototyp einer Konsensdemokratie passierte nicht von einem Tag auf den anderen. Der Übergang geschah vielmehr fliessend. Trotzdem gab es für den Verlauf der Geschichte wegweisende Momente, etwa die Wahl des ersten katholisch-konservativen Bundesrats Josef Zemp 1891.

Eine Zäsur stellte zweifelsohne auch der Übergang vom Majorz- zum Proporzsystem dar. Das Proporzsystem ist gemäss Arend Lijphart ein typisches Merkmal einer Konsensdemokratie.[1] Wir erinnern uns: Das seit Gründung des Bundesstaats geltende Mehrheitswahlsystem für den Nationalrat begünstigte die freisinnige Familie stark und geriet daher immer stärker unter Beschuss, von den Sozialdemokraten einerseits, aber auch durch die Katholisch-Konservativen andererseits. Nach zwei gescheiterten Versuchen nach der Jahrhundertwende und der sich mit dem Ersten Weltkrieg zuspitzenden sozialen Situation nahmen die Stimmbürger 1918 schliesslich die dritte Volksinitiative «Proporzwahl des Nationalrates» an.[2]

Wie historisch dieser Entscheid war, sollte sich bereits im Jahr darauf zeigen, als vorzeitig Gesamterneuerungswahlen abgehalten wurden.[3] Ein Vergleich der Wahlergebnisse 1917 und 1919 macht die Wirkung des Wahlsystems deutlich (siehe Grafik und Tabelle).[4] Von erdrutschartigen Verschiebungen zu sprechen, ist alles andere als übertrieben, vor allem angesichts der geringen Veränderungen, die eidgenössische Wahlen in der Regel zur Folge haben.

Nationalratsmandate 1917-1919

FDP Demokraten Liberale KVP SP BGB Andere Total
Stimmenanteil 1917 36.8 6.2 4.9 15.9 30.8 ? ? 94.6
Sitze 1917 103 7 12 42 20 4 1 189
Sitzanteil 54.5 3.7 6.3 22.2 10.6 2.1 0.5 100
Stimmenanteil 1919 28.8 2.0 3.8 21.0 23.5 15.3 5.6 100
Sitze 1919 60 8 9 41 41 29 1 189
Sitzanteil 31.7 4.2 4.8 21.7 21.7 15.3 0.5 100

 

Das betrifft vor allem das Ergebnis der Freisinnig-Demokratische Partei (FDP). Im Vergleich mit den letzten Wahlen verlor sie 1919 nicht weniger als 43 Sitze. Hatte sie zuvor noch alleine die absolute Mehrheit aller Stimmen im Nationalrat inne, war sie nun weit davon entfernt.

Die Katholisch-Konservativen (KVP) hatten zwar für das Proporzsystem gekämpft, profitierten allerdings kaum davon: Mit 41 Sitzen erreichten sie etwa dasselbe Resultat wie zwei Jahre zuvor, obschon sie ihren Stimmenanteil deutlich steigern konnten. Das mag damit zusammenhängen, dass das Majorzsystem tendenziell geografisch konzentrierten Parteien entgegenkommt. Dennoch gelang es der KVP, fast alle ihre Sitze in den katholischen Kantonen zu halten. Zudem ermöglichte ihr der Proporz, ein erstes Mandat im reformierten Kanton Zürich zu erringen.

Die Sozialdemokratische Partei (SP), deren Wähler geografisch breiter gestreut waren, profitierte weitaus stärker vom neuen Wahlsystem: Sie verdoppelte ihre Sitzzahl von 20 auf 41. Dennoch waren viele Sozialdemokraten enttäuscht: Sie hatten sich einen grösseren Sprung erhofft. Nach den Wahlen 1917 hatte Robert Grimm, einer der führenden Figuren der SP, erklärt, dass seine Partei bei Anwendung des Proporzes 60 statt 20 Nationalratssitze errungen hätte. Der Sitzgewinn fiel also nur gerade halb so stark aus wie erwartet.

Das neue Wahlsystem stellte auch die Stimmenzähler vor Herausforderungen. Ausschnitt aus einer Fotoreportage in der Zeitschrift «Aufstieg»Quelle: Parlamentsdienste

Das neue Wahlsystem stellte auch die Stimmenzähler vor Herausforderungen. Ausschnitt aus einer Fotoreportage in der Zeitschrift «Aufstieg». (Foto: Parlamentsdienste)

Dass Grimm mit seiner Schätzung so weit daneben lag, hatte laut Historiker Erich Gruner vor allem damit zu tun, dass er das zusätzliche Wählerpotenzial seiner Partei überschätzte und dasjenige der Bürgerlichen unterschätzte. Grimm ging offenbar davon aus, dass viele sozialdemokratisch gesinnte Wähler unter dem alten Majorzsystem eine andere Partei wählten, weil sie ihre Stimme nicht für einen chancenlosen sozialdemokratischen Kandidaten verschwenden wollten (oder weil es gar keine sozialdemokratischen Kandidaten in ihrem Wahlkreis gab). Tatsächlich gewann die SP 1919 gegenüber 1917 aber nur 18’000 Wähler, also etwa 10 Prozent, dazu.

Dafür offenbarten die Wahlen 1919 zusätzliches Wählerpotenzial bei einer Partei, bei der man dies nicht erwartet hatte: der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB)[5]. Bis 1917 hatten Bauern in katholischen Kantonen zumeist katholisch-konservativ, in reformierten Kantonen freisinnig gewählt. Die reformierten Bauern entfremdeten sich allerdings zunehmend vom Freisinn, und da der Proporz erstmals auch kleineren Parteien eine faire Chance auf Mandate gab, erhielten die noch jungen Bauernparteien in den protestantischen Kantonen (insbesondere Zürich, Bern, Schaffhausen, Aargau und Thurgau[6]) plötzlich regen Zulauf: 1917 stellten die Bauernvertreter im Nationalrat laut Gruner bloss 4 Vertreter. 1919 schnellte diese Zahl plötzlich auf 29 hoch. Die Hälfte dieser Sitze fielen im Kanton Bern an, wo die Partei aus dem Stand 15 Mandate[7] holte.

Am stärksten vom Proporz profitiert haben also nicht die Proporzvorkämpfer der SP und der KVP, sondern die BGB. Deren Zuwachs zeigt auch schön die indirekte Wirkung des Proporz: Dieser verteilt die Sitze nämlich nicht nur fairer auf die Parteien. Er hat auch einen Einfluss auf das Verhalten der Wähler: Weil auch kleinere Parteien eine faire Chance haben, geben ihnen die Wähler eher ihre Stimme als wenn diese damit rechnen müssen, dass ihr bevorzugter Kandidat keine Chance auf eine Mehrheit hat und ihre Stimme deshalb im Papierkorb landen wird.

Ganz verschwunden ist dieser Effekt mit Einführung des Proporzsystems allerdings nicht. Aufgrund der geringen Grösse der Wahlkreise und des Hagenbach-Bischoff-Zuteilungsverfahrens (das grosse Parteien bevorzugt) müssen Wähler in vielen Kantonen auch heute noch damit rechnen, ihre Stimme unverwertet zu vergeben, wenn sie keine etablierte Partei wählen. Zur Erinnerung: In der Hälfte der Schweizer Kantone gibt es bei den Nationalratswahlen fünf Sitze oder weniger zu verteilen. Um in einem Wahlkreis mit fünf Sitzen ein Mandat auf sicher zu haben, muss eine Partei beachtliche 16.7 Prozent der Stimmen holen.

 

Mitarbeit: Claudio Kuster

 

Dieser Beitrag ist der zweite Teil der dreiteiligen Serie «Wegweisende eidgenössische Wahlen». Bereits publiziert:

 


[1] Arend Lijphart (1999): Patterns of Democracy. Government Forms and Performance in Thirty-Six Countries.

[2] Alfred Kölz (2004): Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte. Ihre Grundlinien in Bund und Kantonen seit 1848, Bern, S. 689 ff.; Rudolf Natsch (1972): Die Einführung des Proporzwahlrechts für die Wahl des schweizerischen Nationalrats 1900–1919, in: Die Schweizerische Referendumsdemokratie im XX. Jahrhundert, Band I, Études et recherches d’histoire contemporaine, Fribourg, S. 119.

[3] Die Legislaturdauer betrug damals drei Jahre, somit wären die nächsten Wahlen eigentlich erst 1920 fällig gewesen. Aufgrund der angespannten Lage infolge des Landesstreiks 1919 beschloss die Bundesversammlung jedoch zum ersten und bislang einzigen Mal in der Geschichte des Bundesstaats, die Wahlen vorzuziehen. Um dies zu ermöglichen, fügte sie eine Übergangsbestimmung in die Verfassung ein, die anschliessend noch vom Volk angenommen werden musste. Siehe Kölz (2004): S. 725 ff.

[4] Die Stimmenanteile und Anzahl Sitze der Parteien stammen aus Erich Gruner et. al. (1978): Die Wahlen in den schweizerischen Nationalrat 1848–1919 sowie den Angaben des Bundesamts für Statistik entnommen. Da die Zuweisung der Kandidaten auf Parteien (bzw. Strömungen) teilweise unterschiedlich gehandhabt wurde, ist insbesondere beim Vergleich der Stimmenanteile Vorsicht geboten. Vgl. auch die leicht differierenden Zahlen bei Kölz (2004): S. 730.

[5] Genaugenommen gab es die Partei damals auf nationaler Ebene noch nicht. Sie wurde erst 1937 gegründet.

[6] Die Bauernpartei im Kanton Zürich war erst 1917 gegründet worden, die Bauern- und Bürgerpartei im Kanton Bern 1918. Andernorts existierten 1919 aber bereits ähnliche Organisationen, vgl. Kölz (2004): S. 730 f.

[7] 1919 hatte der Kanton Bern 32 Nationalratssitze.

Chaos, Manipulationen und Rekorde

Dieses Jahr wählt die Schweiz zum 50. Mal ein neues Parlament. Aus diesem Anlass blicken wir zurück auf die bedeutendsten der 49 bisherigen Wahlen. Wir beginnen mit den ersten eidgenössischen Wahlen 1848 – die alles andere als sauber abliefen.

Am 18. Oktober werden National- und Ständerat neu gewählt. Die Vorbereitungen dazu beginnen aber schon lange vorher. Die Bundeskanzlei und die kantonalen Behörden haben bereits kurz nach den Wahlen 2011 damit begonnen.

So viel Zeit für Vorbereitungen stand bei den ersten nationalen Wahlen 1848 nicht zur Verfügung. Nachdem der Sonderbundskrieg im November 1847 mit einer Niederlage der Konservativen endete, ging es Schlag auf Schlag: Die siegreichen Freisinnigen setzten eine Kommission ein, die eine neue Verfassung ausarbeitete. Im Sommer 1848 liess die Tagsatzung darüber abstimmen. 15½ von 22 Kantonen stimmten zu. Daraufhin setzte die Tagsatzung die Bundesverfassung am 12. September in Kraft. Zwei Tage später verabschiedete sie ein Dekret für die eidgenössischen Wahlen.

Bereits am 6. November sollte die erste Sitzung des neuen Parlaments eröffnet werden – es blieben also weniger als zwei Monate. Für die Besetzung des Ständerats, deren Mitglieder zumeist von den kantonalen Parlamenten bestimmt wurden[1], war das weniger ein Problem, wohl aber für die Wahl des Nationalrats. Bedenkt man die Geschwindigkeit der damaligen Kommunikationsmittel, so zeigt sich erst recht, vor welcher logistischen und organisatorischen Herausforderung die Kantone damals standen.

Einer- oder eher Pluralwahlkreise?

Die ersten Wahlen im neuen Bundesstaat waren somit mit Abstand die chaotischsten. Da der neue Staat über kein Wahlgesetz verfügte, überliess die Tagsatzung die Durchführung der Nationalratswahlen vollkommen den Kantonen. (Immerhin verteilte sie vorab noch die damaligen 111 Nationalratssitze: Am meisten erhielt Bern, deren 20.[2]) Das führte dazu, dass überall nach unterschiedlichen Regeln gewählt wurde.[3] So vergaben manche Stände (etwa Tessin oder Aargau) ihre Sitze in einem einzigen grossen Wahlkreis, während andere (etwa Graubünden oder Thurgau) das Kantonsgebiet in lauter Einerwahlkreise aufteilten.[4]

Auch der erforderliche Stimmenanteil für eine erfolgreiche Wahl war nicht überall gleich. Während in 13 Kantonen zwingend das absolute Mehr für eine Wahl nötig war, reichte in den anderen nach dem ersten Wahlgang eine relative Mehrheit.

Nach zahlreichen Wahlgängen endlich versammelt: Der erste Nationalrat nach den Wahlen 1848. Bild: Erich Gruner: Die Schweizerische Bundesversammlung 1848-1920

Nach zahlreichen Wahlgängen endlich versammelt: Der erste Nationalrat nach den Wahlen 1848.[5]

Nicht einmal einen einheitlichen Wahltermin gab es. Als erster Kanton wählte Graubünden am 1. Oktober. Die anderen Kantone folgten im Verlauf des Monats, wobei vielerorts die Entscheidung nicht im ersten Wahlgang fiel. Denn die kurze Vorbereitungszeit erschwerte es auch den «Parteien»[6], sich vorzubereiten und sich auf einen oder mehrere Kandidaten zu einigen. Die Zahl der Kandidaten erreichte denn auch ein Mass, das bis zur Einführung des Proporzsystems 1919 nie mehr erreicht werden sollte.

Acht Wahlgänge zum Glück

Vielerorts stand hinter der «Kandidatenflut» aber nicht nur mangelnde Organisation, sondern auch Absicht. Parteien portierten Kandidaten oft in mehreren Wahlkreisen, um ihre Wähler zu mobilisieren und ihren Gegnern Stimmen wegzunehmen. So stellten die Berner Freisinnigen den damaligen Regierungsrat Ulrich Ochsenbein gleich in vier von sechs Wahlkreisen des Kantons auf. In dreien wurde er auch tatsächlich gewählt (wobei er die Wahl natürlich nur in einem annehmen konnte).

Geradezu rekordverdächtig war der Auftritt von Guillaume-Henri Dufour: Der siegreiche General im Sonderbundskrieg kandidierte nicht nur in mehreren Wahlkreisen, diese befanden sich auch noch in drei verschiedenen Kantonen. Zunächst stellten ihn im Kanton Aargau die Liberal-Konservativen auf, um am 15. Oktober gegen die Radikalen anzutreten.[7] Im sehr grossen Kandidatenfeld holte Dufour allerdings nur 14.4 Prozent der Stimmen.

Daraufhin versuchte er eine Woche später sein Glück in seinem Heimatkanton Genf als Kandidat der Liberalen. Dort gewann er auch, doch die radikale Regierung annullierte die Wahl wegen angeblicher Unregelmässigkeiten. Aus Protest dagegen boykottierten die Liberalen die Wiederholung der Wahl am 28. Oktober und Dufour erhielt nur noch ein paar Sympathiestimmen.

Damit war der Zug ins Parlament für den General aber noch nicht abgefahren: Im Kanton Bern waren nach zwei Wahlgängen noch nicht alle Sitze besetzt, und so wurde Dufour dort ebenfalls noch in drei Wahlkreisen aufgestellt, diesmal wiederum von den Konservativen.

Am 5. November wurde er im Wahlkreis Emmental glanzvoll gewählt, schlug allerdings die Wahl aus, um am 12. November beim nächsten Wahlgang in den anderen beiden Wahlkreisen nochmals ins Rennen zu gehen. Er siegte in beiden und nahm schliesslich die Wahl im Wahlkreis Seeland an.

Wegen der kurzen Frist für die Durchführung der Wahlen, aber auch wegen taktischer Spielchen der Parteien, brauchte es vielerorts zwei oder mehr Wahlgänge, bis sämtliche Vertreter eines Wahlkreises feststanden. Die Bürger im Wahlkreis Mittelland im Kanton Bern wurden sogar innerhalb weniger Wochen nicht weniger als sechsmal an die Urne gerufen (zum letzten Mal am 26. November, nachdem Ulrich Ochsenbein in den Bundesrat gewählt worden war und ein Nachfolger bestimmt werden musste).[8]

Mit Tricks gegen die Konservativen

Die knappe Zeit liess auch einen eigentlichen Wahlkampf nicht zu. Die Sieger des Sonderbundskriegs konzentrierten sich darauf, die Bedeutung der neuen Verfassung zu betonen und davor zu warnen, das Rad würde zurückgedreht, sollten die Konservativen gewinnen. Die Katholisch-Konservativen ihrerseits waren nach dem Sonderbundskrieg geschwächt und verspürten wenig Lust, am verhassten neuen Staat teilzunehmen. Vielerorts wurden sie allerdings auch benachteiligt, etwa im Kanton Luzern, wo die liberale Regierung die Wahlversammlungen, an denen die Bürger ihre Stimme abgaben, so platzierte, dass die konservativen Wähler teilweise sehr weite Wege zu bewältigen hatten. Zudem wurden die Versammlungen von Regierungsvertretern geleitet, was die Chancen der Konservativen ebenfalls nicht verbesserte. Mit Philipp Anton von Segesser schaffte es in Luzern denn auch nur gerade ein Konservativer ins Parlament (der dafür in den kommenden Jahren zum unangefochtenen Wortführer der Opposition werden sollte).

Nach heutigen Standards waren die ersten nationalen Wahlen in der Schweiz wohl nicht sonderlich demokratisch.[9] Am Ende trug der Freisinn einen ungefährdeten Sieg davon. Eine klare ideologische Zuordnung ist zwar schwierig, doch stützt man sich auf Gruners Auswertung, kam der freisinnige Block[10] auf 96 von 111 Nationalratssitzen, wobei innerhalb dieses Blocks die Radikalen (freisinnige Linke) mit 79 Sitzen dominierten.

Die Katholisch-Konservativen holten nur 9 Sitze. Ihre Zeit im neuen Bundesstaat stand erst bevor – unter anderem mit den Beiträgen zum Ausbau der direkten Demokratie, zur Konkordanz und nicht zuletzt zur Einführung des Proporzwahlrechts. Doch dazu mehr im nächsten Teil unserer Serie.

 

Dieser Beitrag ist der erste Teil der dreiteiligen Serie «Wegweisende eidgenössische Wahlen».

 


[1] Einzig in den beiden Appenzell, Freiburg, Glarus, Ob- und Nidwalden bestimmte die Landsgemeinde die Standesvertreter (vgl. Schweizerische BundeskanzleiWie liefen die ersten Parlamentswahlen 1848 ab?, ch.ch).

[2] Siehe zur Sitzverteilung Wieso Aargau, Wallis und Zürich 2015 mehr Nationalräte bekommen sowie Nenad Stojanovic/Anja Giudici (2013): Seelen zählen, Sitze verteilen, NZZ 28.08.2013; Werner Seitz (2014): Ein Jahr vor den Nationalratswahlen, Journal21.ch 07.10.2014.

[3] Die Informationen für diesen Beitrag stammen grösstenteils aus Erich Gruner et. al. (1978): Die Wahlen in den schweizerischen Nationalrat 1848–1919.

[4] Zu den Wahlkreismanipulationen, die bald Einzug halten sollten, siehe Als in Luzern nach Gesteinsarten gewählt wurde.

[5] Der Begriff wird hier verwendet, obschon es damals noch keine Parteien im eigentlichen Sinn gab. Vielmehr handelte es sich um ideologische Gruppierungen, die teilweise aber nicht scharf voneinander abzugrenzen waren.

[6] Bild in: Erich Gruner et. al. (1966): Die Schweizerische Bundesversammlung 1848–1920.

[7] Die ideologische Zuordnung basiert auf den Angaben von Erich Gruner et. al. (1978).

[8] Zur Komplimentswahl von Bundesräten siehe Der unbekannte Schaffhauser Bundesrat.

[9] Von den zahlreichen Menschen, die vom Stimmrecht ausgeschlossen waren, ganz zu schweigen, siehe Kein Stimmrecht für Trunkenbolde und Sozialhilfebezüger?.

[10] Darin sind protestantische Konservative nicht eingerechnet.

Majorz: Revival in Schwyz, Katerstimmung in Grossbritannien

In seinem Mutterland Grossbritannien kommt das Mehrheitswahlsystem unter Druck. In Schwyz dagegen könnte es bald ein Revival erleben.

Wird bald niemand mehr hier drin im Majorz gewählt? Bild: Simon Phipps (Flickr)

Wird bald niemand mehr hier drin im Majorz gewählt? Bild: Simon Phipps (Flickr)

Lange war das Majorzsystem in Grossbritannien so unbestritten wie die Queen oder die allgemeine Überzeugung, dass Blutwurst zu einem ordentlichen Frühstück gehöre. Das System der (relativen) Mehrheitswahl (im englischen Sprachraum «First-past-the-post» bzw. FPTP genannt) war derart typisch britisch, dass es weitherum als «Westminster System» Bekanntheit erlangte.[1]

Vor den Unterhauswahlen am 7. Mai ist der Majorz im Königreich allerdings so stark in Frage gestellt wie nie zuvor. Denn es wird immer offensichtlicher, dass das britische Wahlsystem immer weniger zum heutigen britischen Parteiensystem passt.

Die Mitglieder des House of Commons werden traditionell in Einerwahlkreisen gewählt, und zwar nach relativem Mehr. Das heisst, der Kandidat mit den meisten Stimmen gewinnt, auch wenn er keine Mehrheit erlangt hat. Dieses Verfahren gibt den Wählern einen starken Anreiz, ihre Stimme einer grossen Partei zu geben. Denn um realistische Chancen auf den Sieg zu haben, muss eine Partei in einem Wahlkreis mindestens 25 oder 30 Prozent der Wähler hinter sich haben.[2]

Als Folge davon wird die britische Politik traditionell von zwei Parteien dominiert[3] – zunächst von Konservativen und Liberalen, seit den 1920er Jahren von Konservativen und Labour. In der Blütezeit des Zwei-Parteien-Systems teilten Tories und Labour 97 Prozent der Stimmen unter sich auf.

Vom Zwei- zum Sechs-Parteien-System

Von einem solchen Anteil können sie heute nur träumen: Gemäss den Umfragen dürften sie am 7. Mai zusammen noch auf etwas über 60 Prozent kommen. Denn entgegen der Logik der relativen Mehrheitswahl wird die politische Landschaft in Grossbritannien immer vielfältiger. Als dritte Kraft neben Labour und Konservativen haben sich in jüngerer Vergangenheit die Liberaldemokraten etabliert. Auf der rechten Seite des politischen Spektrums erfährt die EU-skeptische UKIP regen Zulauf. Und ganz links haben die Grünen nach Jahren der Bedeutungslosigkeit in den Umfragen einen kometenhaften Aufstieg hingelegt.

Parallel dazu haben sich mit der Scottish National Party (SNP) in Schottland und Plaid Cymru in Wales regionale Parteien etabliert.[4] Die Scottish National Party (SNP) hat Labour im schottischen Parlament längst als stärkste Kraft abgelöst. Im Unterhaus ist sie bisher mit 6 Sitzen (von 59 in Schottland) schwach vertreten, dürfte allerdings deutlich zulegen.

Starke Verzerrung

Das britische Wahlsystem vermag diese Vielfalt immer weniger abzubilden; Vieles deutet darauf hin, dass die Verzerrung des Wählerwillens tendenziell zunehmen wird. Die Konservativen und Labour werden zwar die grössten Parteien bleiben, dürften aber deutlich mehr Sitze erringen, als es ihren Wähleranteilen entsprechen würde. Umgekehrt dürften kleinere Parteien schlecht bedient werden oder ganz vom Parlament ausgeschlossen bleiben.

Doch das ist nicht die einzige Ungerechtigkeit: Denn das Wahlsystem benachteiligt nicht einfach kleine Parteien, sondern vor allem kleine Parteien, deren Wählerschaft besonders breit gestreut ist. So könnte die UKIP weniger Sitze erringen als die SNP, obschon sie mehr Wähler hat (gemäss Umfragen dürfte die UKIP auf 10 bis 20 Prozent kommen). Denn die SNP tritt zwar nur in Schottland an, ist dort dafür eine Macht. Die UKIP dagegen hat zwar im ganzen Land Anhänger, aber eben nirgends wirklich viele.

Bei den Wahlen am 7. Mai dürfte die Sitzverteilung daher so verzerrt sein wie selten zuvor. Das weckt inzwischen selbst bei Tories – eigentlich bedingungslose Verfechter von FPTP – Zweifel am Wahlsystem. Der konservative «Telegraph» berichtete kürzlich besorgt darüber, dass Labour bei den Unterhauswahlen weniger Stimmen als die Konservativen holen und am Ende trotzdem als Siegerin dastehen könnte.

Ob dieses Szenario eintreffen wird, ist offen. Wahrscheinlich ist hingegen, dass Grossbritannien nach dem 7. Mai weiter von einer Koalition regiert werden wird – keine gute Nachricht für ein Wahlsystem, das dafür gelobt wird, dass es stabile Regierungen hervorbringt.

Werden bald alle hier drin im Majorz gewählt? Bild: Kanton Schwyz

Werden bald alle hier drin im Majorz gewählt? Bild: Kanton Schwyz

Gesellschaftlicher Wandel

Während die relative Mehrheitswahl in ihrem Mutterland zunehmend in Frage gestellt wird, könnte sie an einem anderen Ort bald ein Revival erleben: Im Kanton Schwyz kommt am 8. März eine Volksinitiative «für ein einfaches und verständliches Wahlsystem» der SVP zur Abstimmung, welche die relative Mehrheitswahl in der Verfassung verankern will. Dies, nachdem das bisherige Wahlsystem vom Bundesgericht für verfassungswidrig erklärt worden war.[5]

Ob das vorgeschlagene Majorzsystem mit dem in der Bundesverfassung verankerten Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit vereinbar ist, ist fraglich, insbesondere nachdem das Bundesgericht in einem kürzlichen Urteil zu Appenzell Ausserrhoden ziemlich strikte Bedinungen an den Majorz gestellt hat.[6]

Davon abgesehen stellt sich auch die Frage, ob der Majorz für den Kanton Schwyz das geeignete System darstellt. Das Parteiensystem in Schwyz ist noch diversifizierter als jenes in Grossbritannien: Im Kantonsrat sind trotz der grösstenteils sehr kleinen Wahlkreisen sechs Parteien vertreten.[7]

Zudem haben Grossbritannien und die Schweiz zumindest eines gemeinsam: den Trend der sinkenden Parteibindung.[8] Anders als früher lassen sich Wähler heute nicht mehr so leicht in bestimmte Kategorien zwängen. Die homogene Arbeiterschaft, die früher geschlossen Labour beziehungsweise die Sozialdemokraten unterstützte, gibt es nicht mehr.

Dass ein mittelständischer Büroangestellter in Südengland seine Stimme den Konservativen gibt, ist heute so wenig selbstverständlich, wie dass ein Kleinunternehmer in Zürich die FDP wählt oder ein Bergbauer in Uri die CVP. Die Einstellungen der Bürger sind heute vielfältiger, sie lassen sich nicht mehr in einem eindimensionalen Zwei-Parteien-System abbilden. Doch je mehr Parteien es gibt, desto stärker wird im Majorz der Wählerwillen verzerrt.

Angesichts des gesellschaftlichen Wandels stellt sich die Frage, wie angemessen das (relative) Mehrheitswahlsystem in der heutigen Zeit noch ist. Man darf gespannt sein, welche Antworten die Schwyzer und die Briten auf diese Frage finden.

 

Einen sehr lesenswerten Artikel zum Thema hat jüngst der «Economist» publiziert.

 


[1] Nach dem Gebäude, in dem das britische Parlament untergebracht ist.

[2] Der tiefste Wähleranteil, der je zum Sieg reichte, waren 26.0 Prozent. Das sind beinahe schon philippinische Verhältnisse (siehe Lotterie um das Präsidentenamt).

[3] Die Politikwissenschaft spricht in diesem Zusammenhang von «Duvergers Gesetz».

[4] Auch in Nordirland gibt es regionale Parteien, dort waren die Konservativen und Labour aber ohnehin nie vertreten.

[5] Zur Vorgeschichte der Schwyzer Wahlreform siehe Verzerrte Sicht auf das Schwyzer Wahlsystem und Der lange Schatten des Schwyzer Wahlsystems. Vgl. zum Ganzen: Kulturkommission Kanton Schwyz (Hrsg.) (2013): Die neue Schwyzer Kantonsverfassung, Schwyzer Hefte, Bd. 99.

[6] BGE 1C_59/2012 und 1C_61/2012 vom 26. September 2014, E. 12.5.3. Vgl. kritisch gegenüber dem Majorz: Daniel Bochsler (2015): Die letzte Bastion der Unparteilichkeit fällt, Napoleon’s Nightmare 09.02.2015 (sowie in «St. Galler Tagblatt», 14.02.2015 und «Urner Wochenblatt», 20.02.2015); ebenso Andrea Töndury (2012): Die «Proporzinitiative 2014» im Kanton Graubünden, Zeitschrift für Gesetzgebung und Rechtsprechung in Graubünden (ZGRG), Nr.2/2012, S. 64 ff. und ders. (2013): Der ewige K(r)ampf mit den Wahlkreisen, in: Andrea Good/Bettina Platipodis (Hrsg.), Direkte Demokratie – Herausforderungen zwischen Politik und Recht – Festschrift für Andreas Auer zum 65. Geburtstag, Bern 2013, S. 51 ff. Den Majorz befürwortend: Georg Müller (2015): Sind Wahlen von Parlamenten nach dem Majorzsystem verfassungswidrig?, SJZ Nr. 4/2015, 103 ff. Zur Zulässigkeit der relativen Mehrheitswahl, so weit ersichtlich, bisher nur der bejahende Entscheid vom 15. März 2013 des Verfassungsgerichts Nidwalden (VG 12 1), Tschopp/Amstutz gg. Landrat NW i.S. Zulässigkeit des Gegenvorschlages des Referendumskomitees «Majorz: Kopf- statt Parteiwahlen» zur Teilrevision des Gesetzes über die Verhältniswahl des Landrates. Vgl. zum Ganzen auch: Erich Aschwanden (2014): Majorz-Initiative mit Nebenwirkungen, NZZ vom 15. November 2014.

[7] Bei den letzten Nationalratswahlen 2011 traten im Kanton Schwyz (für die bloss vier Sitze) sogar 17 Listen an.

[8] Vgl. hierzu Entzauberte Konkordanz und Die Bürger nicht erst am Schluss fragen.

Wie das Tessin zum Schweizer Proporzpionier wurde

Logo_Serie_TrouvaillenImmer wieder war das Tessin im 19. Jahrhundert Schauplatz hitziger Konflikte zwischen Liberalen und Konservativen. Den Frieden brachten schliesslich zwei Neuerungen, die den Kanton zum Vorbild für die ganze Schweiz machen sollten.

In keinem anderen Kanton war im 19. Jahrhundert der Konflikt zwischen Liberalen und Konservativen derart heftig wie im Tessin. Der Höhepunkt der Auseinandersetzungen war der Putsch von 1890, der den Kanton an den Rand eines Bürgerkriegs brachte. Am Ursprung der blutigen Ereignisse stand das Wahlrecht – dieses sollte sich zugleich als der Schlüssel zur Befriedung des Konflikts herausstellen.

1830 nahm das Tessin ein erstes Mal eine Pionierrolle innerhalb der Eidgenossenschaft ein, als es als erster Kanton eine liberale Regenerationsverfassung in Kraft setzte. Diese basierte auf den Ideen der französischen Revolution und proklamierte Freiheit, Gleichheit sowie die Trennung von Kirche und Staat. Gegen diese Grundsätze formierte sich bald Widerstand kirchentreuer Konservativer.

Die beiden politischen Blöcke lieferten sich in der Folge einen erbitterten Streit um die Macht, bei dem beide Seiten wenig zimperlich vorgingen. So enteignete die radikale Regierung 1848 – als infolge der Gründung des Bundesstaats die Zolleinnahmen wegfielen – kurzerhand die Klöster, um die maroden Staatsfinanzen aufzubessern. 1855 ging sie noch weiter, als sie den verhassten Klerus vom Wahlrecht ausschloss, ein klarer Widerspruch zur Bundesverfassung.

Das geltende Wahlsystem verstärkte die Polarisierung. Gewählt wurde das Parlament – wie damals üblich – im Majorzsystem, und zwar in 38 Wahlkreisen mit je 3 Sitzen. Das Mehrheitssystem hatte den bekannten Effekt, dass kleine Unterschiede an erhaltenen Stimmen die Kräfteverhältnisse im Kanton gänzlich umkehren konnten. Umso erbitterter kämpften die beiden Parteien um die Macht, weil der Mehrheit im Parlament alles, der Minderheit nichts zukam. Ein italienischer Besucher beschrieb die politische Kultur so: «Bei jedem Machtwechsel im Kanton Tessin unterdrückt die Siegerpartei moralisch alle Anhänger der Besiegten und besetzt alle Ämter, auch die geringsten, mit den eigenen Parteigängern.»[1]

Nach dem Wahlsieg der Konservativen 1875 nahmen die Spannungen weiter zu. Die unterlegenen Radikalen reichten beim Bundesrat Rekurs gegen die Grossratswahlen ein mit der Begründung, durch das Wahlsystem benachteiligt zu werden. Tatsächlich verletzte dieses den Grundsatz der politischen Gleichheit in grober Weise, weil die einzelnen Wahlkreise zwar unterschiedlich grosse Bevölkerungen zählten, trotzdem aber alle Anrecht auf genau drei Sitze hatten.[2] Bevorteilt wurden vor allem kleine Kreise in den Tälern, wo die Konservativen besonders stark waren.[3]

Auch der Bundesrat sah die Verfassung durch das Tessiner Wahlsystem verletzt, sah sich aber nicht dafür zuständig und überwies die Angelegenheit an die Bundesversammlung, das den fraglichen Artikel in der Tessiner Verfassung schliesslich ausser Kraft setzte.

Die Auseinandersetzung um die Ausgestaltung des neuen Wahlsystems verschärfte den Konflikt zwischen Liberalen und Konservativen weiter. 1876 kam es in Stabio zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit mehreren Todesopfern. Daraufhin intervenierte der Bundesrat und sendete zum ersten Mal einen Kommissär ins Tessin. Unter seiner Vermittlung einigten sich die verfeindeten Gruppen darauf, die Wahlen von 1879 um zwei Jahre vorzuverschieben und unter einem neuen Wahlsystem durchzuführen, das die Sitze nach Massgabe der Bevölkerung auf die Wahlkreise verteilte.

Vom Regen in die Traufe

Die Konservativen gewannen die Wahlen erneut und machten sich sogleich daran, ihre Macht zu sichern. Mit der Mehrheit im Grossen Rat konnten sie die Wahlkreise nach Belieben einteilen und griffen dabei zur mehrfach bewährten Methode des «Gerrymandering». So teilte sie dem Wahlkreis Gambarogno, der bis dahin zuverlässig liberal gewählt hatte, die beiden konservativen Gemeinden Gordola und Cugnasco zu, woraus sich ein Wahlkreis mit vier Sitzen ergab, die fortan alle an die Konservativen fielen. Angesichts solcher Manipulationen[4] bezeichnete der Jurist Albert Schneider in einem Bericht die Wahlgeografie im Kanton Tessin als «artifiziell und monstruös».[5] Hinzu kam, dass für die Berechnung der Sitzzahlen auch Bürger gezählt wurden, die längst nicht mehr in der Gemeinde wohnten. Das gab den mehrheitlich konservativen Gemeinden in den Tälern, deren Einwohner vielfach nach Italien emigriert waren, zusätzliches Gewicht.

Für die Liberalen war die Änderung des «ungerechten» Wahlsystems somit ein Wechsel vom Regen in die Traufe. Exemplarisch zeigte sich dies bei den Wahlen 1889, bei denen die Konservativen mit 51 Prozent der Stimmen 69 Prozent der Sitze im Grossen Rat holten.[6] Die radikale Zeitung «Il Dovere» (die heutige «La Regione») kommentierte sarkastisch: «Es lebe die Gleichberechtigung!»

Das Wahlresultat bestätigte die Liberalen in ihrer Befürchtung, trotz ausgeglichener Kräfteverhältnisse auf lange Frist von der Macht ausgeschlossen zu bleiben. Ihre Empörung entlud sich zunächst in der rekordverdächtigen Zahl von 726 Rekursen, die gegen das Ergebnis beim Bundesrat eingingen. Bald schon griffen sie allerdings zu drastischeren Mitteln: Am 11. September 1890 stürmte eine Gruppe radikaler Aufständischer das Regierungsgebäude in Bellinzona und verhaftete die anwesenden Regierungsmitglieder. Im Getümmel wurde der Staatsrat Luigi Rossi durch einen Revolverschuss getötet. Die Revolutionäre riefen eine provisorische Regierung aus und setzten das Parlament ab.

Oberst Arnold Künzli

Oberst Arnold Künzli.

Der Bundesrat reagierte sofort und beschloss eine Bundesintervention. Er schickte zwei Berner Infanteriebataillone – die gerade einen WK in der Nähe leisteten – unter der Führung von Nationalrat und Oberst Arnold Künzli ins Tessin. Er hatte den Auftrag, die provisorische Regierung aufzulösen und vorübergehend selbst die Regierungsgewalt zu übernehmen.

Am 12. September trafen Künzlis Truppen mit einem Sonderzug in Bellinzona ein. Er ermahnte das Volk zunächst in einer Proklamation zur Ruhe und machte sich dann daran, die verhafteten Staatsräte wieder auf freien Fuss zu setzen.

Dann allerdings kam es zu einem Missverständnis, das beinahe folgenschwer gewesen wäre. Der Bundesrat hatte Künzli nämlich in einer ergänzenden Weisung am 13. September beauftragt, ihm «zu berichten, in welchem Momente die gesprengte Regierung im Stande und gewillt sei, ihre Funktionen wieder auszuüben». Künzli leitete daraus die Aufforderung ab, die konservative Regierung wieder einzusetzen. Das, so seine Befürchtung, würde jedoch neue Unruhen und Blutvergiessen zur Folge haben. Künzli telegrafierte nach Bern, der Auftrag erscheine ihm «so folgenschwer, ernst und bedenklich für Zukunft des Kantons und der Eidgenossenschaft, dass ich meinen Namen mit dieser Massregel nicht verknüpfen kann». Der Oberst verweigerte den Befehl und ersuchte den Bundesrat um Entlassung als Kommissär.

Die Regierung antwortete umgehend und erklärte: «Wir haben Sie nicht beauftragt, die alte Regierung wieder einzusetzen, sondern über die Frage zu berichten, in welchem Moment dieselbe im Stande und Willens sei, die Staatsgeschäfte wieder an die Hand zu nehmen.» Der Bundesrat lehnte das Demissionsgesuch ab, nicht ohne aber Künzli zu ermuntern: «Wir verkennen die Schwierigkeit Ihrer Aufgabe nicht, appellieren aber an Ihren Patriotismus.»

In der Folge setzte Künzli die provisorische Regierung ab und setzte die von den Liberalen verlangte Abstimmung über die Ausarbeitung einer neuen Verfassung an. Nachdem das Volk dieser am 5. Oktober zugestimmt hatte, ging es nun darum, ein politisches System zu finden, das dem Kanton endlich friedliche und stabile Verhältnisse bringen würde. Oberst Künzli sollte recht behalten mit seinen Worten, die er bereits kurz nach seiner Ankunft im Tessin geäussert hatte: «Frieden und bessere Zustände können nur wiederkehren, wenn jede Partei die Vertretung in den administrativen und richterlichen Behörden erhält, die ihr nach ihrer Stärke gebührt, und wenn die vernünftigen Theile beider Parteien auf dieser Grundlage zu einer Verständigung gelangen.»

«Zu kompliziert»

Auf Anregung von Künzli organisierte der Bundesrat eine Reihe von Versöhnungskonferenzen zwischen den zerstrittenen Fraktionen und versuchte einen Kompromiss zwischen ihnen zu vermitteln. Zunächst verlangte die bundesrätliche Delegation die Wahl einer «gemischten Regierung», also eines Staatsrats, der aus Konservativen und Liberalen zusammengesetzt ist.

Was das Wahlsystem angeht, verzichtete der Bundesrat zunächst auf eine konkrete Empfehlung und sprach sich stattdessen grundsätzlich für ein System aus, das «die gerechte Vertretung der Parteien» gewährleisten würde. Die Einführung des Proporzsystems wurde im Grossen Rat diskutiert, allerdings schreckte man davor zurück, da die Anwendung dieses Systems «zu kompliziert» sei und «unser Volk mit der Idee derselben noch zu wenig vertraut» sei, wie es der gemässigt konservative Abgeordnete Agostino Soldati ausdrückte.[7] Die Konservativen schlugen stattdessen das System der «limitierten Stimmabgabe» vor.[8]

Allerdings kam eine vom Bundesrat in Auftrag gegebene statistische Untersuchung zum Schluss, dass dieses System die konservative Dominanz nur leicht vermindern würde. Weil die Liberalen zudem die limitierte Stimmabgabe ablehnten und damit eine neue Staatskrise drohte, ging der Bundesrat schliesslich in die Offensive und sprach sich offen für das «System der Proportionalvertretung» aus.

Unter dem Druck der Landesregierung stimmten die verfeindeten Parteien den bundesrätlichen Vorschlägen schliesslich zu. Am 5. Dezember 1890 verabschiedete der Grosse Rat ein Gesetz zur Wahl des Verfassungsrats nach dem Proporzsystem.[9] Gleichzeitig wählte er zwei Liberale in den fünfköpfigen Staatsrat (der damals noch nicht vom Volk gewählt wurde). Zum ersten Mal wurde das Tessin im Konkordanzsystem regiert.

Die erstmalige Anwendung des Proporzsystems in der Schweiz verlief allerdings nicht wie gewünscht: Denn die Konservativen versuchten das neue System zu ihrem Vorteil auszunutzen, indem sie in einigen Wahlkreisen mehrere Listen aufstellten in der Hoffnung, damit mehr Sitze zu gewinnen. Die Liberalen waren darüber derart erbost, dass sie die Wahl am 11. Januar kurzerhand boykottierten. Als Folge davon bestand der Verfassungsrat vollständig aus Konservativen. Immerhin führte dieser Verfassungsrat das Proporzsystem auch für die Wahlen des Grossen Rats ein und sorgte damit für eine fairere Verteilung der Parlamentssitze.

Die Debatte über das Wahlsystem war damit im Tessin zwar noch lange nicht abgeschlossen.[10] Fortan wurde diese Debatte aber im Rahmen eines geordneten demokratischen Prozesses ausgetragen. Gewaltsame Auseinandersetzungen gehörten der Vergangenheit an.

Vorbild für den Bund

Die Ironie der Geschichte ist, dass der freisinnige Bundesrat den Kanton Tessin zu zwei Neuerungen zwang, denen er sich auf Bundesebene vehement widersetzte: die Proporzwahl und die Konkordanz. Während er die Tessiner Konservativen dazu drängte, den Liberalen eine angemessene Vertretung in der Regierung zuzugestehen, verweigerte er genau das den Konservativen im Bundesstaat. Immerhin wurde 1891 mit Josef Zemp der erste Katholisch-Konservative in den Bundesrat gewählt. Auch von einer «gerechten Vertretung der Parteien» im Parlament, wie er sie im Tessin forderte, wollte der Bundesrat im Bezug auf den Nationalrat nichts wissen und sträubte sich bis 1918 dagegen, als das Volk die Proporzwahl der grossen Kammer annahm.

Das doppelte Spiel der freisinnigen Mehrheit in Bundesbern sorgte schon damals für kritische Töne. So klagte der Zürcher Konservative Georg von Wyss 1890 in einem Brief: «Welch trauriges Spektakel, dass die [eidgenössischen] Räte (…) die Tessiner Revolutionäre schützen und für sie Konzessionen fordern, die sie gleichzeitig all jenen verweigern, welche nicht gleich denken wie sie.»[11]

Schliesslich ist noch eine weitere Neuerung im Kanton Tessin aufschlussreich: 1892 führte der Südkanton nicht nur die Volkswahl der Regierung (nach dem Proporzverfahren) ein, sondern auch die Möglichkeit, dieselbe mittels Volksabstimmung abzuberufen. Diese Reform wurde explizit damit begründet, dass dadurch gewaltsame Umstürze verhindert werden könnten.

Dieser Beitrag ist der sechste Teil der (unterdessen endlosen) Serie «Trouvaillen aus den Anfängen des Bundesstaats». Bereits publiziert:

 


[1] Dossi, Carlo (1964): Note azzurre, zitiert in: Ceschi, Raffaello (2003): Geschichte des Kantons Tessin.

[2] Gemäss dem Bundesrat hatte etwa eine Stimme im Kreis Levizzara fast sechsmal mehr Gewicht als eine in Lugano. Quelle: Kölz, Alfred (1992): Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte.

[3] Die Liberalen, die sich nun darüber beklagten, hatten es aber offenbar nicht für nötig befunden, während ihrer über 30 Jahre an der Macht das Wahlsystem anzupassen.

[4] Für weitere Beispiele siehe Ghiringhelli, Andrea (1995): Il cittadino e il voto.

[5] Schneider, Albert (1889): Rapporto sui ricorsi concernenti le elezioni al Gran Consiglio presentato all’alto Consiglio Federale, zitiert in: Ceschi, Raffaello (2003): Geschichte des Kantons Tessin.

[6] Die Konservativen erhielten 12’653 Stimmen und 77 Sitze, die Liberalen 12’018 Stimmen und 35 Sitze. Quelle: Ghiringhelli (1995).

[7] Man beachte die Parallelen zur Diskussion, die später auf Bundesebene geführt wurde.

[8] Dabei handelt es sich um eine Mehrheitswahl in Mehrpersonenwahlkreisen (wie sie damals in der Schweiz üblich war) mit der Besonderheit, dass die Wähler weniger Stimmen zur Verfügung haben, als Sitze zu vergeben sind. Das gibt Minderheitsparteien bessere Chancen auf eine Vertretung.

[9] Für die Aufteilung der Sitze auf die Parteien kam das Bruchzahlverfahren (Hare-Niemeyer-Verfahren) zur Anwendung und nicht das Hagenbach-Bischoff-Verfahren, das sich später in den meisten Kantonen und auf Bundesebene durchsetzen sollte. Das Tessin ist heute neben Waadt der einzige Kanton, der sein Parlament nach dem Bruchzahl-Verfahren wählt.

[10] Insbesondere wurde die Zahl der Wahlkreise von 17 kontinuierlich verkleinert, bis 1920 ein Einheitswahlkreis für den ganzen Kanton eingeführt wurde.

[11] Brief an Ernest Naville, zitiert in: Wisler, Dominique (2008): La démocratie genevoise.