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Jungparteien in Medien präsent, bei Parlamentswahlen übergangen

Im Nationalrat sind Jungparteien nicht vertreten – zu Unrecht: Gemäss ihren Stimmenanteilen würden ihnen 10 Sitze zustehen. In einer Region geniessen die Jungen besonders viel Sympathien.

Von Claudio Kuster und Lukas Leuzinger

Bei SRF stehen sie diese Woche im Fokus: Die Sendung «Glanz und Gloria» widmet den Präsidentinnen und Präsidenten der Schweizer Jungparteien eine eigene Serie. Andri Siberschmidt (Jungfreisinnige), Tamara Funiciello (Juso), Benjamin Fischer (Junge SVP) Tino Schneider (Junge CVP) sowie Judith Schmutz (Junge Grüne) geben Einblick, was sie in der Politik und in ihrem Alltag bewegt. – Wir nehmen sie ebenfalls unter die Lupe, genauer: wir fragen, welche Jungparteien besonders gut ankommen und welche weniger.

Zunächst kann man sich fragen, ob das der parteilichen Neutralität verpflichtete SRF diese Woche überhaupt die «richtigen» Köpfe portraitiert. Vertreter von weiteren Jungparteien wie der Jungen GLP und der Jungen EVP haben sich prompt gefragt, wieso sie nicht ebenfalls berücksicht werden. «Offizielle» Wähleranteile der nationalen Jungparteien der letzten Wahlen existieren schliesslich nicht; die Wählerstimmen der mittels Listenverbindungen an die Mutterparteien gekoppelten Jugend-Listen werden stets in denselben «Familientopf» geworfen. Werden die Stimmen der jeweiligen Jungsektionen aber separat erhoben und danach gesamtschweizerisch aufaddiert, so lässt sich durchaus der nationale Wähleranteil der Jungparteien berechnen (zumindest für die 20 Proporzkantone[1]):

Die «Glanz und Gloria»-Selektion steht also auf sicherem Boden, die Vertreter vom Jungfreisinn (knapp 0.7 Prozent nationaler Wähleranteil) bis hin zum «Wahlsieger» Junge SVP (knapp 1 Prozent) repräsentieren klarerweise die Handvoll wählerstärksten Jungparteien. Erst mit einigem Abstand folgen die Jungmannschaften von GLP, BDP und EVP – und ganz abgeschlagen der EDU, deren Junge bei den letzten Nationalratswahlen 2015 jedoch nur im Kanton Zürich antraten. Erwähnenswert ist überdies die Piratenpartei an sechster Stelle, die zwar kein Spross einer Mutterpartei darstellt; das Durchschnittsalter ihrer Mitglieder dürfte aber immer noch relativ jugendlich sein.

Dank juvenilen Aktionen und träfen Tweets sind die Jungpolitiker zwar häufig in den Medien präsent. Einen Sitz im nationalen Parlament kann derzeit aber niemand von ihnen sein Eigen nennen.[2] Die Jungparteien gingen bei den Nationalratswahlen 2015 einmal mehr leer aus – dem Kleinparteien benachteiligenden Wahlsystem sei Dank. Unter dem heutigen System sind Sitzgewinne für sie illusorisch. Sie müssen sich allesamt mit der Rolle als Stimmenlieferanten für die Mutterparteien (und ab und zu einer Homestory auf SRF1) zufriedengeben. Dabei würden ihnen rein von ihren Wählerstärken her insgesamt elf Sitze zustehen:

Die Auswertung der letzten Wahlen zeigt, dass die Junge SVP von allen Jungparteien am meisten Zuspruch erhält, nämlich schweizweit fast ein Prozent der Stimmen. Diese gehen jedoch allesamt (via Listenverbindungen) in den Listen ihrer Mutterpartei auf – obschon dieser Wähleranteil eigentlich ziemlich exakt zwei vollen, eigenen Nationalratsmandaten entspricht. Nicht weit dahinter folgen die Jungsozialisten und – praktisch gleichauf – die Junge CVP. Auch ihnen würden gemäss Stimmenanteilen je zwei Sitze im Nationalrat zukommen. Während die CVP bei den «Grossen» klar hinter den anderen Bundesratsparteien liegt, mischt sie in der Juniorenliga ganz vorne mit.

Erhellend ist sodann der Vergleich der Wähleranteile der Jungparteien zu demjenigen ihrer Mutterparteien. Überproportional stark schneiden hier die Jungen Grünen ab: Von 100 Wählern der Grünen Partei (Mutterpartei plus Jungsektionen) legen immerhin 11 Wähler (10.75%) den Wahlzettel der Jungen Grünen ein. Keine andere Jungpartei vermag das Elektorat ihrer Parteienfamilie so stark in Richtung «Zukunft» zu bewegen. Ganz anders sieht es beim Wahlsieger Junge SVP aus: 97 Prozent der SVP-Wähler vertrauen den bewährten «Erwachsenen-Listen», nur gerade gut 3 Prozent setzen auf ihren Nachwuchs. Die FDP- und SP-Sympathisanten wählen ebenfalls überraschend «soziodemografisch konservativ» und unterstützen ihre Töchter und Söhne kaum:

Wie die Mutterparteien und gemäss dem föderalen Staatsaufbau organisieren sich auch die Jungparteien in Kantonalsektionen. Und wie bei den etablierten «Grossen» zeigen sich auch bei den «Kleinen» beträchtliche Unterschiede, zumindest bei den Bürgerlichen. Etwa bei der Jungen CVP: In reformierten Kantonen wie Zürich, Bern, Schaffhausen, Neuenburg sind sie nur im Promillebereich vertreten – oder sind gar komplett inexistent. In ihren traditionellen Stammlanden können derweil auch die Jungmannschaften auf kräftigen elektoralen Support zählen, so insbesondere in Freiburg, Jura und – mit fast 6 Prozent die schweizweit stärkste Jungsektion überhaupt – in Zug. Parteipräsident Gerhard Pfister muss sich also immerhin zu Hause keine grossen Sorgen über fehlenden Nachwuchs machen.

Im Gegensatz zu den eher ungleich verankerten bürgerlichen Jungen, zeigen sich die linken Jungparteien Juso und Junge Grüne landesweit verhältnismässig homogen verteilt. So stechen denn unter allen Sektionen mit einem Wähleranteil von mindestens 1.5 Prozent nur die Jeunes Socialistes Neuchâtelois und die Jeunes Verts Jurassiens heraus:

Apropos Neuenburg und Jura: Auffällig ist, wie stark die Jungparteien in der Westschweiz abschneiden. Werden die Wähleranteile aller Jungsektionen je Kanton aufaddiert, so erhält man die jeweiligen kumulierten Jungparteien-Anteile. Und hier lässt die Westschweizer Jugend (einzig Genf fällt aus dem Raster) die Deutschschweizer Copains deutlich hinter sich. Die Ursachen dieser Diskrepanzen könnten wertvolle Hinweise liefern, wie die Jungen – ob Parteien oder Elektorat – auch in Luzern, Zürich, Basel-Landschaft und dem Tessin wieder vermehrt aktiviert werden könnten:


[1] Für diese und alle weiteren Berechnungen wurden die sechs Kantone mit Einerwahlkreisen (AI, AR, GL, NW, OW, UR) ignoriert, da sie im Mehrheitswahlverfahren wählen, womit Jungparteien de facto von vornherein ausgeschlossen sind. Die Wähleranteile in diesem Beitrag unterscheiden sich daher geringfügig von denjenigen im Beitrag Grossparteien erhalten 20 Nationalräte zu viel – zulasten der Jungen, wo das doppeltproportionales Wahlsystem über alle 26 Kantone hinweg simuliert wurde.

[2] Wir beziehen uns hier und im gesamten Artikel ausschliesslich auf die Jungparteien-Listen. Einzelne Mitglieder von Jungparteien schafften den Sprung in den Nationalrat, allerdings auf der Liste der Mutterpartei, washalb sie in dieser Analyse ausser Betracht fallen.

Für Wahlen (und Abstimmungen!)

Der belgische Historiker David Van Reybrouck propagiert das Los als Mittel gegen die Demokratiemüdigkeit. Das radikale Plädoyer für Vertrauen in die Bürger ist ein spannender Ansatz, bleibt jedoch auf halbem Weg stecken.

Die Beteiligung an Wahlen sinkt, das Vertrauen in demokratische Institutionen ebenfalls, radikale politische Kräfte erschüttern die Politik, die Debatte im Zeitalter der Mediendemokratie wird immer schneller, dreckiger und oberflächlicher. Die Diagnose, die der belgische Historiker David Van Reybrouck in seinem Buch «Gegen Wahlen» stellt, ist nicht neu. Schon zur Jahrtausendwende prägte Colin Crouch den Begriff «Postdemokratie», und kaum ein Tag vergeht, an dem nicht ein Leitartikel Sorgen über die Zukunft der Demokratie zum Ausdruck bringt.

9783835318717lWas Van Reybrouck von den meisten Besorgten unterscheidet, ist seine Lösung. Das grundlegende Problem, schreibt er, sei das elektoral-repräsentative System, das sich in allen demokratischen Staaten etabliert hat. Dieses sei nämlich gar nicht demokratisch, sondern aristokratisch. Eine wahre Demokratie besetze Posten nicht durch Wahlen – sondern durch das Los.

Um seine These zu untermauern, geht Van Reybrouck zurück zu den Anfängen der Demokratie, ins antike Athen. Dort wurden tatsächlich viele wichtige Stellen im Staat unter den Bürgen ausgelost. Nur bestimmte Positionen, die spezifische Fähigkeiten erforderten (etwa die des Kriegsherrn), wurden durch Wahlen besetzt. Dieses System garantierte laut Van Reybrouck, dass im Grunde keine Unterschiede zwischen Regierten und Politikern bestanden.

Ausgeloster Landammann

Der Historiker nennt weitere historische Beispiele, in denen das Losverfahren zum Einsatz kam, so etwa in Venedig und Florenz in der frühen Neuzeit. Dass die aristokratischen Stadtstaaten als Beispiele für ein angeblich besonders demokratisches Verfahren herhalten müssen, ist eine Ironie in Van Reybroucks Argumentation. Er hat aber recht, wenn er darauf hinweist, dass das Los als Auswahlmechanismus in der Geschichte weiter verbreitet ist, als uns heute bewusst ist.

Auch in der Schweiz fand das Losverfahren Anwendung, und zwar auch in Staaten, die im Gegensatz zu Venedig und Florenz wenigstens dem Grundsatz nach demokratisch organisiert waren. Es ist heute kaum noch bekannt, dass eine Zeitlang einige Landsgemeindeorte sowie Graubünden (ebenso übrigens das aristokratische Bern) wichtige Ämter per Los vergaben. Sie taten dies indes nicht aus demokratischer Überzeugung heraus, sondern, um der weitverbreiteten und teilweise massiven Bestechung bei Wahlen einen Riegel zu schieben. Kandidaten für wichtige Stellen überboten sich darin, massenhaft Stimmen zu kaufen.[1] Dieses Übel zu beenden, war auch im Interesse der reichen Oberschicht, denn einige ihrer Angehörigen trieben den Bestechungswettkampf so weit, dass sie sich selber völlig ruinierten.

Weil weder Verbote noch Eidesbekenntnisse die Korruption aus der Welt zu schaffen vermochten, sah man als einzigen Ausweg die Auslosung der Ämter, um den Anreiz für Bestechungen zu unterbinden. Dabei wurden zunächst Wahlen und Auslosung kombiniert: In Glarus etwa wurde ab 1640 der Regierungschef (Landammann) aus sechs gewählten Kandidaten ausgelost. Weil auch in diesem System Unregelmässigkeiten allzu regelmässig vorkamen, gingen die Glarner 1791 zum reinen Losverfahren über: ein Teil der Ämter (ausgenommen war das Landammannamt und einige andere Positionen) wurde unter sämtlichen Bürgern des Landes ausgelost. Dies führte dazu, dass zuweilen Leute zu einem Amt kamen, die dafür völlig ungeeignet waren (z.B. weil sie nicht lesen konnten). In vielen Fällen verkauften die glücklichen Gewinner ihr Amt daher einfach an den Meistbietenden, womit man wieder dort war, wo man angefangen hatte: beim Ämterkauf.

Dass das Losverfahren nicht aus demokratischen Überlegungen heraus eingeführt wurde, zeigt sich schon daran, dass sämtliche Kantone das Verfahren wieder abschafften, sobald sie das Gefühl hatten, das Problem der Korruption einigermassen im Griff zu haben.

Das Los wurde zwar von namhaften Denkern wie Aristoteles oder Rousseau befürwortet. In der breiten Bevölkerung fand es hingegen wenig Anklang. Die demokratischen Bestrebungen des 19. Jahrhunderts forderten die Ausweitung des Wahlrechts, das Ende der Pressezensur, direktdemokratische Rechte, später proportionale Wahlverfahren – aber nicht die Auslosung von politischen Ämtern. Man kann das Losverfahren als gerechter, effizienter oder besser bezeichnen. Dass es demokratischer sein soll, ist hingegen eine absurde Behauptung. Schon der Begriff Demokratie steht in Konflikt mit der Auslosung von Ämtern. Wie soll das «Volk» «herrschen» können, wenn die Entscheidungsgewalt in den Händen einer kleinen Gruppe von Glücklichen liegt, die das grosse Los gezogen haben?[2] Es zeugt auch nicht gerade von grossem Vertrauen in den mündigen Bürger, wenn man glaubt, ihm einen Gefallen zu machen, indem man ihm ein Recht entzieht.

Der Sozialismus glaubte, eine gerechte Wirtschaftsordnung zu schaffen, indem er den Menschen die Wahlfreiheit wegnahm und wirtschaftliche Transaktionen an eine zentrale Planungsbehörde delegierte. Diese Logik übernimmt, wer glaubt, eine gerechtere Demokratie zu schaffen, indem er den Menschen die Wahlfreiheit wegnimmt.

Erwachsene statt Stimmvieh

Dabei ist die Grundidee Van Reybroucks eigentlich überzeugend: Zwischen Bürgern und Politikern sollte es keine Unterschiede geben. Den Menschen sollte zugetraut werden, mitzureden, Ideen einzubringen und mitzuentscheiden. Sein Ideal ist die deliberative Demokratie, in der die Bürger (und eben nicht nur die Politiker) durch öffentliche Beratung und Diskussion zu (idealerweise) gerechten und sinnvollen Lösungen kommen. Zu Recht weist Van Reybrouck darauf hin, dass es schon vielversprechende Ansätze gab, zufällig ausgeloste Bürger in den politischen Prozess einzubeziehen. Meist geschah dies auf lokaler Ebene (etwa in vielen Gemeinden in der Toskana), aber nicht nur. So erarbeitete in Irland eine Gruppe von 66 ausgelosten Bürgern und 33 Politikern eine Änderung der Verfassung. Es ging um insgesamt acht Themenbereiche. Der umstrittenste Vorschlag, die Einführung der Homo-Ehe, wurde 2015 in einer Volksabstimmung von 62 Prozent der Stimmenden angenommen.

«Behandelt man den mündigen Bürger wie Stimmvieh, so wird er sich wie Stimmvieh verhalten, behandelt man ihn aber wie einen Erwachsenen, so wird er sich wie ein Erwachsener verhalten.»[3] Der Satz von Van Reybrouck ist der beste des ganzen Buches. Umso irritierender ist seine tiefe Ablehnung der direkten Demokratie. Die Bürger sollen zwar mehr mitreden, aber nur wenn sie ausgelost werden und in einer Gruppe unter Anleitung von Experten diskutieren. Die Mitwirkung einer breiteren Öffentlichkeit dagegen ist offenbar nicht erwünscht. Denn bei Referenden «bittet man alle, über ein Thema abzustimmen, mit dem sich meist nur wenige auskennen». «Sehr oft» komme deshalb das «Bauchgefühl» der Stimmenden zum Ausdruck, erklärt uns der Historiker, ohne dafür Belege anzuführen.[4] Damit übernimmt Van Reybrouck letztlich die aristokratischen Vorstellungen, die er so leidenschaftlich kritisiert, wonach der gemeine Bürger im Grunde keine Ahnung habe und Entscheidungen daher richtigerweise von einem auserwählten Zirkel von Experten gefällt werden sollten – bloss, dass dieser Zirkel nun nicht mehr gewählt, sondern ausgelost werden soll.

Aristokratische Vorstellungen

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier einmal mehr Kritik an Ergebnissen mit Kritik an Prozessen vermischt wird und die direkte Demokratie als Prügelknabe herhalten muss, weil die Leute nicht immer so entscheiden, wie man es selbst gerne hätte. Dazu passt auch Van Reybroucks Reaktion auf den Entscheid der britischen Stimmbürger, aus der EU auszutreten. Die Abstimmung sei durch «schlecht informierte» Leuten entschieden worden, bemängelte der Wissenschaftler, für den offenbar feststeht, dass jeder «richtig» Informierte für den Verbleib in der Union stimmen muss.

Das Abdriften Van Reybroucks in Richtung solcher aristokratischer und bevormundender Vorstellungen ist vor allem deshalb zu bedauern, weil direkte Demokratie und deliberative Demokratie einander keineswegs «vollkommen entgegengesetzt» sind, wie er es uns glauben machen will – im Gegenteil: Sie könnten sich sogar gut ergänzen. Ausgeloste Gruppen von Bürgern sind gut dazu geeignet, Sachfragen nüchtern und ohne Druck von aussen zu diskutieren, neue Ideen aufzunehmen und geeignete Lösungen zu finden. Was diesen Gruppen jedoch fehlt, ist demokratische Legitimität und demokratische Kontrolle. Möglicherweise ist sich Van Reybrouck dessen selbst bewusst, denn er schreckt letztlich von der Forderung zurück, die endgültige Entscheidungsmacht ausgelosten Gruppen zu übertragen. Stattdessen schlägt er ein Zweikammer-System vor, in dem eine Kammer ausgelost und die andere gewählt wird. Was die ausgelosten Bürger ersinnen, muss also letztlich von gewählten Politikern bestätigt werden. Aber wenn man schon von der Vorstellung ausgeht, dass es keine Unterschiede zwischen Bürgern und Politikern geben soll – sollte man den Bürgern dann nicht auch zutrauen, dass sie diese Aufgabe mindestens so gut wie ihre Politiker erfüllen können?


[1] Oft geschah die Bestechung in Form von Einladungen zum Essen und (vor allem) Trinken: In Zug beispielsweise zechten 1760 die Wähler volle zwei Wochen lang auf Kosten zweier Kandidaten, die sich um das Amt eines Landvogts bewarben. (Quelle: Heinrich Ryffel (1903): Die Schweizerischen Landsgemeinden, S. 146-147)

[2] Bezeichnenderweise mussten im antiken Athen Kandidaten eine Tauglichkeitsprüfung (Dokimasie) absolvieren, bevor sie ein Amt antreten konnten. (Quelle: Bruno S. Frey und Margit Osterloh (2016): Aleatorische Demokratie, Working Paper, CREMA)

[3] David Van Reybrouck (2016): Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist, S. 156.

[4] Van Reybrouck 2016, S. 128-129.

Können Facebook und Google Wahlen beeinflussen?

Die neuen Medien beeinflussen mittels Algorithmen unser Verhalten. Das hat auch Auswirkungen auf die Politik – auch wenn Monopolkonzerne dies nicht wollen.

Herbst 2016: Die Stimmberechtigten in den USA sind aufgefordert, einen neuen Präsidenten zu wählen. Zur Auswahl stehen Hillary Clinton und Donald Trump. Google-CEO Eric Schmidt verfolgt den Wahlkampf mit besonderem Interesse; er will auf keinen Fall, dass Trump gewinnt. Also setzt er sich an seinen Computer und ändert den Algorithmus seiner Suchmaschine: Fortan finden Wähler, die in heiss umkämpften Staaten leben, wenn sie «Donald Trump» googlen, an oberster Stelle Links auf Artikel über die Lügen des Präsidentschaftsbewerbers oder über seine gescheiterten Geschäftsideen. Suchen sie nach «Hillary Clinton», sehen sie zuerst Artikel über ihre Erfolge als Aussenministerin. Dank des veränderten Codes vermag Clinton in den entscheidenden Staaten einige Stimmen mehr zu holen als Trump und zieht ins Weisse Haus ein.

Google TrumpGeht es nach Robert Epstein, ist ein solches Szenario ganz und gar nicht unrealistisch. Vor vier Jahren führte der Psychologe ein Experiment durch, in welchem er Versuchspersonen anwies, im Internet Informationen über Julia Gillard und Tony Abbott zu suchen, die damals in den australischen Parlamentswahlen gegeneinander antraten. Anschliessend wurden die Teilnehmer gefragt, wem sie ihre Stimme geben würden. Was sie nicht wussten: Die Suchmaschine, die ihnen zur Verfügung gestellt wurde, war manipuliert – ein Drittel der Probanden sah mehr positive Treffer über Gillard, ein Drittel mehr positive über Rudd, ein Drittel erhielt neutrale Ergebnisse. Die Wissenschaftler kamen zum Ergebnis, dass jene, die positivere Resultate für einen der Kandidaten bekamen, eine um 20 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit hatten, diesen Kandidaten zu unterstützen. 2014 wiederholten sie das Experiment mit Wählern in Indien. Das Ergebnis war ähnlich. Epstein kommt zum Schluss: «Google könnte die nächsten Präsidentschaftswahlen beeinflussen oder sogar entscheiden.»

Epsteins alarmistischer Ton lässt vergessen, dass er und sein Team keineswegs bewiesen haben, dass Google Wahlen in irgendeiner Form beeinflusst oder gar bewusst manipuliert. Sie haben lediglich gezeigt, dass Google dies könnte. (Es ist an sich auch nicht erstaunlich, dass Informationen, die Leute erhalten, deren Meinung beeinflussen.) Ob die Firma das tatsächlich tut, ist nicht bekannt, da der Suchalgorithmus geheim ist.

Unschön, aber legal

Eindeutig erwiesen ist der Einfluss auf Wahlen dagegen bei Facebook. In der Vergangenheit hat das soziale Netzwerk bei Urnengängen in verschiedenen Ländern einen Button aufgeschaltet, der die Leute auf das Ereignis aufmerksam machte. Eine wissenschaftliche Untersuchung bei den Kongresswahlen 2010 ergab, dass die Beteiligung unter jenen Wählern, die einen solchen Hinweis auf ihrem Facebook-Profil sahen, 0.39 Prozent höher lag als unter jenen, die nichts angezeigt bekamen. Der Effekt scheint nicht besonders gross, insgesamt gingen dadurch aber 340’000 zusätzliche Stimmen ein (vor allem, weil die User ihre Facebook-Freunde ebenfalls zum Wählen animierten), wie die Wissenschaftler schreiben.

Dass mehr Leute wählen gehen, wäre an sich kein Problem. Die Frage ist, wer zur Stimmabgabe animiert wird. Heute zeigt Facebook nach eigenen Angaben den Wahl-Button jeweils allen stimmberechtigten Nutzern in einem Land. Wollte Mark Zuckerberg aber einem Kandidaten einen Vorteil verschaffen, könnte er die Anzeige des Buttons auf die Anhänger dieses Politikers beschränken. Der Computerwissenschaftler Jonathan Zittrain nennt diese Möglichkeit «digital gerrymandering». Dieses ist, wie das klassische Gerrymandering, äusserst unschön, aber vollkommen legal.[1]

Die eigene Meinung wird bestätigt

Es braucht aber gar keine manipulativen Firmenchefs, damit Google, Facebook und andere Plattformen eine Wirkung auf die Politik ausüben. Die Algorithmen können das Denken und das Verhalten der Internetnutzer beeinflussen, ohne dass die Unternehmen dies beabsichtigen. So zeigt uns Facebook auf der persönlichen Timeline zuerst Inhalte, die solchen ähneln, die wir früher angeklickt oder geliked haben. Diese «Personalisierung» der Informationen ist – zumindest kurzfristig – im Sinne des Nutzers: Er sieht zuerst die Inhalte, die ihn erfahrungsgemäss am meisten interessieren. Doch ist diese «Filter bubble» langfristig wirklich sinnvoll und der daraus resultierende «Confirmation bias» gesellschaftlich wünschenswert?

Der Internetaktivist Eli Pariser zweifelt daran. Er stellte eines Tages fest, dass er auf seiner Facebook-Timeline fast nur noch Links und Status-Updates von Freunden sah, die wie er liberal gesinnt waren. Inhalte seiner konservativ eingestellten Freunde bekam er dagegen fast nie zu Gesicht. Wieso? Facebook hatte festgestellt, dass er häufiger auf Links seiner liberalen Freunde klickte und ihre Inhalte häufiger likete. Der Algorithmus schloss daraus, dass diese Inhalte für ihn relevanter sind – und zeigte ihm konsequenterweise nur noch Inhalte dieser Freunde.

Dabei wäre es doch besser, man würde auch mit anderen Meinungen konfrontiert werden, fand Pariser. Tatsächlich war es eines der Versprechen des Internets, dass es eine grössere Vielfalt von Meinungen zulässt und es den Leuten ermöglicht, ihren Horizont zu erweitern. Stattdessen, so die Kritik von Pariser, setzen ihnen Facebook und Google nur das vor, was sie schon kennen, und statt anderer Meinungen zu hören, bekommen sie nur ständig die eigene bestätigt. Das schade letztlich der Demokratie, kritisiert Pariser.

Tatsächlich gibt es Beobachter, die den Aufstieg von Donald Trump am äussersten rechten und Bernie Sanders am äussersten linken Rand des politischen Spektrums auf die Wirkung der neuen Medien zurückführen, in denen die Leute mit den immer gleichen Meinungen und Schlagwörtern überflutet werden und wo kaum eine Diskussion zwischen den unterschiedlichen Ansichten stattfindet.

Was kann man gegen dieses Problem tun? Pariser fordert strikte Regeln für Facebook, Google und andere Plattformen, die er «information fidiciaries» nennt. Genauso wie klassische Medien sollen sie sich zu gewissen ethischen Standards verpflichten, um eine unverfälschte Meinungsbildung zu gewährleisten.

Aber vielleicht würde es auch schon reichen, wenn die Algorithmen, die bestimmen, welche Inhalte wir im Internet sehen und welche nicht, transparent wären. Bisher halten Google und Facebook die entsprechenden Codes streng geheim. Wäre es nicht besser, wenn wir Einblick hätten darin – und idealerweise die Algorithmen selbst verändern könnten, wenn wir lieber mehr anderen Meinungen begegnen wollen?[2][3]

 


[1] Selbst wenn Facebook den Button allen Usern zeigt, kann das Wahlergebnis dadurch verzerrt werden. Denn auf Facebook sind hauptsächlich jüngere Leute aktiv. Das Gewicht der anderen, älteren Wähler wird also verringert. Man kann aber einwenden, dass das nur ein ansatzweiser «Ausgleich» dafür ist, dass sich Junge generell weniger beteiligen.

[2] Einige Anbieter ermöglichen dies zumindest ansatzweise schon heute. So wird man von Twitter beispielsweise gefragt, ob man die von Twitter als besonders interessant beurteilten Tweets zuerst sehen möchte oder nicht.

[3] Eine Übersicht über Online-Tools, um Verzerrungen durch «Filter bubbles» zu erkennen und/oder zu reduzieren, gibt es hier.

Der unbekannte Schaffhauser Bundesrat

Logo_Serie_TrouvaillenSchaffhausen wartet seit 166 Jahren auf einen eigenen Bundesrat. Was nur wenige wissen: In den Anfangstagen der Bundesstaats hatte der Kanton für kurze Zeit einen Vertreter in der Landesregierung. Möglich machten dies eine ungeschriebene Regel – und ein glückloser Tessiner.

Von Lukas Leuzinger und Claudio Kuster

Nach offizieller Statistik haben in der 166-jährigen Geschichte des Bundesstaats nur fünf Kantone noch nie einen eigenen Bundesrat gestellt: Uri, Schwyz, Nidwalden, Jura und Schaffhausen. Allerdings: Im Fall von Schaffhausen trifft diese Aussage nicht ganz zu. Denn im 19. Jahrhundert, nach der Gründung des Bundesstaats, stellte der Kanton für eine kurze Zeit einen Vertreter in der Landesregierung – zumindest formell.

In den ersten Dekaden war der junge Bundesstaat liberal-radikal dominiert; die sieben ersten Bundesräte gehörten allesamt der freisinnigen Familie an. Um in den stürmischen Anfangszeiten sicherzustellen, dass die Magistraten einen gewissen Rückhalt im Volk genossen, bürgerte sich eine ungeschriebene Regel ein: Alle Mitglieder der Landesregierung – neu kandidierende wie auch bisherige – mussten die Wahl in den Nationalrat schaffen, um als Bundesräte (wieder-)gewählt werden zu können. Man nannte das «Komplimentswahl». Entsprechende Regeln galten bereits in vielen Kantonen bei der Wahl der Kantonsregierung (bevor die Volkswahl eingeführt wurde).

Opfer «pfäffisch-österreichischer Ränke»?

Statue von Stafano Franscini. Bild: Eigene Aufnahme

Statue von Stefano Franscini. Bild: Eigene Aufnahme

Die Komplimentswahl wurde dem Tessiner Stefano Franscini 1854 zum Verhängnis. Der Statistiker, alt Regierungsrat, ETH-Mitbegründer sowie Vater der Volksschule und Volkszählung war 1848 noch mit einem Glanzresultat in die grosse Kammer und kurz darauf in den ersten Bundesrat gewählt worden. Doch seine Position war nicht gefestigt. Die im Sonderbundskrieg geschlagenen Katholisch-Konservativen wurden immer stärker – auch im Tessin. Hinzu kam, dass der progressive Franscini innerhalb seines eigenen Lagers, der Freisinnigen, nicht unumstritten war.

Bei den ersten Neuwahlen 1851 (damals dauerte die Legislatur nur drei Jahre) schaffte er die Wahl in den Nationalrat noch ganz knapp als dritter und letzter Vertreter seines Wahlkreises. Doch 1854 verliess ihn das Glück: Im ersten Wahlgang am 29. Oktober erreichte er nur das viertbeste Resultat und verpasste die Wahl. Geschlagen geben musste er sich einem liberalen und zwei katholisch-konservativen Kandidaten.[1]

Damit hätte er eigentlich als Bundesrat zurücktreten müssen. Durch eine glückliche Fügung erhielt er jedoch noch eine Chance. Denn im Kanton Schaffhausen hatte nach zwei Wahlgängen mit etlichen Kandidaten erst der bisherige Nationalrat Johann Georg Fuog das absolute Mehr erreicht, womit der zweite Schaffhauser Sitz noch nicht besetzt war.

Kurzerhand portierten einige Schaffhauser Freisinnige Franscini als Kandidaten für den freien Sitz. In mehreren Zeitungsartikeln rührten sie die Werbetrommel für den Tessiner. Dieser sei in seinem Heimatkanton «durch pfäffisch-österreichische Ränke» unterlegen, heisst es etwa in einem Beitrag im «Tage-Blatt». Darin wird an den Patriotismus der Schaffhauser appelliert: Der Bundesrat drohe «einen würdigen Patrioten» zu verlieren, «wenn nicht eidgenössischer Sinn die Hand bietet». Die Wähler sollten sich deshalb «über den Kantönligeist wegsetzen» und Franscini ihre Stimme geben.[2]

Im dritten Wahlgang holte Franscini zunächst nur 569 Stimmen (10.5 Prozent). Weil aber keiner seiner Konkurrenten das absolute Mehr erreichte, kam es am 19. November zu einem vierten Wahlgang. Da dort nur noch die drei besten des vorhergehenden Wahlgangs antreten durften, klappte es für Franscini schliesslich: Er schaffte die Wahl mit 57.3 Prozent der Stimmen und zog als Vertreter Schaffhausens in den Nationalrat ein. Kurz darauf wurde er am 6. Dezember mit 81 von 147 Stimmen als Bundesrat bestätigt.

Weniger Glück hatte sein Kollege Ulrich Ochsenbein. Der Berner verpasste 1854 die Wahl in den Nationalrat in seinem Wahlkreis ebenfalls. In der Folge verweigerte ihm die Bundesversammlung – wo er indes schon vorher umstritten war – die Wiederwahl als Bundesrat.[3]

Schaler Beigeschmack

Das Comeback Franscinis ist erstaunlich. Zwar gab es im protestantischen Schaffhausen keine katholisch-konservative Opposition, die ein Interesse daran gehabt hätte, einem freisinnigen Bundesrat ein Bein zu stellen. Zudem mussten die Schaffhauser den Sitz Franscini ja nur vorübergehend überlassen und konnten ihn nach dessen Wiederwahl als Bundesrat nach ein paar Monaten wieder mit einem «Einheimischen» besetzen.

Dennoch ist bemerkenswert, wie sich trotz der damals noch umständlichen und langsamen Kommunikation innert neun Tagen eine Mehrheit der Bürger dazu mobilisieren liess, einem nicht-ortsansässigen Kandidaten ihre Stimme zu geben. Weil damals noch im Majorzsystem (mit absolutem Mehr) gewählt wurde und es keine vorgedruckten Stimmzettel gab, konnten sie ja nicht einfach eine vorgedruckte Liste einwerfen, sondern mussten ihn aktiv auf ihren Stimmzettel schreiben.

Trotz des Erfolgs bleibt natürlich ein schaler Beigeschmack: Denn welchen Sinn machte die Anforderung, dass ein Bundesrat vorab als Nationalrat gewählt werden muss, wenn sie einfach umgangen werden konnte?

Revitalisiertes Vertrauensvotum?

Die ungeschriebene Regel der Komplimentswahl blieb noch bis in die 1880er Jahre bestehen, ehe sie zusehends ignoriert und nach 1896 gar nicht mehr angewandt wurde. Die Idee, dass Bundesräte einen gewissen Rückhalt in der Bevölkerung haben sollen, bleibt aber bis heute relevant. Der Politgeograf Michael Hermann nahm die alte Regel zum Vorbild, als er vor einigen Jahren im Vorfeld der Abstimmung über die Initiative für die Volkswahl des Bundesrates  einen Kompromissvorschlag formulierte.[4] Demnach sollten sich amtierende Bundesräte jeweils zeitgleich mit den Nationalratswahlen einem «Vertrauensvotum» des Volkes stellen: Jene, die eine Mehrheit der Schweizer Stimmbürger hinter sich hätten, wären direkt wiedergewählt. Die anderen müssten sich wie bisher der Bundesversammlung zur Wiederwahl stellen.

Ob Franscini sich nach seiner dritten Amtszeit als Bundesrat erneut in Schaffhausen zur Wahl gestellt hätte, muss offen bleiben: Er verstarb noch vor den Wahlen 1857 im Amt.

 

Dieser Beitrag ist der zweite Teil der fünfteiligen Serie «Trouvaillen aus den Anfängen des Bundesstaats». Bereits erschienen:

 


[1] Sämtliche Angaben zu den Wahlresultaten stammen aus: Erich Gruner (1978): Die Wahlen in den Schweizerischen Nationalrat 1848–1919.

[2] Walter Wettstein (1918): Eine interessante Schaffhauser Wahl – Die Wahl von Bundesrat Stefano Franscini zum Schaffhauser Nationalrat im Jahre 1854, in: Beiträge zur vaterländischen Geschichte, Heft 9, Hg. vom Hist.-antiquar. Verein Schaffhausen.

[3] Paul Fink (1995): Die «Komplimentswahl» von amtierenden Bundesräten in den Nationalrat 1851-1896, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Band 45, Heft 2. Später gab es noch weitere Bundesräte, denen die Komplimentswahl im eigenen Kanton misslang. Nicht immer wurde die ungeschriebene Regel allerdings strikt befolgt. Der Genfer Jean-Jacques Challet-Venel wurde 1866 als Bundesrat wiedergewählt, obwohl er bei den Nationalratswahlen unterlegen war. Der Luzerner Josef Martin Knüsel nahm der Bundesversammlung die Entscheidung ab, als er 1875 nach verpasster Komplimentswahl zurücktrat. Andere Magistraten waren weniger mutig: Numa Droz zog 1878, nachdem ihm seine Partei in Neuenburg die Unterstützung verweigert hatte, gar nicht zur Nationalratswahl an und vermied so ein Misstrauensvotum. Paul Ceresole erwartete 1872 in seinem Heimatkandton Waadt ebenfalls eine Niederlage und trat lieber im Berner Oberland zur Wahl an.

[4] Michael Hermann (2011): Konkordanz in der Krise. Ideen für eine Revitalisierung.